Chapter 1: Morgenstund‘ hat Gras im Mund
Chapter Text
Mood-Songs zum Prolog:
SDP - Die Nacht von Freitag auf Montag
RUSSKAJA - Energia
Das Erste, was er schmeckte an diesem Morgen, war Gras. Echtes, aus unterschiedlich langen Halmen bestehendes Gras.
Boris schmatzte und spuckte die Halme aus. Als er sich umdrehte und die Augen öffnete, stöhnte er geblendet von der Sonne auf. Was zur Hölle… Wo war er?
Er richtete sich auf, kratzte sich über die nackte Brust und sah sich um. Dabei rutschte eine beige-braune Decke von seinem Oberkörper. Huh. Wo waren seine Klamotten? Wie gestochen warf er die Decke von seinen Beinen. Zu seiner Erleichterung hatte er seine heißgeliebten, ausgelatschten Arbeiterstiefel noch an den Füßen.
Mit unsicheren, schlaksigen Bewegungen stand er auf. In seinem Kopf drehte es ordentlich, als er sich nach der Decke bückte und sie um sich wickelt. Obwohl es Ende Mai und schon recht sommerlich war, war es doch ein wenig zu frisch, um nackt durch die Gärten nach Hause zu stromern. Nun, zumindest bei Tageslicht.
Mit zusammengekniffenen Augen erkannte er nun, wo er sich befand. Es war der Nachbargarten seiner Wohnung. Wenn er sich recht erinnerte, wohnte hier eine ältere Frau. Er sollte machen, dass er hier wegkam, bevor sie wegen seiner Anwesenheit noch einen Herzinfarkt bekam.
Während Boris über den kleinen Gartenzaun kletterte, um zu seinem Gebäudekomplex zu gelangen, wollte er einem seiner Freunde schreiben, ob sie von dem Aufenthaltsort seiner Klamotten wüssten. Doch er hatte nur ein Problem: Er hatte keine Taschen.
Mitten im Lauf blieb er stehen.
„Fuck…“
Keine Taschen. Kein Handy. Keine Schlüssel.
Genervt kratzte er seinen kurzgeschorenen Hinterkopf. Nach vorne zum Klingeln wollte er nicht gehen. Nicht, dass es ihm was ausgemacht hätte, nackt gesehen zu werden. Aber die Nachbarn machten dann immer so einen Aufriss. Und er konnte Yuriy ihm schon wieder ein Ohr abkauen hören… War er eigentlich gestern mit ihm Feiern gewesen? Wohin war er überhaupt los gewesen?
Er betrachte die Rückseite ihres Hauses. Es war ein Mehrfamilienhaus mit verschiedentlich aufgeteilten Wohnungen. Er hatte ein Ein-Zimmer-Appartement, direkt neben seinem besten Freund Yuriy, der sich eine Zwei-Zimmer-Wohnung ausgesucht hatte. Gemeinsam mit ihren Kindheitsfreunden Sergei und Ivan bewohnten sie die erste und zweite Etage des dreistöckigen Hochhauses. Nach der Schule war ziemlich schnell klar, dass sie nicht in eine WG ziehen wollten – aber auch nicht allzu weit voneinander entfernt. Dieses Gebäude war ein Glücksgriff gewesen. Und die Miete war wirklich lächerlich niedrig für einen so hübschen Neubau. Boris wartete nur darauf, dass ihnen so viel Glück um die Ohren flog und sie auf der Straße landeten… Aber die Vermieter waren geradezu ekelhaft nett – sahen aus wie Hipsterlullis, auf der Mission, der Menschheit etwas zurückzugeben… Wenn das bedeutete, dass er mit seinem Bufdi-Taschengeld und drei Schichten Kellnern in der Woche die Miete allein bezahlen konnte, konnten ihm die Sperenzchen der Vermieter egal sein. Sie durften ja sogar den Garten als Gemeinschaftsgrund benutzen. Sehr geil für sommerliche Grillabende, sie hätten es einfach nicht besser treffen können in dieser spießigen Wohngegend.
Boris‘ Blick fiel auf das Regenrohr. Er überlegte, ob es wohl sein Gewicht tragen würde. Sein Blick glitt weiter zu Yuriys Balkon. Wenn er am Rohr nach oben kletterte, schaffte er es vielleicht bis dorthin, und wenn Yuriy nicht zuhause war, könnte er sich von dort nach oben ziehen. Sergeis Balkon lag genau oben drüber, er hatte die größte Wohnung von allen. Und er hatte nette Gartenstühle und eine überdachte Hollywoodschaukel, der Angeber. Wenn niemand von ihnen zuhause wäre, könnte Boris zumindest dort verweilen, bis das Schicksal sich erbarmte und ihn in seine eigenen vier Wände ließ. Und unter dem Sonnenschirm der Schaukel würde er sich nicht den Arsch in der Sonne verbrennen, die erbarmungslos die Balkonseite noch bis zum Abend aufheizte.
Boris warf sich die Decke über die Schulter, rüttelte etwas an der Halterung und als er sicher war, dass das Regenrohr nicht sofort beim ersten Hochziehen aus der Wand brach, versuchte er sein Glück. Es war nicht einfach, das Material sehr rutschig, die Steine waren bereits gut aufgewärmt. In Gedanken beglückwünschte er sich dafür, dass er wenigstens seine Schuhe noch hatte, die ihm einen guten Halt boten. Als er endlich Yuriys Balkon erreicht hatte, überlegte er ernsthaft, ob er mit Parkour anfangen sollte; das könnte für zukünftige Saufeskapaden ja nicht ganz unnütz sein.
Jetzt atmete er erstmal durch und rieb sich die aufgeschürften Handflächen. Sein Zeigefinger blutete, er war an eine Steinkante geratscht. Von Yuriys Balkon aus konnte er auf sein eigenes Erkerfenster schauen. Es stand offen. Das ließ seine Hoffnung steigen: Vielleicht konnte er auch durch das gekippte Fenster auf seine Lesebank und endlich in seine Wohnung…
Ein Räuspern ließ ihn zusammenfahren. Yuriy stand hinter seiner Fensterscheibe und er starrte Boris ausdruckslos an. Entschuldigend hob Boris die Arme. Sein bester Freund stand nicht so drauf, wenn Boris mal wieder seine Grenzen in Sachen Alkohol meilenweit überschritt.
„Lässt du mich rein?“
Yuriy starrte ihn erbarmungslos an, bis Boris den Blick senkte und sich doch, ein ganz kleines bisschen beschämt, die Decke umwickelte. Kurz darauf klickte die Balkontür und Yuriy ließ ihn eintreten.
„Danke.“
Der Rothaarige strafte ihn mit Schweigen.
„Krieg ich einen Kaffee?“
Schweigen.
„War ich gestern mit dir los?“
Wieder Schweigen.
Boris biss sich auf die Unterlippe und kaute auf ihr herum. Das war kein gutes Zeichen. Aber er hatte ihn noch nicht rausgeworfen, darum schöpfte er noch Hoffnung.
„Okay, ja, ich hab es vielleicht ein bisschen übertrie-“
„Dreiundzwanzig. Sieben. Neun“, schnitt Yuriy ihm das Wort ab.
„Ich… was?“
Mit ruhiger, aber schneidender Stimme fuhr er fort:
„Dreiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit hab ich von dir gestern Nacht bekommen. Sieben Mal hab ich dich versucht zurückzurufen. Neun Stunden lag ich wach und hab mir Sorgen gemacht. Dass jede Minute ein Anruf kommt aus dem Krankenhaus oder von der Polizei.“
Letzteres war gar nicht so abwegig – da war Boris tatsächlich schon einmal gelandet, das wusste Yuriy nur nicht. Normalerweise war Yuriy nicht so gluckenhaft, aber es war Klausurenphase und er stand unter erheblichen Druck. Da trugen Boris‘ nächtliche Eskapaden nicht gerade zu einer Minderung des Stresspegels bei.
„Landest du jemals in der Ausnüchterungszelle, wirst du da schmoren. Ich werde dich nicht abholen! Und Krankenhausbesuche werde ich auch nicht machen!“, stellte Yuriy abschließend nüchtern fest. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und sah Boris abwartend an.
Just in dem Moment klingelte es an der Tür. Boris sah ihn fragend und Yuriy lieferte sich mit ihm noch ein kurzes Blickduell, ehe er zur Tür schritt. Er konnte Ivans Stimme hören, der etwas von „vergessen“ und „abgeholt“ murmelte. Kurz darauf kam Yuriy mit einem Arm voll Wäsche zurück in die Küche. Wortlos drückte er Boris den Kleiderhaufen in die Hand. Wie er feststellte, thronte sein Handy ganz obenauf. Es war tot.
„Ich geh dann mal rüber in meine Bude“, meinte er schließlich. Yuriys erneutes Schweigen sprach Bände. Vielleicht sollte er mit dem Alkohol etwas abstinenter umgehen – zumindest bis Yuriys Prüfungszeit vorbei war.
„Du kannst mir ja schreiben, wenn ich dich abfragen soll“, schlug er noch ein letztes Mal versöhnlich vor. Als er die Zweizimmerwohnung verließ, sah er, wie Yuriy auf seinem Handy tippte. Grinsend schloss er die Tür hinter sich.
Chapter 2: An einlaminierten Karteikarten perlen Tränen ganz einfach ab
Notes:
Mood-Songs des Kapitels:
Learn to fly – Foo Fighters
Die Waschmaschine – Die Außenseiter
Chapter Text
„Hast du ein Pflaster? Die Macke geht immer wieder auf.“
Yuriy verdrehte die Augen bei Boris‘ Jammerei. Aber auch wenn er fand, dass Boris es verdient hatte, stand er auf und besorgte ihm ein Heftpflaster, das er ihm zurechtschnitt. Tatsächlich hatte der Rothaarige ihn gebeten, vorbeizukommen, um ihn abzufragen. Nachdem Boris endlich sein Handy an den Strom angeschlossen hatte, konnte er die Nachricht dann auch empfangen.
„Ich sollte auch ein großes auf deinen Mund kleben“, murrte Yuriy, während er den Finger seines besten Freundes verarztete. Es erinnerte ihn an Kindertage. Damals hatte Boris sich auch immer in Schwierigkeiten gebracht, die auf die eine oder andere Art blutig geendet hatten.
„Dann kannst du weder jammern noch trinken.“
Yuriy hasste den Kontrollverlust, den Alkohol mit sich brachte. Er wollte nicht so werden wie sein Vater.
„Wird dann aber mit dem Abfragen etwas schwierig, meinst du nicht?“, entgegnete Boris ihm spitzfindig und grinste.
„Machst du die Wäsche nachher noch?“, fragte Yuriy, deutete auf die Wäschewanne an seiner Haustür und überging auf diese Weise geflissentlich Boris‘ Kommentar.
„Ja. Gehört die Decke eigentlich Ivan oder Sergei?“
„Mit der du heute Morgen aufgetaucht bist? Glaube nicht. Aber ich hab sie schon mal gesehen.“
Boris wunderte sich. Dann streckte er sich ausgiebig und nahm die Karteikarten wieder auf, die in Yuriys sauberer Handschrift beschriftet waren.
„Okay, konzentrier dich. Wir sind bei Piaget: Nenne alle kognitiven Entwicklungsstufen und das dazugehörige Kindesalter.“
„Hab ich das so aufgeschrieben?“
„Nein, aber das ist wichtig. Los!“
Yuriy brummte, bevor er die Antwort an den Fingern aufzählte: „Zuerst kommt die sensomotorische Intelligenz im Alter von null bis etwa 2 Jahren.“
Boris unterbrauch ihn direkt: „Ach ja, fass diese Stufen jeweils in einem knappen Satz zusammen.“
„Wa-? Boris! Bring mich nicht raus!“
Aber Boris sah ihn abwartend an. Yuriy schnaubte; leider waren Boris‘ Abfragemethoden schon seit Schulzeiten immer sehr erfolgreich gewesen. Wenn er Boris nicht gehabt hätte, wer wusste, ob Yuriy die Oberstufe so gut abgeschlossen hätte. Einige Einser-Module in Geschichte waren auch auf die gute Vorbereitung mit seinem Freund zurückzuführen. Also riss Yuriy sich zusammen. Das Psychologiemodul in Erziehungswissenschaft war schwer.
„In der sensomotorischen Phase entsteht ausschließlich das Zusammenspiel von Wahrnehmungseindrücken und motorischer Aktivität. Danach gleitet das Kind mit etwa zwei bis vier Jahren in die Stufe des symbolischen oder vorbegrifflichen Denkens. Auf dieser Stufe lässt sich eindeutig Denken im Sinne verinnerlichten Handelns nachweisen. Das Kind wird fähig, mit Vorstellungen und Symbolen - die Piaget Vorbegriffe nennt - umzugehen. Es folgt die Stufe des anschaulichen Denkens im Alter von vier bis etwa acht Jahren. In dieser Phase…“
Yuriy hielt kurz inne, um sich zu konzentrieren. Sein Blick suchte in Boris Gesicht etwas, was ihm helfen könnte, doch Boris‘ Miene war undurchsichtig. Er nickte ihm aber aufmunternd zu. Du kannst das!
„In dieser Phase… kommt es geradezu zu einer Explosion des Begriffsinstrumentariums, das allerdings noch recht vereinfacht und absolut gebraucht wird. Das Kind kann in der Regel noch nicht verschiedene Aspekte eines Gegenstandes oder einer Beziehung zwischen Gegenständen gleichzeitig erfassen und berücksichtigen, sondern es bleibt meist bei einem wahrnehmungsmäßig herausragenden Merkmal stehen. Daran schließt sich die Phase des konkret-operativen Denkens von acht bis elf, zwölf Jahren an. Ab dem 12. Lebensjahr steht das Kind auf der Stufe des formalen Denkens.“
„Aha. Und die Inhalte der letzten beiden Phasen?“
Yuriy funkelte Boris an. Er wusste es nicht. Da würde diesmal auch ein bisschen Warten nichts ändern. Boris nickte wissend.
„Wiederholen!“, befahl er und warf dem Rotschopf den Ordner zu, auf dem fett „EW“ stand.
„Ich schaff das nie bis zur Prüfung!“
„Yura… die ist in zwei Wochen. Du hast wie immer frühzeitig damit angefangen. Du kriegst das hin!“
Boris hatte es schon immer verstanden, Yuriy Mut zu machen und ihn zu fokussieren. Sie waren wie Brüder aufgewachsen, nachdem Oxana Kusznetsov durch einen Verkehrsunfall gestorben und er dadurch Waise geworden war. Ihre Cousine, Galina Ivanov, die zu der Zeit selbst einen kleinen Jungen im gleichen Alter hatte, nahm sich seiner an; gemäß dem letzten Willen ihrer Cousine war sie nämlich seine Patentante. Zugegeben, es hatte anfangs einige Reibereien gegeben, aber schließlich hatten sie sich zusammengerauft. Die Gewalttätigkeit von Yuriys Vater, wenn der mal wieder einen über den Durst getrunken hatte, hatte sie zusammengeschweißt. Umso genervter war Yuriy aber auch, wenn Boris trank. Für ihn hatte das stets einen schalen Beigeschmack.
„Ich geh meine Wäsche machen. Wenn ich wieder komme, hast du das drauf. Klar?“
„Ja, Mama…“
„Ich ruf Galina an, wenn du nicht machst, was ich sage.“
„Du würdest mich nicht verpetzen für sowas.“
„Ach nein?“
„… Soll ich ihr von deinem morgendlichen Abenteuer erzählen?“
Beide funkelten sich wie Kontrahenten im Ring an.
„Du willst sie doch nicht traurig machen“, schloss Boris schließlich und gewann damit ihr Duell. Wenn auch mit unfairen Mitteln. Yuriy wollte seine Mutter nicht mit solcher Art Kummer belasten. Sie machte sich schnell viel zu viele Gedanken um ihre Söhne.
„Fick dich, Borislaw!“, fauchte er, weil er verloren hatte.
Boris warf Yuriy einen Luftkuss zu und machte sich auf den Weg in den Waschkeller. In eine Maschine steckte er die Decke, von der er immer noch nicht wusste, woher sie war. In eine andere die zum Glück wieder aufgetauchte Kleidung des gestrigen Abends und seinen wöchentlichen Waschhaufen. Er schmiss sie an und setzte sich auf eine Waschmaschine, betrachtete eine Weile, wie das Wasser eingespült wurde, wie die Wäsche sich vollsog und schließlich im Kreis geschleudert wurde. Eigentlich durfte er sich nicht erlauben, solche Saufeskapaden zu haben. Er sollte ein Vorbild sein, schließlich arbeitete er als Bundesfreiwilliger in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Seine Aufgaben umfassten neben dem gemeinsamen Essenkochen auch die Hausaufgabenbetreuung und die Freizeitgestaltung von Drei- bis 18-Jährigen aus schwierigen Familienverhältnissen. Vielleicht war es da nicht so gut, sollte er aus Versehen jemandem aus seinem Arbeitsumkreis begegnen…Andererseits lief sein Vertrag dort auch bald aus. Normalerweise konnte man den Dienst ein Jahr lang ableisten. Boris hatte schon auf 18 Monate verlängert. Nur in Ausnahmefällen konnten 24 Monate geltend gemacht werden, und er wusste, dass er sich nicht dafür qualifizierte. Das hieß, er hatte jetzt noch ein gutes halbes Jahr, bis er… ja was eigentlich? „Bufdi sein“ hatte er nach dem Abi nur gemacht, um sich klar zu werden, was er beruflich mit seinem Leben anstellen wollte. Im Vergleich zu Yuriy war er wirklich schon spät dran. Als sie nach dem Tod von Yuriys Vater von Russland nach Deutschland gekommen waren, waren sie zuerst in Mecklenburg Vorpommern gelandet. In Parchim mussten sie ganz von vorn anfangen. Weil sie kein Deutsch konnten, wurden er und Yuriy in die vierte Klasse zurückversetzt, obwohl sie eigentlich in die fünfte gehörten. Boris fand das ungerecht. Aber er verstand auch kein Wort im Unterricht. Vornehmlich hatten sie Deutschstunden und durften auch noch gar nicht am eigentlichen Unterricht teilnehmen. Außer an Mathe. Zahlen waren ja gleich, rechnen konnten sie. Aber es war ein einziger Krampf. Boris vermisste Kirow. Dort waren seine Mutter und sein Großvater begraben. Sie würden sie nie wieder besuchen gehen können... Das war für ihn wirklich schlimm.
Boris ließ sich auf der ruckelnden Waschmaschine nach hinten sinken. Seine Beine baumelten frei in der Luft. Er dachte an Yuriy, der sich oben das Wissen seiner Karteikarten einprägte. Er dachte an seinen Bücherfetisch, für den er auf dem Schulhof immer geärgert worden war, weil er nicht wie die anderen Jungen beim Fußball mitmachen wollte, sondern lieber unter einem der Bäume saß und las. Und immer in diesen „Hieroglyphen“, wie die anderen Kinder die Schrift genannt hatten, die ihnen als einziges vertraut war in dieser fremden Stadt. Parchim. Boris starrte an die Decke. Seine Gedanken kreisten zurück, als sie zur weiterführenden Schule geschickt worden waren. Parchim hatte genau ein Gymnasium: Das altehrwürdige Friedrich-Franz-Gymnasium. Seine Grundschullehrerin hatte den Kopf geschüttelt, als sie Galina sein Zeugnis überreicht hatte, und gemeint, er habe auf dem Gymnasium nichts zu suchen. Er hätte nicht das Durchhaltevermögen oder das Benehmen für diese Art von Schule. Aber Yuriy würde dorthin gehen. Und wohin Yuriy ging, dahin würde Boris folgen. Das hatte er ihm versprochen, das war ihre Dynamik.
Als sie vor den großen, roten Türen der neuen Schule stand, hatte Yuriy nach Boris‘ Hand gegriffen. Und Boris hatte sie nicht losgelassen, bis sie sich in der Klasse vorstellen mussten. Natürlich hatten sie sich als Brüder vorgestellt. Das hatte den Klassenlehrer dann aber beim Vorlesen der Nachnamen schon verwirrt.
Auch auf der neuen Schule war Yuriy oft Opfer von Hänseleien. Es machte Boris wütend. Yuriy wurde immer noch geärgert, weil er lieber las, als Tischtennis oder Fußball zu spielen, und weil er bei den Mädchen beliebt war wegen seiner Augenfarbe. Diese Beliebtheit wurde größer, je älter sie wurden. Yuriy machte sich nie etwas daraus, und das ließ ihn auf viele andere arrogant wirken. Die Hänseleien wurden gemeiner. Und Boris wurde wütender. Irgendwann platzte er. Es blieb nicht bei einer Verwarnung, oder einer Suspendierung. Solange jemand Yuriy piesackte, bekam er es mit Boris zu tun. Es gab lange, klärende Gespräche mit ihm, seiner Patentante Galina und der Schulleitung. Als Yuriy herausfand, dass Boris sich seinetwegen mit seinen Bullys anlegte, fing er an, seine Kämpfe selbst auszufechten. Verbal, mit Sarkasmus und bissigen Kommentaren, die an Schlagfertigkeit ihresgleichen suchten. So schaffte er es, Boris Fäuste aus seinen Angelegenheiten herauszuhalten. Leider war sein Mundwerk manchmal aber doch etwas zu frech – und Boris kam doch noch zum Einsatz. So operierten sie in der Mittelstufe.
Boris rieb sich das Gesicht und seufzte. Hätte er sich damals nicht so oft geprügelt, hätte er vermutlich nicht so viel Unterricht durch die Suspendierungen verloren und dann hätte er auch nicht ein Jahr wiederholen müssen… Aber dann hätte Galina ihn vielleicht auch nicht beim Thaiboxen angemeldet, um seine überschüssige Energie und Aggression loszuwerden… Und Boxen machte er schon sehr gern.
Dann aber kam Galinas Beförderung und sie mussten erneut umziehen. Diesmal ins tiefste Münsterland, wo sie in Tecklenburg ein neues Zuhause fanden. Yuriy schaffte die Oberstufe ohne Verzögerung, weil seine Kurse auch am neuen Gymnasium angewählt werden konnten. Boris hatte weniger Glück. Er musste das Halbjahr wiederholen und neue Kurse wählen… Aber da er nicht blöd war, nahm er den Russischkurs für Fortgeschrittene. Boris vermisste Kirow immer noch. Durch die Sprache blieb er heimatverbunden. Dann ging Yuriy zum Studieren nach Münster. Und seine Grundschullehrerin schien Recht zu behalten: Es fiel ihm ab da sehr viel schwerer, am Ball zu bleiben. Yuriy musste ihm gehörig in den Arsch treten. Besonders, weil er seine Prioritäten im Sport sah…
Die Maschine unter ihm vibrierte. Sie war im Endschleudergang. Boris rieb sich die Nasenwurzel. Er wollte wissen, wie lange er hier schon lag und grübelte. Sein Blick fiel auf das heutige Datum. Ah, kein Wunder, dass er grübelte. In zwei Tagen war der Todestag seiner Mutter. In dieser Zeit war er immer besonders nachdenklich, launenhaft und ein wenig düster. Er rieb sich über seine Brust, sie fühlte sich eng an. Mutter… Opa Slawa… Kirow… Er hatte nie aufgehört, seine Heimatstadt zu vermissen. Aber es tat nicht mehr so weh.
Plötzlich piepte sein Handy.
15:22
Yura: Ich möchte mit dir Filme schauen und dich die ganze Nacht halten.
Boris blinzelte. Das war ein merkwürdiges Angebot, aber ok. Vielleicht wusste Yuriy, wie er sich gerade fühlte. Er schrieb zurück:
15:24
Boris: Ok. Hast du dich mittlerweile erinnert, wem die Decke gehört?
15:26
Yura: Nee.
Yura: Kommst du gleich noch wieder?
Boris: Ja. Gleich.
Yura: Wann ist „gleich“???
Boris: ca. 10 Min. Ich kann auch nicht machen, dass die Maschine schneller wäscht.
Kopfschüttelnd rutsche Boris von der Maschine und betrachtete die digitale Anzeige. Jeden Moment würde sie auslaufen und dann beeilte er sich. Sonst war Yuriy ja auch nicht so gestresst. Aber vermutlich, weil es jetzt auf den Bachelorabschluss zuging und die Noten anfingen, wichtig zu werden…
15:31
Yura: Ugh, voll peinlich, ich hab die Nachricht für dich an Borya geschickt… /)////(\
Boris starrte auf sein Handy und versuchte die Nachricht zu verstehen. Dann schlich sich ein fast diabolisches Grinsen auf sein Gesicht. So, so… statt zu lernen, schrieb Yuriy mit jemandem? Dem würde er gleich die Hammelbeine lang ziehen! Zwar wusste er nicht, warum ihm die falsch abgeschickte Nachricht so peinlich war, aber das würde er schon herausfinden.
Auf dem Weg zurück in die Wohnung machte er noch einmal Halt an den Briefkästen vor dem Haus. Post konnte er an einem Sonntag zwar nicht erwarten, aber Werbung gab es gefühlt immer.
„Entschuldigung! Entschuldigen Sie, junger Mann!“
Boris sah sich argwöhnisch um. Die alte Dame von nebenan kam freundlich lächelnd auf ihn zu.
„Ich sehe, es geht Ihnen gut. Habe ich Sie doch wieder erkannt!“
„Ähm… Sind Sie sicher, dass Sie mich meinen?“
„Doch, doch… Ich erinnere mich an Ihren unverwechselbaren Haarschnitt und die markanten Ohrringe… Außerdem tragen Sie meine Decke in Ihrer Wanne.“
Boris‘ Ohren wurden heiß.
„Das ist IHRE?!“, entgegnete er bestürzt. Dann hatte sie…
„Ja, mein Junge. Ich habe Sie heute Morgen im Garten liegen sehen, und da es doch etwas frisch war, habe ich mir erlaubt, Sie zuzudecken. Ich hoffe, Sie haben sich nichts weggeholt. Aber einen gesunden Schlaf haben Sie ja.“
Boris traute seinen Ohren nicht. Er hatte noch nie mit ihrer Nachbarin gesprochen – und das war das Erste, womit sie miteinander in Kontakt kamen?
„Ehm… Danke… und tut mir Leid für die Unannehmlichkeiten“, stammelte er leicht betreten, erinnerte er sich doch noch an seine gute Erziehung.
„Schon gut. Soll ich Ihnen die Decke dann abnehmen?“
„Die ist noch nicht trocken. Ich kann sie Ihnen später rüberbringen?“
„Ach, machen Sie sich nicht solche Umstände. Trocknen kann ich sie auch selbst.“
Boris nickte. Er ließ es sich dann aber nicht nehmen, wenigstens mit rüber zu kommen und ihr beim Aufhängen der Decke auf der Wäscheleine zu helfen. Das war das Mindeste, was er tun konnte. Und selbst dafür bedankte sich die alte Nachbarin noch!
„Tut mir nochmals sehr Leid… Falls ich Ihren Schreck am frühen Morgen wiedergutmachen kann… sagen Sie es.“
„Danke. Nachbarn helfen doch einander.“
Sie grinste ihn an, und er nickte nur, um abzudrehen und in sein Haus zu gehen.
„Ah, wenn ich es mir recht überlege, könnten Sie mir vielleicht einen Gefallen tun?“
Boris trabte zu ihr zurück.
„Wissen Sie, mein Sohn ist geschäftlich im Ausland, und mein Rasen ist jetzt schon so hoch gewachsen, wie Sie sicher gemerkt haben, und ich kriege einfach den Rasenmäher nicht an. Würden Sie – natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht – sich meines Problems annehmen? Ich kann Sie auch bezahlen.“
Erleichtert seufzte Boris.
„Das kann ich gerne tun. Aber ich kann kein Geld von Ihnen annehmen. Sehen Sie es als Wiedergutmachung. Und… Nachbarn helfen einander.“
Die alte Dame lachte kurz auf.
„In Ordnung. Ich bin übrigens Irma von Landsberg. Auf eine gute Nachbarschaft.“
Boris ergriff vorsichtig die ihm dargereichte Hand.
„Boris. Boris Kusznetsov. Auf gute Nachbarschaft!“
Endlich wieder oben, fühlte sich Boris ein wenig wie nach einer Begegnung der dritten Art. Aber er war auch erleichtert, dass seine Eskapade keinen größeren Schaden – Herzinfarkt oder so – angerichtet hatte und er seine Schuld abarbeiten konnte. Er trat mit dem Zweitschlüssel in Yuriys Appartement ein. Der hing an seinem Handy und schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Nach einem kurzen Abstecher in die Küche für ein Glas Wasser öffnete er die Balkontür und hängte zuerst seine Wäsche auf Yuriys Balkon auf.
Ein Blick durch das Fenster sagte ihm, dass Yuriy immer noch total vertieft in sein mobiles Endgerät war. Grinsend schlich er sich von hinten an. Als er direkt an der Sofakante stand, konnte er auf dem Display mitlesen. Yuriy hatte gerade so hinuntergescrollt, dass er den Absender nicht erkennen konnte.
Ich will dich küssen – so fiebrig und leidenschaftlich, als wären wir in Eile, als würden wir verbrennen, wenn wir aufhören würden, uns zu küssen. Was auch immer der Himmel für dich bedeutet – genau dahin will ich dich bringen, mit meinen Lippen und ich will, dass du dich fühlst, als würdest du verbrennen an dem Feuer, das in mir für dich brennt.
„Jemand muss aber noch ganz dringend lernen, wie Sexting geht…“
Yuriy erschreckte sich so sehr, dass er sein Handy in die Höhe warf und es sehr ungeschickt versuchte wieder aufzufangen, was ihm schließlich mit dem Bauch gelang.
„HIMMEL – HERRGOTT – HIRTE VON JUDÄA!“, rief Yuriy und drehte sich zu ihm um. Boris lachte schallend.
„Was soll das!“, fauchte der Rotschopf ihn sauer an.
„Ja, das frag ich dich. Was machst du? Sollte das n Sext sein? Das ist super cringy, no offense.“
Boris wischte sich immer noch ein Lachtränchen aus dem Augenwinkel.
„Kümmere dich um deinen Kram…“, knurrte Yuriy ihn an und schaltete sein Handy auf stumm.
„Hast du gelernt, was ich dir aufgetragen habe?“
„… Ja“, gab Yuriy widerborstig zurück.
„Gut. Dann sag an!“
„In der fünften Stufe, der Stufe des konkret-operativen Denkens, zeichnen sich die gedanklichen Operationen durch eine größere Beweglichkeit aus. Verschiedene Aspekte eines Gegenstandes oder Vorgangs können gleichzeitig erfasst und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Terminus konkrete Operationen meint, dass das Kind nun in Gedanken mit konkreten Objekten bzw. ihren Vorstellungen operieren kann. In der sich anschließenden Stufe des formalen Denkens – ab circa elf oder zwölf Jahren - tritt nach Piaget eine Sinnesumkehrung zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen ein. Das formale Denken ist grundsätzlich hypothetisch-deduktiv.“
„Na siehst du. Du kannst es doch. Und du wirst es auch in zwei Wochen können.“
Boris ließ sich neben Yuriy aufs Sofa plumpsen und streckte sich.
„Bock, heute Abend ein bisschen bei mir zu zocken?“
„Nein, ich muss noch lernen.“
„Man muss auch mal Pausen machen.“
Yuriy zierte sich.
„Guck dir den Ordner an! Den muss ich durcharbeiten!“
„Okay, ein Film? Und wir bestellen Pizza? … Immerhin wolltest du mit mir Filme schauen und mich die ganze Nacht halten… Aua!“
Boris lachte und rieb sich die Schulter. Yuriy hatte ihn geboxt. Seine Wangen waren vor Scham gerötet. Boris wusste selbst, es war gemein, ihn aufzuziehen, aber Yuriy bot einfach zu schöne Vorlagen.
„Na gut, aber nur einen Film! Und DU musst den Pizzadienst anrufen!“
Boris nickte ergeben und fummelte den Flyer ihrer Lieblingspizzeria aus der Schublade vom Wohnzimmertisch. Sie beide kannten sich in der Wohnung des jeweils anderen bestens aus.
„Das Übliche – oder was Neues?“, fragte er, während er schon wählte.
Yuriy deutete auf die Nummer 42. Boris hob zweiflerisch eine Braue in die Höhe.
„Sicher?“
„Ein Fr… Kommilitone hat sie mir empfohlen. Mal gucken, ob das berechtigt ist.“
Boris zuckte mit den Schultern, nannte seinen Namen, ihre Bestellung und wurde dann auf eine Wartezeit von einer halben Stunde verwiesen.
„Und was wollen wir schauen?“, fragte er dann und erhob sich, um zu Yuriys DVD-Regal zu schlendern.
„Horror? Comedy? Klassiker?“
Als er von Yuriy keine Antwort bekam, drehte er sich um. Sein Freund und Bruder saß schon wieder am Handy; mit gerunzelter Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Boris schüttelte den Kopf. Er wählte den Film „300“ aus, den hatten sie schon lange nicht gesehen. Damit ließ er sich auf die Couch fallen. Ein lautes Vibrieren deutete eine erneute Nachricht an. Boris beugte sich nah an Yuriys Ohr:
„I feel you breathe “fuck” on to my neck and I moan your name into your ear.“
Yuriy zuckte wieder zusammen.
„Lass das! Sowas ist das nicht!“
„Ihr solltet auf Englisch schreiben. Sexting auf Deutsch ist so… plump.“
Yuriy rutschte an das andere Ende der Couch und funkelte ihn an.
„Ich sagte doch, sowas machen wir nicht!“
„Ja… klar… Wer ist es überhaupt? Kenne ich-“
„Nein!“
Beschwichtigend hob Boris seine Hände. Er legte seinen Kopf auf die Rückenlehne des Sofas und schloss die Augen. Dann sollte Yuriy eben machen… Schließlich war der Rotschopf sonst auch immer so gut mit Worten.
Erst, als es klingelte, öffnete Boris seine Augen wieder und sah Yuriy abwartend an.
„Hey“, stupste er ihn mit dem Fuß an, „es hat geklingelt.“
„Ja, es ist die Pizza, die DU bestellt hast.“
„Es ist aber DEINE Wohnung.“
Yuriy gab einen frustrierten Laut von sich, stand auf und suchte nach seinem Portemonnaie, um den Pizzaboten zu bezahlen. Dabei hatte er sein Handy neben Boris liegen gelassen. Vielleicht hätte Boris es ignoriert, wenn es nicht in genau diesem Moment erneut vibriert hätte. Neugierig linste er auf das Display.
„Hah, ja genau, sowas ist das nicht…“, äffte Boris Yuriy nach und schüttelte den Kopf.
Nach einem prüfenden Blick, ob Yuriy noch beschäftigt war, schickte er eine Nachricht an die Person, mit der Yuriy sich schrieb. Immerhin wollte er nur helfen.
19:03
Yuriy: I bet you feel so good between my thighs.
Boris hatte gehofft, sofort eine Antwort zu kriegen. Aber das Handy blieb stumm. Enttäuscht seufzte er.
Wie es Tradition bei ihnen war, verstaute er ihre beiden Smartphones in einer Schublade in der Küche. Filmabende wurden nicht durch Handys gestört.
Yuriy kam ins Wohnzimmer zurück und legte ihre Pizzen vor sie auf den Tisch. Boris brachte den Pizzaschneider und Siracha-Sauce, sowie zwei Flaschen Cola.
„Was schauen wir eigentlich?“, fragte Yuriy und füllte ihre Gläser.
„Lass dich überraschen.“
19:22
Kai: Holy fuck, I‘d eat you out all night long if you let me!
Chapter 3: Geduldig trägt dein Mütterlein für dich so manche Last
Notes:
Mood Song des Kapitels:
Sorry seems to be the hardest word – Blue feat. Elton John
Chapter Text
Der Abspann lief, sie waren gesättigt und zufrieden. Yuriy stand auf und brachte Besteck und Gläser zurück in die Küche. Bei der Gelegenheit checkte er auch gleich sein Handy.
Boris rieb sich die Augen, stapelte die Pizzakartons ineinander und rollte sie zusammen. Dann nahm er die DVD heraus und verstaute sie an ihrem angestammten Platz. Er drehte sich zu seinem Bruder um und öffnete gerade den Mund, um ihn etwas zu fragen; schloss ihn aber bei der Gesichtskirmes, die dieser gerade durchlebte: Yuriy gaffte auf sein Handy. Eine Augenbraue wanderte skeptisch in die Höhe, seine Augen flackerten und er schien einen Text wahrzunehmen. Plötzlich verließ jegliche Farbe sein Gesicht, was den Kontrast seiner sowieso schon blassen Haut und seiner roten Löwenmähne noch deutlicher werden ließ. Boris machte sich schon Sorgen, da kehrte die Farbe in Yuriys Gesicht zurück und machte dessen Haaren beinahe Konkurrenz. Die Schamesröte ließ seine Ohren glühen und breitete sich auch über seinen Hals und Nacken aus. Boris grinste – dann war seine Hilfe also von Erfolg gekrönt!
Aber da ruckte Yuriys Kopf nach oben und fixierte ihn mit einem rasiermesserscharfen Blick. Boris‘ Grinsen gefror ihm augenblicklich. Die Scham, die bis eben noch überdeutlich in Yuriys Haltung und Gesichtsfarbe sichtbar war, wich wütenden, hitzigen Flecken, und um Nase und Mundwinkeln ergraute seine Haut. Er wirkte fast krank, als sei ihm speiübel. Besorgt eilte Boris auf ihn zu, wollte wissen, was los war.
„Noch einen Schritt und ich werfe dich vom Balkon.“
Yuriys Stimme war nur ein Wispern aus zusammengepressten Lippen. Boris stoppte sofort. Er hatte keinen Zweifel daran, dass Yuriy seine Drohung wahr machen würde. Immer noch starrte sein Bruder ihn an; furios, aber unentschlossen taxierte er ihn wie eine Kobra ihre Beute. Ein Hauch von Verachtung huschte über sein verärgertes Gesicht und es ließ Boris‘ Herz einen Moment aussetzen. Der Grauhaarige hob die Hand, wollte auf ihn zugehen – da machte Yuriy vor ihm auf dem Absatz kehrt und verschwand in seinem Zimmer. Nicht, ohne die Tür mit einem wuchtigen Knall zuzuschlagen.
Jetzt trommelte Boris Herz umso schneller in seiner Brust. Er zwang sich, durch ruhiges Atmen seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Okay, Yuriy war sauer. Na gut, na fein. Er machte einen tiefen Atemzug. Vielleicht brauchte sein Bruder einfach einen Moment, um runterzukommen. Also ging Boris auf den Balkon, sammelte seine Wäsche ein, verstaute den Wäscheständer an Ort und Stelle und schloss die Balkontür und alle Fenster. Die Pizzapappe und die Wäschewanne stellte er vor die Wohnungstür.
Letztlich drehte er sich um und fixierte die Tür, hinter der Yuriy verschwunden war. Es war fast zu still in der Wohnung. Von oben konnte er leise den Subwoofer von Ivan hören, der mal wieder eine ordentliche Runde Drum and Bass durchzog. Was genau er hörte, konnte Boris nicht sagen, dazu war es zu leise und zu elektronisch. Er biss sich auf die Zungenspitze. Zögernd ging er auf Yuriys Schlafzimmer zu. Er wollte nicht ohne eine Verabschiedung gehen. Leise klopfte er an. Als keine Antwort kam, klopfte er etwas lauter.
„Yuriy?“
Vorsichtig öffnete er die Zimmertür einen Spalt. Yuriy saß an seinem Schreibtisch und sortierte seine Karteikarten. Sein Handy lag unbeachtet auf seinem Bett. Boris versuchte es auf die lustige Art.
„Dann… hast du eine Antwort bekommen…?“
Yuriys Schultern zogen sich zusammen und er verspannte sich zusehends. Seine Hand krampfte um eine Karteikarte und zerdrückte sie, bis das Weiß seiner Fingerknöchel hervortrat. Boris schluckte, und kam sich seltsam vor.
„Okay, ich… ich geh dann…?“
Immer noch erhielt er von Yuriy keine Antwort. Wortlos schloss Boris erst die Schlafzimmer-, dann die Wohnungstür hinter sich und kehrte geduckt wie ein geschlagener Hund in seine eigenen vier Wände zurück.
Yuriy atmete heftig aus. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Vorsichtig strich er die gekrumpelte Karteikarte wieder glatt. Das würde noch ein Nachspiel haben…
Zwei Tage später erhielt Boris einen Anruf. Er war gerade beim Training, hatte das Aufwärmen und das Sparring hinter sich und machte eine Pause, als er seinen Klingelton hörte. Mit dem Handtuch, dass über seinen Schultern lag, wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht und nahm erst einen großen Schluck Wasser, bevor er nachsah, wer dieser penetrante Anrufer war, der sich nicht durch Ignorieren abschrecken ließ.
Er fummelte sein Handy aus der Seitentasche seines Seesacks. Genau da erstarb das Klingeln.
5 Anrufe in Abwesenheit.
Mama.
Mama.
Mama.
*unterdrückte Nummer*
*unterdrückte Nummer*
Ungläubig starrte er auf die verpassten Anrufe – vielmehr auf die Anruferin. Sofort ertappte er sich bei einem kurz aufflackernden schlechten Gewissen, wie er es als Bub gehabt hatte, wenn er etwas angestellt hatte. Aber dem war ja nun nicht so, außerdem war er erwachsen – und er konnte sich nicht erinnern, Blödsinn angestellt zu haben. Vielleicht war aber auch das „nicht erinnern können“ das Problem?
Nein, schalt er sich, es gab sicher einen anderen Grund, weshalb Galina ihn anrufen wollte. Just in dem Moment vibrierte sein Handy wieder melodisch in seiner Hand. Er griff es fest, und nahm dann den Anruf an.
„Borya?“
„Ja, мамуля[1]?“
Sie lachte ein helles, herzliches Lachen, was tief in Boris Brust ein wohliges Gefühl auslöste.
„So nennst du mich immer nur, wenn du etwas ausgefressen hast.“
„Du hast fünfmal versucht, mich zu erreichen. Ich hatte den Eindruck…“
Sie schmunzelte in den Hörer.
„Nein, глупы́ш.[2] Geht es dir gut? Ich weiß doch, es ist die Zeit im Jahr.“
„Das klingt, als wär ich ein Werwolf oder sowas.“
Boris rieb sich mit dem Ende seines Handtuchs über seinen kurzgeschorenen Sidecut und seine Augenbrauen. Aber er wusste, was sie meinte. Heute war der Todestag seiner Mutter, und er war ins Gym gegangen, um nicht so viel nachdenken zu müssen. Als Galina weiterhin schwieg, seufzte er tonlos und wanderte mit seiner Wasserflasche nach draußen, um im Hinterhof etwas mehr Ruhe zum Telefonieren zu haben.
„Ich komm klar“, meinte er, auch wenn ein brennender Klumpen in seinem Magen das Gegenteil behauptete. Dass Yuriy ihn seit drei Tagen mit Schweigen strafte, trug nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte. Es gab keine Antworten auf Kurznachrichten, Anrufe drückte er weg – ja nicht mal eine Begrüßung im Treppenhaus saß drin!
„Möchtest du vorbeikommen?“
Boris dachte über das Angebot nach. Die kalte Schulter, die sein Bruder ihm zeigte, schmerzte heute umso mehr und der heutige Tag war vielleicht in Gesellschaft besser zu ertragen.
„Es ist ja nicht so, dass ich immer noch ‚in Trauer‘ bin…“, murmelte Boris leise in den Hörer.
Was stellte er sich auch an. Dieser Tag war wie jeder andere, nur ein dummer Tag, an dem ein dummer Unfall sein Leben schlagartig verändert hatte.
„Du darfst trotzdem traurig sein und sie vermissen.“
„Können wir das Thema wechseln? Ich bin beim Training und will gleich noch in den Ring.“
Galina seufzte mütterlich. Auch wenn sie selbst dafür gesorgt hatte, dass Boris sich mit dem Kickboxen die Aggression aus seinen Adern pusten konnte, konnte sie dem Sport nicht wirklich etwas abgewinnen. Schon gar nicht, wenn ihr Ziehsohn mit neuen Macken, blauen Flecken und Platzwunden zuhause aufgetaucht war. Sie schnalzte mit der Zunge.
„In Ordnung. Apropos Ringkampf: ich hab gemerkt, Yura ist wütend, was ist denn da schon wieder los?“
Boris machte sich instinktiv klein. Und einfach aus Gewohnheit plärrte er heraus:
„Ich hab nichts gemacht! Ich schwöre!“
Galinas Stimme war sanft, aber mit diesem untrüglichen Wissen, das Mütter eben haben, als sie antwortete:
„Irgendwie hab ich das Gefühl, dass das nicht die ganze Wahrheit ist... bist du auch wirklich ehrlich mit mir?“
Boris trat gegen einen Mülleimer und biss in sein Handtuch. Das abwartende Schweigen am anderen Ende der Leitung zeugte von jahrelanger Erfahrung im Umgang mit Boris‘ Gefühlskaskaden.
Schließlich gab er nach.
„... Okay, VIELLEICHT hab ich ihm... ein Date verschafft. Aber ich verstehe nicht, was da so schlimm dran ist."
„Bist du dir denn sicher, dass er das auch wollte?“
„Na ja, er schien interessiert-“
Galina unterbrach ihn: „Hat er dich darum gebeten?“
Boris holte Luft zum Argumentieren, starrte auf das Gebüsch vor sich, an dem die ersten zarten Knospen farbig hervorkrochen, und ließ den Kopf hängen.
„Nein“, gab er kleinlaut zu.
Galina machte ein geduldiges, seiner Ehrlichkeit entgegenkommendes Geräusch. Er hörte es rascheln, vermutlich strich sie sich die Haare zurück und setzte ihre verständnisvolle Miene auf, auch wenn er sie nicht sehen konnte.
„Мишка[3]“, begann sie, und er zuckte bei dem Kosenamen zusammen, den er eigentlich liebte, weil nur sie so zu ihm sagte, „du solltest zu ihm gehen. Ich weiß, ihr seid schon groß, und hört nicht mehr auf eure alte Mutter. Aber ihr müsst doch zusammenhalten! Besonders, weil ich nicht in eurer Nähe bin und auf euch achten kann. Ihr seid doch Brüder!“
Sie seufzte bekümmert.
„Ach, jetzt mach ich mir wieder die ganze Nacht Sorgen…“
Boris biss sich auf die Lippen und kaute eine Weile darauf herum. Schließlich brummte er ergeben.
„Nein, Mama. Das brauchst du nicht. Wir kriegen das auf die Reihe.“
„Also muss ich nicht vorbeikommen und euch beiden die Ohren lang ziehen, bis ihr euch wieder vertragt? Du weißt doch, mein armes, altes Mutterherz erträgt es nicht, wenn ihr euch streitet.“
„Jetzt übertreib mal nicht“, brummte Boris und schlug mit der freien Hand sein Handtuch aus. Allein an der Art, wie sie einatmete, sah Boris ihre kleine Geste des Verdrusses vor sich, wie sie – vermutlich – erst ihre Nasenwurzel rieb und dann mit dem Zeigefinger gegen ihre linke Schläfe tippte. Er wurde kribbelig. In seiner Magengegend kniff es unangenehm. Er rollte mit den Schultern und atmete tief durch. Da riss ihn ihre Stimme aus seinen Gedanken.
„Ihr solltet das in Ordnung bringen. Wirklich. Versprichst du mir das?“
Als er zulange mit einer Antwort wartete, wurde sie nachdrücklicher:
„Borya, versprichst du mir das?!“
Ein kaum verständliches Grummeln deutete sie als seine Zustimmung.
„Ich verlasse mich auf dich. Und jetzt hab Spaß beim Training.“
Sie legte auf.
Boris starrte sein Handy an. Gegen diese Ameisen unter seiner Haut und in seinem Magen musste er dringend etwas tun! Strammen Schrittes stapfte er zurück in die Trainingshalle und warf sein Telefon auf seine Tasche, griff nach seinen Handschuhen und sondierte den Raum. Sein Blick fiel auf Rick, den amerikanischen Austauschstudenten aus Wisconsin. Der Farmerjunge trug immer seinen Ghettoblaster mit sich herum und das kam Boris gerade gelegen. Mit einem Fingerzeig auf ihn und dann auf den Ring bedeutete er Rick, mit ihm zu sparren. Behände rutschte er dann zwischen den Seilen durch und hüpfte ein paar Mal auf und ab, gepaart mit ein paar schnellen Jabs. Er spürte den Boden leicht vibrieren, als Rick sich ihm gegenüber aufstellte, ein Blitzen in seinen Augen, und einem breiten Grinsen auf den Lippen. Aus den Boxen knatterte der Beat. Oh ja, das versprach ein interessanter Abend zu werden.
Boris brauchte einige Pausen auf dem Weg in den ersten Stock. Vor Rick hatte er es sich nicht anmerken lassen, aber der Landjunge hatte einige zielgenaue Treffer gelandet. Seine Sidekicks waren nicht zu unterschätzen, und es machte sich bemerkbar, dass sie in zwei unterschiedlichen Gewichtsklassen gemeldet waren. Boris rieb sich über seinen Kiefer. Da musste er gleich dringend einen Eisbeutel drauflegen.
Als er um die Ecke des Treppenhauses bog, stutzte er. Auf seiner Fußmatte stand Yuriy, an den Türrahmen gelehnt, und rollte nach einem Blick auf seine Armbanduhr genervt mit den Augen.
Für einen Moment freute Boris sich, aber dann wurde er verdrießlich, weil es ihn an ihren Streit erinnerte und er einfach nur ins Bett wollte.
Yuriy sah auf, als Boris näher kam. Er stieß sich von der Tür ab und machte Platz, damit er gleich problemlos aufschließen konnte.
„Wir müssen reden.“
Yuriys Stimme enthielt eine gewisse Schärfe. Boris sagte nichts darauf, und nahm einfach hin, dass Yuriy ihm in die Wohnung folgte. Er war nicht so gut im Reden, seine Fäuste sprachen meist für ihn. Er rieb sich über seine geröteten Fingerknöchel.
„Was du gemacht hast, war nicht okay.“
Boris ließ seinen Seesack vor seinem Kühlschrank fallen, füllte zwei Gläser mit Wasser und deutete stumm auf seine Leseecke im Fenstersims. Yuriy bevorzugte das Stehen. Boris stellte das für ihn gedachte Glas auf dem Küchentisch ab und nahm auf den gemütlichen Kissen Platz.
„Aber du hast eine positive Antwort bekommen, oder nicht?“, meinte er schließlich und drehte sein eigenes Glas in den Händen.
„Darum geht es nicht!“
Frustriert fuchtelte Yuriy mit den Händen in der Gegend herum. Er gestikulierte sehr oft wild, wenn er aufgebracht war.
„Kai war… ist neu! Er ist nett!“
Boris horchte auf.
„Er?“
„Auch das ist nicht Thema dieser Diskussion!“
„Ich wollte nur helfen. Und er ist doch scheinbar drauf angesprungen… Ich verstehe das Problem nicht.“
„Wir haben Gedichte ausgetauscht! Poesie!“
„Ach, deshalb klang das so gestelzt…“
Yuriy hielt in seinem Lauf inne und funkelte ihn an.
„Du hattest kein Recht, dich da einzumischen!“
„Willst du mir weismachen, dass dich diese gekünstelten Sätze angesprochen haben?!“
„Ich mochte die Reinheit, die in seinen Worten war! Er hat sich Mühe gegeben, für mich!“
„Ja, dass es bemüht war, hab ich gesehen…“
Yuriy hatte plötzlich keine Kontrolle mehr über sich. Er sprang auf Boris zu und attackierte ihn mit einem wütenden Aufschrei und fahrigen Hieben. Er schien selbst nicht genau zu wissen, wie er Boris angreifen wollte. Sie rauften sich so eine Weile, mit steigender Frustration auf Yuriys Seite, weil Boris seine Schläge mühelos abwehrte. Da traf Yuriy plötzlich einen schon malträtierten Fleck. Boris zog scharf die Luft ein und sein Zucken sorgte dafür, dass Yuriy gegen den Tisch in seinem Rücken taumelte. Boris erster Impuls war, sich für den Schmerz zu rächen, und ihre Hände kollidierten. Mit einem Poltern landeten sie beide auf dem Boden.
Yuriy ächzte. Boris stöhnte und kniff die Augen zusammen.
„Scheiße, Mann…“
Boris verfluchte die Tatsache, dass sein geliebter Eisbeutel noch im Gefrierfach lag. Hätte er ihn mal vorhin direkt mitgenommen! Er stieß Yuriy mit dem Ellbogen in die Seite. Die Situation erinnerte ihn an ihre erste Prügelei damals in Kirow. Yuriy rempelte zurück und veranlasste Boris zu einem schmerzerfüllten Zischen. Skeptisch richtete Yuriy sich auf und musterte seinen dusseligen Bruder genau.
„Hast du es wieder übertrieben?“
„… Nein, du bist so stark geworden…“
„Ficker.“
Yuriy rappelte sich auf und ließ Boris am Boden liegen. Der Grauhaarige rieb sich seine linke Seite und atmete ein – und dreimal länger wieder auf. Das Pochen an seinen Rippen und auf Höhe seiner Nieren nahm langsam ab. Zeitgleich ließ Yuriy einen Beutel TK-Erdbeeren auf seinen Bauch fallen und hockte sich neben ihm, um den Eisbeutel an Boris‘ Kinn zu halten.
„Hier. Bin ja kein Unmensch.“
„Du hast eine komische Definition von ‚Unmensch‘…“, murrte Boris gepresst und drückte sich das Obst an seine Flanke. Sie schwiegen eine gefühlte Ewigkeit. Nur das leise Knistern der Eiskristalle durchbrach die Stille. Sie hatten sich eine sehr, sehr lange Zeit nicht mehr geprügelt. Wenn man diese Rangelei überhaupt so nennen konnte.
„Tut mir leid-“, begannen sie plötzlich beide, und mussten daraufhin wie irre kichern.
„Es tut mir leid“, setzte Yuriy sich durch, „dass ich eskaliert bin. Aber… ich fand es schön, wie es war. Und du hast mit deiner Nachricht das alles kaputt gemacht.“
Boris drehte seinen Kopf und runzelte die Stirn: „Du hast aber so hilflos und verlegen gewirkt – ich dachte ein kleiner Schubs in die richtige Richtung…“
„Aber das entscheidest nicht du, was die richtige Richtung ist.“
Yuriy seufzte ernüchtert. Ja, die Nachrichten waren unglaublich schnulzig gewesen und wirkten teilweise sehr affektiert, aber es hatte ihm gefallen. Er hätte gern noch eine Weile länger in dieser unbeholfenen Texting-Phase verweilt.
„Kai… ist ein Kommilitone von mir. Und er ist mir zu wichtig für einen belanglosen Flirt, verstehst du? Darum war deine Aktion einfach nicht ok.“
„Oh.“
Es dämmerte Boris langsam, was er angerichtet hatte.
„Aber ihr schreibt euch noch?!“, wollte er hastig und schockiert wissen.
Das entlockte Yuriy ein Lachen, das jetzt wieder so herzlich war, dass es Boris an Galina erinnerte.
„Ja, dein Eingreifen hat an sich zu einem positiven Ergebnis geführt. Und mehr werde ich dazu nicht sagen.“
Er half Boris, sich wieder in eine sitzende Position aufzurichten.
„Vertragen wir uns also wieder?“
„Ja, du Vollidiot.“
„Gut. Dann kann мамочка ja heute Nacht beruhigt schlafen.“
Yuriy nickte: „Oh ja, sie hat mir echt ein schlechtes Gewissen gemacht…“
„Dir auch?!“
„Ja“, knirschte der Rothaarige, „und dabei wollte ich dich bei ihr verpetzen, weil du so ein Trampel warst.“
Boris schnaubte und stand endlich vom Boden auf. Er feuerte die TK-Tüte mit den Erdbeeren auf seine Küchenanrichte und richtete die Anordnung seiner Stühle.
„Bleibst du heute hier…?“, fragte er dann leise, mit dem Rücken zu Yuriy, der irgendwas an seinem Vorhang machte, der sein Bett vor Blicken aus dem Rest der Wohnung schützte.
„Was denkst du denn…“
Boris drehte sich zu ihm um. Yuriy hatte sich schon auf sein Bett geworfen. Lächelnd löschte Boris das Licht.
22:29
Mama: Sonntag, 15 Uhr, obligatorisches Kuchenessen bei mir. Keine Widerrede.
[1] Мамуля (Mamulja) – Koseform für Mama. Mütter werden in Russland immer mit „Mama“ und nicht mit ihrem Vornamen angeredet – sei er noch so verniedlicht. Ihre ‚Mama‘ können die Russen aber auch mit „Mamulja“ (мамуля) oder „Mamotschka“ (мамочка) in der Koseform ansprechen.
[2] глупы́ш (m.) – das Dummerchen.
[3] Мишка [míschka] (m) – Bärchen. Das geht scheinbar für Kinder klar; wobei Mischka dann eher der „coole“ Junge ist und Mischa eher für kleine Kinder gedacht ist. :D (Früher hat Galina Boris dann nämlich Mischa genannt; bis er meinte „Das ist SOOO peinlich!“ Sie liebt Kosenamen, ihre Söhne so semi…)
Chapter 4: Was soll ich sagen, dieser Junge ist Zauber pur!
Notes:
Soundtrack des Kapitels:
Mama – Pizzera & Jaus
Afternoon – Hit Back
Kryptonite – 3 Doors Down
Chapter Text
Pflichtschuldig stand Boris auf der Treppe aus Schieferplatten und trat von einem Bein aufs andere. Es war früher Nachmittag, die inoffizielle, nachbarschaftlich vereinbarte Mittagsruhe war gerade vorbei. Über ihm wetzten Schwalben im Tiefflug aufgescheucht hin- und her; rechts von ihm hatten sie unter der Regenrinne ein Nest gebaut. Es war jetzt knapp eine Woche her, dass er seiner Nachbarin Frau von Landsberg seine Dienste als Gärtner versprochen hatte. Er klingelte. Es dauerte eine Weile und gerade, als er ein zweites Mal klingelte, öffnete die alte Dame die Tür.
„Entschuldigung, ich bin da für die Gartenarbeit. Passt es Ihnen?“
„Aber natürlich, kommen Sie rein. Ich zeige ihnen, wo alles steht.“
Sie ließ ihn eintreten und er folgte ihr durch einen kurzen Hausflur direkt in eine mit dunklem Eichenholz vertäfelte Küche. Die Oberflächen erinnerten ihn an die Küche seines Großvaters, sie waren genauso moosgrün, wie es in den 70ern schick gewesen war.
Im anliegenden Wohnzimmer musste er blinzeln, weil es sehr dunkel war.
„Ja, ich habe die Vorhänge zugezogen. Nachmittags steht auf meiner Terrasse immer die Sonne, dann wird es in der Stube zu heiß“, erklärte Irma von Landsberg und öffnete eine weitere Tür, die zu einem weiteren Flur zu einer Garagentür führte.
„Hier müssten Sie alles finden, wenn mein Sohn nicht irgendetwas mitgenommen hat.“
Sie drehte sich um und zeigte auf die einzelnen Gerätschaften und auf eine weitere Tür, die von der Garage, in der kein Auto stand, wieder in den Garten führte. Boris erkannte allerdings eine Zweiradmaschine unter einer Abdeckplane.
„Von Ihrem Sohn?“, fragte er neugierig und Frau von Landsberg folgte seinem Fingerzeig.
„Ach, das alte Ding. Nein, das Schätzchen ist meins, aber es steht schon sehr lange.“
Sie lachte und Boris nickte.
„Verzeihen Sie, sagen Sie mir noch einmal Ihren Namen? Er war so lang… mit K?“
„Ja. Kusznetsov. Aber… sagen Sie ruhig Boris. Wir sind doch Nachbarn.“
Er zwinkerte ihr zu und im selben Moment fluchte er innerlich darüber. Er konnte doch nicht mit seiner betagten Nachbarin flirten! Yuriy hätte ihn ausgelacht! Er hätte ihm erst gehörig die Leviten gelesen, auf wie viele Arten das falsch war – und dann hätte es ihn nie vergessen lassen.
Aber sie lachte und öffnete ihm die Hintertür, damit er den Rasenmäher hindurchschieben konnte.
„Wenn Sie etwas brauchen, Boris, dann geben Sie mir Bescheid.“
Er nickte und versicherte ihr, schon zurecht zu kommen.
Zunächst verschaffte er sich einen Überblick über den Garten. Dieser war sehr weitläufig, und es waren etwa 100m² Grünfläche. Auch war der Rasen schon sehr hochgewachsen, er war mindestens ein paar Wochen vernachlässigt worden. Kurzerhand stiefelte er zurück in die Garage, sah sich kurz um und nahm zwei Gartenabfallsäcke mit. Die würde er sicher brauchen. Und er müsste wenigstens einmal zum Gartenabfallplatz, wenn er sich die Sache recht besah. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm allerdings, dass er sich dann doch sputen musste, da dieser in knapp anderthalb Stunden zumachte. Behände füllte er etwas Benzin aus dem 5-Liter-Kanister in den Tank und stellte die Messerhöhe auf die vorletzte Stufe. Nach einem prüfenden Blick zog er den Seilzugstarter. Leider röchelte der Motor die ersten drei Male nur traurig. Boris brummte und fummelte ein wenig an ein paar Schrauben herum, stellte den Geschwindigkeitsregler auf Stufe Schildkröte und drückte den Schieber des Motors etwas energischer in die Einraststellung. Er startete einen weiteren Versuch mit dem Seilzugstarter – und oh Wunder – der Motor schnurrte auf wie eine Flugzeugturbine. Gleichzeitig setzte sich die Maschine in Bewegung, da sie über einen eingebauten Vorwärtsgang verfügte, der das Schieben erleichtern sollte. Boris war nicht auf den Kopf gefallen, aber wann hatte er das letzte Mal Gartenarbeit machen müssen? Mit Blick auf die Uhr umfasste er den Griff entschlossen, schob den Geschwindigkeitsregler Richtung Stufe Hase – diese Tiere waren tatsächlich auf der Querlanze eingraviert, damit die Geschwindigkeitsstufen ohne Worte kinderleicht verständlich waren – und schon düste er los.
Er schaffte etwa die Hälfte der Grünfläche und hatte bereits beide Abfallsäcke bis zur Oberkante befüllt. Also beschloss er, diese bereits wegzubringen.
„Frau von Landsberg?!“, rief er von der Terrasse in die Stube hinein. Mit seinen dreckigen Schuhen würde er sich hüten, das Haus zu betreten. Galina hatte ihm Manieren beigebracht.
„Ich bringe den Gartenabfall weg, bin aber sofort wieder da!“
„Nein, was ein Service! Danach machen Sie mir aber eine Pause, ja? Sonst kriegen Sie noch einen Hitzschlag!“
In der Tat war es heute unnatürlich warm im Vergleich zum Rest der Woche. Aber der Juni stand auch kurz vor der Tür. Boris bejahte ihren Vorschlag artig und machte sich mit einer Schubkarre und den beiden Säcken darin auf den Weg. Das war ein weiterer Vorteil ihres Spießerviertels, wie er es immer benannte: Solche Orte wie Gartenabfallsammelplätze waren fußläufig zu erreichen. Und es dauerte auch nicht lange, seinen Müll loszuwerden. Er wischte sich über die verschwitzte Stirn. Ziemlich viele Menschen hatten heute die gleiche Idee wie er. Er grüßte einen entfernt bekannten Nachbarn von der anderen Straßenseite und machte sich auf den Rückweg, indem er die Schubkarre hinter sich herzog.
Im Garten wieder angekommen, wollte er sich sofort wieder an die Arbeit machen, aber Frau von Landsberg hielt ihn auf und nötigte ihn, sich kurz auf einen der weißen Gartenstühle aus Plastik zu setzen, um kurz zu verschnaufen.
„Frau von Landsberg, das ist wirklich nicht nötig…“, versuchte er abzuwehren, aber sie goss ihm sprudelndes Wasser in ein Glas und schnitt ihm das Wort ab.
„Sie müssen am Verdursten sein. Und: Irma.“
Brav bedankte er sich und nahm sich das Wasser. Da schob sie ihm einen Teller mit einem Stück Rhabarberkuchen herüber. Er hatte sogar Puderzucker und einen Klecks Sahne auf den Streuseln.
„Frau von Landsberg…“
„Irma!“
„Frau Irma-“
„Nah dran.“
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Irgendwas hatte die alte Frau an sich, dass er nicht Nein sagen konnte.
„Sie verwöhnen mich. Dabei hab ich noch nicht mal meine Schuld eingelöst.“
„Kuchen geht immer. Außerdem hat Rhabarber viel Vitamin C, also ist es gesund und gibt Kraft. Essen Sie!“
„Sie reden wie meine Mutter… Die hat mich und meinen Bruder auch zum Kuchenessen morgen eingeladen. Ich werde noch zunehmen…“
Fast spöttisch wanderte eine Augenbraue von Irma von Landsberg in die Höhe, während sie Boris zusah, wie er seinen Kuchen aß.
„Das werden Sie sicher heute noch allein in meinem Garten abtrainieren, denke ich.“
„Da könnten Sie Recht haben.“
Boris trank einen großen Schluck Wasser, nachdem er seinen Kuchen verspeist hatte. Das hatte doch gut getan, er hatte heute kein Mittag gehabt. Er bedankte sich für die Mahlzeit und nahm seine Arbeit wieder auf.
Obwohl der Rasenmäher vor seinem Ausflug gut geschnurrt hatte, stotterte der Motor jetzt. Boris beeilte sich und schob das Gerät schneller über das Gras. Doch als er den ersten Auffangkorb entleert hatte, wollte der Motor gar nicht mehr anspringen. Ratlos starrte Boris ein paar Minuten auf die Maschine, dann zückte er sein Handy, um Google zu befragen. Nachdem er sich informiert hatte, kehrte zurück zur Terrasse und rief erneut nach seiner Nachbarin, um ihr von dem Problem zu berichten.
„Ich müsste mir das ansehen, das sollte nicht so schwer sein, aber ich bin halt auch kein Experte. Wenn Sie das nicht wollen, kann ich Ihren Rasenmäher auch zur Reparatur bringen. Ich würd‘s Ihnen dann auch bezahlen, weil… wegen der Umstände, die Sie meinetwegen hatten.“
Die Augen der älteren Dame funkelten verschmitzt auf: „Nun, es waren keine unangenehmen Umstände…“
Sie zwinkerte ihm schalkhaft zu und Boris bekam heiße Ohren. Er war aber auch selbst schuld…
„Trauen Sie sich denn zu, es selbst zu tun?“
„Nun ja… Es scheint nicht so schwer zu sein. Meinem Opa bin ich früher auch zur Hand gegangen… Allerdings ist das schon eine Zeit her…“
Er rieb sich nachdenklich den Nacken.
„Ich würde es gern ausprobieren, wenn ich darf, weil mich das interessiert…“
„Dann tun Sie das. Ich sehe schon, dass Sie gerne mit den Händen arbeiten. Aber seien Sie vorsichtig und verletzen Sie sich nicht.“
Irma von Landsberg begleitete ihn in die Garage und zeigte auf die Werkbank.
„Sie müssten hier alles finden, was Sie brauchen. Ich kann Ihnen beim Zusammenstellen helfen.“
Gemeinsam öffneten sie Schubladen, sahen in alten Malereimern nach und Boris konnte sie gerade noch davon abhalten, den schweren, blauen Werkzeugkoffer aus der hinterletzten Ecke hervorzuziehen.
„Ich stelle Ihnen etwas zu Trinken nach draußen, bedienen Sie sich.“
„Danke.“
Mit einer Drahtbürste und dem Werkzeugkoffer bewaffnet, kniete Boris sich neben den Rasenmäher. Er hatte zum Glück auch einen Steckschlüssel gefunden, um die Zündkerze, die vielleicht das Problem war, zu entfernen. Er wollte sie mit der Drahtbürste reinigen, in der Hoffnung, dass der Rasenmäher danach wieder ansprang.
Währenddessen hatte es geklingelt und Frau von Landsberg bekam weiteren Besuch.
„Hiromi! Wie schön, dich zu sehen!“
„Ich sag dir, das war ein Tag! Hallo Oma!“
Die beiden Frauen umarmten sich herzlich und zielstrebig ging die junge Frau in die Küche, um einen Tee aufzusetzen.
„Kommst du direkt von der Arbeit, Liebes?“
„Ja. Ernsthaft, ich hasse arbeiten. Mandanten sind so dumm!“
Irma von Landsberg kannte das schon. Wann immer ihre Enkelin in der Nähe war, kam sie vorbei, um nach ihr zu sehen und dann erzählte sie ihr von dem turbulenten Treiben in der Kanzlei, in der sie arbeitete. In den meisten Fällen musste sie einfach nur Schimpftiraden über ihre Kollegen, meistens aber über Klienten loslassen. Und wer schon mal mit Menschen arbeiten musste, konnte das nachvollziehen.
Während Hiromi redete, suchte sie die Teetassen heraus. Ihre Großmutter ergänzte das Tablett um Kuchengedeck.
„Ich meine, da fasst du dir wirklich an den Kopf, was die meinen! ‚Oh, die haben nen Mahn-und Vollstreckungsbescheid gegen mich erwirkt, das muss ich doch nicht zahlen oder?‘“
Sie schnaubte verächtlich und goss das kochende Wasser auf die Teebeutel in der Kanne.
„Nö, kein Problem, die paar hundert Euro erlassen wir dir natürlich, weil du so nett fragst, schreiend und mit Beleidigungen.“
Sie verdrehte die Augen und trug das Tablett selbstverständlich nach draußen auf die Terrasse. Irma tat ihr ein Stück Kuchen auf und goss Tee in ihre Tassen.
„Ich meinte dann zu dem Mandanten, ich würde mir das ganz sauber überlegen, wir können daraus direkt vollstrecken. Ob ich denn blöd wäre. Nein, danke fürs Gespräch, einen schönen Abend noch.“
Sie steckte sich eine große Gabel Kuchen in den Mund und redete munter drauf los, ohne vorher zu Ende gekaut zu haben.
„Der rief der wieder an, hatte meine Refa am Ohr. Dr. Gerlach – der nicht sein Anwalt ist! – hätte ihm gesagt, er müsse das nicht zahlen. Und meine Refa ist alles andere als dumm, und hat ihn direkt zu mir durchgestellt. Ich hab ihm dann ganz ruhig erklärt, dass er nicht meinen muss, dass er uns verarschen kann; er könne kulanterweise weiter Raten zahlen, oder ich hetze ihm den Gerichtsvollzieher auf den Hals, seine Wahl.“
Sie zuckte mit den Schultern stopfte sich zwei weitere Bissen in den Mund. Diesmal schluckte sie erst hinunter, bevor sie weitersprach.
„Darauf wollte er seinen Anwalt sprechen, ich erklärte wiederum, dass ich in seinem Namen tätig bin und weil mir der Fall übertragen wurde, er an mir nicht vorbeikommen wird. Da wurde er beleidigend. Ich habe aufgelegt.“
Hiromi lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und genoss den Tee in der Sonne.
„Und dann?“, fragte Irma interessiert.
„Zwanzig Minuten später stand er vor der Tür. Da steht er vermutlich immer noch. Und da kann er stehen, bis er schwarz wird. Ist mir scheißegal.“
Irma schüttelte den Kopf.
„Hättest du da nicht die Polizei rufen können? Wegen Belagerung oder Belästigung?“
„Ich fühlte mich nicht belästigt. Eher belustigt.“
„Du hast immer mit so leidigen Personen zu tun… War das einer, der euch verlassen hat, und ihr als Kanzlei noch Ansprüche?“
„Nein, der hat monatelang brav Raten gezahlt. Dann hatte er wohl keine Lust mehr, und nachdem mehrere Mahnungen im Sande verliefen, haben wir Mahnbescheid beantragt. Keine Reaktion, also haben wir den Vollstreckungsbescheid beantragt, da hat er dann wieder gezahlt. Jetzt ist er der Meinung, er habe schon überzahlt und ist fertig. Stehen aber noch die Kosten für die Maßnahme an, die er ja sich selbst eingebrockt hat.“
Sie seufzte.
„Manchmal hasse ich Menschen…“
„Hiromi, sei doch nicht so bitter!“, lachte Irma. „Es wäre nur halb so lustig ohne die ganzen Idioten.“
„Wenn die wenigsten nur sich selbst auf die Nerven gehen würden und nicht mir…“
In dem Moment röhrte der Rasenmäher laut auf, begleitet von einem Jubelschrei, und puffte dreimal wie Pistolenschüsse. Hiromi riss ihren Kopf entsetzt herum und sprang erschrocken halb aus ihrem Stuhl auf.
„Wer ist in deinem Garten?!“
Sie konnte nicht viel erkennen, weil von ihrem jetzigen Standpunkt hohe Rhododendronbüsche die Sicht versperrten.
„Das ist mein Nachbar. Er hilft mir mit dem Garten.“
Just in dem Moment kam Boris mit dem wieder funktionstüchtigen Rasenmäher um die Ecke gefahren. Er hatte sich sein T-Shirt ausgezogen, weil ihm zu warm geworden war. Sein helles Tanktop war von Ölspritzern übersäht.
„Er läuft wieder!“, schrie er über das Motorengeräusch hinweg und rief dann eine kurze Begrüßung in Richtung Hiromi, bevor er sich dem restlichen Rasen widmete.
Hiromi sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Sie blinzelte mehrmals.
„Wie bist du denn an den gekommen?!“
„Ehrlich gesagt war das eine sehr lustige Geschichte. Er lag einfach eines Morgens nackt in meinem Garten. Und als Wiedergutmachung für sein widerrechtliches Betreten habe ich mit ihm ausgehandelt, dass er das tut, was dein Vater mir schon seit Wochen versprochen hat.“
„Aber-! Oma! Du kannst doch nicht irgendwelche wildfremden – und vor allem nackte! – Leute aufsammeln!“
Hiromi starrte ihre Großmutter fassungslos an.
„Also, zu deiner Information hat er sich selbst aufgesammelt und mir löblicherweise sogar die Decke gewaschen, die ich ihm geliehen hatte. Außerdem sind wir Nachbarn. Der Junge ist in Ordnung.“
Völlig gelassen und unbeeindruckt von der sprachlosen, aber wilden Gestik ihrer Enkelin trank Irma ihren Tee aus.
„Du kennst ihn doch gar nicht!“
„Nun, hätte dein Vater sein Versprechen gehalten, hätte ich Boris‘ Hilfe nicht gebraucht. Und jetzt erzähl mir nicht, dass du das gemacht hättest. Ich weiß doch, wie es um deine Zeit steht.“
Hiromi spürte den Stich in ihrer Brust. Auch wenn Irma es ihre wirklich nicht übelnahm – sie hätte sich Zeit nehmen können, aber es kam immer irgendwas dazwischen; meistens Arbeit.
„Wie geht es deinem Vater eigentlich?“, wechselte Irma das Thema.
„Er hat gestern Mittag nach seinen Meetings Mama getroffen und beide wollten morgen dann Sobo[1] und Sofu[2] treffen. Ich hab gestern noch mit ihnen telefoniert.“
Irma nickte. Ihr Sohn war schon immer ein Lebemann gewesen und berufsbedingt viel gereist. Und auf einen dieser Geschäftsreisen hatte er seine Frau kennen gelernt. Ausgerechnet in Japan. Das war so weit weg…
Ihre Unterhaltung wurde jäh unterbrochen, als Boris wieder auftauchte.
„Frau Irma, ich bin fertig. Leider hat der Gartenabfallplatz schon zu, aber ich kann am Mittwoch versuchen, den Rasenschnitt für Sie loszuwerden.“
Sein Blick glitt zu Hiromi.
„Vielen Dank, das wäre mir eine große Hilfe. … Das ist meine Enkelin.“
„Hi…“
„Tachibana Hiromi. Ich hoffe sehr, Sie glauben nicht, meine Oma sei eine hilflose alte Frau, die Sie übers Ohr hauen können!“, entgegnete sie feindselig und musterte Boris abschätzig. Ihr Blick blieb an seiner tätowierten Schulter hängen.
„Wow, okay. Es handelt sich hier um einen simplen, nachbarschaftlichen Gefallen.“
Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an seine freundlichere Nachbarin.
„Ich habe die Zündkerze gereinigt, jetzt müsste alles wieder rundlaufen.“
Er verabschiedete sich, räumte – unter den Argusaugen von Hiromi - alle Arbeitsgeräte wieder an ihre angestammten Plätze und verließ mit einem letzten Dank für den Kuchen das Grundstück.
„Du hättest nicht so schroff zu ihm sein müssen!“, meinte Irma tadelnd an ihre Enkelin gewandt.
„Oma! Du wirst mir noch dankbar sein! Du bist prädestiniert für den Enkeltrick!“
Irma wirkte beleidigt. Sie stemmte die Hände in die Hüften.
„Wenn du zu allen Männern so frech bist, kriegst du nie einen ab.“
Hiromi rollte mit den Augen. Sie wusste, ihre Oma meinte es nicht so; sie wusste aber auch, dass ihre Oma sich einen Lebenspartner für ihre Enkeltochter wünschte.
„Das ist auch nicht Ziel in meinem Leben. Und jetzt komm mit, ich richte dir Skype ein, dann kannst du heute Abend noch mit Papa einen Videoanruf starten.
Chapter 5: Auch eine kaputte Uhr fängt zweimal am Tag den fettesten Wurm
Summary:
Boris hat Geldprobleme, die er auf seine Art zu lösen versucht. Dabei geht er Yuriy gehörig auf den Sack...
Notes:
Мишка - Kosename "Bärchen"
Chapter Text
„Hast du auch was gehört?“
Das leise Wispern strich über seine feuchten Lippen und sandte einen Schauer seine Wirbelsäule hinab.
„Nein… Mach weiter, wo du aufgehört hast…“, murmelte Yuriy und zog ihn wieder auf seinen Schoß und damit näher zu sich.
„Sag mal, hast du auch Post vom Vermieter bekommen?“
Ohne Vorwarnung schwang Yuriys Wohnungstür auf und Boris redete sofort drauf los. Mit schwungvollen Schritten marschierte er auf die Küchenzeile zu, während er auf den Brief in seiner Hand starrte, den er bereits im Treppenhaus geöffnet hatte. Nur im Augenwinkel nahm er eine plötzliche Bewegung und leises Rascheln wahr; beidem schenkte er aber nicht viel Aufmerksamkeit. Mit der freien Hand öffnete er den Kühlschrank und nahm sich fast schon blind eine Cola heraus.
„Ich soll 420 Euro nachzahlen. Für ein Ein-Zimmer-Appartement! Die haben ja wohl den Schuss nicht ge-“
Boris sah nun endlich auf und zum Sofa herüber.
„-hört?“
Leicht irritiert blickte er von Yuriy zu… einem Unbekannten mit asiatischen Zügen. Die beiden saßen am jeweils anderen Ende der Couch, eine verdächtig wirkende Entfernung.
„Äh… Ja. Ja, hab ich, ich musste aber nicht… Also wegen der Nackt- äh, Nachzahlung… äh, nachzahlen…“, faselte Yuriy. Er klang ziemlich atemlos.
Boris schüttelte den Kopf und ging die Zeilen auf dem Papier erneut durch. Yuriy stopfte sich rasch ein Kissen auf den Schoß.
„Da brauch ich ja einen Drittjob. Zum Teufel, die Miete wollen die deshalb auch anheben!“
„Also… Mama kann…“
„Ich werde Galina nicht bitten, sie hat schon zu viel…“
Er hielt inne, weil er beobachtete, wie der ihm Unbekannte sich durchs Haar fuhr und Yuriy sich ein paar Strähnen hinter das linke Ohr strich. Das war ein eindeutiger Verlegenheitsmove.
„Und wer ist DAS überhaupt?“
Yuriy knurrte und stieß ein stummes Gebet – oder so – aus.
„Darf ich vorstellen? Das ist Kai. Kai, das ist Boris.“
Noch immer hatte er seinen Atem nicht ganz unter Kontrolle. Boris kniff die Augen zusammen und musterte Kai skeptisch. Dann fiel es ihm wieder ein.
„Oh. Ohhhhhhhh, DER Kai?! Ich hoffe, ich hab euch nicht… bei irgendwas gestört?!“
Seine anfänglich ehrlich bestürzte Miene wich einem breiten Grinsen.
„Yuriy, wer IST das?“, fragte Kai nun seinerseits irritiert und klang sogar leicht genervt.
Schwer seufzend warf Yuriy ihm einen entschuldigen Blick zu.
„Mein Bruder.“
„… Ihr seht euch aber nicht besonders ähnlich.“
„Das erklär ich dir ein anderes Mal. Und JA, Borya, du störst! Wenn du also so freundlich wärst…!“
„Eigentlich wollte ich dich fragen, ob ich deine Badewanne benutzen kann. Wie du siehst, bin ich voller Öl – und meine Wasserrechnung…“
„Geh weg!“
Boris flog ein Kissen ins Gesicht. Gackernd trat er aber tatsächlich den Rückzug an.
19:34
Boris: Sorry fürs Cockblocken. Tu nichts, was ich nicht auch tun würde!
19:36
Yura: Ich werde deinen Namen ändern. Und jetzt hör auf zu nerven! Und KLOPF AN, bevor du zu mir reingestürmt kommst!
19:37
Cockblock: Aber bitte nicht so laut ja?
19:38
Cockblock: Die Wände sind dünn, das weißt du.
19:39
Cockblock: Und was meinst du mit Namen ändern?
19:42
Cockblock: Na schön. Bin ja schon still. Habt Spaß!
19:52
Cockblock: PS: Ich hab ein paar Kondome an deine Tür geklebt, nur zur Sicherheit. Stay safe! ;-)
Er hörte die Tür aufgehen, ein Fluchen und das Geräusch, das Klebefilm machte, wenn man es von einer Oberfläche abzog. Dann vibrierte sein Handy endlich wieder.
19:59
Yura: Sei endlich still!
20:01
Yura: Trotzdem danke. ♥
Boris grinste sein Handy an. Er freute sich für seinen Bruder. Auch wenn er tatsächlich gerne seine Badewanne benutzt hätte… Er pfefferte sein Top in den Wäschekorb und begnügte sich mit seiner eigenen Dusche. Morgen waren sie bei Galina eingeladen, da wollte er saubere Fingernägel haben.
Nach seiner gründlichen Körperreinigung setzte er sich an den Tisch und ging den Brief seiner Vermieter noch einmal sorgfältig durch. Dann rechnete er: Mit dem Bufdi-Taschengeld von knapp 400 Euro hatte er die Miete nicht bezahlen können. Deshalb arbeitete er meist mittwochs, donnerstags und samstags in der „Villa Winkel“ als Kellner bzw. Barkeeper für etwas mehr als den Mindestlohn. Er kam auf sechs oder acht Stunden pro Abend, je nachdem, ob er schon vorher für „schwere“ Arbeit wie Fässer anschließen oder Kisten schleppen gebraucht wurde. Der Job war easy für ihn, er bot Flexibilität und förderte seine eh schon sehr ausgeprägte Stressresistenz. Außerdem sagten ihm auch die durchaus häufigen Flirtchancen zu. Finanziell hatten also die soziale Arbeit und das Kellnern ihn bisher über Wasser gehalten, da er auch recht sparsam war. Er brauchte nicht viel. Aber selbst wenn er diesen und den nächsten Monat auf Alkohol und andere außergewöhnliche Ausgaben verzichtete, konnte er die Nachzahlung nicht berappen. Die Auflistung mit seinen monatlichen Ausgaben frustrierte ihn. Und dabei gab er nun wirklich schon nur das Minimum aus. Auf seine Mitgliedschaft im Boxverein wollte er nicht verzichten. Und die Raten für sein letztes Tattoo waren auch noch lange nicht abbezahlt…
Seufzend zog er die Wochenzeitung zu sich heran und schlug den Teil mit den Stellenanzeigen auf. Ihm stach sofort ein Inserat als Türsteher für das „eclipse“ ins Auge, einem kleinen Club in der Innenstadt und beliebter Studententreffpunkt. Die Bezahlung war gut, und vorstellen konnte er sich das auch. Nur… je länger er darüber nachdachte, desto unliebsamer wurde ihm die Idee. Dann müsste er noch Jura-Schnöseln den Eintritt verweigern, weil sie noch keine 21 waren, oder er traf auf bekannte Gesichter aus seiner Bufdi-Familie, Eltern, Geschwister… Die Stadt war klein.
Boris seufzte erneut und nahm einen Textmarker zur Hand. Er kringelte die zwei vielversprechendsten Anzeigen an – ein Gesuch für eine Putzhilfe für 3-4 Stunden wöchentlich für einen Zwei-Personenhaushalt in der Nähe, und ein Angebot für Teilzeit oder 450€-Basis als Mitarbeiter im Verkauf. Was auch immer dort verkauft wurde. Gähnend streckte er sich. Sollten die beiden Stellen nichts sein, würde er sich die Na dann holen. Dort gab es Stellenanzeigen en masse. Mit Sicherheit würde er dort fündig werden.
Nach einem letzten, grantigen Blick auf den Nachzahlungsbescheid stand er auf, stellte sich einen Wecker und eine Erinnerung, dass er morgen dran war, die Blumen für den morgigen Besuch bei Galina zu besorgen. Er dehnte seine Nackenmuskeln, bis es knackte, öffnete das Fenster in der Küche und ließ sich anschließend erschöpft auf sein Bett fallen.
„Scheiß Nachzahlung…“
Yuriy starrte auf den Strauß in seinem Schoß. Er saß auf dem Beifahrersitz, während Boris die knapp vierzig Minuten zu ihnen nach Hause fuhr.
„Du hast schöne Blumen ausgesucht.“
Boris brummte. In Gedanken überschlug er verschiedene Rechnungen und dachte darüber nach, was er sonst noch nebenberuflich machen könnte. Yuriy knibbelte an einem Aufkleber auf dem Plastik.
„Hör mal…“, begann er etwas nervös, „das mit Kai… ich fänd’s gut wenn… Ich möchte das Mama gern selbst sagen. Also… wenn der richtige Zeitpunkt… du weißt schon…“
Boris brummte erneut.
„Ich mein, vielleicht denkt sie sich auch schon längst ihren Teil, aber es auszusprechen…“
Yuriy schwieg eine Weile.
„Hörst du mir überhaupt zu?“
Boris sah kurz zur Seite und sie wechselten einen Blick.
„Natürlich. Ich oute dich nicht.“
Yuriys Blick lag lange auf seinem Bruder. Normalerweise hätte dieser die komplette Autofahrt versucht, ihn in Verlegenheit zu bringen und kompromittierende Auskünfte der letzten Nacht verlangt. Ihn musste also etwas anderes schwer beschäftigen.
„Worüber grübelst du?“
„Ich brauch Kohle. Und das schnell.“
„Wenn du Mama fragst, wird sie sicher helfen. Es ist ja jetzt nicht so, dass du schuld daran bist. Nachzahlungen kommen vor.“
„Aber nicht in der Höhe. Vielleicht hab ich zu lange das Wasser laufen lassen oder… was weiß ich.“
Boris bog in die vertraute Wohngegend ihrer Jugend ein.
„Und, falls du das gestern nicht mitgekriegt hast, weil dein Verstand in deinem Schwanz war-“
„Sei nicht immer so vulgär!“
„… sage ich es dir noch einmal: Ich möchte sie nicht fragen. Galina hat schon zu viel für mich getan, ich will sie nicht noch damit belasten. Also… sei auch du bitte still darüber, ja?“
Er parkte sein Auto, dass sie sich teilten, aber auf seinem Namen lief, in der Einfahrt. Abwartend sah er Yuriy dann an. Dieser seufzte.
„Versprochen. Bruderehrenwort.“
Sie verhakten ihre Finger kurz, bevor Yuriy sich umständlich aus seinem Sitz schälte, um die Blumen nicht zu zerquetschen. Boris schrieb noch eine kurze SMS, ehe auch er ausstieg.
Galina erwartete sie bereits in der Haustür. Ihre Hände waren in die Hüften gestemmt und sie belegte ihre beiden Jungen mit einem strengen Blick. Boris schluckte. Er schlug die Tür zu und verschloss den Wagen, hastete anschließend um die Motorhaube herum, um sich etwas hinter Yuriy zu verstecken. Wenn sie schon ihren Zorn abkriegten, dann wenigstens zusammen. Und sie sah schon etwas zornig aus.
Sie folgten ihrer Mutter durch den kurzen Hausflur in die Wohnung, wo sie erst mal ihre Schuhe auszogen. Galina Ivanov wohnte im Erdgeschoss eines Vierparteienhauses. Sie hatte einen kleinen Garten mit Terrasse. Der Balkon über ihr bot sogar genug Schatten, um in der Mittagssonne dort Siesta zu halten. Hier hatten Yuriy und Boris zwei kleine, aber sehr gemütliche Zimmer gehabt. Aus einem hatte sie jetzt einen Hobbyraum gemacht, in dem sie nähte. Das etwas größere, das Yuriys Zimmer gewesen war, hatte sie zum Gästezimmer gemacht. Die alten Jugendbetten in 90er-Breite standen dort. Manchmal übernachteten ihre Jungs noch dort, mal allein, mal beide zusammen. Ein paar alte Erinnerungsstücke ihre Kindheit standen dort auch immer noch im Regal.
Als sie im Wohnzimmer angekommen waren, blieb ihre Mutter stehen und drehte sich schwungvoll zu ihnen um.
Yuriy wechselte einen kurzen Blick mit Boris, da bekamen sie beide einen leichten Klaps in den Nacken.
„Ihr sollt euch nicht immer streiten!“, schimpfte Galina endlich los. Schuldbewusst und betreten sahen beide Delinquenten auf den Boden.
„Und sagt mir nicht ‚Kommt nicht wieder vor, Mama!‘, denn das kann ich nicht glauben! Immer muss ich mich aufregen. Immer muss ich mir Sorgen machen!“
Boris stieß Yuriy mit dem Ellbogen in die Hüfte und nickte in ihre Richtung. Yuriy hielt seine Blumen höher, einer Opfergabe gleich.
„Wir… Wir haben Blumen mitgebracht?!“
Galina nahm die Blumen, betrachtete sie eindringlich; aber letztlich zog sie erst Yuriy, dann Boris in eine liebevolle Umarmung und küsste ihnen beiden die Stirn.
„Versprecht ihr mir denn wenigstens, dass ihr demnächst alleine darauf kommt, euch zu vertragen, ohne dass ich euch erinnern muss? Ihr müsst das irgendwann selbstständig können, ich werde euch nicht für immer erinnern können.“
„Mama, sei doch nicht immer so düster…“
Yuriy verdrehte seine Augen ob ihrer melodramatischen Tendenz. Boris mochte es auch nicht so gerne, wenn sie so sprach, denn manchmal genügte nur ein unachtsamer Moment eines anderen…
„Du wirst uns sicher noch bis ins hohe Alter triezen.“
„Yurotschka, du wackelst gehörig am Ohrfeigenbaum, mein Lieber!“, warnte Galina ihren Sohn und kehrte ihm den Rücken, um die Blumen in eine Vase zu stellen, damit Yuriy sie anschließend auf dem Gartentisch auf der Terrasse stellen konnte.
Aus den Augenwinkeln nahm Yuriy dabei wahr, wie Boris sein Handy eingehend studierte und selbst etwas eintippte.
15:07
Lai Chou (Trainertüp): Jo, Angebot steht noch. 75, wenn du verlierst. 125, wenn du gewinnst.
Boris K.: Mehr nich? Hab von besseren Geboten gehört.
Lai Chou (Trainertüp): Bist halt nicht A-Klasse. Da kannste ab 300 machen, aber du musst erst über B-Klasse einsteigen.
„Мишка, kommst du raus? Und Handy weg bei Tisch!“
Hinter Galina feixte Yuriy wegen des Kosenamens von einem Ohr zum anderen.
„Ja, sofort! Bin gleich da!“
15:10
Boris K.: 125 ist schon recht wenig.
Lai Chou (Trainertüp): Ich schau mal, was ich noch rausholen kann.
Boris steckte sein Handy in seine Hosentasche und trat auf die sonnengewärmten Steinplatten hinaus. Galina goss ihnen Kaffee ein und Yuriy half beim Anschneiden der Medovnik.
„Nächstes Mal gibt es Erdbeerkuchen, aber ich dachte ich mach was mit Honig – denn Honig klebt und hält zusammen, was zusammen gehört“, erklärte Galina mit einem Schwenk ihres Kaffeelöffels.
Boris tröpfelte etwas Sahne in seine Tasse, Yuriy trank ihn schwarz.
„Poetisch, мамуля.“
Galina hielt inne und sah ihn an, bereit, ihm auf den Zahn zu fühlen.
„Was hast du ausgefressen, junger Mann?!“
Wie ertappt sah Boris auf und gab sich selbst einen mentalen Bitchslap. Noch hatte er gar nichts angestellt, aber sein schlechtes Gewissen sprach wohl für sich. Genau in diesem Moment spürte er sein Handy auf seinem Oberschenkel vibrieren, als wollte es sein schlechtes Gewissen nur bestätigen. Hilfesuchend sah er zu Yuriy. Dieser vermutete fälschlicherweise, dass es um das Hüten seines Geheimnisses ging, was Boris ihm ja versprochen hatte.
„Mama, weißt du eigentlich, dass wir… äh, eine sehr nette Nachbarin haben?!“
„Was?“, kam es von Boris und Galina gleichzeitig, wobei Boris‘ eher nach einem „Bist du bescheuert!?“ klang.
„Ja. So ein altes Mütterchen von nebenan. Du weißt schon, die hinter der Rhododendronhecke. Aber das kann Boris dir sicher besser erzählen, der war gestern da.“
„So? Wie kommt es dazu, dass du dich bei alten Damen herumtreibst?“
Boris warf Yuriy einen „Na schönen Dank auch!“-Blick zu, denn wie sollte er erklären, dass er aufgrund einer Verkettung ihm unkenntlicher Ereignisse rein zufällig dort in Irma von Landbergs Garten gelandet war?
„… Das war in der Tat etwas skurril. Sie brauchte Hilfe beim Rasenmähen. Ihr Sohn lässt sie wohl häufig im Stich… Und neulich war ich am Postkasten, da hat sie mich einfach angesprochen.“
Er log ja nicht, er bog die Wahrheit nur ein bisschen.
„Und da hast du ihr ausgeholfen? Für ein Mal?“
„Ja, denk schon. Frau Irma ist ganz nett, aber sie hat eine wirklich furchtbare Enkeltochter.“
„So? Wieso das?“
„Die ist voll ausgetickt, als sie mich im Garten gesehen hat. Die hielt mich wohl für einen Kriminellen.“
Boris schüttelte den Kopf und probierte seinen Kuchen.
„Oh, und Frau Irma macht sehr leckeren Rhabarberkuchen!“
Galina legte den Kopf schief, ihre Augen verengten sich. Fast schon sah sie eifersüchtig aus.
„Wie bitte?“
Yuriy lachte auf und legte eine Hand beschwichtigend auf den Unterarm seiner Mutter. Daraufhin wandte sie sich ihm zu: „Yura! Hörst du, was dein Bruder sagt? Stundenlang steh ich in der Küche, und er isst meinen Kuchen – und lobt den einer anderen Frau!“
„Mama…“, erklang es unisono von beiden jungen Männern und sie seufzten sogar synchron.
Galina kniff die Augen zusammen und fokussierte Boris damit eine Zeit lang. Aber allen war bewusst, dass sie nur herumalberte.
„Was gibt es denn sonst Neues? Yura, Boris hat gesagt, bei dem Streit ging es um ein Date. Ist da was bei rumgekommen?“
Boris verschluckte sich an seinem Kuchen und Yuriy wechselte mit ihm nun einen „Spinnst du?“-Blick. Das mit den Blicken hatten sie wirklich untereinander perfektioniert. Abwehrend hob Boris die Hände und entschuldigte sich für eine Toilettenpause.
16:22
Lai Chou (Trainertüp): Ich kann 150 bei Sieg fix. Vllt etwas mehr, je nach Zuschauerstrom und Umsatz bei den Wetten. Bist du dabei?
16:31
Lai Chou (Trainertüp): Entscheide schnell.
Das war ein verlockendes Angebot. Er war gut im Training. Vielleicht konnte er sich auch schnell hocharbeiten, um in die A-Klasse zu kommen? Er hatte drei Monate Zeit, die Nachzahlung zu überweisen. Alle drei Wochen einen Kampf – vorausgesetzt, er gewann auch – dann hatte er zumindest die Nachzahlung wieder raus. Langfristig musste er aber doch wegen der Mieterhöhung etwas unternehmen.
Nachdenklicher als vorher kehrte Boris zu seiner Familie zurück.
„Wirklich? Das freut mich für dich.“
Boris horchte auf. Hatte Yuriy ihr schon alles erzählt?
„Jetzt muss ich nur noch abwarten, ich bin etwas nervös. Ab morgen werden die Ergebnisse der Prüfungen veröffentlicht. Ich ruf dich sofort an, wenn ich weiß, ob ich bestanden hab.“
„Du rufst in jedem Fall an, auch wenn du nicht bestanden hast. Hörst du!“
Lächelnd setzte Boris sich dazu: „Ich sorge dafür, dass er anruft, falls er das vergessen sollte.“
„Ich habe wirklich sehr liebe Jungs“, bestätigte Galina sich selbst, während sie sich erhob. „Nur wollen sie mich leider viel zu oft vom Gegenteil überzeugen.“
Als sie sich am späten Abend verabschiedeten, bis Oberkante-Unterlippe vollgestopft und vollgefressen, und mit mehr Proviant bepackt als sie in den nächsten zwei Tagen verdrücken könnten, war Boris‘ Entscheidung gefallen.
20:31
Boris K.: Bin dabei.
Yuriy winkte ein letztes Mal, bevor er die Tür zuschlug. Boris warf sein Handy in die Ablage in der Mittelkonsole und setzte zurück, um Galina auch noch einmal zu winken.
„Ich glaub, ich brauche eine Woche kein Essen, so voll bin ich…“, meinte der Rothaarige und drehte am Sendersuchlauf für das Radio.
Das Display von Boris‘ Handy blinkte auf. Neugierig linste Yuriy darauf.
20:33
Lai Chou (Trainertüp): Gut. Bist eingeschrieben. Termin und Uhrzeit für den Ring folgen. Halt dich bereit.
Yuriy runzelte die Stirn: „Ist das, was ich denke, das es ist?“
Boris antwortete nicht.
„Ich REDE mit dir. Borya!“
Yuriy hielt dessen Handy in die Höhe und wedelte damit herum.
„… Woher soll ich sonst so schnell so viel Geld klar kriegen?“
„Was wird deine Arbeit sagen?!“
„Die wissen, dass ich boxe. Das wird wohl kaum Gerede geben.“
„Ja, aber Nachfragen. Du bist nicht unbesiegbar!“
„Das werden wir ja dann rausfinden.“
Yuriy schüttelte den Kopf: „Wenn Mama das erfährt…“
„FALLS sie das erfährt! Und wage es dir nicht, ihr das zu erzählen. Sie weiß, dass ich trainiere. Sie muss ja nicht wissen, dass ich für Geld boxe.“
Boris zuckte mit den Schultern.
„Welche Wahl bleibt mir?!“
„Du und dein unfuckingfassbarer Stolz!“, fauchte Yuriy. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn eine lange Zeit strafend an. Schließlich erinnerte er ihn warnend daran, dass Galina das nicht gutheißen werde.
Boris knurrte zurück. Das wusste er selbst.
Chapter 6: Wenn du lächelst, wenn dir jemand schreibt, bist du gefickt
Summary:
Boris zeigt sich als Multifunktionstool.
Yuriy wird romantisch.
Chapter Text
Boris starrte an die Decke und versuchte zu eruieren, welches Geräusch ihn geweckt hatte. Er wollte zwar früh aufstehen, aber der gestrige Abend war mit Training spät geworden und sein Gehirn zu starten fiel ihm ungeheuer schwer. Sein Blick glitt zu seinem Wecker, dessen leuchtendes Ziffernblatt ihm irgendeine Zeit zwischen sechs und sieben Uhr sagte. Schlaftrunken lauschte er noch einmal, bevor er sich umdrehte und erneut die Augen schloss.
Nur um sie rot gerädert und wütend wieder aufzureißen.
Die hohe, leicht kratzige Stimme ihrer Nachbarin drang an sein Ohr, die ihn nicht länger schlafen ließ. Es war nicht Frau Irma von nebenan, sondern die plauderwillige Frau von gegenüber. Wie häufig unterhielt sie sich schon in dieser Herrgottsfrühe mit, wie er vermutete, der befreundeten Zeitungsausträgerin. Boris zog die Decke über den Kopf. Er hatte nicht einmal eines seiner Fenster auf Kipp stehen, aber der krähenhafte Ton ließ sich weder von Doppelverglasung noch von Mauerwerk, geschweige denn seiner Bettdecke aufhalten. Frustriert richtete er sich auf. Die Frau konnte ja nichts für ihre Stimme, und es war gemein, sie deshalb zu verurteilen – aber ganz ehrlich, dieses schrille Gelaber trieb ihn in den Wahnsinn.
Als er keine Viertelstunde später seine Wohnungstür zuzog und mit einem Finger als Schuhlöffel in seine Laufschuhe schlüpfte, öffnete sich gleichzeitig Yuriys Zimmertür. Sie wechselten einen Blick.
„Warum so zeitig?“
„Konnte nicht länger schlafen…“
Anscheinend war auch Yuriy durch das Geschnatter aus Morpheus‘ Reich getrieben worden und hatte dieselbe Idee wie Boris gehabt.
„Joggen wir zusammen?“
Boris stimmte mit einem Nicken zu. Sie hatten ein unterschiedliches Pacing, weil Yuriy ein geübter Läufer war. Erst neulich hatte er beim Halbmarathon in Bonn eine beachtliche Zeit hingelegt. Boris war mächtig stolz auf ihn. Was Yuriy ihm in Kondition voraushatte, glich Boris in Muskelkraft aus. Dennoch brauchte er auch Ausdauer, wenn er im Ring bestehen wollte.
„Wann ist dein Kampf?“, fragte Yuriy auch prompt, als könnte er Gedanken lesen.
„In zehn Tagen.“
Yuriy machte ein Geräusch, das andeutete, dass seine nächsten Worte ihn umzustimmen versuchen würden.
„Yura, bitte. Ich finde diese Lösung eigentlich sogar sehr pragmatisch! Und es ist ja jetzt nicht so, dass es illegal wäre.“
Das waren die Kämpfe wirklich nicht. Gut, die Wetten waren mitunter nicht ganz koscher. Boris wollte nur nicht, dass Galina davon erfuhr, weil sie ihn aus echten Kämpfen heraushalten wollte. Sparring mit Partnern war ok, und Boxsacktraining auch, aber keine Kämpfe, in denen er rücksichtslos werden könnte. Davor hatte sie Angst, weil es schon zweimal vorgefallen war. Aber nur wegen Yuriy. Immer wegen Yuriy. Um ihn zu beschützen, wurde er hemmungslos und vergaß Gott und Grenzen. Vielleicht war er mit Blick auf die Gewalttätigkeit nicht besser als Yuriys Samenspender, aber er setzte seine Fäuste wenigstens aus den richtigen Gründen ein. Zumindest meinte er das.
„Das heißt, wenn Vanja seinen Geburtstag am 12. feiert, sitzt du wieder da, sippst durch einen Strohhalm am Wasser und hast dir wieder dein eigenes Hühnchen und Reis mitgebracht, wegen deiner Boxerdiät?“
„Er feiert?“
„Ja?! Hast du etwa seinen Geburtstag vergessen? Stand doch in der Gruppe.“
„Fuck.“
Ivan machte immer sehr geile Marinaden, wenn er zum Geburtstagsgrillen einlud und meistens hatte er diesen leckeren Schlangenschnaps ausgegraben, woher auch immer er ihn bezog.
„Tja, dann muss ich wohl seinen Geburtstag aussetzen. Du kannst ja für mich die Sau raus lassen.“
Sie bogen für ihre kleine Runde auf den Waldweg ein.
„Nimmst du diesen… wie hieß er noch… schon mit?“
„Kai. Und nein. Oder doch? Ich weiß noch nicht.“
„Von uns aus hätte niemand was dagegen.“
„Weiß ich. Ich weiß noch nicht, ob es schon der richtige Zeitpunkt ist.“
Sie schwiegen nun, um Atem zu sparen. Es ging auf eine leichte Anhöhe zu, die steiler war als man es im sonst so platten Münsterland vermuten würde. Boris schloss hinter Yuriy auf, da der breite Waldweg sich nun zu einem Trampelpfad verengte. Vier Kilometer liefen sie in einträchtiger Stille, bis der Weg wieder breiter wurde. Boris spürte schon das Brennen in seiner Lunge. Gott, er hatte einfach keine Kondition! Yuriy dagegen könnte mit Sicherheit noch eine Stunde in dem Tempo weiterlaufen.
Um sich von seinem Verräter von Atmungsorgan abzulenken, machte er sich über sein anstehendes Boxevent Gedanken. Er musste dringend seine Ernährung umstellen, um seine Muskeln aufzubauen und in seiner Gewichtsklasse zu bleiben. Sicher könnte er noch mal mit Rick trainieren, aber vor allem musste er sich passende Sparringspartner suchen. Er hatte etwas abgenommen, bei seiner Größe von fast 1,90 m wog er nach dem letzten Messen 84 Kilogramm. Damit gehörte er momentan bei Vollkontakt gerade noch so zum Cruisergewicht, er musste aber eine Klasse aufsteigen, damit er sich in der Schwergewichtsklasse verdient machen konnte. Allerdings sollte das bei guter Diät und regelmäßigem Kraft- und Zirkeltraining kein Problem sein. Lai wollte ihn unterstützen. Er kannte jemand neuen, namens Garland, der wohl schon einige Titel geholt hatte. Vielleicht konnte er mit Lais Hilfe auch eine gute Wette platzieren, um seinen Gewinn zu erhöhen. Vielleicht könnte er auch Wowa von der Arbeit in der „Villa Winkel“ darum bitten, und sie machten halbe-halbe, damit es nicht ganz so blöd aussah, wenn er auf sich selbst wettete.
„Du hattest doch schon mal Sex, oder?“
Die Frage traf ihn völlig aus dem Nichts. Boris blinzelte, musste erst realisieren, dass Yuriy ihn mit ausgerechnet dieser Frage überfiel. Sie hatten sich nie explizit über das Thema unterhalten; als sie Teenies waren, wenn Boris von seinen Bonern für dieses oder jenes Mädchen in ihrer Klasse geschwärmt hatte, hatte Yuriy ihm zwar geduldig zugehört, aber hatte nie selbst eigenes Interesse gezeigt. Boris hatte das immer einfach so hingenommen und nicht hinterfragt. Jetzt allerdings machte es Sinn für ihn, dass Yuriy mit Mädchen auf diese Weise damals nichts anfangen konnte. Er nickte und fürchtete sich ein ganz klein wenig davor, was jetzt folgen würde.
„Ich habe aus… offensichtlichen Gründen… ein bisschen recherchiert und… darf ich dich was Komisches fragen?“
„Ja, schieß los.“
„… Stimmt das, dass es rausläuft?“
Boris stolperte beinahe im Laufen.
„Was läuft wo raus?“
Yuriys Blick war starr geradeaus gerichtet; aber seine Ohren dunkelten so sehr ab, dass sie mit dem gründlich verschwitzten Undercut verschmolzen, während sein Pferdeschwanz aller Befangenheit zum Trotz freudig bei jedem Schritt wippte.
„Na… da unten so!“
Er machte eine vage Geste in den Bereich seines Schritts.
„Du meinst, ob das Sperma aus der Vagina läuft, nachdem du abgespritzt hast?“
Boris amüsierte sich insgeheim auf die liebe Art über die schlimme Verlegenheit seines Bruders. Yuriy hatte auch noch nie wirklich viele sexuelle Erfahrungen gesammelt und auch, wenn er nie darüber nachgedacht hatte, wäre es für Boris nicht verwunderlich, wenn Yuriy wirklich noch ein unbeschriebenes Blatt wäre.
„Ja, das passiert“, erklärte er, während er versuchte, sich Yuriys Geschwindigkeit anzupassen, der das Tempo, vermutlich angetrieben durch seine Scham, deutlich angezogen hatte.
„Zumindest, wenn du kein Kondom benutzt.“
Eine Weile joggten sie schweigend nebeneinander her.
„Ich hab nicht viel Erfahrung mit Anal, Yura, aber ich kann dir sagen, dass alles, was irgendwie in den Körper kommt, auch wieder raus will, und sei es Luft.“
Yuriy stoppte fast abrupt und schlug sich die Hände vors Gesicht. Boris lief zunächst ein paar Schritte voraus, ehe er bemerkte, dass Yuriy stehen geblieben war. Er trabte zurück.
„Ihr habt also noch nicht miteinander geschlafen“, stellte Boris überflüssigerweise fest. „Was hast du dann mit meinen gutgemeinten Kondomen gemacht?!“
„Oral…“, murmelte der Rotschopf beschämt und Boris konnte mittlerweile nicht mal mehr seine Sommersprossen zählen, so sehr angelaufen war Yuriys Birne. Zu seiner Ehrenrettung musste man erwähnen, dass sie auch schon eine sehr lange Zeit rannten. Boris nickte bedächtig. Schließlich stieß er ihm in die Seite.
„Ich kenn jemanden aus der LGBT+-Gruppe [1]im Jugendzentrum, wo ich arbeite. Soll ich euch mal bekannt machen … oder dir seine Nummer geben?“
„… Das wäre nett, ja“, murmelte Yuriy dankbar. Er war wahnsinnig geworden bei den ganzen Infos, die er im Internet hatte finden können. Vielleicht konnte ihn der Bekannte von Boris besser informieren und ja, auch beruhigen.
„Aber denk immer dran, mach nichts, womit du nicht einverstanden bist oder dich nicht wohlfühlst. Selbiges gilt für deinen Partner.“
Yuriy bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick: „Das ist ja wohl selbstverständlich?!!“
„Oh, du wunderst dich manchmal…“
Sie waren wieder in ihrer Straße angekommen und verfielen in einen lockeren Trab, den sie kurz vor ihrem Haus in einen schnellen Laufschritt mäßigten. Boris stützte sich hechelnd auf seinen Knien ab, bis Yuriy ihm einen Klaps vor den Po gab. Er wies ihn an, weiter zu gehen und sich zu strecken, sonst würde er noch Seitenstechen bekommen. Sie halfen sich gegenseitig beim Dehnen im Vorgarten. Die Schnatterhexe war zum Glück verschwunden, aber beide hätten jetzt ohnehin nicht zurück in die Kissen krabbeln können. Yuriy hatte gleich ein Seminar und Boris musste auch zur Arbeit, sobald er etwas gegessen hatte. Denn sein Magen grollte. Mit Widerwillen dachte er an seine Müsliwürfel in der Geschmacksrichtung Apfel-Kokos, die als gesundes Frühstück auf ihn warteten, aber absolut nicht sein Fall waren.
Nebenan trat Irma von Landsberg vor ihre Haustür, reckte ihr Kinn in die freundliche Morgensonne und winkte gut gelaunt zu Boris herüber. Boris erwiderte den morgendlichen Gruß. Er beobachtete, wie hinter Frau Irma deren Enkelin geschäftig auftauchte und ihre Großmutter voran trieb; anscheinend hatte sie es eilig. Hiromi sah auf, um zu erfahren, wen ihre Großmutter grüßte, und sie runzelte die Stirn. Sehr merklich glitt ihr Blick über Boris in seiner Laufaufmachung, die sich deutlich von seiner „Gärtneruniform“, in der sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, unterschied.
„Wer starrt, kann auch grüßen!“, erklärte Frau Irma ihrer Enkeltochter Manieren, so laut, dass Boris und Yuriy es hörten. Ertappt zuckte Hiromi zusammen und errötete kaum merklich. Sie nickte in die Richtung der beiden jungen Männer und stieg dann hurtig in ihr Auto ein. Beim Rückwärtsausparken aus der Einfahrt winkte Frau Irma ihnen dann noch einmal sehr fröhlich zu und sie konnten nur erahnen, dass der schimpfende Gesichtsausdruck und viel Gestik von Hiromi wohl der Anweisung geschuldet war, dass sie sich doch bitte jetzt anschnallen sollte.
Boris schüttelte den Kopf.
„Verstehst du jetzt, was ich mit ‚furchtbar‘ meinte? Die ist bestimmt irgendwo n ganz hohes Tier oder so, was ihr sichtlich zu Kopf steigt. Pfff.“
Yuriy zuckte mit den Schultern: „Nicht jeder steht auf deine muskelbepackten Oberarme, Borya, sieh’s einfach ein.“
„Kannst du mir mal verraten, was das sollte?!“
Oma Irma verschränkte die Arme vor ihrer Brust und sah ihre Enkelin tadelnd auf deren Frage hin an.
„In einer Nachbarschaft grüßt man sich. Ich verstehe nicht, warum du so einen Aufstand machst.“
„Du kennst diesen Mann nicht, er könnte dich in der Luft zerreißen!“
„Ach Gottchen, Kind! Du nimmst viel zu viel von der Arbeit mit nach Hause!“
„Und du bist nicht vorsichtig genug! Weißt du, ob er nicht ein verurteilter Schwerverbrecher ist, mit seinen ganzen Tattoos und allem?!“
Absurder Weise prustete Hiromis Großmutter los, ehe sie sich im Beifahrersitz halbwegs zu ihr umdrehte.
„Erstens ist das ein ziemliches Vorurteil, das gerade du in deiner Position als Anwältin nicht haben solltest!“
Hiromi schnaubte und wollte etwas erwidern, wurde aber von einem mahnenden Zeigefinger davon abgehalten.
„Zweitens musst du dich von diesem Yakuza-Aberglauben lösen, den du scheinbar aus Kyoto mitgebracht hast. Und drittens…“
Irma kramte in den Untiefen ihrer Handtasche und förderte ihr Portemonnaie zu Tage, in dem sie ein Foto ihres verstorbenen Mannes mit sich trug.
„Drittens hatte dein Großvater – Gott hab ihn selig – beide Arme über und über tätowiert. Als alter Seebär war das obligatorisch. Du hast ihn nicht mehr kennen gelernt, er ist gestorben, da warst du noch sehr klein. Aber neben den ganzen Seefahrermotiven, die er mit Stolz trug, hat er sich sogar mit knapp 50 Jahren noch extra eine Kompassrose mit deinem Namen und dem deiner Geburtsstadt stechen lassen, als du geboren wurdest.“
Hiromis Griff um das Lenkrad wurde fester, beschämt über ihr wertendes Verhalten.
„… Das wusste ich gar nicht.“
„Wenn du in den nächsten Tagen Zeit hast, zeige ich dir gerne ein paar Fotos und erzähle dir Geschichten.“
Für einen kurzen Moment löste Hiromi den Blick von der Fahrbahn und lächelte ihre Oma an.
„Ja. Das wäre schön.“
~*~
Mit lautem Karacho stürmte Boris Yuriys Wohnung.
„Was ist los?! Wen soll ich verprügeln?!“
Er hatte von seinem Bruder eine SMS nur mit „SOS!!!“ erhalten und war dem Ruf sofort gefolgt. Ein anklagender Leidenslaut kam aus dem Bad.
„Borya! Es ist schlimm! SCHLIMM!“
Boris riss die Badezimmertür auf. Yuriy stand vor dem Spiegel, seine Hände fummelten an seiner Nase. Er drehte sich zu ihm um. Seine Nase strahlte in einem flammenden Wutrot.
„… Bist du gegen eine Wand gelaufen?“
„NEIN! Mach dich nicht lustig! Ich rufe den Krisennotstand aus!“
„Welche Stufe?“
Boris‘ aufgeregte Atmung beruhigte sich langsam, als er erkannte, dass es Yuriy gut ging.
„Fünf!“
„Also höchste Alarmstufe?“
„Ja, verdammt noch mal, bin ich ein Papagei?“
„Nein, du siehst eher wie ein bestimmtes Rentier aus.“
„Arschloch!“, fauchte Yuriy hitzig.
Er wirbelte wieder zum Spiegel herum und fing erneut an, seine Nase zu malträtieren.
„Ich hab ein verfluchtes, fieses, riesiges Furunkel mitten auf der Nase, und es ist nicht mal symmetrisch!“
Ein frustrierter Laut und ein schmerzhaftes Zischen entfleuchte seinen Lippen. Boris setzte sich auf den Badewannenrand und beobachtete ihn dabei.
„Ernsthaft, du schiebst ne Platte wegen nem Pickel?“
„Wegen einES PickelS!“, korrigierte Yuriy automatisch seine Grammatik, woraufhin Boris die Augen verdrehte.
„Und warum ist das ein Krisennotstand wert?“
„Habe ich seine Asymmetrie erwähnt?“
„Oh, ja, da bekommt jeder die Krise, hast Recht.“
„Und er tut schweineweh! Und lässt sich nicht ausdrücken!“
Verzweifelt warf er seine Hände in die Höhe und starrte wild in sein Spiegelbild. Seine Atmung ging jetzt heftiger als die von Boris eben.
„Gut, das ist nervig, aber ich sehe nicht, warum…“
„Ich hab ein DATE!“
Yuriy sah Boris an, als wäre der von einem anderen Stern. Nicht nur, dass seine Nase pochte und leuchtend glänzte, auch die Asymmetrie machte ihn schier wahnsinnig. Warum verstand Boris nicht, dass das ein Problem war?!
„Lass mal sehen.“
Immerhin bot Boris jetzt seine Hilfe an. Er packte Yuriys Kinn, drehte seinen Kopf nach links und rechts und begutachtete sein Gesicht.
„Sei froh, dass du keinen Pickel im Intimbereich hast. DAS sind Schmerzen.“
Mit einem Blatt Toilettenpapier tupfte er etwas Gewebeflüssigkeit ab und drückte vorsichtig mit zwei Fingern auf die Haut um die eitrige Pustel. Yuriy quittierte das mit einem gepeinigten Zischen.
„Du könntest versuchen, ihn als Schönheitsfleck zu bezeichnen.“
„Bist du irre?“
„Hast du es schon mit Teebaumöl probiert?“
„Das hilft nicht so schnell! Und dank dir wird das jetzt auch sicher brennen wie Sau!“
„Johanniskrautölsalbe?“
„Seh ich wie ein Scheiß-Apotheker aus?“
Boris hielt Yuriys Kinn fest und zwang ihn, ihn anzusehen.
„Ich hau dir die Nase platt, dann ist der Pickel dein kleinstes Problem.“
Aber Boris wusste, wie unangenehm ein entzündeter Mitesser an der falschen Stelle war; besonders im Gesicht waren diese Mistviecher wie Gift für das Selbstbewusstsein.
Seine Drohung ließ Yuriy kurz verstummen, doch plötzlich erhellte sich sein Gesicht.
„Das ist es! Ich könnte behaupten, du hättest mich geschlagen!“
„Na danke, und wenn Galina davon hört, krieg ich den Arsch versohlt.“
Boris ließ Yuriys Kinn los und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Hör auf, dran herum zu drücken. Ich glaub ich hab noch etwas Heilerde, das könnte die Entzündung beruhigen. Wann ist dein Date?“
„Morgen.“
„Siehst du. Noch genug Zeit. Außerdem glaube ich, dieser Kai mag dich auch mit Pickel auf der Nase.“
Sein Bruder verzog unwillig das Gesicht.
„Laber doch nicht so schwules Zeug.“
„Zur Not kannst du auch immer noch ein Pflaster drauf kleben und… ja, du darfst dann behaupten, ich hätte dir eins drauf gegeben.“
„Manchmal liebe ich dich, weißt du das?“
Boris grinste Yuriy an und kniff in seine Nase. Mit lautem, schmerzverzerrtem Wutgeheul wurde er aus der Wohnung geworfen. Mit dem Nachruf, nicht ohne „dieses Heiledings“ zurückzukehren.
Yuriy saß unter seinem Sonnenschirm auf dem Balkon und versuchte, für seine letzte Prüfung zu lernen. Auf seiner Nase spürte er die getrocknete Masse dieser Heilerde, die Boris ihm angedreht hatte. Anfangs hatte es gebrannt, aber die Entzündung war tatsächlich zurückgegangen und er verspürte durchaus Linderung. So konnte er sich heute Abend erleichterter mit Kai treffen.
Allerdings war seine Eiterfuchtel nicht der Grund, weshalb er sich nicht konzentrieren konnte. Die Lärmbeschallung durch seine Umgebung war enorm: rechts sägten die Nachbarn sehr lange und penetrant irgendeine Art von Holz, in seinem Rücken drang der Baggerlärm an seine Ohren. Scheinbar wollten die Nachbarn von drüben einen Teich ausheben. Er hatte Ohrstöpsel und dann Kopfhörer mit Musik ausprobiert, aber sein wippendes Knie zeigte eindeutig, dass nichts davon half und er sich bei diesem Lärm nicht konzentrieren konnte. Nur in der Mittagszeit war es still und er nutzte die wohltuende Ruhe, um seine Mitschriften aus der Vorlesung auf neue Karteikarten zu skizzieren. Als aber kurz nach der Mittagsruhe der sägende Nachbar noch den Drechsler anschmiss, hatte Yuriy genug.
13:16
Yuriy Ivanov: Hey, ist es ruhig bei dir?
Kai H.: Immer.
Yuriy Ivanov: Kann ich schon früher zum Lernen vorbeikommen? Hier ist die Hölle los; ich kann meine eigenen Gedanken nicht hören. D:<
Kai H.: Auch immer. ;) Ich setz schon mal nen Cold Brew auf. Wann willst du vorbeikommen?
13:20
Yuriy Ivanov: Könnte gegen halb drei / drei bei dir aufschlagen. Ich mach mir was Schnelles zu essen und würd bei dem schönen Wetter mit dem Rad zu dir.
Kai H.: Alles klar. Ich mach schon mal das Laminiergerät heiß. ;P
Schmunzelnd steckte Yuriy sein Handy in die Hosentasche. Kai kannte ihn schon recht gut, ihn und seine kleinen Marotten. Bei Kai war es um einiges ruhiger, seine Nachbarn waren nicht so emsig dabei, ihre Gärten zu verschönern. Außerdem konnten sie sich beide beherrschen, ihre Finger bei sich zu lassen, wenn von vornherein klar war, dass sie lernen würden. Zwar war Boris immer noch das größere Arschloch der etwas bessere Abfrager, aber es hatte auch etwas für sich, in Kais Schoß zu liegen und ihm beim Vorlesen der Erläuterungen zuzuschauen, wenn er mit dem kleinen Finger den Nasensteg seiner Brille hochschob…
Yuriy räusperte sich und riss sich aus seinem Tagtraum, schnappte sich einen Joghurt, den er auf dem Balkon aß und mit neugierigem Blick in den Garten seiner linken Nachbarin herübersah. Jetzt erinnerte er sich auch wieder, warum ihm die Decke, die Boris neulich nach einer durchzechten Nacht heimgebracht hatte, bekannt vorgekommen war. Sie hing bei Irma von Landsberg auf der Wäscheleine. So schloss sich der Kreis…
Bevor er hinunter zum Fahrradschuppen lief, machte Yuriy noch einen Abstecher ins Bad, um die Heilerde abzuwaschen und ein wenig getönte Tagescreme aufzutragen. Er konnte mittlerweile behaupten, er hätte sich einen kleinen Sonnenbrand geholt.
Als er schließlich sein Rad aus der Garage holte, fiel ihm als erstes sein Platten auf. Genervt rollte er mit den Augen und nahm die Luftpumpe von der Wand. Wie Boris ihm gezeigt hatte, hörte er bei vier Bar auf zu pumpen. Zufrieden machte er sich auf den Weg.
Sein Wohlbehagen hielt nicht lange an.
Frustriert drehte er nach 500 Metern wieder um, schiebend. Ein weiteres Mal pumpte er den Reifen auf, merkte aber schon bald, dass er wieder Luft verlor. Ein verärgerter Laut verließ seine Lippen. Er sah auf die Uhr. Besser, er sagte Kai Bescheid.
14:22
[Bild eines platten Reifens, ein Mittelfinger zum Vorderrad zeigend]
Yuriy Ivanov: Dieser kleine Ficker hält mich auf. Komme etwas später.
In ihrer Jugend hatte Boris gelernt, wie man kleinere Löcher in Fahrradschläuchen flickte. Dieses Wissen hatte er mit Yuriy geteilt, da er der Meinung war, nichts ginge über das praktische Wissen hinaus, sich selbst zu helfen.
Yuriy war gerade sehr froh, dass er einen Bruder wie Boris hatte, der geschickt mit seinen Händen war.
Nachdem er aus seiner Wohnung das Reparaturset geholt hatte, machte er sich mit einigen überflüssigen Handgriffen daran, das Vorderrad mithilfe eines Konusschlüssels auszubauen, indem er die Radmuttern losschraubte. Danach löste er die Ventil- und Befestigungsmutter, um das Ventilrohr nach oben zu drücken. Mit beiden Daumen griff er unter den Reifenmantel, drückte ihn ins Tiefbett und hob ihn über den Felgenrand. Als er den Reifenrand gelöst hatte, zog er den Schlauch vorsichtig zwischen Felde und Reifen heraus, bis er ganz frei war. Er suchte aus dem Fahrradschuppen eine kleine Schüssel, füllte sie mit Wasser aus der Regentonne und stellte sie neben sich. Anschließend pumpte er den Schlauch prall auf und schloss das Ventil wieder. Nun tauchte er, wie Boris es ihm damals beigebracht hatte, den Schlauch abschnittweise ins bereitgestellte Wasserbecken. Dabei zog er den jeweiligen Bereich, der unter Wasser war, leicht auseinander, damit er auch noch allerfeinste Löcher feststellen konnte. Tatsächlich fand er ein Loch bereits nach dem dritten Eintauchen. Er nahm den Schlauch heraus, markierte die Stelle mit einem Filzstift. Zur Sicherheit prüfte er aber den gesamten Schlauch durch, da er Boris‘ Stimme in seinem Kopf spuken hörte, der ihn auslachte, wenn Yuriy den Reifen gänzlich wieder eingebaut hätte – und er trotzdem einen Platten hatte, weil er mehrere Löcher im Schlauch hatte.
15:07
Kai H.: Oh, so ein Mist! D: Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid.
Yuriy trocknete den Schlauch und seine Hände, dann legte er sich alle Gerätschaften, die er brauchte, zurecht. Mit einem kleinen Aufraublech raute er die markierte Stelle auf dem zuvor luftentleerten Schlauch auf und entfernte den letzten Staub. Den Gummikleber verteilte er großzügig um das Loch und wartete, bis es nicht mehr feucht war.
Mühevoll pulte Yuriy das Schutzpapier vom Flicken und presste ihn mit der Klebeseite so fest auf den Schlauch, dass ihm die Finger schmerzten. Zum Schluss klopfte er ihn mit den Handballen an.
Zufrieden mit sich und seinem Tun ließ er den Flicken etwas in der Sonne trocknen, bevor er den Schlauch erneut mit Luft befüllte und ihn erneut unter Wasser teste. Mit Stolz stellte er fest, dass keine Luftblasen zu sehen waren. Erfreut über seinen Erfolg machte er sich daran, den Schlauch und den Reifen wieder auf die Felge zu ziehen.
16:02
Kai H.: Na du Meisterreparateur B) Alles gut gegangen? Bist du schon unterwegs?
Nach mehreren angestrengten Versuchen hatte Yuriy es geschafft, den Schlauch unter den Mantel zu quetschen, nachdem ihm eingefallen war, dass es vielleicht sinnig wäre, etwas Luft aus dem Schlauch zu lassen.
Das Ventil war schnell wieder an richtigem Ort. Dann drückte er die Reifenkante über den Felgenrand zurück in die Felge, das Reifenstück am Ventil machte er zum Schluss. Sorgsam prüfte er, ob er den Schlauch auch nirgends eingeklemmt hatte. Er ruckelte hier und da am Reifen und klopfte und walkte von beiden Seiten, bis der ganze Mantel in der Felge eingerastet war. Leicht erschöpft wischte Yuriy sich über die Stirn, freute sich aber über seine Leistung. Er zog alle Muttern am Ventilrohr wieder fest an und begann erst dann, sein repariertes Werk prall aufzupumpen.
„Was hatte Borya noch mal gesagt… Um zu prüfen, ob es dicht ist, muss man drauf spucken?“, murmelte er nachdenklich vor sich hin. Er nahm seine vor Öl und Dreck schwarzen Zeige- und Mittelfinger, lüllte etwas Speichel darauf und verteilte diesen auf dem Ventil. Er hörte es zischen, stutzte und drehte die Ventilrohrmutter noch ein bisschen fester. Aber selbst jetzt konnte er – auch ohne Spuckeprobe – hören, wie die Luft aus dem Reifen entwich.
„Was zum Fick?! Ich hab doch alles richtig gemacht!?“
16:28
Kai H.: Yuriy, ist alles in Ordnung? Schreib mir, wenn du losfährst, okay?
Ungeduldig hatte Yuriy den Reifen mehrmals aufgepumpt, mit dem gleichen Ergebnis. Er drehte am Ventil – denn die Luft entwich eindeutig über das Ventilrohr – konnte sich aber keinen Reim darauf machen, was er noch verbessern könnte. Verdrießlich stampfte er mit dem Fuß auf und fluchte derb.
„Wieso siehst du aus wie ein Erdferkel?!“
Yuriys geknickte Haltung richtete sich bei der bekannten Stimme auf und er seufzte klagend.
„Boryaaaaaa! Bitte hilf mir! Mein Reifen ist platt!“
„Und? Ich hab dir schon tausendmal gezeigt, wie das geht.“
Boris stellte sein eigenes Rad in den Fahrradschuppen und schulterte seine Sporttasche. Er gähnte und streckte sich ausgiebig, bevor er einen Schritt an Yuriys traurige Entschuldigung von Vorderrad herantrat.
„Ich hab doch schon alles ganz genau so gemacht, wie du mir das beigebracht hast!“, protestierte Yuriy und zeigte anklagend auf sein Fahrrad.
„Aber ich hab es einfach nicht hingekriegt! Ich hatte das Rad sogar ausgebaut! Alles hat funktioniert, das Loch war gestopft, die Luft hielt auch – und dann hab ich das Fahrrad wieder umgedreht und zack – Vorderreifen platt!“
Boris musterte seinen Bruder von oben bis unten. Er hatte Ölflecken auf seinem guten Hemd, sein Gesicht wies Dreck auf und auch seine Hände sahen nach Arbeit aus.
„Ich hab sogar diesen widerlichen Spucketest gemacht!“
Daraufhin musste Boris kurz lachen.
„Ist ja schon gut. Warum brauchst du dein Fahrrad denn so dringend?“
Er ließ seine Sporttasche zu Boden gleiten und ging in die Hocke, um die Sache aus der Nähe zu betrachten.
„Ich wollte mich zum Lernen mit Kai treffen.“
„Sag bloß, der ganze Terz gestern war für ein Lerndate“, brummte Boris fassungslos.
Er war wieder aufgestanden, starrte Yuriys Nase direkt an.
16:59
Kai H.: Jetzt machst du mich definitiv nervös. Ich komm rum.
„Siehst ja zum Glück gar nicht mehr wie Rudolf aus“, bemerkte er die deutlich zurückgegangene Rötung.
Yuriy schenkte ihm den Finger.
„Eigentlich waren wir erst für heute Abend verabredet, aber ich konnte wegen der lauten Nachbarn nicht lernen. Du weißt doch, wie das ist.“
Boris verschränkte die Arme vor der Brust.
„Mhm. Wenn du schon so groß bist, um Rendezvous zu haben, musst du auch dein Fahrrad selber flicken können.“
„Mensch! Ich bin nicht so gut mit den Händen! Du kannst das besser“!
„Na, ich bring mir das auch nur durch YouTube-Videos und Nachlesen bei?“
„Du bist ja auch n krasser Autodidakt, merkst das nur nicht.“
„Nur weil du mit schlauen Wörtern um dich schmeißt, mein mal nicht, dass ich mich geschmeichelt fühl!“
Aber Boris fühlte sich geschmeichelt und Dinge zu reparieren, mit seinen eigenen Händen, war nicht umsonst eines seiner liebsten Freizeitbeschäftigungen. Er kniete sich neben Yuriys Vorderrad und ließ sich von diesem noch einmal erklären, was er gemacht hatte.
Nach ein paar prüfenden Handgriffen, unter anderem, ob das Ventilrohr genau senkrecht stand, hatte er den Übeltäter gefunden: Es war das Ventil selbst, bzw. genauer: das Ventilgummi. Er zog das Ventil aus dem Ventilrohr und zeigte es Yuriy.
„Siehst du das? Der Gummischlauch vom Ventil ist gerissen. Deswegen kommt da Luft raus.“
Er drückte es Yuriy in die Hand und stand auf.
„Warte hier. Ich glaube, ich hab noch irgendwo eins. Bin gleich wieder da.“
Boris verschwand im Haus. Zurück blieb Yuriy mit zunehmender Enttäuschung, dass er mit seinen eigenen zwei Händen dieses Problem nicht hatte lösen können. Plötzlich traf es ihn wie ein Schlag.
„Oh FUCK! Kai!!“
Den hatte er in der ganzen Aufregung ja völlig vergessen!
„Zur Stelle!“, hörte er es atemlos hinter ihm keuchen. Er wandte sich um. Dort kam Kai mit einer etwas stärkeren Bremsung als notwendig zum Stehen.
„Was machst du hier?!“, platzte Yuriy heraus, mehr vor Schreck.
„Na ja, wir hatten eh heut ein Date… und du hast dich nicht mehr gemeldet. Also hab ich mir Sorgen gemacht, weil du nicht geantwortet hast, da bin ich gleich vorbeigefahren.“
„Es tut mir so leid!“, rief Yuriy und lief auf ihn zu.
„Ich sehe ja, du bist noch mitten drin…“, lachte Kai und strich dem Rotschopf mit dem Daumen etwas Schmierfett von der Wange. Dann stieg er von seinem Rad ab und lehnte es an die Hauswand, weil er keinen funktionierenden Ständer hatte.
„Woran liegt’s denn?“
„Am Ventilgummi“, gab Yuriy sachkundig Auskunft und das warme Gefühl von Stolz breitete sich in seiner Brust aus, als Kai ihn verblüfft über seinen Sachverstand ansah.
„Wenn du dich schon mit fremden Federn schmückst, Yura, dann sieh jetzt besser zu und lerne, damit du das beim nächsten Mal selbst reparieren kannst!“
Und schon war der stolze Moment verpufft. Boris stapfte zu ihnen herüber. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er einen sehr filigranen Gummischlauch.
„Das ist ein Ventilgummi. Man muss es anlecken…“
Er nahm es zwischen seine Lippen, um es zu befeuchten.
„… und dann über das Ventil stecken.“
Damit es leichter flutschte, leckte er das Gummi ein weiteres Mal an, wie eine Näherin den Faden für die Nadel. Auch das Ventil selbst benetzte er mit seiner Zunge. Gebannt sahen sowohl Yuriy als auch Kai ihn bei seinem Tun zu.
„Aber ich denke, ihr wisst, wie das mit dem Lecken richtig geht…“
„Boris Borislaw Kusznetsov!“, fauchte Yuriy und stieß ihm seinen spitzen Ellenbogen in die Seite. Kai schlackerten die Ohren; seine Wangen konkurrierten farblich beinahe mit Yuriys Haarpracht. Schallend lachte Boris auf, während er von Yuriys Schlag unbeeindruckt das Ventil mit dem funktionierenden Gummi in das Ventilrohr einsetzte.
„Na dann pump mal!“, beorderte er Yuriy, der trotz aller Befangenheit der Aufforderung Folge leistete.
Der Reifen und das Ventil hielten Boris‘ abschließender Prüfung stand.
„So“, begann Boris. Die drei standen etwas konsterniert um Yuriys Fahrrad herum.
„Meine Arbeit ist getan. Rechnung kommt.“
Boris streckte sich, bis alle Wirbel in seinem Nacken einmal geknackt hatten.
„Du könntest eine Proberunde fahren.“
Er sah Kai und dann dessen Drahtesel an.
„Du solltest dein Rad da nicht anlehnen, das gibt Ärger mit der Hausverwaltung.“
Sein erfahrener Blick streifte den Metallrahmen und blieb an dem spitzen Aluminiumgestell haften.
„Oder was ist damit?“
„Mein Ständer ist kaputt… ich bin noch nicht dazu gekommen, das zu richten“, erklärte Kai mit einem Achselzucken.
Boris lag ein dummer, sehr dummer Spruch auf den Lippen, aber Yuriy trat ihm auf den Fuß. Also unterdrückte er sein Gegacker und begnügte er sich mit einem vielsagenden Grinsen.
„Ich kann mich drum kümmern, wenn du willst. Dann könnt ihr so lange lernen.“
Er betonte das letzte Verb besonders, so dass Yuriy einem Schlaganfall zu Boris‘ Ungunsten nahe war. Aber er riss sich gerade so zusammen.
„Gute Idee. Ich könnte mich in der Zeit frisch machen und umziehen.“
Von dem guten Vorsatz, am Nachmittag mit Kai gemeinsam für die Prüfung zu lernen, wurde nichts mehr. Dafür hatten Kai und Yuriy eine wichtige Lektion fürs Leben gelernt: nämlich, dass Boris ein ganz besonderes Talent dafür hatte, unschuldige Worte jeglicher Art anzüglich klingen zu lassen und das seiner schier unermesslichen Kreativität dabei keine Grenzen gesetzt waren. Kai hatte auch gelernt, wie man mit einem Ringschlüssel Schrauben und Muttern lösen konnte.
Sie hatten den angebrochenen Abend dann zu dritt ausklingen lassen; im Hinterhof ihres Mehrfamilienhauses, mit einem Kaminvideo auf Kais Handy, weil sie kein Feuer machen wollten, und ein paar Bier, die Boris spendierte, und Musik, für die allein Yuriy verantwortlich war.
„Nun, das war’s dann wohl mit dem Lernen“, meinte Kai überflüssigerweise. Aber es war auch schon spät geworden und damit sein Zeichen, das Sit-in zu verlassen. Er sammelte sein Handy auf, um es an der Vorrichtung an seinem Lenker zu verstauen, damit es ihm als Leuchtmittel diente.
„Ich fasse es nicht, was ist das mit euch Stadtkindern und keinen vernünftigen und damit meine ich fahrtüchtigen Fahrrädern?!“, klagte Boris, als er das sah. Er stieß einen derben russischen Fluch aus, für den Galina ihn definitiv gerügt hätte, und schüttelte den Kopf. Kai sah ihn kurz belustigt an.
„Schreibst du mir, wenn du angekommen bist?“, fragte Yuriy leise.
„Nur, wenn ich eine Antwort von dir bekomme“, meinte Kai verschmitzt. Dann musste er Boris von seiner Handyhalterung abwehren. Während zwischen den beiden eine kleine, hitzige Diskussion entbrannte, tippte Yuriy etwas auf die Schnelle in sein Handy. Nach Boris‘ Fauxpas hatte er etwas dazu gelernt.
22:51
Yuriy Ivanov : I think you should kiss me goodbye or you might regret it for the rest of your life.
Kai sah auf sein aufleuchtendes Display. Ein liebevolles Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, nachdem er die Nachricht gelesen hatte. Er ließ Boris stehen, und damit zurechtkommen, dass er aus Gewohnheit das Rad nicht auf den Ständer gestellt hatte. Der Kickboxer musste sehen, dass er das Fahrrad auffing, bevor es auf den Boden krachte.
Kai trat an Yuriy heran, strich mit einer Hand durch die rote Mähne; ließ seine Hand warm und sicher in Yuriys Nacken verweilen.
„We have to live a life with no regrets“, wisperte er ihm entgegen, so weich, dass Yuriy seinen warmen Atem auf seinen Lippen spürte. Die Luft vibrierte zwischen ihnen und Yuriy biss sich auf die Unterlippe. Als hätte Kai dieses Signal gebraucht, krachten ihre Lippen aufeinander. Yuriy ließ sich gegen Kai sinken. Er griff in dessen Shirt und in seine Schulter. Wenn Kai ihn küsste, wurden ihm regelmäßig die Knie schwach.
Boris, der es endlich geschafft hatte, Kais Drahtesel mit dem dafür vorgesehenen Gerät zum Stehen zu bringen, rollte mit den Augen bei dieser Schmonzette, derer Zeuge er notgedrungen war.
„Oi, Yura. Nehmt euch ein Zimmer. Und spätestens jetzt ist fix, dass er mit auf Vanjas Geburtstag kommt. Der und Serjoscha recken nämlich schon vom Balkon die Hälse, wen du hier abschlabberst wie n Softeis.“
JustHope4U on Chapter 6 Wed 20 Jul 2022 06:46PM UTC
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WeisseWoelfinLarka on Chapter 6 Wed 20 Jul 2022 09:33PM UTC
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JustHope4U on Chapter 6 Thu 21 Jul 2022 03:43PM UTC
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WeisseWoelfinLarka on Chapter 6 Wed 27 Jul 2022 11:37AM UTC
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