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Language:
Deutsch
Stats:
Published:
2021-05-01
Updated:
2023-03-14
Words:
18,408
Chapters:
8/?
Comments:
11
Kudos:
11
Hits:
268

Blood of Eden – Was wäre, wenn ...?

Summary:

Was wäre, wenn Kanin es schafft, mit Allison zusammen aus New Covington zu fliehen? Wenn sich ihre Wege nicht trennen? Wenn Allison erst viel später Zeke begegnet und Kanin nicht ihre Vaterfigur ist? Die Story beginnt während Allisons Ausbildung bei Kanin (Unsterblich - Tor der Dämmerung) nachdem sich Allison Stick offenbart hat. Als sie aus New Covington flüchten müssen, schaffen es beide zu entkommen und begeben sich auf den Weg in die Ungewissheit. Sie verbringen die ganze Zeit bei einander und sind ein unschlagbares Team, wenn es darum geht, gegen Verseuchte zu kämpfen. Kanin gibt Allison einige wichtige Trainingseinheiten, wodurch sich beide besser verstehen können ... [Allison x Kanin]

Notes:

Ursprünglich habe ich diese Fanfiction hier veröffentlicht und werde sie dort auch fortführen: https://www.fanfiktion.de/s/5d67abba000b2c4012a32c78/1/Blood-of-Eden-Was-waere-wenn-

Chapter 1: Was bist du für mich?

Chapter Text

Kapitel 1 - "Was bist du für mich?"

Es begann eines der üblichen Tage. Die Routine bestand aus zwei Teilen: Theorie und Praxis. Zuerst Themen aus Vampirgeschichte, Mathe und Englisch. Allgemeinbildung war Kanin sehr wichtig. Aber wichtiger als das, war der praktische Teil; das Kämpfen mit dem Katana. In Notsituationen musste ich es beherrschen können, um zu überleben. Das war nicht nur wichtig, sondern machte auch unfassbar Spaß!

Ich konnte so nicht nur meine Kondition trainieren, sondern auch meinen Geist, laut Kanin. Obwohl es die meiste Zeit echt hart war, war es dennoch das Highlight der Nacht. Ich stieg aus meinem provisorischen Bett und trat in den Korridor, Richtung Kanins Büro. Dort saß er an seinem Schreibtisch, wie immer. Den Blick auf Dokumente gerichtet, neben ihm stapelten sie sich schon.

„Herein“, sagte er mit seiner leisen und konzentrierten Stimme. Ich trat ein und setzte mich auf den Klappstuhl, ihm direkt gegenüber. Erst jetzt sammelte er die Blätter ein und schaffte etwas Platz. In letzter Zeit – um genauer zu sein: Seit unserer letzten Jagd und meinem vergeblichen Versuch, mit Stick Kontakt aufzunehmen, hatte sich eine Art unsichtbare Wand zwischen uns gebildet. Wir redeten nicht darüber, und eigentlich redeten wir fast gar nicht mehr miteinander.

Die Atmosphäre war immer relativ kühl und angespannt, sodass auch meine Laune darunter litt. Einfach so Gras darüber wachsen zu lassen war nicht einfach. Und das Thema nochmal anzusprechen machte vermutlich alles nur noch schlimmer. Ich biss mir auf die Lippe.
Wie konnte ich das alles wieder gut machen?

„Allison.“
„Was?“ Ich erschrak, denn anscheinend hatte er mich schon etwas länger beobachtet. Und über meine Stimme, die mehr ein Krächzen war, erschrak ich ebenfalls. Als ich mich räusperte, seufzte Kanin und mahnte, ich solle mich doch besser konzentrieren. Ich war etwas verwirrt und entdeckte erst jetzt das Blatt Papier vor meiner Nase auf dem Schreibtisch.
„Oh“, war das einzige, was ich dazu herausbrachte.

Auf dem Blatt waren einige komplizierte Formeln aufgeschrieben. So leicht war das Rechnen, wie damals mit meiner Mom, schon lange nicht mehr. Seufzend nahm ich mir einen Stift und versuchte mich auf diese komplexen Berechnungen zu konzentrieren. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Kanin sich wieder seinen Dokumenten widmete. Wonach er bloß immer suchte? Was war ihm so wichtig, dass er jeden Tag aufs Neue einen Stapel Papier in sein Büro brachte?

Ich blickte langsam zu ihm auf und zuckte zusammen, als ich bemerkte, wie er mich schon vorher angesehen hatte.
„Konzentration!“, mahnte er mit hartem Ton. Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse, als ich meinen Blick wieder auf das Blatt mit den Formeln richtete.

„Allison. Willst du denn nicht so schnell wie möglich damit fertig werden? Damit du endlich fertig ausgebildet bist und eigenständig leben kannst? Du hast es bald geschafft und solltest deswegen nicht nachlässig werden.“
„Aber vielleicht – “ Ich hielt inne.
„Vielleicht was?“ Fragend schaute Kanin mich an.

Vielleicht will ich ja gar nicht so schnell wie möglich hier fertig werden. Vielleicht will ich gar nicht eigenständig und auf mich gestellt leben. Vielleicht will ich ja einfach hierbleiben. Bei dir. Ich senkte meinen Blick und konnte die Worte nicht aussprechen. Kanin tat so viel für mich und unterrichtete mich so gut es ging, damit ich selber überleben konnte, weswegen ich ihn nicht enttäuschen wollte. Bei ihm zu bleiben wäre ein Akt der Schwäche. In seinen Augen.

„Schon gut. Ich gebe mein Bestes.“ Schmollend fing ich an, etwas auf das Papier zu kritzeln. Kanin nickte bestätigt und wandte sich wieder besseren Dingen zu. Es war sinnlos. Seine Entschlossenheit motivierte mich zum widerwilligen Lösen seiner Aufgaben. Ich wollte ihm eine gute Schülerin sein, sodass er seine Entscheidung, mich zu Seinesgleichen zu machen, nicht bereuen würde.

Die Zeit verging und ich quälte mich durch die restlichen Stunden voller trockenem Lernstoff. Aber langsam erlangte ich wieder an Motivation. Denn es war kurz vor Mitternacht, und das bedeutete: Schwertkampf! Nach der letzten Lektion stand Kanin auf und ging aus dem Raum. Ich nahm mein Katana, das an meinem Schreibtisch lehnte, und folgte ihm aufgemuntert.

„Deinen Stimmungswechsel kann man förmlich riechen“, gab Kanin unbeeindruckt von sich, mit dem Rücken mir zugewandt.
„Darf ich mich denn nicht drauf freuen? Hat doch was Gutes, oder nicht?“, fauchte ich zurück.
„Das wirst du, nachdem du das Schwert hauptsächlich zum Blutvergießen benutzt hast, nicht mehr sagen.“

Perplex stolperte ich beinahe, konnte mich aber dank einer Säule noch rechtzeitig auffangen. Kanin blieb stehen. Ich wartete auf irgendeine Reaktion, als ich plötzlich seinen Dolch an meiner Kehle spürte. Erstarrt blickte ich mit aufgerissenen Augen in seine dunklen, ruhigen Augen, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie mir direkt in meine (nicht mehr vorhandene) Seele blickten. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.

„Sei aufmerksamer. So wirst du nicht lange überleben“, flüsterte er kühl, während er Abstand zwischen uns brachte. Normalerweise müsste ich jetzt erst einmal meinen Atem und Herzschlag beruhigen, aber das fiel nun weg. Nicht atmen zu müssen war wirklich praktisch. Angespannt zückte ich mein Katana und fixierte seinen Dolch mit beiden Augen.

Das Training verlief relativ unspektakulär. Kanin startete seine Angriffe langsam und wurde dann immer schneller. Obwohl er nur seinen Dolch benutzte, war es dennoch kein Zuckerschlecken. Er war ein erfahrener Kämpfer, ein Meistervampir. Doch meinetwegen schraubte er seine Talente etwas zurück, damit ich nicht das Gefühl hatte, gegen jemand Unbesiegbaren zu kämpfen.

So gelang es mir auch, ihm die Waffe ein paar Mal aus der Hand zu schlagen. Dies hinderte ihn aber nicht daran, mich trotzdem in die Enge zu drängen, indem er mir, mit ein paar schnellen und gezielten Schlägen, mein Katana ebenfalls aus der Hand schlug und mich an der Kehle packte. Ich spürte, wie er nicht seine ganze Kraft gebrauchte und es erstaunte mich immer wieder, wie stark er doch war. Er musste doch bestimmt ein spezielles Training haben, damit er in Form blieb ...

Ganz unwillkürlich musste ich an seine festen Muskeln, seine starken Arme und an seine breiten Schultern denken. Ich schluckte und schüttelte den Kopf. Woran dachte ich denn da? Seinem Blick konnte ich nur noch ausweichen und schließlich ließ er los. Er schaute mich durchdringend an und überlegte wahrscheinlich, an was ich gedacht haben musste.

„Das Training ist für heute beendet. Übe aber noch weiter, denn ich will morgen mal wieder Fortschritte sehen.“
Seine Stimme war nicht mehr ganz so eisig, aber immer noch fest und machtvoll. Ich blickte ihm nach, als er in einem dunklen Korridor verschwand und seufzte schließlich.

Mutlos betrachtete ich das Katana, welches mittlerweile schon wie ein verlängerter Arm von mir war. Sollte das mein Lebensweg sein? Jahrelang als Vampir leben? Mich zu ihnen gesellen und jeden Monat den Menschen das Blut abzapfen? Oder sollte ich fortgehen und woanders mein Glück versuchen? Vielleicht könnte alles ja friedlich verlaufen ... Bis auf das Nähren natürlich.

Aber Vampire als Feinde zu haben, so wie Kanin sie hatte, wäre nicht mein Ding. Wobei ich immer noch im Dunkeln tappte, aus welchem Grund er selbst vom Prinzen gesucht wurde und getötet werden sollte. Kanin schien mir kein grausamer Vampir zu sein; immerhin hatte er mich gerettet. Er hatte mir eine zweite Chance gegeben, als ich am Abgrund stand.

Wie konnte so eine Person so gehasst werden?
Ich schüttelte den Kopf. Allie, darüber könntest du dir die ganze Zeit den Kopf zerbrechen. Entweder, du wirst es nie erfahren, oder er wird es dir von allein erzählen. Andere Möglichkeiten gibt es nicht.

Und wieder einmal seufzte ich. Das machte ich in letzter Zeit viel zu oft. Zu gern hätte ich ein klärendes Gespräch mit Kanin. Viele Fragen waren noch unbeantwortet und langsam machte mir das zu schaffen.
Ich entschied mich für einen Spaziergang an der Oberfläche und zwängte mich auch schon durch den engen Schacht nach oben.

An der frischen Luft angekommen, bemerkte ich den dichten Nebel, der den tief stehenden, fast vollen Mond mystisch verhüllte. Ich hatte eigentlich auf Sterne gehofft, die mir oft Trost spendeten, aber den musste ich mir jetzt irgendwie anders herholen. Langsam schritt ich durch das Gras zwischen dem Schutt und schaute zum Mond.

Da fiel mir die Melodie ein, die mir meine Mom öfters vorgesummt hatte. Ich begann sie selber zu summen und sehnte mich nach ihrer warmen Umarmung. Ich wusste, ich sollte diese Erinnerungen vergessen und mit meinem alten Leben endlich abschließen, aber das brauchte Zeit. So einfach war das leider nicht, auch wenn Kanin das anders sah. Warum konnte er mich nicht verstehen?

Plötzlich hörte ich ein Knacken und wirbelte herum. Da war doch jemand. Meine Hand bewegte sich schon zum Schwert, als ich einen Schatten im Nebel sah. „Du musst wachsamer sein“, hörte ich eine vertraute Stimme sagen. Ich war erleichtert und doch gereizt.

„Und du musst aufhören, dich an andere heranzuschleichen, wenn du nicht willst, dass dir dein Kopf abgeschlagen wird“, erwiderte ich knurrend. Kanin trat nun in mein Sichtfeld und lachte leise.
„Du bist diejenige, die kopflos wäre. Du hast mich ja nicht einmal bemerkt.“ Ich funkelte ihn an.
Was erlaubte er sich eigentlich? Mentor hin oder her, auf so etwas hatte ich nun wirklich keine Lust.

“Was machst du hier überhaupt?“, fragte ich, das Thema wechselnd.
„Das gleiche könnte ich dich auch fragen. Solltest du nicht weiter mit deinem Schwert üben?“ Langsam trat er näher.
„Ich ... wollte nur einmal spazieren gehen.“
Kanin hob eine Augenbraue. Er wirkte nicht so, als ob er mir glauben würde, aber es war die Wahrheit. Und mir war es egal, ob er mir glaubte, oder nicht.

„Und warum habe ich denn jetzt die Ehre, auf dich zu treffen? Du bist wohl kaum jemand, der gerne Spaziergänge bei Mondschein macht.“
„Darf ich mir nicht auch einmal eine Auszeit gönnen? Den Kopf frei kriegen und mal nicht an meine Arbeit denken?“ Es klang schon fast ironisch. Ich seufzte.

„Das machst du in letzter Zeit ziemlich oft“, bemerkte er.
„Was?“, fragte ich verwirrt.
„Das Seufzen. Was zieht dein kleines totes Herzchen so runter, dass du kühle Luft durch deine Lungen gleiten lässt?“
„Danke, aber auf falsche Besorgnis kann ich verzichten.“ Mürrisch blickte ich weg.

Wenn Kanin glauben würde, dass ich ihm jetzt alles erzählen würde, hatte er sich geirrt. Warum fragte er überhaupt? Besorgt war er ganz bestimmt nicht. Bald war ich fertig hier und dann hatte er eine Last weniger zu schleppen.
„Die Melodie, die du eben gesummt hast ... Woher kennst du sie?“
Auf den plötzlichen Themawechsel war ich nicht vorbereitet.

„Ähm ... Meine Mom – “ Ich stoppte abrupt, da Kanin mir schon so oft gesagt hatte, ich solle doch nicht mehr an meine Vergangenheit denken. Ich schaute wieder zum Mond. Damals habe ich ihn so selten gesehen. Ich bemerkte zuerst nicht, wie Kanin wieder einen Schritt auf mich zuging. „Tut mir leid, ich weiß doch, dass ich endlich vergessen soll“, sagte ich frustriert und schaute zu meinen Füßen. „Es ist nur – “

„Ich habe sie auch gekannt.“
Irritiert hob ich meinen Kopf und blickte meinem Mentor in die Augen.
„Die Melodie. War wohl ein beliebtes Wiegenlied“, stellte er achselzuckend fest.

Seine Gesichtszüge waren viel weicher, als am frühen Abend. Hatte er hier draußen vielleicht wirklich nachgedacht? Er war mir immer noch voller Rätsel.
Ein unangenehmes Schweigen entstand, da ich nicht wusste, was ich sagen könnte. Ich hatte noch so viele Fragen, aber keine wollte meinen Mund verlassen. Irgendwie genoss ich diese Stille der Zweisamkeit. Nur wir beide, im Mondlicht.

Was sollen die romantischen Gedanken, Allie? Das ist Kanin, dein Mentor, ein Meistervampir. Vergiss das nicht! Ich schüttelte den Kopf. Dieses Schweigen musste schnell gebrochen werden, sonst –
„Allison.“ Seine Stimme klang beruhigend. „Ich sehe, wie du mich unbedingt was fragen möchtest. Du kannst fragen was du willst, ich werde dir antworten.“

Meine Augen wanderten langsam und unsicher zu seinen. Die Frage, die mich gerade am brennendsten interessierte, war:
“Was ... Was ist eigentlich die engste Beziehung zwischen Vampiren? Weil, also ... Bei den Menschen ist das ja ein wenig ... anders“, stammelte ich vor mich hin.
Ich blickte verlegen weg und hoffte, dass er nicht zu viel in diese Frage hineininterpretierte.

Kanin musterte mich kurz und fing an zu erklären:
“Nun, die engste Verbindung, die zwei Vampire miteinander eingehen können, ist das gegenseitige Teilen ihres Blutes. Dies geschieht nur dann, wenn auch beide sich zueinander hingezogen fühlen. Sie erfahren für einen kurzen Zeitraum die Gedanken und Emotionen der anderen Person und ist daher ein sehr intimer Akt.

Die zweitengste Bindung wäre dann die Schöpfung eines anderen Vampirs. Bei dem Vorgang nährt sich zuerst der Vampir von dem Menschen, und dann der Mensch vom Vampir. Das ist dem intimeren Akt sehr ähnlich, ist aber nicht so stark auf Gefühle basierend.

Die Gefühle, die du bei deiner Verwandlung gespürt hast, kamen dadurch zustande, dass wir auch eine Bindung eingegangen sind. Wir werden einander gegenseitig aufspüren können, auch wenn das halbe Land dazwischenliegt. Übertragen werden können allerdings nur sehr starke Gefühle. Wenn der eine am Rande des Todes steht, wird der andere es merken.“

Nachdenklich versuchte ich zu verstehen.
„Das heißt, du bist für mich ... mein Schöpfer? Mein Vater? Mein Verbündeter? Oder noch irgendwas Anderes?“
Kanin lachte leise.
„Wieso fragst du? Reicht es dir nicht zu wissen, dass ich dir dieses ewige Leben ermöglicht habe?“
Mit zusammengekniffenen Augen funkelte ich ihn an.

„Ich bin nun mal neugierig. Hattest du nicht eben erwähnt, dass du mir jede Frage beantworten würdest?“
„Ah, geschlagen mit den eigenen Worten.“ Ein Lächeln durchfuhr sein Gesicht.
Es war kein feindseliges Lächeln und auch kein drohendes Lächeln. Nein, es war ein amüsiertes Lächeln.

Normalerweise hätte ich jetzt eine ausdruckslose und kalte Miene erwartet, aber irgendwie war der Meistervampir heute anders drauf. „Hoffst du auf etwas Bestimmtes?“, fragte er immer noch amüsiert, als ob ihm eine Vorahnung in den Sinn kam.

Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte. Ich wollte doch nur wissen, was er für mich war. Ein Mentor allein ja nicht, da gehörte schon etwas mehr zu. Aber waren wir wirklich verwandt, auf menschlicher Art und Weise? Ihn mir als Vater vorzustellen war etwas, na ja, komisch. Ich kannte ihn nur seit einigen Wochen und als „Familie“ würde ich ihn noch nicht bezeichnen.

Räuspernd wollte ich antworten, doch er trat noch einen Schritt näher an mich heran. Nur noch ein halber Meter trennte uns voneinander und ich musste meinen Kopf schon leicht in meinen Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. Seine Nähe machte mich langsam nervös. Er war unberechenbar und im nächsten Augenblick könnte er schon wieder seinen Dolch gegen meine Kehle drücken.

Aber konträr dazu ging von seiner Nähe etwas Beruhigendes aus. Ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit breiteten sich in mir aus. Kaum merklich trat ich einen Schritt zurück, da ich immer nervöser wurde und nicht wusste, wie ich mit dieser Nähe sonst umgehen sollte. Dies schien Kanin allerdings zu bemerken und seine Mundwinkel zuckten nach unten. Seine Miene wurde ernster, aber nicht allzu kalt.

„Allison Sekemoto, die Bindung zwischen uns kann man mit keiner menschlichen vergleichen. Es ist weder familiär, noch die von zwei Geliebten. Du wirst es noch zu verstehen lernen, keine Sorge“, war seine Antwort. Ich war irgendwie etwas enttäuscht und hätte etwas Genaueres erwartet, aber anscheinend konnte selbst der Meistervampir so etwas nicht gut erklären.

Ein Seufzen, das meiner Kehle schon automatisch entfloh, konnte ich nicht unterdrücken. Mein Blick ruhte auf dem Schutt, der zwischen dem Gras verteilt lag. „Nicht zufrieden mit der Antwort?“ Kanins Stimme klang etwas neckend, doch änderte sich zu einem sanfteren und sorgenvolleren Ton, als er fragte: “Was ist los? Ich bemerke es schon die ganze Zeit. Irgendwas stimmt doch nicht.“

Ich blickte zu ihm auf und erschrak fast vor seinem einfühlsamen Blick. Diese Seite kannte ich noch gar nicht an ihn. Jedoch war ich innerlich froh, dass er mir jetzt im Moment nicht die kalte Schulter zeigte. Ich sollte diese Gelegenheit also nutzen und endlich mal mit ihm reden.

„Kanin, also die Sache ist die ... Schon seit Tagen denke ich über die Zukunft nach. Es lässt mich einfach keine Ruhe, nicht zu wissen, wie es nach meiner Ausbildung bei dir weitergeht. Ich weiß überhaupt nicht, was oder wer ich sein möchte und was ich erreichen möchte. Ich weiß nur, dass ich – “, ich hielt kurz inne.

„Dass du was?“, fragte er während er eine Augenbraue hob.
Allie, jetzt oder nie!
„Dass ich bei dir ... bleiben möchte“, murmelte ich und schaute dabei wieder auf den Boden.

Ich wollte ihm eigentlich nicht diese Schwäche zeigen. Jetzt musste er enttäuscht sein. Dass sein Lehrling beim Meister bleiben möchte, konnte er doch nur negativ auffassen. Klar, würde ich ihn lieber stolz auf mich machen, indem ich mich schnell selbstständig irgendwo niederlasse und ein richtiges Vampirleben anfange. Aber so etwas passte mir einfach nicht.

„Es tut mir leid. Ich, ich wollte dich nicht enttäuschen –“ Seine plötzlich viel nähere Präsenz unterbrach mich.
„Allison. Ich werde dir folgendes nicht noch einmal sagen: Egal was du tust, egal für was du dich entscheidest. Solange du dich nicht gegen mich wendest, wirst du mich niemals enttäuschen. Du hast schon so vieles bewiesen, vor allem, dass es genau die richtige Entscheidung war, dich von meinem Blut trinken zu lassen.“

Ich blickte zu ihm auf. Hatte ich ihn wirklich so falsch eingeschätzt? Seine Reaktionen waren jedes Mal so unberechenbar, was es wirklich schwierig machte, sich vorzubereiten. Vielleicht war das auch der Grund, warum er im Kampf fast unschlagbar war. Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen und er legte seine Hand auf meine Schulter.

„Ehrlich gesagt, bin ich etwas erstaunt, ja sogar erfreut, dass du so denkst. Bis jetzt waren die Ziele meiner Lehrlinge immer Eigenständigkeit und Erfolg gewesen. Sie wollten weg von mir, keinen Kontakt mehr haben. Ihren Meistervampir haben sie immer nur als Lehrer gesehen. Als jemanden, der ihnen viel beibrachte und sie dann auf ihrem weiteren Weg alleine lässt.“ Traurigkeit lag in seiner Stimme.

Meistervampir zu sein konnte anscheinend echt einsam sein. Umso mehr freute ich mich über seine Reaktion. War er damit also einverstanden? „Jedoch“, begann er plötzlich schärfer, „musst du wissen, dass du dich dann zu einer bestimmten Leistung verpflichtest.“ Irritiert versuchte ich zu verstehen.
„Leistung? So etwas wie ein Vertrag?“

„So in etwa. Bei dem Meister zu bleiben bedeutet, wie ein Team zu agieren. Du musst ihm Rückendeckung geben, während er dir ebenfalls Schutz gewährt. Geben und Nehmen, das ist die einzige Verpflichtung.“
„So etwas nehme ich gerne in Kauf. Ich könnte mir sowieso nicht vorstellen, dir jemals in den Rücken zu fallen. Selbst wenn ich mal stärker sein sollte.“ Das war eigentlich ein Versuch des Neckens, jedoch war ich nicht auf seine erschrockene Miene gefasst.

Hatte ich etwas Falsches gesagt? Ich schaute ihn besorgt an, jedoch wendete er sich ab.
„Hoffen wir's mal“, waren seine letzten, leisen Worte, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Eigentlich wollte ich mich freuen, dass Kanin anscheinend doch nichts dagegen hatte, dass ich bei ihm bleiben wollte, aber jetzt war ich eher besorgt als erfreut. Vielleicht hatten ihn diese Worte an seine schon abgeschlossene Vergangenheit erinnert und er wollte nicht mehr daran erinnert werden. Wer weiß ...

Chapter 2: Ein paar Tropfen Blut

Chapter Text

Kapitel 2 - Ein paar Tropfen Blut

Am nächsten Abend musste Kanin früh in die Stadt, um etwas zu erledigen. Ich war etwas skeptisch, da die Stadt jetzt der Ort war, an dem die größte Gefahr lauerte, aber anscheinend war es eine ziemlich wichtige Angelegenheit. Was für eine, konnte ich mir nicht denken. Das Gute daran: kein Unterricht! Aber die ganze Nacht lang zu warten und nichts wirklich zu tun zu haben, klang auch nicht viel besser.

So verbrachte ich also die Zeit mit Herumschnüffeln und Durchsuchen des weiteren Terrains, sprich: an der Oberfläche, mit ein paar Übungen mit meinem Katana und ein bisschen Fährtenlesen. Der Mond stand nun wieder ziemlich tief am Horizont und langsam konnte man den Sonnenaufgang erahnen. Ich machte mir jetzt wirkliche Sorgen um meinen Meister.

Aber er war sehr erfahren und falls er in Schwierigkeiten stecken sollte, würde er ganz bestimmt selber einen Ausweg finden. Hoffentlich. Ich versuchte wieder auf andere Gedanken zu kommen, als ich leise, unregelmäßige Schritte aus der Ferne vernahm. Es musste Kanin sein! Ich schaute mich um. Es war zu dunkel, als dass ich menschliche Umrisse erkennen könnte, sodass ich mich auf mein Gehör verlassen musste.

Die Schritte wurden lauter und mit einem Keuchen begleitet und schließlich hörte man jemanden auf den Boden zusammenbrechen. Ich rannte diesen Geräuschen entgegen und tatsächlich, Kanin, der Meistervampir, lag regungslos auf dem Boden. „Oh nein!“, ich hastete zu ihm und half ihm auf die Beine. Er hatte eine klaffende Wunde am Bein und hielt sich den blutenden, rechten Arm. „Was ist geschehen?“

„Schnell! Müssen ... weg ... von hier ...“, brachte mein Mentor mühsam hervor. Zwar wollte ich unbedingt wissen, was geschehen war und vor allem, wer ihn so zugerichtet hat, aber meine Neugier und mein Zorn mussten einem anderen Gefühl weichen: Panik. Wenn Kanins Gegner ihn so zurichten konnte, dann hatten wir keine Möglichkeit, außer zu flüchten. So gern ich auch kämpfen würde.

Wenn die Option bestand, uns beide zu retten, indem wir flüchteten, anstatt in einem Kampf zu sterben, so entschied ich mich für die Flucht. So wie Kanin. Mit meinem Katana auf dem Rücken und meinen Meister stützend, liefen wir so schnell es ging in Richtung Tunnel. Der einzige Ausweg waren die Ruinen.

Hinter diesen gab es einen großen Wald, so hatte mir Kanin erzählt. Dieser Wald schien mir jetzt die perfekte Versteckmöglichkeit. Nur bis dorthin war es ein recht weiter Weg. Mit Kanins Verletzungen ein umso weiterer, da er nur halb so schnell humpeln, wie ich laufen konnte.

„Glaubst du, wir schaffen es bis zum Wald? Wie viele verfolgen uns? Hast du noch genug Kraft?“ Ich versuchte vergeblich, meine Stimme nicht so panisch klingen zu lassen, wie ich mich fühlte.
„Keine ... Sorge ... Wir schaffen das ... schon.“ Seine Mühe, mir die Sorgen zu nehmen, war ebenfalls vergebens. Ich biss mir auf die Lippe und verkniff mir weitere Fragen und Kommentare.

 

Endlich am Eingang der Tunnel angekommen, ließen wir uns in die Finsternis hinabsinken. Zum Glück kannte ich den Weg zu den Ruinen gut genug, sodass ich nicht auf Kanins Gedächtnis angewiesen war. Der Weg durch die versifften Gänge konnten wir ganz ohne Zwischenfällen bewältigen.

Mein Mentor jedoch wurde zunehmend langsamer. Besorgt blickte ich zum Horizont, als wir uns auf den Weg durch die Ruinen machten. Er wurde schon ziemlich hell und die ersten Vögel fingen an zu zwitschern. Nun wanderte mein Blick zu Kanin, der schon so aussah, als sei er am Ende seiner Kräfte. „Nicht mehr weit, dann sind wir im Wald und können dort nach einem Schlafplatz suchen.“
Er nickte nur, aber sein eingefallenes Gesicht blieb dennoch schmerzverzerrt.

In der Ferne erblickte ich bereits die ersten Bäume. Aber zur gleichen Zeit hörte ich heulendes Hundegebell aus der anderen Richtung. Anscheinend wurden wir tatsächlich verfolgt. Diese beiden Tatsachen verliehen mir einen neuen Kraftschub. Jedoch stiegen auch neue Sorgen in mir hoch.

Was ist, wenn unsere Verfolger doch schneller sind, als wir und uns noch vor dem Erreichen des Waldes einholen? Was ist, wenn Kanin jetzt gleich endgültig die Kraft verliert und zusammenbricht? Was ist, wenn –
Ich konnte diese pessimistischen Gedanken nicht zu Ende denken, da sich direkt vor uns ein Verseuchter in den Weg stellte. Ich hatte auf dem ganzen Weg keinen Gedanken an sie verschwendet und erst jetzt fiel mir auf, dass wir noch keiner einzigen Kreatur begegnet sind. Und ausgerechnet jetzt, wo wir schon fast am Ziel waren!

Ich fluchte leise und entschuldigte mich bei Kanin, da ich ihn nicht mehr stützen konnte. Ich brauchte meine Arme für den Schwertkampf. Konzentriert zog ich mein Katana und fokussierte mich auf den Verseuchten. Seine weißen Augen durchbohrten mich förmlich und ich musste mich an den Augenblick kurz vor meinem Tod erinnern.

Es wirkte wie ein Déjà-vu, jedoch hat sich jetzt einiges geändert. Ich war nicht mehr so hilflos, wie früher. Jetzt war ich ein Vampir. Mein kleines Messer von damals ist zu einem Schwert geworden. Nun war der beste Zeitpunkt, um herauszufinden, was die neue Allison konnte. Die neue, tote Allison, die alles dafür tat, um sich und Kanin in Sicherheit zu bringen.

Ich atmete bewusst ein und begab mich in Angriffsposition. Wie gerufen schrie der Verseuchte auf und sprang auf mich zu. Als er seinen dürren Arm hob, um seine Krallen in mein Herz zu bohren, wich ich aus und schwang mein Schwert. Ich erwischte seine Flanke und ließ mein Katana durch den weichen Körper gleiten.

Das Monster schrie auf, denn ich hatte genau zwischen die Rippen getroffen. Es wirbelte herum und holte schon zum nächsten Schlag aus, aber ich war schneller. Mit gezieltem Hieb erwischte ich seine Kehle. Ein Röcheln ertönte und kurz darauf brach der Verseuchte zusammen.

Mit einer geschmeidigen Bewegung schleuderte ich das Blut von meinem Katana. Schnell hastete ich zu meinem Mentor, der ganz in der Nähe zusammengerollt auf dem Boden lag.
Als ich ihn wieder zu stützen begann, um schnellstmöglich den Wald zu erreichen, hörte ich das Bellen von Hunden; nun aber viel näher. Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Ich blickte noch einmal kurz zurück und erschrak bei dem Anblick, der sich mir bot.

Am Horizont entlang waren reihenweise bewaffnete Personen und einige Fahrzeuge zu erkennen. Ein paar Hunde waren noch viel näher, sodass man schon ihre pure Aggression sehen konnte. Sie machten Jagd auf uns.
Uns bleib keine andere Wahl als noch einen Zahn zuzulegen, denn der Himmel färbte sich bereits zu einem zarten rosa.
Ich betete dafür, dass uns nicht noch mehr Verseuchte entgegenkamen. Der Kampf war nicht gerade sehr leise gewesen, also behielt ich meine Umgebung im Auge.

 

Kurze Zeit später erreichten wir endlich den Waldrand. Voller Panik blickte ich mich um, auf der Suche nach einem Unterschlupf. Mein Körper wurde langsam schwer und wir mussten dringend Schutz vor der aufgehenden Sonne suchen. „Grab ... Grab ein Loch!“, brachte Kanin leise hervor.

„Ein Loch?“
„Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, ... können wir uns unter der Erde vergraben. Da sind wir den Tag über sicher.“
Erstaunt blickte ich zu meinem Mentor.
Und so etwas Wichtiges sagte er mir erst jetzt?

Schnell fing ich an zwei Löcher zu graben. Mit bloßen Händen war es eher mühselig, aber ich spürte schon förmlich die ersten Sonnenstrahlen, weswegen ich mein Tempo nochmal verdoppelte. Die Erde war kühl und stärkte meine Sehnsucht nach Schlaf.

Als ich Kanin zu seinem fertigen Loch brachte, hielt ich kurz inne. Er musste mittlerweile richtig ausgehungert sein. Seine Wunden waren zwar verheilt, aber ...
Ich blickte in seine Augen und sah nur eines: Hunger.

„Kanin, du musst dich dringend nähren!“ Ein kurzes Zögern.
„Nein, das ... das geht schon.“
„Aber, wenn du jetzt kein Blut zu dir nimmst, dann –“

Plötzlich durchfuhr mich die Vorstellung von Kanin, wie er am nächsten Abend aufwachte und nicht mehr aufzuhalten war. Wie er den Verstand verlor und zu einer laufenden Bestie wurde. Wie er niemanden erkannte und sich auf das erste Lebewesen stürzte, welches ihm zu nah kam.

„Ich will nicht, dass du den Verstand verlierst. Dass du heute Abend nicht mehr du selbst sein wirst.“
„Glaub mir, ich bin zäher als du denkst.“ Ein schwaches Lächeln legte sich auf seine Lippen.
„Und was ist, wenn ...“, zweifelnd blickte ich mich um. Ich erhoffte mir, ein kleines Tier in der Nähe zu finden, aber sehr weit konnten meine Augen nicht mehr blicken.
Es wurde mittlerweile bedrohlich hell.

„Was ist, wenn du wenigstens etwas Blut schlucken könntest? Nur, damit dein Körper wieder zu Kräften kommt. Damit du nicht so erschöpft aufwachen wirst. Wenigstens ein kleiner Schluck von ... mir?“
Das letzte Wort blieb mir beinahe im Hals stecken. Ich wusste nicht, ob es ihm helfen würde, aber ich konnte mich nicht einfach in dem Wissen schlafen legen, dass mein Mentor den Tag nicht gut überleben würde.

„Allison. Es kommt nur sehr selten vor, dass ein Vampir von einem anderen Blut trinkt.“
„Aber es ist ein Notfall! Nur ein paar Tropfen. Bitte!“
Ich flehte ihn schon beinahe an. Verwundert blickte er zu mir auf.

„Nun, den Hunger kann man so nicht stillen, aber ... dem Körper tut Vampirblut mehr als nur gut.“
Mehr brauchte er nicht mehr zu sagen, denn ich biss mir bereits in mein Handgelenk. Ich hätte alles getan, wenn es irgendwie helfen könnte. So hielt ich meinem Meister also mein blutendes Handgelenk vor sein Gesicht.

Der Geruch von frischem Blut ließ Kanin erst einmal schlucken, bevor er zögernd seinen Mund öffnete. Anscheinend verließ ihn seine Kraft nun fast endgültig, sodass ich ihm zuvorkommender Weise mein Blut in den Mund tropfen ließ. Er schloss seine Augen und ich war erleichtert, als ich sah, wie sich seine Gesichtszüge entspannten. Es sah fast so aus, als ob es ihm ... gefiel?

Da fiel mir es wieder ein. Hatte Kanin nicht letztens noch erklärt, dass eine der intimsten Beziehungen zwischen Vampiren das gegenseitige Trinken des Blutes sei? Na ja, momentan ist er der Einzige, der das von jemand anderem trinkt, aber ...
Vielleicht hat es dennoch eine ähnliche Wirkung? Oh Gott, Allie, bist du dir bewusst, was du da tust?

Ich räusperte mich, um die Gedanken wegzuschieben. Dies war eine ganz andere Situation. Kanin war mein Mentor und ich war dazu verpflichtet, ihm in Notsituationen beizustehen. Es war meine Pflicht und nichts weiter. „Danke“, war das einzige, womit Kanin mir signalisierte, dass er genug hatte.

Nickend und beinahe sitzend einschlafend, schob ich die aufgewühlte Erde zuerst über meinen Mentor und dann über mich. Im Moment des Einschlafens war ich erleichtert. Erleichtert, dass wir den Verfolgern entkommen sind. Erleichtert, dass wir rechtzeitig einen Unterschlupf gefunden haben. Und so erleichtert, dass ich mir nun keine ernsten Sorgen um meinen Meister machen brauchte. Das waren die letzten Gedanken, bevor ich in die dunkle Bewusstlosigkeit glitt.

Chapter 3: Ein viel zu schmales Bett

Chapter Text

Kapitel 3 – Ein viel zu schmales Bett

Am nächsten Abend musste ich mich erst einmal von dem ganzen Dreck und den Blättern befreien, die an meiner Kleidung klebten. Ich sah zu meiner Linken und fand die aufgehäufte Erde wie am Morgen zuvor.
Er schläft also noch. Hoffentlich konnte er sich wenigstens etwas erholen.

Da ich nicht den ganzen Abend herumsitzen und ein Haufen Erde beobachten konnte, entschied ich mich, die Umgebung zu erkunden. Am besten wäre es, auf irgendwelche Menschen zu treffen, denn Kanin musste sich dringend nähren. Ich stand also auf und bewegte mich in Richtung des aufgehenden Mondes.

Die Szenerie war eigentlich sehr monoton. Bäume, Bäume, ein paar Büsche und noch mehr Bäume. Ein klassischer Wald, wie ich ihn aber noch nie erlebt hatte. Ab und zu bewegte sich ein Schatten, vermutlich eines Eichhörnchens oder eines Igels, aber ansonsten war es sehr ruhig. Langsam machte sich Verzweiflung in mir breit.

Der Wald schien komplett von Menschen unbewohnt zu sein. Und sich von Tieren zu nähren stand außer Frage. Vielleicht wäre es die letzte Option, damit man den Körper am Laufen hält, aber den Hunger konnte man damit nicht stillen. Ich blieb stehen und lauschte.

Bitte, betete ich stumm. Bitte lass irgendwelche menschlichen Geräusche ertönen.
Ich wusste nicht, an wen ich diese stumme Bitte schickte, aber ich wollte nicht aufgeben zu hoffen. Als sich nach längerer Zeit nichts tat, kehrte ich zurück.

Kanin hatte sich bereits halb aus seiner Erde geschaufelt, als ich zu ihm eilte. „Hey, wie geht es dir?“ Ich wollte so normal wie möglich klingen, jedoch schwang ein bisschen Besorgnis mit. Mein Mentor schaute mir kurz in die Augen und ich sah seine Antwort schon in seinem Blick. Seine Wunden haben ihn stark ausgehungert.

„Dann lass uns schleunigst auf die Suche gehen. Ich habe zwar schon eine Richtung des Waldes abgesucht, aber vielleicht finden wir ja in der anderen etwas.“
Kanin nickte und ich bot ihm meine Hand an. Er schien etwas indigniert, jedoch musste er immer noch geschwächt sein, sodass er meine Hand widerwillig annahm.

„Glaubst du, wir werden immer noch verfolgt?“, fragte ich während wir leise durch die Nacht schritten.
„Wahrscheinlich ja. Ich bin erstaunt, dass uns noch keine menschlichen Soldaten gefunden haben, aber anscheinend trauen sie sich nichts ohne ihre Vampire.“

„Ich hoffe, dass der Wald uns wenigstens etwas Schutz bietet. Aber ohne Menschen wird er womöglich das Gegenteil für uns bedeuten.“
Kanin kam nicht zum Antworten, denn ein lauter Schuss ertönte. Er kam aus genau der Richtung, in die wir gingen.
„Mein Gebet wurde erhört!“ murmelte ich hoffnungsvoll.

Unsere Schritte wurden schneller. Angekommen an einer Lichtung stand eine kleine Holzhütte. Sie hatte zwar noch eine weitere Etage, aber war dennoch sehr klein und schmal. Und das Beste: Aus einem Fenster drang Licht hervor. Menschen!

Mein Verlangen nach Blut meldete sich und ich blickte zu Kanin, der genau das Gleiche denken musste. Unsere einzige Chance. Wir begaben uns zur Tür, doch bevor ich klopfte, überprüfte ich unser Aussehen. Ich hatte immer noch etwas Dreck an der Kleidung und mein Meister hatte sogar noch ein kleines Ästchen im Haar stecken. Lächelnd entfernte ich es.

„Hoffentlich werden sie keine Angst vor uns haben.“
Kanin blickte an sich herab und zupfte hastig seine Klamotten zurecht.
Ich klopfte zweimal an die Tür. Als sich nach kurzer Zeit immer noch nichts regte, fragte ich zusätzlich mit lieblicher Stimme: „Hallo? Könnten Sie uns helfen? Wir suchen nur einen Unterschlupf!“

Kurz darauf öffnete sich ein kleiner Schlitz auf Augenhöhe. Ich blickte in ein beunruhigtes Augenpaar. „Bitte, lassen Sie uns rein. Wir sind etwas erschöpft vom ganzen Wandern und wollen nicht lange bleiben.“ Man hörte ein Klicken und die Tür öffnete sich. Zum Vorschein kam ein älteres Ehepaar mit einer Schrotflinte bewaffnet.

„Ach du meine Güte! Fred, sie sind ja ganz jung! Können wir sie nicht wenigstens eine Nacht hier übernachten lassen?“
Die ältere Dame sah ihren Mann fragend an. Er rümpfte nur kurz die Nase, aber stellte sein Gewehr zur Seite. Seine Frau nahm das als Einverständnis und bat uns rein.

Der Raum war erhellt mit nur wenigen Kerzen, was für eine sehr gemütliche Atmosphäre sorgte. Der ältere Herr saß an einem kleinen Esstisch und musterte uns misstrauisch. Seine Frau war das genaue Gegenteil von ihm: fröhlich und gutmütig.

„Herzlich willkommen! Mein Name ist Glenda und das hier ist mein Mann Fred.“
„Nett Sie kennenzulernen“, erwiderte ich freundlich. Glenda schaute mich fragend an und ich begriff, dass sie auch unsere Namen hören wollte. Zögernd überlegte ich mir zwei falsche Namen, da ich vorsichtshalber niemandem unsere Identität verraten wollte. Wer wusste, ob unsere Verfolger uns nicht schon zuvorgekommen sind.

„Ich heiße Alice und das ist ... Karl.“ Kanin warf mir einen verstehenden Blick zu und nickte.
„Und was macht ihr hier draußen? Ihr seid noch ein so junges Paar! Habt ihr keine Angst vor den Kreaturen? Wir haben eben erst einen erschossen! Richtig widerlich. Oh, möchtet ihr was trinken? Ich habe frisches Wasser von unserem Brunnen!“

Auch nur ohne auf eine Antwort zu warten schenkte Glenda uns Wasser in ein. Ich nahm mein Glas dankend an. „Nun ...“, gerade als ich beginnen wollte, mir eine Geschichte auszudenken, räusperte sich Kanin.
„Wir erwarten ein Kind. Die Stadt, in der wir gelebt haben, ist eine Vampirstadt und wir möchten ganz sicher nicht dort ein Kind großziehen. Verständlich oder?“
Ich konnte meinen Ohren nicht trauen.

Fassungslos schaute ich zu Glenda und Fred, die ebenfalls erstaunt waren, aber dieser Geschichte anscheinend Glauben schenkten. „Ach, herzlichen Glückwunsch! Ist das nicht wundervoll, Fred? So jung und schon bald eine Familie!“
Dieser Gedanke löste ein merkwürdiges Gefühl in mir aus.
Warum hat er das gesagt? Wir hätten einfach sagen können, wir seien Geschwister oder so.

Als sich Kanins und mein Blick trafen, zuckten seine Mundwinkel leicht nach oben. Hoffentlich nicht, weil ich so verlegen war. „Nun, dann seid ihr doch bestimmt müde oder? Ich bin sicher, wir können euch ein kleines Gästezimmer einrichten.“
„Ach wissen Sie, wir gehen erst bei Sonnenaufgang schlafen. Nachts zu schlafen ist viel gefährlicher, wenn man draußen unterwegs ist.“ Ich schaute kurz zu meinem Mentor, um herauszufinden, ob er einverstanden mit dieser Erklärung war.

„Sie können sich jedoch ruhig schon Schlafen legen. Falls noch irgendwelche Verseuchte in der Nähe sind, geben wir Bescheid“, fügte er noch hinzu. „Na, wenn das so ist, nehmen wir das Angebot gerne an, nicht wahr, Fred?“
„Von mir aus.“

„Dann ist das ja geklärt. Ich bereite euch dennoch schon einmal ein Bett vor. Ihr könnt ruhig oben in unserem Schlafzimmer schlafen. Wir haben zwei Betten, also werde ich eins herunterbringen und Fred und ich werden dann hier schlafen, um euch morgen früh nicht zu stören.“
„Das ist sehr großzügig, vielen Dank.“

Nachdem Glenda die Treppe hinaufgegangen war und Fred zur Hilfe rief, breitete sich eine peinliche Stille zwischen uns aus. Mir wirbelten immer noch die Worte von Kanin im Kopf herum. Ein Kind.
Vermutlich sah man mir die Verlegenheit wieder an, denn Kanin räusperte sich und warf mir einen Blick zu.
Als ich ihn bemerkte, fiel mir noch etwas ganz anderes ein.

„Kanin ... Hälst du's noch aus?“, fragte ich mit gedämpfter Stimme.
„Du kennst mich doch, ich bin zäher als du. Dein Blut hat meinem Körper schon etwas geholfen und den Hunger kann ich noch etwas unterdrücken.“
Etwas erleichtert sah ich zur Treppe, auf der gerade das alte Ehepaar ein Bett heruntertrug.

„Soll ich Ihnen helfen?“ Hastig stand ich auf und eilte ihnen entgegen.
„Ach, das, das geht schon. Vielen Dank“, brachte Glenda unter schwerem Atem raus. Unten angekommen stellten sie das Bett an eine relativ freie Wand.

„So, das Bett oben ist gemacht und ihr könnt es euch dort gerne gemütlich machen. Wollt ihr vorher noch etwas essen? Wir haben noch etwas Brot übrig.“ Für einen kleinen Moment kam mir Glendas Gastfreundlichkeit etwas zu freundlich vor. Behandelt man so wirklich wildfremde Menschen?
Wir sind ja noch nicht mal Menschen ...

„Nein danke, wir haben auf dem Weg schon etwas Proviant gegessen. Nun, dann eine gute Nacht!“ Kanin setzte ein künstliches Lächeln auf und deutete mir, ihm zu folgen.
Das Ehepaar sah schon recht müde aus und wir sollten sie nicht länger stören.

Oben angekommen schloss ich die Tür hinter mir und ließ mich sofort auf das schmale Bett fallen. Der Raum war wahrscheinlich genau so groß wie das Erdgeschoss, jedoch war er vollgestellt mit Kisten, Kartons und sonstigem Rumpel. Kanin schaute kurz durch das kleine Fenster und schloss dann die Fensterläden.

„Wir können wirklich von Glück reden, so früh schon wieder auf etwas Zivilisation getroffen zu haben. Und wie es aussieht, sind wir noch nicht umzingelt worden. Wenn das nicht schon etwas zu viel Glück ist ...“, sagte mein Mentor nachdenklich, während er sich auf die Bettkante setzte.

„Apropos!“ Ich setzte mich ruckartig auf. „Wer zum Teufel waren die? Warum haben sie dich verfolgt? Warum warst du so verletzt? Was um alles in der Welt ist passiert?“ Die Fragen sprudelten nur noch aus mir heraus. Mit einem humorlosen Lächeln schüttelte er den Kopf.

„Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir aufgeflogen wären. Das waren die Leute des Prinzen. Als ich unter der Stadt etwas erledigen musste, rannte ich ihnen quasi in die Arme. Wegen des Überraschungseffektes konnten sie mir tatsächlich etwas anhaben, jedoch haben sie mich etwas enttäuscht.“

„Aber ... wieso?“
Er zuckte mit den Schultern. „Sie haben mich wahrscheinlich schon länger beobachtet und nur auf den richtigen Moment gewartet. Mehr weiß ich selber nicht. Aber ich hatte gehofft, dass wir noch etwas mehr Zeit gehabt hätten.“
Niedergeschlagen fasste er sich an die Stirn.

Mir brannte die Frage noch auf der Zunge, nach was er eigentlich in dem Krankenhaus gesucht hatte, jedoch verkniff ich mir diese. Gerade, als ich meinem Mentor zögernd die Hand auf die Schulter legen wollte, bemerkte ich, wie kein Licht mehr durch den Türschlitz drang.
„Wir warten noch ein bisschen“, schien Kanin meine Gedanken zu beantworten.

Nickend wanderte mein Blick auf das schmale Bett, auf dem wir saßen. Es war wirklich schmal. Ich biss mir auf die Lippe.
Da drauf sollen wir beide schlafen? Ein Kribbeln machte sich in meinem Bauch bemerkbar und still verfluchte ich mich selber für diesen Gedanken. Vielleicht musste ich mich, als Lehrling, ja doch irgendwie unterwürfig zeigen und auf dem Boden schlafen? Immerhin besser, als sich unter die Erde zu verkriechen.

„Was meinst du, werden wir den nächsten Morgen noch hier schlafen können, oder ist es nicht sicher genug?“, versuchte ich das Thema einzulenken.
„Mir wäre es eigentlich lieber, sofort weiter zu gehen, aber die Sonne wird sowieso in ein paar Stunden aufgehen. Außerdem werden es die Spürhunde schwieriger haben, wenn sich unsere Gerüche mit den von Menschen vermischen.“

Kanin stand auf und ging leise zur Tür. „Jetzt sollte es in Ordnung sein. Schade, dass wir ihnen nichts dafür geben können“, flüsterte er, während er die leicht quietschende Tür leise öffnete.
Wir schlichen die Treppe runter und standen uns am Bett gegenüber. Glenda und Fred schienen schon tief zu schlafen, sodass mir Kanin mit einem Nicken zu verstehen gab, dass wir beginnen konnten.

Ich beugte mich über Glenda, atmete tief ein und konnte ihr warmes Blut förmlich riechen. Das Pulsieren der Schlagader ließ meine Fangzähne wachsen und ließ mich einen Moment lang zögern. Ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis ich Menschen nur noch als Blutbeutel sah.

Tu es! Du weißt nicht, was euch noch auf eurem Weg erwarten wird. Wann wirst du dich das nächste Mal nähren können? Vielleicht werdet ihr wochenlang auf keine Zivilisation stoßen? Sie wird es eh nicht merken! Na los!

Ich schloss die Augen, schluckte einmal und biss zu. Das berauschende Gefühl, das es jedes Mal gab, fühlte sich schon etwas normaler an. Das war jetzt meine Natur und es würde sich auch niemals mehr ändern.
Nachdem ich einige kleine Schlucke genommen hatte, schloss ich die Wunde und schaute zu Kanin, der schon die halbe Treppe hinaufgegangen war.

Wieder im Zimmer angekommen zögerte ich, im Gegensatz zum Meistervampir, der sich lässig auf das Bett legte. Seine Gesichtszüge waren nun viel entspannter, nachdem er hoffentlich gesättigt wurde. Ein flüchtiges Lächeln huschte über mein Gesicht. Eine Sorge weniger.

Kamen wir zum nächsten Punkt: Wo soll ich schlafen? Noch nie hatte ich mir so viele Gedanken über so ein banales Thema gemacht. Um jedoch keine Fehler zu begehen, nahm ich mir einen rumliegenden Stofffetzen und formte damit ein Kopfkissen auf dem Boden neben dem Bett. Gerade, als ich mich in eine bequeme Position legen wollte, hörte ich Kanin leise lachen.

„Du willst doch nicht wirklich auf dem Boden schlafen?“
„Ist jedenfalls besser, als inmitten feuchter Erde zu liegen“, erwiderte ich irritiert.
„Das Bett ist breit genug. Wer weiß, wie lange wir noch unseren Schlafplatz unter die Erde verlegen müssen“, erklärte er knapp.

Perplex hob ich den Kopf. „Aber ... Dann ... Ähm ...“, ich wusste nicht genau, was ich antworten sollte. Das ist mir zu peinlich!? Wohl kaum. Kanin rutschte zur Seite und gab mir bedeutend Platz.
„Oder ist dir das etwa zu ... peinlich?“ Das letzte Wort betonte er extra mit einem Hauch von Belustigung.

„Peinlich? Wieso sollte mir so etwas denn peinlich sein?“, fragte ich empört, während ich meine Hände in die Hüften stemmte. Manchmal fragte ich mich, ob Kanin wirklich meine Gedanken lesen konnte, oder ob ich einfach nur wie ein offenes Buch zu lesen war. Ich hoffte nichts von beidem.

Zögernd und leicht nervös legte ich mich auf die äußerste Kante des Bettes, mit dem Gesicht zur Wand. „Gib mir nicht die Schuld, falls ich dich im Schlaf aus dem Bett kicken sollte.“
„In Ordnung“, stimmte er schlicht zu.

Mit weit geöffneten Augen und einem Chaos an Gedanken war an Schlaf nicht zu denken. Zwar war die Sonne noch nicht aufgegangen, aber etwas Entspannung schadete nie. Das war jedenfalls die Idee. „Ist dir das so unangenehm?“
Ich hätte diese Frage so gerne verneint, aber als ich Kanins tiefe und leise Stimme nah an meinem Ohr hörte, war ich mir selber nicht mehr so sicher.

„Ja, also nein, also ... So ist das nicht. Ich hab' bloß noch nie ...“, stammelte ich.
Meine Gedanken rasten. Warum musste er überhaupt so eine Frage stellen? Bestimmt machte er sich einen Spaß aus mir. Ich war wirklich froh, dass er weder meinen Herzschlag, noch die Hitze, die von mir ausgegangen wäre, spüren konnte. Wie praktisch.

Wir lagen eine Weile im Schweigen, während ich den Abend noch einmal Revue passieren ließ. Was wäre gewesen, wenn wir nicht rechtzeitig auf diese Hütte gestoßen wären? Wäre Kanin dann letztendlich am Ende seiner Kräfte durchgedreht? Mir wurde mulmig bei dem Gedanken, also verdrängte ich ihn ganz schnell.

Wir hatten wirklich Glück, so ein nettes Ehepaar getroffen zu haben. Und dennoch taten wir nichts, als sie zu belügen. „Wir erwarten ein Kind,“ hallte der Satz durch meinen Kopf. Aus irgendeinem Grund konnte ich ihn einfach nicht vergessen. Etwas störte mich daran. „Kanin?“, fragte ich leise, doch bekam keine Antwort. War er etwa schon eingeschlafen?

Zögerlich drehte ich mich um, um direkt in ein tiefschwarzes Augenpaar zu blicken. Mein Herz hätte vor lauter Schreck bestimmt aufgehört zu schlagen, wenn ich noch eins gehabt hätte. „Ja, was ist?“ Ich starrte ihn mit großen Augen an. Zwischen unseren Gesichtern war vielleicht zwei Handbreit Platz.

Viel zu nah!
„Ähm ... Was ich dich noch Fragen wollte ... Können –“, ich schluckte. „Können Vampire eigentlich Kinder bekommen?“ Plötzlich fand ich das Regal hinter ihm viel interessanter, als seine durchdringenden Augen.

„Ah, darüber hast du dir also so viele Gedanken gemacht?“ Mein Mentor schien noch genügend Platz zu haben, um sich auf den Rücken zu drehen. „Allison.“ Mein Name klang zum ersten Mal ganz anders. Und mir wurde auch ganz anders. Ich versuchte mich ebenfalls auf den Rücken zu drehen, wobei es unausweichlich war, dass sich unsere Schultern berührten.

„Obwohl wir Menschen sehr ähneln, gibt es doch viel zu viele Unterschiede. Während sie leben, sind wir eigentlich tot. Und aus Tod kann kein neues Leben entstehen. Deswegen gibt es bei den Vampiren auch nicht das menschliche Familiensystem. Bei uns gibt es nur Schöpfer und Geschaffene. Obwohl sich zwischen diesen Kategorien auch noch einiges entwickeln kann, gibt es keine ‚richtigen’ Vampirfamilien.“

Ich atmete tief ein und legte meinen Arm auf meine geschlossenen Augen. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie es wäre, hunderte Jahre lang auf dieser Welt zu wandeln, ohne eine Familie. Ohne richtige Eltern, ohne eigene Kinder. Klar gab es Menschen, denen ein ähnliches Schicksal erwartete. Ich hätte auch einsam leben und einsam sterben können.

Aber nicht für so eine lange Ewigkeit. Einsamkeit schien bei Vampiren vielleicht an der Tagesordnung. „Ist das nicht ... traurig?“ Meine Stimme klang erstickt.
„Mhm“, stimmte Kanin zu. „Aber man kann auch Glück haben und auf Gleichgesinnte treffen, die auch Sehnsucht nach Geborgenheit und Vertrauen haben.“

Und schon wieder schossen mir unwillkürlich Gedanken durch den Kopf.
Hat Kanin wenigstens solch eine „Familie“ gehabt? Hat er Freunde gehabt? Hat er eine Frau, oder sogar einen Mann an seiner Seite gehabt? „Ja“, war das Einzige, was ich herausbrachte. Ich hätte ihn unmöglich all diese Dinge fragen können. Wenigstens wusste ich nun, dass Vampire durchaus auch intimere Beziehungen haben konnten.

Chapter 4: Überraschendes (Wieder-)sehen?

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Kapitel 4 - Überraschendes (Wieder-)sehen?

Am nächsten Abend wachte ich mit einem komischen Gefühl im Nacken auf. Ich lag wieder auf der Seite mit dem Gesicht zur Wand und konnte nur erahnen, was mich da berührte. Seine Haare kitzelten. Hätte er geatmet, hätte ich bestimmt eine Gänsehaut bekommen.

Er musste wahrscheinlich sehr erschöpft gewesen sein, nachdem er so lange gegen den Hunger gekämpft hat. Vielleicht hat ihn auch das gestrige Gespräch zu schaffen gemacht? Eigentlich wusste ich an sich nichts über meinen Mentor, aber seit diesem Gespräch hatte ich das Gefühl, wenigstens einen kleinen Einblick auf sein Gemüt erhascht zu haben.

Vorsichtig stand ich auf, sah jedoch, dass Kanin bereits wach war. „Oh. Ich dachte, du schläfst noch“, war das Einzige, was ich herausbrachte. Der Gedanke, dass er freiwillig in dieser Position, mit seiner Stirn an meinem Nacken, gelegen hatte, machte mich doch ein wenig perplex. Als ob er sich nach Nähe sehnen würde.

„Dir auch einen guten Abend.“ Er wollte gerade aufstehen, als wir Stimmen vernahmen. Eine davon gehörte Glenda und die zweite war männlich, aber viel tiefer, als die von Fred. Wir sahen uns an. Ein Nicken genügte und wir schwangen uns aus dem Fenster.
Sie hatten also aufgeholt. Das war dann wohl Flucht in der letzten Minute.

Ein Hundegebell löste Alarm aus, als wir gerade versuchten uns wegzuschleichen. Wir zögerten keine Sekunde und rannten los. Ich blickte über meine Schulter nach hinten und sah genau dort, wo wir vor ein paar Sekunden auf dem Boden gelandet waren, einen Vampirsoldaten mit einem wütenden Hund. An Kanins Seite wäre es ein Leichtes, sie auszuschalten, aber gewiss ließ die Verstärkung nicht lange auf sich warten.

Wir fuhren also mit unserer Flucht fort, liefen in leichtem Zickzack, bogen einmal nach links, machten eine Kurve; taten alles Mögliche, um ihnen die Verfolgung wenigstens etwas zu erschweren. Als mir auffiel, dass sich das Hundegebell und die Rufe etwas entfernten und die Hoffnung wieder in mir wuchs, tauchte sogleich das nächste Hindernis auf: Verseuchte. Neun Stück, um genauer zu sein.

Kanin und ich zogen gleichzeitig unsere Waffen und gingen in Angriffsposition. Unsere Gegner ließen nicht lange auf sich warten und rannten auf uns zu. Mit gekonnten Manövern wich ich aus, parierte, und ging in die Offensive. Ein Verseuchter lag kopflos auf dem Boden nach nur wenigen Sekunden. Schon drängte sich mir der nächste entgegen, als mir eine Idee kam. Ich sah rüber zu Kanin, der ebenfalls schon eine Leiche vor sich liegen hatte.

„Kanin! Ich habe eine Idee! Folg' mir“, rief ich ihm zu. Er drehte sich um und lief mir hinterher, in genau die Richtung, aus der wir gekommen sind. Nicht weit sah ich auch schon die Silhouetten der Vampirsoldaten vor uns aufragen. Das wilde Gekreische der Verseuchten immer noch deutlich hörbar, gab mir Kanin mit einem Blick zu verstehen, dass er nun wusste, was zu tun war.

Wir liefen dem feindlichen Trupp entgegen, so nah es ging, und schlugen abrupt Haken in die nächsten Büsche. Kanin und ich spalteten uns auf, sodass die Verseuchten geradewegs auf die Soldaten zuliefen. Leicht überrascht konzentrierte sich der Trupp, der nun erkennbar aus fünf Leuten bestand, auf die neuen Gegner. Mir war bewusst, dass dieser Kampf nicht lange dauern würde, sodass ich mich schnell wieder auf die Beine machte.

Nach einigen hundert Metern tauchte Kanin wieder an meiner Seite auf und wir glitten wortlos zwischen den Bäumen durch die Nacht. Wir versuchten immer wieder den Kurs zu wechseln, aber ob das viel brachte, wusste ich nicht.

Die ganze Zeit über sprachen wir kein Wort, bis wir nach einer Weile auf eine asphaltierte Straße stießen. „Folgen wir einer Straße lang genug, kommen wir wahrscheinlich an Zivilisation vorbei, oder nicht?“, fragte ich meinen Mentor, der zustimmend nickte.

„Wir bleiben trotzdem besser im Schatten des Waldrandes. Auf offener Straße sind wir viel zu leicht zu entdecken“, fügte er hinzu. Gehorsam folge ich ihm die Straße entlang.
Und das für eine lange Zeit.

***

Die anfängliche Begeisterung für die Wildnis, die freie Natur und generell für das Gefühl, keine Grenzen zu haben, wich bald dem Gefühl von unbeeindruckender Monotonie. Die Straße führte durch kleine Ortschaften, Dörfer, Siedlungen; machte Kurven, teilte sich auf und durchkreuzte andere Straßen.

Ich fühlte mich so ziellos, herumirrend durch menschenleere und vergessene Relikte der Vergangenheit. Die einzigen Lebewesen, die uns begegnet waren, waren ehemalige Waldbewohner, die sich nun ihren Lebensraum wieder zurückerobert hatten.

Mein Meister und ich unterhielten uns kaum. Manchmal gab ich verwunderte Bemerkungen von mir, als ich mir neuartige, alte Technik aus der Vorzeit zum ersten Mal gesehen hatte. Aber wirkliche Gespräche sind dadurch nicht entstanden. Kanin blieb wohl Kanin. Wenn er nichts zu erzählen hatte und ich ihm auch keine Fragen stellte, bemühte er sich nicht um irgendwelche Konversationen.

Wir wanderten ungefähr eine Woche lang in dieser Routine und ich fragte mich allmählich, wann die ganze Wanderei ein Ende haben würde. Ich hoffte jedes Mal, als wir eine Geisterstadt betraten, dass wir ein Zeichen von noch lebender Zivilisation finden würden.
Und diesmal würde ich nicht enttäuscht werden.

Kaum waren wir im Zentrum der Kleinstadt hörte ich ein Geräusch. „Hast du das auch gehört?“, fragte ich Kanin, während ich stehen blieb. Wir sahen uns um und vernahmen ein leises Schluchzen. Ein menschliches, wohl gemerkt. Mein Hunger machte sich bemerkbar und ich zog misstrauisch mein Katana.

Langsam gingen wir auf die Quelle des Wimmerns zu. Es kam von einem Autowrack, das ganz in unserer Nähe stand. Mit einem Blick zu Kanin machte ich mich auf alles Mögliche bereit. Es könnte ja eine Falle sein, wer weiß.

Als wir nun so weit waren, dass wir hinter das Auto gucken konnten, staunte ich nicht schlecht, als ich den ängstlichen Blick einer kleinen, zusammengekauerten Gestalt einfing. Der innere Dämon in mir wollte keinen Augenblick zögern und diesem Menschlein seine Reißzähne in die Kehle schlagen.

„Bist du alleine hier?“, unterbrach Kanin meinen inneren Kampf. Schniefend schüttelte der kleine Junge seinen Kopf.
„Sie sind weg! I-Ich weiß nicht, wo sie –“, ein lautes Schluchzen unterbrach seine zitternde Stimme. Voller Mitgefühl steckte ich mein Katana weg und hockte mich neben ihn.

„Keine Sorge, wir helfen dir suchen“, sprach ich ihm ermutigend zu.
„Wirklich?“ Seine Laune hellte sich in wenigen Sekunden wieder auf. Ich blickte zu Kanin, dessen Gesichtszüge nun ebenfalls weich wurden.
„Wo hast du sie denn das letzte Mal gesehen? Wen suchst du überhaupt?“

„Die anderen! Sie waren da hinten und sind einfach weggegangen.“ Ein weiterer Schluchzer entwich ihm. Kanin nickte mir zu und ich hielt dem kleinen Jungen meine Hand hin.
„Komm, wir werden sie finden.“ Zum einen wollte ich dem Kleinen natürlich helfen, denn ein Herz hatte ich in mancher Hinsicht immer noch, aber zum anderen ließ der Gedanke an weiteren Menschen meinen Hunger wachsen.

Vielleicht konnten wir uns freundlich zu ihnen gesellen, ihnen bei etwas helfen und dann im Gegenzug etwas von ihrem Blut nehmen. Der Gedanke war schön und gut, aber mein Misstrauen wuchs trotzdem. Welche Menschen ließen einen kleinen Jungen mitten in der Nacht in einer verlassenen Stadt alleine? War das vielleicht doch nur eine Falle von irgendwelchen Banditen? Wir mussten es wohl selber herausfinden.

Das wichtige war jetzt, das Beste zu hoffen. Wann würden wir das nächste Mal wieder auf Menschen treffen? Kanin mochte vielleicht eine längere Zeit ohne sich zu nähren aushalten, aber ich konnte mir keine Chance entgehen lassen. Obwohl mir der Gedanke von menschlichem Blut in meinem Mund immer noch nicht ganz passte. Aber dagegen tun konnte ich nichts.

Wir schlängelten uns durch verrostete Autowracks, wichen Scherben aus und passierten zerfallene Gebäude. Der Kleine klammerte sich an meine Hand, während ich innerlich hoffte, er würde die Kälte meiner Haut nicht bemerken. Mein Mentor folgte uns mit ein paar Metern Abstand.

Plötzlich hielt ich inne. Im selben Moment nahm ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. „Keinen Schritt weiter!“, ertönte eine feste Stimme aus den naheliegenden Ruinen.
Ich blickte in das blaue Augenpaar eines ungefähr gleichaltrigen Fremden, der eine Pistole auf mich richtete.

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in mir aus. Dieser Junge … kam mir von irgendwoher bekannt vor. Was natürlich unmöglich war. Ich habe ihn ganz sicher noch nie zuvor in meinem Leben gesehen, aber dennoch ging von seinen Augen etwas Spezielles aus. Das Gefühl von Vertrauen und Vergangenheit spiegelten sich in ihnen wider.

Meine Mom hatte mir damals gerne von wirren Theorien erzählt. Wiedergeburten, Seelenverwandte, frühere Leben und so etwas. Ich habe das nie wirklich verstanden und dachte, sie würde nur daherreden. Aber jetzt glaubte ich, so etwas Magisches am eigenen Leibe erfahren zu dürfen. Kannte ich diese Person aus einem früheren Leben? War er mein Seelenverwandter?

Ich wusste es nicht und würde es wahrscheinlich nie herausfinden. Es weckte zwar meine Neugier, aber ich konnte ihn wohl schlecht fragen. Ob er auch so über mich dachte? Ob ich ihm auch so bekannt vorkam? Ich biss mir auf die Lippe.

„Zee!“ Der kleine Junge ließ meine Hand los und rannte auf den Fremden zu, der ihn auf den Arm nahm.
„Wieso stellst du uns nicht vor?“, fragte er, den Blick immer noch auf mich gerichtet.
„Ähm, also …“
„Wir wollten jetzt sowieso gehen. Ihr habt euren Jungen, wir wollen keinen Ärger“, erklärte Kanin ruhig.

„Kommt doch mit“, meldete sich der Kleine wieder. „Ihr habt mir doch geholfen. Wir können euch etwas von unserem Essen abgeben.“ Eine leicht peinliche Atmosphäre entstand. Auf der einen Seite Kanin und ich, zwei fremde Wanderer, die unbekannte Motive verfolgten und auf der anderen Seite ebenfalls zwei fremde Personen, die Grund genug hatten, uns all ihr Misstrauen entgegen zu bringen.

„Was Caleb sagt, stimmt wohl. Aber dafür würde ich gerne wissen, wer ihr seid und was ihr hier draußen mitten in der Nacht macht.“ Noch immer hielt er unschlüssig seine Pistole auf mich.
„Wie gesagt, wir kommen gut alleine zurecht und werden jetzt weitergehen. Falls ihr eine größere Gruppe seid, werdet ihr jegliche Nahrung brauchen, die ihr finden könnt. Da wollen wir euch nicht belasten“, redete sich mein Mentor geschickt heraus.

Er hatte Recht. Falls es eine Gruppe von Menschen gab, an die wir uns anschließen würden, würde es sehr riskant für uns werden. Zum einen würden wir nichts vor ihren Augen essen können, denn wie Kanin mich gelehrt hat, können Vampire keine menschliche Nahrung für länger als ein paar Sekunden bei sich behalten.

Zum anderen würde es für mich persönlich zu einer harten Probe werden. Mehrere Menschen um mich herum und der konstante Hunger in meinem Nacken? Da würde mir das Nähren wohl noch schwieriger fallen. Besser also, wir schlichen uns eines nachts in ihr Lager und nahmen uns unbemerkt das, was wir zum Überleben brauchten.

„Das macht nichts! Wir nehmen häufiger neue Mitglieder auf. Unser Anführer untersagt niemandem Nahrung und Unterkunft. Ihr habt Caleb nicht alleine gelassen, weswegen wir uns bedanken sollten.“
„Danke, das ist wirklich nett, aber wir müssen jetzt weiter“, mischte ich mich freundlich ein. Ich wollte, dass er aufhörte zu reden, denn je mehr er redete, desto neugieriger wurde ich. Wieso bloß kam er mir so vertraut vor?

Er schaute mir wieder in die Augen und ließ langsam seine Waffe sinken. „Tja, da kann man wohl nichts machen. Sorry, Caleb, aber deine neuen Freunde wollen leider nicht mit uns mitkommen“, gab er sich geschlagen.
„Och Menno!“, protestierte der schmollende Caleb.
„Tut mir Leid Kleiner. Freut mich, dass wir dir helfen konnten. Vielleicht werden wir uns ja mal wiedersehen.“ Ich gab ihm meine Hand, um mich zu verabschieden.

Widerwillig nahm er sie und schüttelte sie leicht. Mein Blick wanderte von Caleb zum vertrauten Fremden. Auch ihm hielt ich meine Hand hin. Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen, obwohl seine Augen enttäuscht aussahen. Als er meine Hand nahm funkelten sie. Ich hatte keine Zweifel mehr, dass er genauso empfand, wie ich. Dass wir uns vielleicht in einem früheren Leben schon mal getroffen haben.

Vielleicht hatten wir uns sogar richtig gut gekannt. Die Antwort darauf würde wohl nur in den Sternen stehen, denn jetzt wandte ich mich ab und ging zu Kanin. Er nickte dem Jungen nur zu und wir machten uns wieder auf den Weg.

„Eine Frage noch!“, hörte ich nach einigen Metern hinter mir den Fremden rufen. Ich blieb stehen und drehte mich um. „Wie heißt du?“
„Allison.“ Ich zögerte. Vielleicht hätte ich meinen echten Namen doch nicht sagen sollen. „Und du?“
„Zeke. Zeke Crosse.“ Da. Da war es wieder. Das Gefühl von Vertrautheit. Zeke ... Ezekiel?

Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, um ihn die Frage zu stellen, die mich seit unserem ersten Blickkontakt brennend interessierte. Aber ich schloss ihn wieder. Manche Sachen sollten wohl unausgesprochen bleiben, damit das Universum nicht gestört werden würde. Getröstet mit diesem Gedanken nickte ich ihm zu.

Ein letzter Blick und ich kehrte ihm für immer den Rücken zu. Tschüss, Zeke. Vielleicht laufen wir uns in einem anderen Leben wieder über den Weg.

Als wir außer hörbarer Reichweite waren, wurden wir langsamer. „Wir werden uns wohl oder übel von ihnen nähren müssen, oder?“, fragte ich alles andere als begeistert.
„Ja, da wir nicht abschätzen können, wann uns das nächste Mal wieder Menschen begegnen werden. Von daher werden wir ihnen folgen.“
„Mhm.“ Nun blieb ich ganz stehen.

Gedankenverloren starrte ich geradeaus. Was hatte wohl die Allison aus dem anderen Leben getan? Sich der Gruppe angeschlossen und die ganze Zeit das nagende Hungergefühl unterdrückt? Sich mit den Menschen angefreundet und ihnen vertraut? Oder hatte sie sie nur ausgenutzt; nur als lebende Blutsäcke betrachtet? Ich wusste es nicht, bezweifelte aber letzteres.

Die Allie aus dem Saum hätte ihnen jedenfalls ganz sicher nicht vertraut, aber die gab es nun nicht mehr. Ganz allein meine Entscheidung im Hier und Jetzt zählte. Und die war, dass ich mit meinem Schöpfer im Dunkeln versteckt blieb und die Menschen nur aus der Ferne betrachte.

„Allison? Ist alles okay?“, fragte Kanin stirnrunzelnd, als er sich zu mir umgedreht hat.
„Hm? Was? Wieso?“ Verwirrt blinzelte ich und bemerkte etwas Feuchtes auf meiner Wange. Weine ich? Ich wischte mir mit dem Ärmel einmal über das Gesicht und setzte ein Lächeln auf. „Die Sonne geht bald auf. Ich denke, wir sollten langsam diese Gruppe aufsuchen.“

Kanin nickte stumm. Es sah so aus, als ob er noch etwas sagen wollte, aber anscheinend entschied er sich dagegen.
Schweigend gingen wir wieder in die Richtung, aus der wir gekommen sind.
„Ich hoffe du weißt, wieso wir nicht bei ihnen bleiben können“, hörte ich Kanin neben mir leise sagen.

„Ja, ich weiß. Ich würde mir das nicht antun wollen. Allein der Gedanke an einer Menschenmenge löst in mir Hunger aus. Und ganz sicher will ich nicht riskieren, dass ich plötzlich die Kontrolle verliere und alles in einem Blutbad endet.“
Kanin musterte mich prüfend. „Das ist reine Übungssache. Glaub mir, wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.“ Sanft drückte er kurz meine Schulter.

Zwar heiterten mich diese Worte etwas auf, aber ich wäre trotzdem am liebsten davongerannt. Und ich war Kanin sehr dankbar, dass er nicht genervt die Augen verdrehte oder sonst etwas.

Chapter 5: Seelenverwandschaft?

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Kapitel 5 – Seelenverwandschaft?

Wir spürten die Menschengruppe an einer kleinen Wohnanlage auf. Ein Wachposten war an einem Tor postiert und wir hielten genügend Abstand, um die Lage unbemerkt abzuschätzen.

Auf dem Hof standen sehr dünne, wohl halb verhungerte Erwachsene und ungefähr genauso viele Kinder und Jugendliche in einem Kreis um ein Lagerfeuer. Anscheinend wurde gerade Essen verteilt. Die Stimmung war entspannt; anscheinend ahnten sie nicht, dass sie beobachtet wurden.

Wahrscheinlich rechnete auch niemand damit, hier in den Ruinen einer Geisterstadt auf Vampire zu treffen. Verseuchte waren auch nicht in der Nähe, weswegen sie wohl so sorglos wirkten.
Instinktiv hielt ich nach einer bestimmten Person Ausschau, die ich aber nirgends finden konnte. War wahrscheinlich auch besser so.

Nach ungefähr einer Stunde leerte sich der Hof und der ganze Trupp teilte sich auf. Alle verschwanden in den umherstehenden Häusern. „Sieht so aus, als ob sie klugerweise den gleichen Schlafrhythmus wie wir haben“, bemerkte Kanin schließlich.
„Aber das heißt ja, dass wir uns ihnen erst beim Morgengrauen nähern können!?“ Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus.

Es war sehr riskant. Vielleicht sogar schon zu riskant. Kanin mochte vielleicht noch einige Stunden nach Sonnenaufgang wach bleiben können, aber ich war noch sehr untrainiert, was das anging. „Was glaubst du, wie schnell kann man es sich antrainieren, länger wach zu bleiben?“

„Das kommt ganz drauf an. Einige Tage, mehrere Wochen, bis hin zu ein paar Monaten.“
„Hast du irgendwelche Tipps? Irgendeine Technik, die mir helfen könnte?“
Ein leichtes Lächeln huschte kurz über seine Lippen. „Ich glaube, ich kann dir etwas helfen.“

Wir machten uns schnell auf die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz. Nicht weit war eine zweistöckige Häuserreihe mit noch intakten Dächern. In einem der Häuser durchsuchte Kanin die obere Etage, während ich mich im Erdgeschoss umsah.
Ich fand ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Badezimmer. Der Geruch von Moder und Schimmel haftete an den Wänden, deren Tapete schon fast komplett abgeblättert war.

An den Fenstern waren keine Gardinen, also hoffte ich, dass Kanin über mir mehr Glück hatte.
Nachdem ich die knarzenden Stufen herauf gegangen war, gesellte ich mich zu meinem Mentor, der in einem Raum am anderen Ende der Diele stand. Die dicken Gardinen hatte er bereits zugezogen, sodass kein Licht eindringen konnte.

Nicht mal mehr eine Viertelstunde bis Sonnenaufgang. In den letzten Tagen lag ich zu dieser Zeit bereits unter der Erde und schlummerte tief und fest. Jetzt aber saß ich im Schneidersitz auf dem Boden; meinem Schöpfer gegenüber. „Das Wichtigste ist, nicht an Schlaf zu denken“, begann Kanin. „Versuche dich abzulenken, deine Gedanken auf etwas anderes zu fokussieren.“

„Leichter gesagt, als getan, wenn meine Augenlider so schwer sind, wie Steine“, erwiderte ich vielleicht etwas zu scharf.
„Allison, du wolltest meine Hilfe, also lass mich dir helfen.“
„Ja, okay, schon gut.“ Ich seufzte.

„Nun denn, für den Anfang kann ich dir diesen Part etwas erleichtern. Frag mich irgendetwas.“
Ich hob meine Augenbrauen.
„Ich meine es ernst. Frag mich etwas über Vampirpolitik, über Kunst, andere Länder, die moderne Welt der Menschen vor der Seuche, egal was.“

„Wow, der großartige Meistervampir Kanin spuckt freiwillig all seine Geheimnisse aus. Das kann den ganzen Tag so weitergehen, hoffentlich wirst du’s nicht bereuen.“
Ich überlegte kurz. Beim Thema Vampirpolitik würde mir wahrscheinlich schon nach drei Sekunden die Augen zufallen. Es sollte mich also wirklich interessieren.
„Was ist dein Lieblingsbuch?“ Diese Frage schien ihn zu überraschen, denn er hob perplex eine Augenbraue.

„Damit hätte ich rechnen sollen“, stellte er schmunzelnd fest. „Ehrlich gesagt bin ich ein großer Fan von Shakespeares ‚Romeo und Julia’. Es ist ein literarischer Klassiker aus dem 16. Jahrhundert, geschrieben vom Meister der Dramatik.“

„Worum geht es in dem Buch?“
„Kurz gefasst geht es um ein junges Liebespaar aus zwei verfeindeten Familien. Aufgrund von Missverständnissen nehmen sich die beiden nacheinander das Leben, obwohl es vermeidbar gewesen wäre. Eine wahre Tragödie.“ Er lächelte traurig.

„Wow,“ ich hatte nicht mit so etwas gerechnet. „Du magst Liebesgeschichten? Passt gar nicht zu dir.“
„Nur, weil ich so kalt zu dir bin, bedeutet es noch lange nicht, dass mich so etwas nicht interessiert.“
„Hm, da hast du wohl recht. Und was ist mit deinem Lieblingsort? Bist du viel gereist?“
Nun glitt sein Blick in die Ferne, als ob er seine Erinnerungen klar vor den Augen hatte.

„Ich bin ein paar Mal nach Europa gereist. Einmal war ich sogar in Asien. Sehr schöne Länder, mit Kulturen so unterschiedlich, wie du sie dir nicht vorstellen kannst.“
„Hast du Heimweh bekommen?“
„Oh nein, wohl eher das Gegenteil. Mich hat es schon immer in die Ferne gezogen. Selbst hier in Amerika war ich nie sehr lange an einem Ort.“

„Wie sah es mit Freunden aus? Hattest du viele?“ Hoffentlich wurden ihm die Fragen nicht zu persönlich.
„Viel kann man es nicht nennen, aber ich hatte durchaus genügend.“
„Wie sah es aus mit ...“, ich stockte. Mir kamen wieder die mystischen Phänomene in den Kopf, von denen mir meine Mom erzählt hatte. So etwas wie Wiedergeburt hatte ich heute ja schon erlebt, davon musste mir niemand mehr was erzählen. Aber wie war es mit den ... „Seelenverwandten?“

Anscheinend überraschte ich Kanin mit meinen Fragen immer wieder. Eine bleierne Schwere machte sich langsam in meinem Körper breit und ich spürte, dass in dem Moment die Sonne über dem Horizont gewandert sein musste. Komm schon, Allie. Noch ein wenig länger durchhalten!

„Seelenverwandte?“ Wusste Kanin überhaupt, was das war? Vielleicht war das auch nur eine Erfindung meiner Mom.
„Ich bin erstaunt, dass du diesen Begriff überhaupt kennst. Seelenverwandtschaft ist ein seltenes Phänomen, das nicht jeder erleben darf. Manche leben ihr Leben lang mit dem Unwissen, ob sie überhaupt einen haben.

Viele sagen aber, dass wirklich jeder einen Seelenverwandten hat. Andere wiederum sagen, dass man im Leben auf mehrere trifft, die einem durch den jeweiligen Lebensabschnitt helfen.“
„Ja, das ist ja schön und gut, aber ich habe die Frage auf dich bezogen.“
„ ... Wie alle anderen Fragen bis jetzt auch“, murmelte er kaum hörbar.

Er schaute mir in die Augen, als ob er nach irgendetwas suchen würde. „Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich kenne meinen Seelenverwandten. Das Gefühl von Seelenverwandtschaft ist nicht immer sehr eindeutig, aber bei mir war es das. Ich wusste, was es war, ohne lange darüber nachdenken zu müssen.“

„Wie war diese Person so?“ Große Neugier packte mich und ließ mich die Müdigkeit für einen Moment vergessen. Doch kurz darauf war sie wieder da – und zerrte an mir. Ich musste mich nun wirklich darauf konzentrieren, die Augen offen zu halten. Mit den Augen zu blinzeln traute ich mich fast gar nicht mehr.

„Sie ist mir erstaunlich ähnlich“, begann Kanin, während er langsam aufstand. „Das war mit das erste, was mir an ihr aufgefallen war. In manchen Momenten war es sogar so, als ob ich in einen Spiegel gucken würde.“ Er wich meinem Blick aus und ein Lächeln breitete sich aus.

Ich musste mich nun mit den Händen am Boden abstützen, um nicht umzufallen. Verdammt, Allie! Es ist jetzt viel zu interessant, als dass du einschlafen dürftest! „Wie ... Wie fühlte sich das an? Als du sie erkannt hast?“
Mein Mentor drehte mir nun vollkommen den Rücken zu und stand am anderen Ende des Raumes.

„Ich habe sofort Verschiedenes gespürt. Die Verbindung; ein unsichtbares Band, das uns zu verbinden schien. Das Wissen, dass diese Person große Einwirkung auf mein Leben haben würde. Es war keine Vertrautheit, denn ich hatte mit ihr noch kein Wort gewechselt, aber etwas sagte mir, dass ich sie nicht so einfach gehen lassen sollte.

Im ersten Moment war ich mir noch unsicher, da ich so etwas noch nie zuvor gefühlt hatte, aber als ich sie dann zum zweiten Mal getroffen habe, war mir klar, was das bedeutete. Ich wollte mehr von ihr erfahren, wollte sie studieren und alles Mögliche über sie wissen, doch ich hatte die Befürchtung, dass diese Gefühle der Verbundenheit nur einseitig waren.

Also habe ich das Ganze für mich behalten. Es hat sich aber dennoch nichts daran geändert, dass ich diese Person nicht so schnell aus den Augen lassen wollte.“
Langsam verließen mich meine Kräfte. Seit Kanin aufgestanden war, war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis ich einschlief, da mich jetzt niemand daran hinderte, die Augen zu schließen.

„Wo … ist diese Person jetzt? Und …“, noch einmal sammelte ich meine Konzentration, „… wie heißt sie?“ Es mochte merkwürdig erscheinen, aber ich wollte unbedingt den Namen der Person hören, die Kanin als so wichtig empfand. Vielleicht war sie ja auch ein Vampir und lebte noch. Aber wieso redete Kanin dann nie über sie? Vielleicht ist sie ja doch schon gestorben.

Mit diesen Gedanken glitt ich langsam in die innere Dunkelheit. Ich konnte hören, dass er: „Allison!“ rief, bis ich endgültig bewusstlos wurde.

Chapter 6: Hartes Training

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Kapitel 6 – Hartes Training

Ich wachte in einem weichen Bett in stockfinsterer Dunkelheit auf. Was war passiert? Ich schloss wieder die Augen und ließ meine letzten Erinnerungen Revue passieren. Kanin und ich hatten über Seelenverwandte geredet und ... Was war meine letzte Frage gewesen? Nur schwach und sehr verschwommen kamen die Erinnerungen hoch.

Hatte er meinen Namen gesagt? Ich biss mir auf die Lippe. Wahrscheinlich nur, weil du vor seinen Augen eingeschlafen bist und er sehr enttäuscht gewesen sein muss. … Oder?

Plötzlich fiel mir etwas ganz anderes auf: Ich lag nicht mehr auf dem Boden! Erschrocken öffnete ich wieder meine Augen und blickte in das allzu bekannte schwarze Augenpaar, das mich von einer Ecke aus beobachtete. „Wie lange habe ich durchgehalten?“

„Keine halbe Stunde“, informierte mich mein Schöpfer. Wow. Allison, du bist ein wahrer Kämpfer. Sarkastischer ging's nicht.
„Es würde vermutlich für uns reichen, aber wir können es morgen früh noch einmal versuchen; diesmal mit einer anderen Methode.“

„Gern, wenn's mir weiterhilft“, stimmte ich zu. Wir gingen aus dem Zimmer nach draußen, in die kühle, frische Luft. Wir durften die Menschen nicht aus den Augen verlieren; sie waren unsere einzige Nahrungsquelle in dieser verlassenen Gegend.

Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir nun mehr reden würden, da wir letzten Morgen so offen zueinander waren, aber da hatte ich mich geirrt. Kanin war wieder zu seiner normalen, schweigsamen selbst geworden. Aber mal gucken, wie es dann heute Morgen werden würde. Was Kanins nächster Plan sein mochte?

Nachdem wir zum Hof der Wohnanlage gegangen waren, teilten ein paar Leute gerade das Frühstück aus. Wir kauerten uns hinter den gleichen Ruinen wie gestern und lauschten. Sie würden wohl gleich weitergehen. Ich blickte zu Kanin, er nickte mir zu und wir gingen auf Abstand zur Gruppe.

Als sie dann aufbrachen, folgten wir ihnen aus der Stadt heraus, einer Landstraße entlang.
Wir hielten uns immer im Abseits, sicher verdeckt von den dunklen Schatten. Gleichzeitig hielten wir aber auch nach Verseuchten Ausschau. Elf Menschen waren schon eine Menge, um sie anzulocken.

Jedoch verlief diese Wanderung ohne weitere Zwischenfälle. Mit nur noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang schlugen sie ihr Lager abseits der Landstraße auf einer Wiese auf. Ich hielt mich hinter den Bäumen, die rings um den offenen Platz standen. Wie sollten wir hier nach Sonnenaufgang ohne Versteck draußen bleiben können?

Vermutlich hatte Kanin den gleichen Gedanken, denn er rief nach mir. „Allison. Wir können schon mal unsere Schlafplätze innerhalb tiefer Schatten ausgraben. Wenn die Sonne aufgegangen ist, dürfen wir die Schatten keinesfalls verlassen, hast du verstanden?“

„Ich bin zwar noch nicht lange ein Vampir, aber das macht mich noch lange nicht blöd“, fauchte ich zurück. Mir war auch gar nicht bewusst, wie das überhaupt gehen sollte. Die Vampirinstinkte schrien förmlich jedes Mal, egal ob man nach Sonnenaufgang im Schatten, oder in der Sonne war.
Ich fragte mich, wie ich es überhaupt schaffen sollte, hier draußen, ganz ohne schattigem Dach über dem Kopf, länger als mehrere Minuten nach Sonnenaufgang auszuhalten. Das war dann wohl Teil zwei meines Trainings.

Nervös zählte ich die Minuten bis zum Morgengrauen, nachdem wir unsere nicht weit entfernten Gräber ausgehoben haben. Die Menschengruppe hatte Essen ausgeteilt, ihre Zelte aufgeschlagen und Wachen aufgestellt. Es konnte also losgehen. Aber ... womit eigentlich?

„Kanin? Was genau machen wir jetzt überhaupt? Das mit dem Reden hat ja nicht ganz so gut geklappt.“ Etwas Silbernes blitzte auf und bevor ich überhaupt registrieren konnte, was da auf mich zukam, setzte ich einen Schritt zurück zum Ausweichen. Und das war auch gut so, denn Kanin hatte mich tatsächlich mit seinem Dolch angegriffen.

Ohne zu zögern zog ich mein Katana und verstand. Kämpfen würde mich nicht nur wachhalten, sondern auch auf mögliche, brenzlige Situationen in der Zukunft vorbereiten. Mit meinen jetzigen Fähigkeiten wäre ich wohl kaum zu einem ernsthaften Kampf nach Sonnenaufgang imstande.

Wir umkreisten einander zwischen den Bäumen. Mittlerweile färbte sich der Himmel schon hellblau und zartrosa. Das Zwitschern der Vögel war nun das einzige Geräusch, das durch die schlafende Natur in meinen Ohren klang. Unsere Schritte waren nicht hörbar, wenn ich nicht gerade unachtsamer Weise auf ein trockenes Blatt, oder ein kleines Ästchen trat.

Ich wollte nicht mehr warten und zielte auf Kanins Kehle. Es wirkte, als ob er schon damit gerechnet hätte, sodass er mühelos zur Seite auswich, sich graziös um die halbe Achse drehte und nun auf meine offene Seite zustürmte. Ich konnte nur sehr knapp mit meinem Schwert parieren und geriet aus dem Gleichgewicht.

Die Wucht, mit der sein Dolch auf mein Katana krachte, hatte ich nicht erwartet. Mein Mentor dachte also nicht daran, erst einmal leicht anzufangen, so wie er es damals bei meinem Training im Krankenhaus immer getan hat.
Diese eine Sekunde, in der ich ungeschützt mein Gleichgewicht finden musste, ließ er natürlich nicht ohne Angriff aus. Diesmal aber stieß er mit seinem Handballen gegen mein Brustbein, sodass ich das letzte bisschen an Gleichgewicht wieder verlor und auf mein Gesäß fiel.

Ich spürte seinen Dolch an meinem Kinn und blickte in seine tiefen Augen. Es sah für einen Moment so aus, als ob er schmunzelte. Na wenigstens hatte einer hier seinen Spaß. „Du hast gewonnen“, gab ich mich geschlagen.
„Noch ist nichts vorbei“. Er ließ seinen Dolch sinken und bot mir seine freie Hand an.

Irritiert blickte ich auf sie, dann auf Kanin, dann wieder auf seine Hand. Normalerweise würde ich solch ein Angebot nicht annehmen, aber diesmal machte ich eine Ausnahme. Ich hatte Kanins Hand noch nie berührt, von daher wollte ich mir diese Chance nicht entgehen lassen.

Seine Haut fühlte sich warm an, obwohl sie kalt war. Ich zog mich hoch und hielt direkt wieder inne, als ich etwas Metallernes an meinem Rücken spürte. „Sei immer jedem misstrauisch“, hörte ich meinen Meister leise sagen. Ich verdrehte die Augen.
„Wäre dies ein Kampf mit jemand Fremden, würde ich mir ganz bestimmt nicht hoch helfen lassen.“

„Wäre das ein Kampf mit jemand Fremden, hättest du schon längst verloren“, gab er scharf zurück.
Ich wollte etwas erwidern, jedoch behielt ich es lieber für mich. Kanin konnte mich schon gut einschätzen, also sollte ich ihm wohl glauben, auch wenn ich anderer Meinung war.
Passte irgendwie nicht zu mir.

Wir umkreisten uns ein zweites Mal, aber diesmal spürte ich schon den inneren Druck, schnell in mein kühles Grab zu verschwinden. Ich musste all meine Konzentration auf meinen Schöpfer mit seinem gefährlichen Dolch richten. Ihm konnte man überhaupt nicht anmerken, dass die Sonne schon langsam über den Horizont kroch.

Diesmal versuchte ich eine andere Taktik. Ich täuschte einen rechten Seitenhieb an, zog mein Schwert in letzter Sekunde zurück und zielte nun auf seine gegenüberliegende Seite. Noch bevor ich auf den kalten Körper traf, kreischten unsere Klingen wieder, als sie aufeinandertrafen.

Irgendwie überraschte mich das nicht. Hoffentlich war das aber dank Kanins schnellen Reflexen und nicht, weil ich wie ein offenes Buch zu lesen war. „Viel zu leicht zu durchschauen“, war sein Kommentar zu meiner genialen Taktik. Und wieder setzte er zu einem erneuten Gegenangriff an. Und wieder war er so schnell, so überraschend, dass ich nicht wusste, wie mir geschah.

Sein Dolch hatte es auf meine Kehle abgesehen, sodass ich reflexartig mit dem Katana parierte, aber es endete wieder damit, dass ich auf meinen Rücken fiel. Auf seine Stärke hatte ich mich schon eingestellt, aber meinem Körper fehlte es mittlerweile an Kraft, sodass ich ihm nicht standhalten konnte.

Nun aber landete Kanin auf mir. Genauer gesagt saß er auf mir, sodass ich nicht die geringste Chance hatte, wieder aufzustehen. Mit einer Hand pinnte er meinen Schwertarm am Boden fest und mit seiner Dolchhand ging er mir an die Kehle. „Konzentration allein reicht nicht, Allison. Dein Körper wird schwach, sobald die Sonne aufgegangen ist.

Versuche dir vorzustellen, dass es erst mitten in der Nacht sei und dass es um Leben und Tod ginge,“ erklärte er mir mit seinem Gesicht nur weniger Zentimeter von meinem entfernt. Ich musste schlucken. Nicht nur, weil er bedrohlich wirkte, sondern auch, weil er mir so verdammt nahe war.

In dieser Position lag ich ihm schutzlos ausgeliefert, aber wehren wollte ich mich nicht. Natürlich löste die scharfe Klinge an meinem Hals Unbehagen in mir aus, aber sein Gewicht auf mir erzeugte auch ein ganz anderes Gefühl. Etwas, das nach mehr rief.

Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, stand er wieder auf. Etwas enttäuscht richtete ich mich ebenfalls mühsam auf und erschrak. Um uns herum hatten sich die Schatten drastisch minimiert. Leicht panisch blickte ich gen Osten. Strahlende Sonne, keine Wolke weit und breit und zwei Vampire, die unter freiem Himmel standen.

Die Bäume spendeten zwar noch genügend Schatten, sodass wir nicht gleich in Flammen aufgingen, aber es waren schon deutlichere Lücken entstanden. Ich knöpfte mir meinen Mantel zu, der meine Haut hoffentlich im Notfall etwas schützen würde.

Am liebsten hätte ich unser Training abgebrochen, damit ich meinen Instinkten folgen konnte, aber das war nicht der Sinn unserer Übung. Sinn unserer Übung wäre es aber auch nicht gewesen, dass wir beide aus Versehen zu Asche verbrennen würden. Jetzt hieß es also, nicht nur auf Kanin zu achten, sondern auch auf die Umgebung. Na, das konnte ja heiter werden.

Ich fand es schon schwierig genug, auf beiden Beinen zu stehen, geschweige denn meine Augen offen zu halten. Es wurde also zu einem richtigen Kraftakt, aber dennoch hob ich mein Schwert und ging in Position. Umkreisen konnten wir uns nicht mehr; wir standen still und warteten, bis der andere einen Schritt tat.

Seine Augen fixierend versuchte ich nun bloß nicht dem Schlaf nachzugeben. Er war ein fast schon härterer Gegner als mein Mentor. Ich konnte nicht verhindern, dass ich nun häufiger und immer länger blinzeln musste. Und genau den Moment, in dem ich meine Augen hilfloser Weise für eine komplette Sekunde geschlossen hatte, nutzte Kanin aus.

Er war mit schnellen Schritten bei mir, ergriff meinen Schwertarm, verrenkte ihn so, dass er auf meinen Rücken gepresst wurde und schubste mich gegen einen Baum. Ich öffnete meine Augen natürlich erst, als ich mit dem Gesicht gegen die kratzige Rinde gedrückt wurde. Mit der freien Hand versuchte ich noch Kanin zu packen, aber er schnitt mir mit dem Dolch leicht meinen Arm auf, sodass ich es sein ließ.

Ich hatte auf ganzer Linie versagt. Kanin war noch so nett und achtete darauf, dass wir beide im Schatten waren, aber wäre das nun ein echter Feind gewesen, gäbe es nur noch Asche von mir. „Nur noch ein bisschen, Allison. Du hältst dich schon ganz gut, aber bei weitem noch nicht gut genug.“ Seine tiefe Stimme drang direkt in mein Ohr.

Und wieder war da dieses Gefühl, das ich immer bekam, wenn er mir ganz nahe war. Wären da nicht diese lästigen Schmerzen in meinen Armen, hätte ich nichts dagegen gehabt, mein Gesicht von der Baumrinde zerkratzen zu lassen. Solange er bei mir war und – Stopp, Allie. Was denkst du da gerade wieder? Weißt du nicht, in welcher Situation du dich momentan befindest? Reiß dich zusammen und konzentriere dich lieber wieder auf den Kampf!

Ich sammelte meine Kräfte und trat ihm kräftig gegen sein Schienbein, was ihn zu überrumpeln schien, denn er lockerte seinen Griff ein wenig. Dies nutzte ich aus und stieß ihm mit meinem linken Ellbogen gegen seinen Bauch. Mit dem Gefühl von Überlegenheit drehte ich mich um die halbe Achse und blickte geradewegs in das Gesicht eines entzückten Meistervampirs.

Nun war ich diejenige, die überrascht wurde. Hatte er extra lockergelassen? Wütend wollte ich mit dem Katana ausholen, als plötzlich meine Beine nachgaben. Ich stützte mich auf mein Schwert, aber sank trotzdem zu Boden. Verdammter Mist, nicht jetzt! Kanin wollte mir hoch helfen, aber ich lehnte ab. Das musste ich jetzt selber schaffen.

Zähneknirschend spannte ich all meine Muskeln an und stand auf. Mit wackligen Beinen steuerte ich auf unsere Gräber zu, da ich wenigstens noch selber zu meinem Schlafplatz gelangen wollte. Mein Schöpfer stand neben mir und beobachtete mich nur. Musste wahrscheinlich ziemlich witzig aussehen, aber das war mir egal.

Ich fühlte mich mittlerweile toter als tot, als ich nur noch Dunkelheit herbeiwünschend den halben Weg zu meinem Grab geschafft hatte. Doch so sehr ich mich anstrengte, so sehr ich versuchte, die hartnäckige Müdigkeit abzuschütteln, sie holte mich letztendlich doch noch ein. Plump sank ich zusammen, wohl bedacht im Schatten zu bleiben.

Als ich Kanins Hände spürte, versuchte ich sie abzuschütteln. „Schon gut“, hörte ich ihn sagen. „Du hast gute Arbeit geleistet.“
„Nein. Ich darf noch nicht … Lass mich …“ Mehr brachte ich nicht heraus, bis er mich hochhob und zum Grabe trug. Mein Kopf lehnte an seiner Brust und nun wünschte ich mir, dass ich seinen Herzschlag spüren könnte.

Ich lag so bequem, dass der Schlaf nicht lange auf sich warten ließ. Noch ein letztes Mal öffnete ich die Augen und sah ein Lächeln meines Schöpfers. Mit innerlicher Zufriedenheit wurde alles um mich herum schwarz.

Chapter 7: Gerissener Faden

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Kapitel 7 - Gerissener Faden

Mit einem Schlag war ich wieder wach. Die Erde war kühl und feucht. Ich wusste, dass wir uns heute nähren würden. Mein Training war zwar nicht von langer Dauer gewesen, aber nun war ich mir sicher, dass ich mindestens eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang noch agieren konnte.

Ich grub mich aus der Erde heraus, schüttelte den Dreck von meinen Klamotten und begab mich auf die Suche nach Kanin, der natürlich schon längst aufgestanden war.

Er stand mit dem Rücken zu mir am Rande der Lichtung, auf der die Menschengruppe bereits in Aufbruchstimmung war. „Hey“, begrüßte ich ihn schlicht.
„Das wurde aber auch Zeit. Sie gehen gleich los.“
„Du hast mir nur Training zum längeren Wachbleiben gegeben und nicht zum früheren Aufstehen“, fauchte ich zurück.

Mit verschränkten Armen stellte ich mich neben ihn. Wir blickten auf die Wanderer, die nun in der Dunkelheit des Waldes verschwanden. So begaben wir uns ebenfalls auf den Weg.

Die ganze Nacht lang durchquerten wir Wälder, Wiesen, Straßen, kleine Dörfer und noch mehr Wälder Richtung Osten. Es erstaunte mich ein wenig, wie ausdauernd sie alle doch waren; selbst die kleinen Kinder und die Alten hielten mit und klagten nicht.

Gegen Morgen versammelten sie sich wieder am Rande des Waldes mit dem Blick auf weite Felder. Routiniert stellten sie ihre Zelte auf, verteilten Essen und postierten ihre Wachen etwas abseits. „Du bist bereit, oder?“, fragte mich Kanin.
„Ja. Jetzt weiß ich ja, wie lange ich wach bleiben kann. Wir müssen nur noch herausfinden, wer unsere Opfer sein sollen. Nehmen wir einfach die, am nächsten zum Waldrand sind? Oder die, die am weitesten von den Wachen entfernt sind?“

„Erstere. Schleichen kannst du doch immer noch, oder nicht?“ Die Frage war wohl rhetorisch gemeint. Ohne viel Lust auf Diskussionen nickte ich knapp. Wir lauerten im Schatten der Bäume und sahen, wie die Leute nach und nach in ihren Zelten verschwanden. Der Himmel hellte bereits auf und tauchte den Zeltplatz in ein gedimmtes Licht.

Eine der Wachen stand relativ in unserer Nähe, eine weitere am anderen Ende des Platzes. Wir schlichen uns hinter dem Rücken der näheren Wache zu den ersten beiden Zelten hin. Kanin begab sich zum linken, ich mich zum rechten Zelt. Ganz vorsichtig zog ich an dem Reißverschluss und schlüpfte rein. Es war das Zelt einer älteren Frau. Sie atmete bereits tief mit gleichmäßigen Zügen, was darauf hindeutete, dass sie fest schlief.

Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, da sie auf der Seite, mir den Rücken zugewandt lag. Ich zögerte nicht lang und schob ihre Haare zur Seite, sodass der Anblick ihres entblößten Nackens meine Fangzähne wachsen ließ. Mit einer geschickten Bewegung schlug ich ihr meine Zähne in den Hals und trank. Sie keuchte leise auf, aber schlief dank der Betäubung weiter.

Zwei, vier, sechs Schluck erlaubte ich mir, bevor ich die Wunde verschloss und wieder leise aus dem Zelt stieg. Ich blickte zum Horizont und erschrak, als ich sah, wie die Sonne in nur wenigen Momenten zum Vorschein treten würde. Mit einem Schlag spürte ich, wie die Müdigkeit mich zu lähmen begann.

Hastig schaute ich mich um. War Kanin noch im Zelt? Oder wartete er auf mich im Wald? Leicht panisch schlich ich leisen Schrittes in Richtung des Zeltes, in dem er verschwunden war. Doch es kam, wie es kommen musste. Ich war keine fünf Schritte gegangen, als ich plötzlich ein sehr schnell schlagendes Herz hinter mir hörte.

Mist! Ohne zu zögern rannte ich zurück in den Wald. Ich spürte schon die ersten Sonnenstrahlen, die meinen Rücken schmerzhaft erwärmten. Laute Rufe ertönten und ich hoffte, dass mein Schöpfer bald neben mir auftauchte. Aber bis dahin legte ich einen Zahn zu und wagte nicht, mich umzudrehen.

Allerdings konnte ich dieses Tempo nicht lange halten, denn meine Muskeln protestierten bereits. Sie sehnten sich nach kühler Erde, aber das konnte ich ihnen jetzt nicht bieten. Es würde zu lange dauern, ein Loch zu graben und dazu wäre es sehr leicht zu entdecken, falls ich immer noch verfolgt wurde. Das Risiko konnte ich also noch nicht eingehen.

Die Schatten um mich herum verkleinerten sich mit jeder Minute und Kanin war immer noch nicht aufgetaucht. Wo war er bloß? Sorgen musste ich mir sehr wahrscheinlich nicht machen; er war immerhin ein Meistervampir. Aber ich würde mich dennoch sicherer fühlen, wenn ich nicht auf mich allein gestellt wäre.

Minuten fühlten sich an wie Stunden. Meine ganze Konzentration war auf meine Beine und auf die Schatten um mich herum gerichtet. Ein falscher Schritt und es gab eine frisch geröstete Allison. Die Halbe-Stunde-Marke war geknackt und ich spürte, wie ich nicht lange bei Bewusstsein bleiben würde. Auf beiden Beinen konnte ich nun nicht mehr gehen, sodass ich wohl oder übel kriechen musste.

Ob ich immer noch verfolgt wurde? Wahrscheinlich nicht. Also entschied ich mich, unter einem großen schattigen Baum ein Loch zu graben. Halb blind, da meine Augen mir nicht mehr gehorchen wollten, schaffte ich es noch mit letzten Kräften genügend Erde wegzuschaufeln und mich in das wunderschönste Loch auf Erden zu legen. Nichts hat sich je besser angefühlt, als endlich in tiefer Dunkelheit verschwinden zu können.

Kurz bevor ich bewusstlos wurde, meinte ich noch, ein leises „Gute Nacht“ gehört zu haben, aber sicher war ich mir nicht.

***

Nachdem ich mich mit meinen Gedanken bei Kanin von der Erde befreit hatte, bemerkte ich frisch gehäufte Erde neben meinem Grab. Er war hier? „Du hast dich tapfer geschlagen“, hörte ich die mir vertraute Stimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und sah erfreulicherweise meinen Mentor mit verschränkten Armen an einem Baum lehnen.

„Du hast mich gesehen?“
„Du kamst weiter, als ich gedacht habe. Interessant, dass sich unser Training so schnell ausgezahlt hat.“
Irgendwie machten mich seine Worte etwas stolz. Bis mir wieder einfiel, dass ich selber für dieses Schlamassel verantwortlich war. Wäre ich etwas aufmerksamer gewesen, hätte ich nicht fliehen müssen.

„Warum bist du mir versteckt gefolgt? Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Ich hielt kurz inne. „Na ja, nicht wirklich Sorgen, denn ich weiß ja, dass du alleine auf dich aufpassen kannst, aber ... Ach, du weißt, was ich meine.“
„Ich habe gesehen, wie du aus dem Zelt gekommen bist und wollte schon zu dir, als da jemand auf dich aufmerksam wurde.“

Mist, er hat das also mitbekommen. „Ja, weißt du, das, äh, war nicht ganz so schlau von mir gewesen“, stammelte ich.
„Also ich fand das ganz amüsant. So bin ich dir also die ganze Zeit gefolgt, da ich sehen wollte, wie du ohne mich zurechtkommen würdest. Hat doch ganz gut geklappt, findest du nicht?“

Nun war ich mir nicht ganz sicher, ob er es ernst meinte, oder sich über mich lustig machte. „Mir egal, was du denkst. Es ist so gekommen, wie es gekommen ist; ich bin nicht in Flammen aufgegangen und habe mich rechtzeitig in der Erde vergraben. Soweit, so gut. Wohin geht’s jetzt weiter?“

„Folge mir“, war seine knappe Antwort darauf.
Wir wanderten weg von der Menschengruppe. Weg von unserer Nahrungsquelle, ohne zu wissen, wann wir das nächste Mal auf eine treffen würden.

Es hatte sich nicht viel zu vorher verändert. Kaum Dialog, kaum Bemerkungen, kaum Anweisungen. In mir gab es allerdings genügend Dinge, über die ich grübeln konnte. Die Szenen unseres Trainingskampfes bei Sonnenaufgang schwebten mir ab und zu durch meinen Kopf. Ich konnte es eigentlich kaum noch erwarten, meinen Mentor zu fragen, wann wir das nächste Mal wieder kämpfen könnten, denn ich wollte unbedingt jenen Gefühlen auf den Grund gehen.

Aber etwas anderes beschäftigte mich auch. Wo gingen wir überhaupt hin? Wir passierten Siedlungen, Dörfer, Straßen, Wälder, ohne uns länger als eine Nacht dort aufzuhalten. Es würde Sinn ergeben, wenn wir immer nur in eine Richtung gehen würden, aber Kanin wechselte den Kurs so oft ich blinzelte.

Ich würde ihn so gerne nach dem Grund fragen, aber ich bezweifelte, eine zufriedenstellende Antwort zu bekommen. Aber andererseits bereitete es mir Sorgen. Solch ein Verhalten legte man doch nur an den Tag, wenn man verfolgt wurde, oder nicht? Entweder glaubte er tatsächlich, dass wir weiterhin von den Soldaten verfolgt wurden, oder aber, er könnte auf der Suche nach etwas sein.

Ich wollte meine Zeit nicht mit weiterem Grübeln vergeuden und überredete mich, Kanin zu fragen. „Wohin gehen wir überhaupt? Du scheinst kein genaues Ziel zu haben.“
„Ist es wichtig für dich, das zu wissen?“, war seine knappe und so typische Antwort.

„Also ich glaube, dir würde es auch nicht gefallen, ständig von einem Ort zum anderen zu springen und keine deutliche Vorstellung zu haben, wohin es überhaupt geht.“ Ich versuchte, die Bemerkung nicht allzu spitz klingen zu lassen.
„Glaub mir, das musst du wirklich nicht wissen.“ Er sah mich nicht einmal an. Langsam fing das Blut in mir an zu kochen. Warum musste er immer auf mysteriös und undurchschaubar tun? Was erreichte er damit?

Außer mir auf die Nerven zu gehen. Aber ja! Das war es! Wenn ich ihm so sehr wie möglich auf die Nerven gehen würde, könnte er seine Geduld verlieren und es mir verraten. Außer, dass er ziemlich sauer auf mich sein würde, hatte ich sonst nichts zu verlieren. „Ja gut, du hast Recht, das will ich wirklich nicht wissen. Es geht mich tatsächlich nichts an. Ich bin ja nur ein dummer kleiner Vampirlehrling.“

Ich konnte sein Gesicht zwar nicht sehen, aber ich spürte schon, wie er die Augen verdrehte. „Und außerdem ist es ja nicht so, dass sich überhaupt nichts ändern würde, wenn ich die Wahrheit wüsste. Ich mache mir auch überhaupt keine Sorgen, weil mir auch gar nicht aufgefallen ist, dass wir uns so verhalten, als ob wir uns auf einer Flucht befänden.“ Kanins Hände ballten sich zu Fäusten; und ich grinste. Bald hatte ich ihn.

„Aber nun gut, so folge ich dir einfach. Jeden Schritt, jede Minute werde ich mich zwar fragen, wo wir sind, was wir machen werden und was danach geschieht, aber da der liebe Herr es nicht für nötig hält und mein Recht auf Wahrheit nicht respektiert, dann muss ich das wohl akzeptieren. Hach ja, jetzt geht es mir schon viel besser“, ich seufzte. „Dann kann ich dich ja andere Sachen fragen. Wie geht es dir? Woran denks–“

Ich kam nicht mehr dazu, meine Frage zu vollenden, da bei meinem Meister anscheinend der Faden gerissen war. Wir befanden uns auf einer Landstraße, an der ein paar wenige, halb zerfallene Häuser standen. Zu meiner Rechten befand sich ein solches Haus und es war kaum eine Millisekunde vergangen, als ich den kalten Beton an meinem Rücken spürte.

Kanin, der seine Mimik nur unter größter Selbstkontrolle beherrschen konnte, hatte mich an meinem Kragen gepackt und gegen die Wand geschleudert. Perplex brauchte ich ein paar Sekunden, um zu realisieren, was passiert war. Aber ich war nicht nur perplex, weil alles so schnell gegangen war, sondern auch, weil er so nahe stand, sodass er sich bereits zu mir herunterbeugen musste, um mir in die Augen zu schauen.

Seine Augen spiegelten eine Mischung aus Zorn und Frustration wider. Jetzt waren wir quitt. „Allison“, flüsterte er mit seiner tiefen und leicht rauen Stimme. Ich wartete auf einen weiteren Satz, aber es kam nichts. Seine Augen suchten abwechselnd die meinen, als ob er nicht die richtigen Worte finden konnte. Meine Gedanken wanderten weiter und fokussierten sich auf das Gesicht, das mir die Sicht verschränkte.

Wie von alleine wanderte mein Blick von seinen tiefen Augen zu seiner halb verdeckten Stirn, seiner Nase, die wie eine hohe Brücke wirkte, weiter zu seinen scharfen Wangenknochen, die dem Gesicht eine gewisse Härte verliehen, runter zu seinem ausgeprägten Kieferknochen, seinem Kinn, und schließlich blieben meine Augen bei seinem Mund hängen, der mich schlucken ließ.

Seine Lippen waren blass, aber es schimmerte noch ein Hauch Rosa hindurch. Sie wirkten so sanft, sodass ich beinahe ihre Weichheit spüren konnte. Kanin musste meinen Blick bemerkt haben, denn er schluckte ebenfalls und ließ plötzlich von mir ab. „Du hast recht“, begann er, „wir befinden uns tatsächlich auf der Flucht, aber nicht vor den Soldaten. Vor etwas viel, viel Schlimmerem. Vor einer Bestie, um genauer zu sein.“

Ich schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. Frei von den Gedanken, die ich nicht hätte haben sollen. Puh, das hätte ich nicht lange ausgehalten. Also, wir wurden doch verfolgt. Wenigstens hatten wir diese Sache schon einmal geklärt. „Bestie ist aber nicht sehr genau. Ist diese Person etwa so hässlich?“ Meine ironische Frage wurde nur mit einem kalten Blick beantwortet. Dabei wollte ich nur die Stimmung etwas auflockern …

„Hoffe einfach, dass du niemals auf ihn treffen wirst. Denn wenn du es einmal tun solltest, bin ich mir nicht sicher, ob du überleben wirst. Wobei es sogar besser wäre, sofort zu sterben.“ Er murmelte die letzten Worte und ich blickte irritiert zu ihm. Wieso sollte es besser sein? „Was sollte denn schlimmer sein, als ein früher Tod?“, fragte ich. Kanin würdigte mich erneut keines Wortes und ließ seinen Blick erklären. Oh … Und ich verstand.

„Nun gut, kein Rendezvous mit dem Monster. Alles klar, habe ich mir notiert. Und was machen wir, damit es nicht dazu kommt? Werden wir jetzt für den Rest der Ewigkeit wie aufgeschreckte Schäfchen herumirren und uns für immer darüber sorgen, ob wir die nächste Nacht noch erleben?“

„Nein. Ich dachte du weißt, dass es dir frei steht zu gehen, wann du willst. Du musst mich nicht auf dieser Flucht begleiten und mir wäre es sogar lieber, wenn du gehen würdest.“ Autsch. Das tat weh.
„Du willst also, dass ich fortgehe und dich alleine lasse? Wow, ich hätte nicht gedacht, dass du mich so wenig leiden kannst.“ Ich wandte mich von ihm ab und setzte mich in Bewegung. Vielleicht hätte ich doch nicht nachfragen sollen.

Hinter mir hörte ich ein lautes Ausatmen gefolgt von der Stimme, die nun das Letzte war, was ich hören wollte. „So meinte ich das nicht. Hör mir zu. Die Bestie ist nur hinter mir her und falls er mich finden wird, während du bei mir bist, dann bedeutet das auch für dich den Untergang. Und das könnte ich mir niemals verzeihen. Nicht, nachdem …“ Als ich hörte, wie seine Stimme abbrach, bewegte ich mich doch dazu, mich umzudrehen.

Mein Schöpfer wirkte plötzlich klein und verletzlich, sodass mein Ärger direkt verpuffte. Ich räusperte mich. „Nun ja, du kannst dir aber nicht hundertprozentig sicher sein, dass wir beide zugrunde gehen, da wir ihm noch nicht begegnet sind. Du kannst gerne weiterhin so pessimistisch denken, aber ich werde etwas dagegen tun. Wenn du mir hilfst, trainiere ich Tag für Tag, damit sich dein Albtraum nicht bewahrheitet.

Es ist nett von dir, dass du mich nicht dort mit reinziehen willst, aber ich entscheide für mich selbst und meine Entscheidung lautet: Ich bleibe an deiner Seite. Ende und aus. Jetzt wäre ich dir noch sehr verbunden, wenn du mir sagst, wohin uns dieser Weg führt.“

Kanin schaute zu Boden und dachte nach. „Old Chicago. Dorthin werden wir auf einigen Umwegen reisen und versuchen unterzutauchen.“ Meine Miene erhellte sich. Mit meiner Hand machte ich eine Geste, die ihm zeigen sollte, dass er vorangehen kann. Er nickte mir zu und sagte leise, als er an mir vorbeiging: „Hoffentlich wirst du’s nicht bereuen.“

Einigermaßen zufrieden und mit halb gestillter Neugier hielt ich mich schnellen Schrittes dicht hinter ihm. Ist das denn so schwer gewesen, lieber Kanin? „Danke“, sagte ich und belohnte ihn mit seiner heiß geliebten Stille.

Chapter 8: Dein schlimmster Albtraum

Chapter Text

Kapitel 8 - Dein schlimmster Albtraum

Es waren bereits einige Tage und Nächte vergangen, als wir in der nächsten verlassenen Ortschaft ankamen. Diesmal war es aber keine einfache kleine Siedlung, sondern eine größere Gemeinde, die schon einer richtigen Stadt glich. Wir huschten durch eng bebaute Straßen, durch großflächig zerstörte Gebäude und hielten die ganze Zeit unsere Umgebung unter Beobachtung. Falls auf freien Plätzen Glasscherben auf dem Boden lagen, gingen wir um sie herum.

Nicht, weil wir uns sonst verletzen könnten, sondern weil Kanin jegliche Geräusche vermeiden wollte. Langsam hielt ich ihn für ein bisschen zu paranoid. Ich empfand es definitiv nicht als möglich, dass uns irgendjemand immer noch verfolgen könnte. Aber da ich keinen Streit anfangen wollte, akzeptierte ich sein Verhalten und tat alles so, wie er es selber tat.

Dennoch half das alles nichts.
Wir entdeckten gerade ein gutes Örtchen für unseren Schlafplatz in einem Gebäude mit verbarrikadierten Fenstern, als es passierte. Ich sah noch aus dem Augenwinkel, wie Kanin innehielt und die Hand hob, aber es war schon zu spät. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf den Dolch, der mich gerade um nur wenige Zentimeter verfehlt hatte.

Es kam so unerwartet, dass ich gar nicht gesehen hatte, wie es passiert war. Aus dem Schatten hörten wir ein leises schrilles Kichern. Ich blickte zu Kanin, der nicht nur seinen Kiefer, sondern auch seinen ganzen Körper anspannte. „Darf ich dir vorstellen, Allison: Dein schlimmster Albtraum.“

Wie auf Kommando trat eine Gestalt aus dem Schatten. „Na, das nenne ich mal einen Auftritt. Genau so gehört es sich.“ Mein Atem stockte, als ich in das Gesicht der Person blickte, zu der diese singende Stimme gehörte. Er erwiderte meinen Blick. „Lange nicht gesehen, kleines Vögelchen“, säuselte er.

Mit einem Schlag erinnerte ich mich. Er war es, der mir schon damals, vor viel zu langer Zeit im alten Schulgebäude Angst eingejagt hatte. Dieses mit Narben übersäte Gesicht mit dem kahl rasierten Schädel gab es nur ein Mal auf dieser Welt. Diesmal war er nicht nur mit Dolchen, sondern auch mit einer Armbrust bewaffnet, die er auf dem Rücken trug. Panik machte sich in mir breit und meine Hand bewegte sich automatisch zum Schwert.

„Sarren,“ zischte mein Mentor, der ebenfalls bereits seinen Dolch gezückt hatte.
„Auch dich habe ich lange nicht gesehen, mein guter Freund. Wann war nochmal das letzte Mal? Ach ja, in den gemütlichen Tunneln unter New Covington.“ Ein falsches Grinsen legte sich über sein Gesicht, während er nicht Kanin, sondern mich anschaute.

„Ich bin überrascht, dass du noch lebst. Anscheinend hätte ich nicht so sehr mit dir spielen sollen.“
„Sarren, sag mir, was du willst und verschwende nicht unsere Zeit.“ Mein Mentor wirkte gereizt.
„Da ist jemand aber nicht gut gelaunt“, kommentierte Sarren mit geschauspielter Traurigkeit. „Oder willst du nicht, dass ich vor ihr rede?“ Wieder dieses Grinsen.

In meinem Kopf ratterte es und ich versuchte eins und eins zusammen zu zählen. Laut diesem Monster war er Kanin in den Tunneln begegnet und hatte ihn schwer verletzt. Ich erinnerte mich an die Nacht, in der Kanin blutüberströmt aus den Tunneln kam, aber da waren die Soldaten Schuld gewesen. Hat er jedenfalls behauptet. Aber was ist, wenn er gelogen hat? Ich schaute irritiert zu meinem Meister und versuchte, seinen Blick einzufangen.

Er sah tatsächlich für einen winzigen Augenblick zu mir, nur um dann wieder Sarren zu fixieren. „Ich weiß nicht, wovon du redest“, gab er monoton wieder.
„Warum–“ ich musste mich räuspern, da aus meinem Kehlkopf nur ein Fiepen herauskam. „Warum hast du mich angelogen?“
„Oh, du hast deinen kleinen Lehrling angelogen? Das gehört sich aber nicht, mein Lieber.“ Sarren legte den Kopf schief.

„Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich erkläre dir alles später“, wich Kanin aus.
„Wir haben alle Zeit der Welt“, flötete der andere Vampir. Ich verstand nicht ganz, warum Sarren darauf beharrte, Kanin zum Reden zu bringen, aber interessieren tat mich die Wahrheit brennend. Trotz meines Versuches, sachlich zu bleiben, brach mein gekränkter Unterton trotzdem durch.

„Vertraust du mir etwa nicht? Was hat dich dazu gebracht, mir zu verheimlichen, dass du auf … diese scheußliche Kreatur gestoßen bist?“
Sarren brach in Gelächter aus. Normalerweise waren Lacher schön, herzerwärmend und ansteckend, aber sein Lachen war genau das Gegenteil. Es zeugte von Hass, Bitterkeit und Wahnsinn.

„Aber, aber. Du hast gerade meine Gefühle verletzt. Ich und ‚scheußliche Kreatur’? Das ist nicht nett.“ Verzeihung, „widerwärtige Bestie“ hätte auch gepasst. Ich hoffte, ich hatte ihn nicht zu sehr provoziert. „Nun, mein Freund? Was hast du dazu zu sagen?“
„Nichts. Ich werde ihr später alles erzählen, nachdem wir dich aus dem Weg geräumt haben.“ Eine klare Kampfansage.

Sarren hob eine Augenbraue und leckte sich die Lippen. Sie zuckten und einen Augenblick später sprintete er auf Kanin zu, der gekonnt auswich und seinen Dolch in Sarrens offene Seite schlug. Wirklich getroffen hatte er jedoch nicht, denn Sarren schien zu wissen, was Kanin vorhatte. Abwechselnd stachen sie zu, wichen aus, parierten und hielten inne. Ich verfolgte jede Bewegung, aber durch die Geschwindigkeit erkannte ich manchmal nicht, wer die Oberhand hatte.

Beide Kämpfer waren stark, agil und boten keine Öffnungen. Man könnte meinen, sie seien sich ebenbürtig. Ich war so in dem Kampf vertieft, dass ich nicht bemerkte, wie beide Stück für Stück näherkamen. Sie mussten beide aufpassen, wohin sie traten, da der Raum alte Rohre und Trümmer beherbergte. Plötzlich sah ich, wie Sarren ausholte, um in Kanins Arm zu stechen, aber im letzten Augenblick zur Seite ging und zwei Schritte in meine Richtung tat. Ich reagierte zu spät und fand mich zwischen Sarren und Kanin wieder. Mit dem Dolch an meiner Kehle.

Als Kanin das sah, stoppte er sofort jegliche Bewegungen. Seine Augen waren, wie meine, aufgerissen und man konnte ihm ansehen, dass ihm das ganz und gar nicht gefiel. „Sie ist unschuldig. Sie hat nichts damit zu tun!“, rief Kanin aufgebracht.
„Nein? Vielleicht nicht direkt, aber sie ist dein Schützling. Sie ist deine Verantwortung. Sie ist dein Werk. Ich finde sehr wohl, dass sie etwas damit zu tun hat. Vielleicht hat sie es sogar verdient, die Wahrheit zu erfahren ...“

Die Wahrheit? Was meint er? Ich schaute Kanin in die Augen, um etwas aus seinem Gesicht lesen zu können.
„Sie hat es verdient, die Wahrheit niemals zu erfahren, in Unwissenheit zu leben und nicht von meiner Vergangenheit geplagt zu werden.“ Kanin wirkte ziemlich sicher, Sarren mit so etwas in die Flucht schlagen zu können, aber mittlerweile kannte ich Sarren gut genug, um zu sagen, dass es weitaus mehr benötigte.

„Oh Kanin, du bist immer noch zu naiv. Ich werde so lange nicht aufgeben, bis dein letzter Schützling sich wünscht, niemals geboren zu sein.“ Sarrens Stimme so nah an meinem Ohr zu hören brachte mir Gänsehaut. Ich fragte mich, ob sich seine Eltern je wünschten, dass sie ihn niemals geboren hätten. Seine Hand an meinem Arm griff fest und es gab keine Sekunde, in der seine Kraft auch nur irgendwie nachzulassen schien.

Mein Mentor wurde zunehmend ungeduldiger. Das Monster war eine tickende Zeitbombe und niemand wusste, wann er zuschlagen würde. „So, mein guter Freund. Jetzt ist die Zeit gekommen, um deine Buße zu zahlen, die schon längst fällig sind. Fangen wir mit Teil eins an: Die Wahrheit.“
„Sie sollte es wenigstens von mir erfahren …“ Kanin ließ resigniert seinen Arm herunter, denn er wusste, dass er mit einer falschen Bewegung mein Leben beenden würde, und dass Sarren nun anfangen würde, zu erzählen.

„Hör gut zu, mein kleines Vögelchen. Du erfährst jetzt, was dein wunderbarer Meister in seinen früheren Jahren getan hat. Wo fangen wir an? Ach ja, beginnen wir mit seiner Arbeit als Repräsentant der Vampire und die Zusammenarbeit mit den Menschen.“ Sarren fing an zu erzählen. Er konnte sehr theatralisch und einfühlsam erzählen – das musste man ihm lassen.

Der Inhalt seiner Erzählung aber ließ sich mir den Magen umdrehen. Kanin war mit anderen Wissenschaftlern verantwortlich für die Ausbreitung der Roten Schwindsucht, die entstandenen Mutanten und letztendlich für das Ende der Welt. Er war verantwortlich für dutzende Experimente, Höllenqualen und Tode. Ich hörte nur noch mit einem Ohr zu. Am liebsten hätte ich sie mir beide zugehalten und all das wieder vergessen.

Ich wollte Sarren nicht glauben. Wieso sollte mir so ein Monster überhaupt die Wahrheit erzählen? Mein Blick zu Kanin sprach jedoch vom Gegenteil. Er sah so aus, als hätte er vor Gericht gestanden und wäre angeklagt worden. Trotzdem. Diesem Monster zu glauben, statt meinem Mentor, war ein innerer Konflikt für mich.

Kanin hatte laut des Psychopathen seine eigene Spezies verraten. Konnte ich ihm noch trauen? Dem Vampir, der so viele Leben auf dem Gewissen hatte? Der dazu beigetragen hat, dass die Menschen versklavt werden konnten? Gewaltige Wut stieg in mir auf und ich wollte sogar meine Waffe auf ihn richten, als ich knurrend fragte: „Stimmt das, Kanin? Ist es wirklich so passiert, wie Smiley es erzählt hat? Bist du wirklich verantwortlich für das Massensterben von Menschen und Vampiren?“

Er wandte seine Augen ab, seine Schultern sanken. „Ja, es ist die Wahrheit. Aber diesen Vampir gibt es nicht mehr.“ Seine Stimme war eiskalt und voller Selbstekel. „Selbst wenn alle Menschen wegen der Roten Schwindsucht gestorben und somit alle Vampire verhungert wären – es wäre hundertmal besser gewesen als die jetzige Gegenwart.“ Man konnte hören, wie sehr sich Kanin dafür hasste und wie er sich das niemals verzeihen konnte. Und so fielen mir wieder die Augenblicke ein, die ich mit ihm erlebt hatte.

Wie er mir geholfen hat, zu überleben, wie er mich so viele Dinge gelehrt hat und wie er immer für mich da war, wenn ich ihn brauchte. Es war schwer glauben, dass er derselbe Kanin war, der all das Grauen erschaffen hat. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte es von ihm selber erfahren. Sein Motiv, seine Gründe, seine Sicht der Dinge. Momentan war Sarren immer noch die höchste Priorität. Ich blickte zu Kanin, fand seine Augen und nickte kaum merklich.

Ich wollte ihm damit zeigen, dass ich vorerst weiter gegen Sarren kämpfen würde. An der Seite meines Meisters. Aber dazu müsste ich mich erst einmal aus seinen Klauen befreien. Und prompt schritt mir Kanin zur Hilfe. Er kickte einen auf dem Boden liegenden kleinen Brocken aus Zement und traf Sarrens Schienbein. Er zuckte aus Reflex kurz zusammen und gab mir so die Gelegenheit, mich aus seinem Griff zu befreien.

Mit einem großen Schritt war ich neben Kanin mit dem gezogenen Katana; kampfbereit. Ich sah, wie Kanin zu mir blickte und sich ein leichtes Lächeln auf seinem Mund zeichnete. Sarren hingegen schnalzte missbilligend. „Das ist aber nicht nett.“
„Wir hatten auch nicht vor, nett zu dir zu sein“, erwiderte ich.

„Nun denn …“ Sarren sprang mit gezücktem Dolch auf mich zu, aber ich konnte gerade noch parieren. Mein Mentor kam mir zu Hilfe und wir beide hieben auf Sarren ein. Er hatte mittlerweile einen zweiten Dolch hervor geholt und konnte uns parallel bekämpfen. Langsam kam es mir so vor, als sei er ein Chamäleon.

Obwohl er gegen zwei Leute gleichzeitig kämpfte, konnte er jeden unserer Schläge sehen. Es gab keine offenen Seiten, die wir hätten angreifen können. Ich zielte auf seine Kehle, er parierte. Ich zielte auf seinen Arm, er parierte. Ich zielte auf sein Herz, er verdammt nochmal parierte. Ich wurde wahnsinnig. Bei mir hatte er ein leichteres Spiel, da seine Geschwindigkeit mir zu schaffen machte.

Meine Konzentration durfte kein bisschen schwanken, weil ich so schnell reagieren musste, wie ich nur konnte. Und trotzdem ließen sich meine Gedanken nicht aufhalten. Sie wanderten wieder zu dem Gesagten von eben, zu all diesen Gräueltaten, die mein Mentor verbracht haben sollte. Sarren wollte sich nur rächen, was ich irgendwo verstehen konnte. Wahrscheinlich könnte ich mein Leben mit diesem Trauma ebenfalls nicht ruhig weiterleben.

Jetzt verstand ich langsam auch, warum Kanin keinen Vampir mehr erschaffen wollte. Er bereute diese Taten und wollte seine Vergangenheit vergraben. Kein Nachfahre von ihm sollte jemals etwas damit zu tun haben müssen, ganz besonders, wenn jemand so wahnsinnig Gefährliches herumirrte und ihm und seinen Lehrlingen nach dem Leben trachtete.

Er musste sich selber von allen am meisten hassen.
Dieser Gedanke traf mich wie ein Stich in meinem Herzen. Genau diesen Moment von Unachtsamkeit nutzte Sarren, um mich wieder in die Realität zu holen, denn er schlug mir mit dem Griff des Dolches mit voller Wucht gegen meine Schläfe. Eine explosionsartige Welle von Schmerz überschwemmte mich, ich verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Helle Blitze tanzten am Rande meiner Sicht bis ich nichts mehr sah und das Bewusstsein verlor.

Das letzte Bild, das meine Augen wahrnahmen, war Kanin, wie ihm die Gesichtszüge entglitten, bis sie eine Mischung aus Entsetzen und Sorge widerspiegelten.