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Du musst nichts tun, nur hier sein

Summary:

Adam kommt allein in den Urlaub. Xavi und Karow machen sich Sorgen.

Work Text:

 

 

Adam zieht sich die dicken Handschuhe von den Fingern und stampft auf die Steinfliesen unter dem Vordach, damit der Schnee von seinen Winterstiefeln abfällt. Weiße Abdrücke in Form seines Sohlenprofils bleiben zurück. Mit den Fingern seiner Handschuhe wedelt er, wie mit einem Besen, noch den Rest Schnee von den Kappen vorne und stampft noch einmal auf. Dann rutscht er ein letztes Mal über die Fußmatte, bevor er die Haustüre öffnet.

Ein Schwall an Wärme kommt ihm entgegen und erschlägt ihn fast. Ungeduldig und fahrig reißt er sich seine Jacke von den Schultern, noch ehe er sich zu seinen Schuhen hinunterbeugt.

„Adam?“, hört er Xavi rufen.

„Ja, bin wieder da. Einfahrt ist geräumt.“ Seine Antwort klingt selbst in seinen eigenen Ohren hart und knapp. Die Schuhbänder sind nass und seine kalten Finger können sie kaum aufziehen, sodass er die Hitze in sich aufsteigen fühlt und leise flucht. Er ist generell schnell frustriert im Moment.

Er nimmt die Mütze und den Schal ab und hängt sie auf die Haken der Garderobe. Seine Kopfhaut beginnt sofort zu jucken und er rubbelt sich mit den Fingerspitzen durch die Haare und in seinen Nacken. Er hängt seine dicke Polarjacke dazu und stellt seine Schuhe auf die Abtropftasse, bevor er die Pfütze aufwischt, die er gemacht hat.

Als er sich wieder aufrichtet, fällt sein Blick auf die Lücke in der Reihe an Jacken. Am liebsten würde er gleich wieder umdrehen, aber sein Körper hat ihm bereits vor einer Weile signalisiert, dass es an der Zeit wäre, hineinzugehen. Irgendwann muss er sich den Fragen ohnehin stellen. Dafür, dass Karow und Xavi heute beim Frühstück noch nichts gesagt haben, ist er immer noch dankbar.

Xavi kommt zu ihm, gibt ihm aber ein paar Meter Abstand. „Als hättest du gewusst, dass der Kaffee gleich fertig wird“, sagt er mit einem Zwinkern.

Viel wahrscheinlicher ist, dass Xavi aus dem Fenster geguckt und gesehen hat, dass er bald alles geräumt hat. Zwei Stunden war er draußen, hat sich den Ärger von der Seele geschaufelt und geschippt. Jetzt ist er einfach nur müde und saugt Xavis Versuche, ihn aufzumuntern, dankbar auf. Deshalb lässt er ihm auch die Freude und grinst nur. „Ja, gutes Timing eben.“

„Kekse gibt es auch.“

Sein Thermounterhemd klebt feucht-kalt an seinem Körper und er spürt seine Zehen unangenehm kribbeln, so kalt waren sie bereits. „Lass mich zuerst duschen.“

Er könnte in den Jacuzzi, denkt er wehmütig. Könnte er, wird er aber nicht; nicht allein. Er würde sich auch gerne zu zweit auf die Couch kuscheln, aber das geht auch nicht; nicht allein. Es scheint für alles gerade der falsche Moment zu sein.

Im Schlafzimmer bleibt er im Türrahmen stehen und starrt auf das Bett. Dieses scheißgroße Bett, auf dem nur eine Garnitur verdrehtes Bettzeug liegt. Das zerknautschte Kissen zeugt davon, wie oft er sich letzte Nacht umgedreht hat.

Er geht daran vorbei und kramt warme, bequeme Klamotten aus dem Schrank.

Erst, als er sie nach dem Duschen anzieht, merkt er, dass er zwar seine eigene Jogginghose aus dem Schrank gezogen hat, das T-Shirt und der Hoodie allerdings Leo gehören müssen, so schmal wie er sich in dem breitschultrigen Ding fühlt. Ihre Sachen vermischen sich in diesem Ferienhaus – nicht nur da. Er hat schon eine Hose von Karow in seinem Schrank in Saarbrücken gefunden. Xavi hat mal für ein halbes Jahr lang Leos Jacke nach Berlin entführt. Meins, deins, seins, unseres, eures, ihres – alles gehört jedem. Sie gehören immer noch zwei und zwei zueinander, aber die Grenzen verschwimmen hier oft auf eine schöne Art und Weise.

Manche, zumindest. Er weiß, dass er gerade allein ist, so sehr Xavi und Karow sich auch bemühen, so zu tun, wie sonst auch. Manche Grenzen können nicht verwischt werden. Zwei und zwei… im Moment gehört er nur sich selbst.

Was willst du überhaupt hier?‘, fragt er sein unglückliches Spiegelbild. ‚Neidisch mitansehen, wie es ist, wenn man glücklich ist?‘ Er hört Karow in der Küche lachen und beschließt, ja, genau dafür ist er hergefahren. Weil er diese zwei Kerle mag und weil er Leo liebt und ihm die Pause gönnt und weil er einfach gerne hier ist. Sie haben sich hier ein Zuhause zu viert geschaffen und das bleibt auch so. Nur weil er und Leo im Moment ein paar Probleme haben, heißt das nicht, dass sich daran etwas ändert.

Zum Teil will er auch hier sein, um sich daran zu erinnern, was es ist, das er an Leo so sehr liebt, dass es alles andere in den Schatten stellt. Sie lieben einander. Sie passen perfekt zueinander. Sie sind gut darin, ihre Beziehung zu navigieren und arbeiten ständig daran. Aber das heißt nicht, dass ihre Beziehung perfekt ist.

Jeder von ihnen hat seine Macken und manchmal kommen sie einfach nicht gut miteinander aus. Adam verzweifelt manchmal an Leos Sturheit und daran, dass Leo ein eigenes Konzept davon hat, was in einer Situation hilft und was nicht. Manchmal engt er Adam ein.

Und gleichzeitig weiß Adam, dass er selbst nicht einfach ist, dass er sich nicht gerne sagen lässt, wie er ermitteln soll, dass er genauso stur ist. Er kann schlecht Hilfe annehmen. Manchmal ist er aufbrausend und sagt absichtlich gemeine Dinge, die alles noch schlimmer machen. Er will manchmal provozieren, einfach um zu sehen, was passiert.

Und wenn das passiert, lässt Leo ihn einfach, verdreht die Augen und geht, weil er nicht emotional auf Adam reagieren will. Er gibt ihm immer Zeit und kommt für eine Aussprache zurück, weil sie beide wollen, dass das für die Ewigkeit hält. Aber manchmal sieht Adam in Leos Augen Unsicherheit aufblitzen. Er sieht es auch an seinem Mund, dass er etwas runterschluckt, was er vielleicht besser rauslassen sollte. Obwohl er dieses Mal definitiv nicht runtergeschluckt hat, was er sagen wollte... eher das Gegenteil.

Es tut Adam leid, was passiert ist. Aber er kann es jetzt gerade nicht rückgängig machen. Nicht, wenn er hier in der Uckermark ist und Leo in Saarbrücken.

Er wird in ein paar Tagen zurückfahren und sich entschuldigen und Leo wird genau das Gleiche tun. Sie finden wieder zueinander, nur eben nicht heute.

„Kommst du?“, ruft Xavi schließlich. „Karow isst sonst die mit Schoko alle allein.“

Adam schluckt das Gefühl runter, das wie ein dicker Klumpen durch seine Brust nach oben wandert und bemüht sich um einen leichten, spielerischen Ton, als er zurückruft: „Untersteh dich, Karow!“

Ja, genau, er kann doch so leichtes Geplänkel. Untersteh dich, Karow. Gutes Timing eben. Mir geht’s gut. Danke für den Kaffee. Alles gut. Schön, hier zu sein. Ja, der Verkehr war entspannt. Klar komme ich mit einkaufen. Alles gut. Mir geht’s gut. Alles gut. Mir geht’s-

- beschissen geht es ihm.

Er knipst das Licht aus und folgt den gedämpften Stimmen hinaus ins Wohnzimmer, wo Karow noch ein Scheit Holz nachlegt, bevor er sich zu Xavi auf ihre Couch setzt.

Der Kaffee dampft aus der Tasse heraus und Xavi dreht den Keksteller so, dass die Schokoplätzchen zu Adam zeigen.

„Hast du mir noch welche übriggelassen?“, fragt Adam scherzhaft und schnappt sich eines. Die mit Schokolade sind seine und Karows Favoriten. Als er reinbeißt, erinnert er sich wieder an den Geschmack und die leicht krümelige Konsistenz, wie jedes Weihnachten, wenn die Kekse auf den Tisch kommen. Das Rezept kommt ursprünglich von Leos Mutter, ist aber mittlerweile bis nach Barcelona gewandert. Er weiß noch, wie Frau Hölzer ihnen damals zum Eislaufen mal eine ganze Frischhaltedose mitgegeben hat und sie sie mit Bauchweh, kichernd und leer zurückbrachten.

Er schaltet wieder in die Konversation zurück, gerade als Karow sagt: „Ihre Freundinnen machen die jetzt auch jedes Jahr.“

„Sag ihr jedenfalls danke, dass sie die doppelte Menge gemacht hat.“

„Ja, klar. Sie macht dafür die einen mit Rum nicht mehr, die immer so süß sind.“ Die Keksdebatte könnte Adam nicht egaler sein.

„Kein Schaden“, findet Xavi und schnappt sich ein Tannenbäumchen.

Adam macht es sich mit zwei weiteren Keksen bequem. Der Kaffee ist schön heiß und wärmt ihn von innen und langsam spürt er seine Zehen auch wieder. Die Situation ist trotzdem angespannt.

Erwartungsvoll.

Neugierig.

„Bist du bereit, darüber zu reden?“, fragt Karow plötzlich und zischt, weil Xavi ihn schubst.

„Geht dich eigentlich nichts an, oder“, murmelt Adam und weiß, dass diese Antwort scheiße von ihm ist.

„Was?“, schnauft Karow und klingt dabei eine Mischung aus belustigt und entsetzt. „Was heißt hier, das geht mich nichts an? Es geht um Leo.“

„Ja. Meinen Freund. Meinen.“

„Deinen Leo“, wiederholt Karow langsam. „Und du glaubst nicht, dass wir ihn auch ins Herz geschlossen haben? Hm? Wenn du das wärst, würden wir genauso nachfragen. Scheiße, klar geht uns das was an. Das ist unser Leo.“ Er macht dabei eine kreisförmige Geste, die die beiden Couchen und den fehlenden Vierten in ihrem Bund miteinschließt. „Wir lieben den Kerl auch.“ Adam entkommt ein Grunzen, das Karow sofort aufgreift. „Ja, nicht wie du, das ist mir schon klar, nicht wie wir einander… aber trotzdem.“

„Wir machen uns einfach Sorgen“, unterbricht Xavi. „Nicht um nur ihn oder nur dich… oder um uns, wenn du das jetzt absichtlich falsch interpretieren willst. Wir wissen einfach nicht, was passiert ist. Warum es plötzlich hieß, du kommst allein. Warum Leo nicht mitkommt.“

Adam nickt langsam und starrt in seinen Kaffee. „Er hat mich raus-“ Er stockt, weil er nicht wirklich ‚rausgeworfen‘ sagen kann, ohne dass die beiden gleich einen Elefanten draus machen. „Nicht rausgeworfen“, betont er deshalb und überlegt dann erst, was genau er sagen soll.

„Das heißt… was genau?“, fragt Karow nach in einem ehrlich sorgenvollen Ton.

Adam schnauft. „Eine Pause wollte er. Von mir, von uns. Und deshalb hat er die Schichten nach den Feiertagen übernommen.“

„Habt ihr euch gestritten?“, hakt Xavi nach. Das ‚ausgerechnet jetzt, an Weihnachten?‘ schwingt ungesagt mit.

„Ja, wir hatten jetzt drei richtig anstrengende Fälle hintereinander. Einer hat sich ewig gezogen…“ Adam zuckt mit den Schultern. Er und Leo geraten eben doch manchmal aneinander, wenn sie sich nicht einig sind. Adam will Recht haben, Leo ist Teamleiter, jeder hat seine Methoden und Vermutungen und… manchmal kacken sie sich eben an. Und manchmal kann man das nicht bei der Arbeit lassen. Und Adam weiß eben genau, wo er Leo treffen muss, damit es so richtig, richtig weh tut. Leo weiß ja auch, wie er Adam treffen kann.

Er versteht, dass Leo eine Pause braucht, weil er weiß, was er getan hat und was er in der Hitze des Streits gesagt hat.

„Ich habe beim letzten einen Alleingang gemacht, der hätte schiefgehen können. Er hat sich aufgeregt. Ich habe mich aufgeregt… ihr wisst, wie das ist. Er ist ein sturer Hund. Ich auch.“ Er schnauflacht, weil das ziemlich gut zutrifft auf sie beide. Keiner von ihnen ist besonders nachsichtig, wenn es um den Job geht. Sie trennen Privates und Berufliches, aber manchmal… geht das eben nicht.

Er weiß, dass er nur deshalb nicht suspendiert wurde, weil Leo sein Teamleiter ist und es in seinem Bericht so hat aussehen lassen, als wäre Adams Aktion mit seinem Wissen geschehen. Ist sie nicht.

Und das hat Leo ihm klar und laut und mit den Fingern in seinen Hoodie gekrallt gesagt. Dabei weiß er genau, dass Adam es nicht mag, wenn Leo ihn wütend anfasst. Das weiß Leo und trotzdem tut er es manchmal unbewusst und Adam hat provozierend reagiert, statt darum zu bitten, die Diskussion nach einer Pause zu führen.

Sie lernen beide noch, solche kleinen Grenzen aufzuzeigen, weil das vor allem für Adam Schwäche bedeutet. Ist es nicht, aber sie sind eben so, wie sie sind.

Karow findet das nicht witzig.

„Also hat er dich rausgeschmissen und gesagt, hau ab zu Karow und Xavi?“

Adam nickt. Jein, denkt er gleichzeitig. „Naja. Ich bin zu meiner Mutter für zwei Tage, bevor ich hierhergekommen bin.“

Das scheint die beiden mehr zu erschrecken, als die Idee, dass Leo ihn direkt zu ihnen geschickt hat.

Xavi fasst sich als erster. „Okay.“

„Okay?“, fragt ihn Karow. „Was daran ist okay?“

Xavi schüttelt den Kopf und legt eine Hand auf Karows Brust. „Lass Adam sich mal erholen.“ Damit dreht er sich zu Adam und sieht ihn an. „Wir freuen uns, dass du hier bist, das weißt du, oder? Wir lieben euch einzeln, nicht nur zu zweit.“

„Danke, Xavi“, sagt er betont mit einem Blick auf Karow.

Der lässt Adam sein und schaltet den Fernseher ein. In den Nachrichten kommen gerade das Wetter und die Situation auf den Straßen.

Adam versteht ihn. Normalerweise sind er und Leo ein Herz und eine Seele, aber sie sind trotzdem auch zwei sture Männer, die gerne mal gegensätzliche Ansichten haben. Und dieses Jahr eben zufällig genau im Dezember und genau vor ihrem Urlaub zwischen Weihnachten und der ersten Januarwoche zu viert.

Da ist das ‚wir raufen uns schon wieder zusammen‘ ein bisschen schwieriger zu erklären. Und vor allem können sie sich mit 800 Kilometern Distanz zwischen ihnen nicht spontan in einem Hotel oder ihrem Auto treffen und sich die Meinungsverschiedenheit rausvögeln. Das machen sie hin und wieder.

Sie beide, in Schwellenräumen… geflüsterte Wahrheiten auf dem Rücksitz eines Autos oder in einem Hotelbett. Entschuldigungen und Versprechen, jede Berührung ein Liebesbekenntnis, das sie vielleicht gerade einfach nicht laut sagen können.

Er muss an die letzte Streitbeilegung denken, die in einem Auto in einer Tiefgarage stattgefunden hat. Als wären sie zwei Teenager. Es war heiß gewesen und sie hatten sich beinahe wundgeküsst, bevor jeder von ihnen mit einem ‚Es tut mir leid‘ klein beigegeben hat. Das ist Liebe: dass sie sich wegen einer Ermittlung streiten können, sich aber wegen ihrer Beziehung auch wieder vertragen.

Während Karow sich damit ablenkt, sich über Menschen aufzuregen, die bei jedem Wetter Auto fahren müssen, trinkt Adam seinen Kaffee, isst ein paar Plätzchen und wird langsam aber sicher wieder warm. Mit der Wärme kommt allerdings Erschöpfung. „Ich lege mich nochmal hin“, entscheidet er, als im Fernsehen ein alter Krimi beginnt.

Adam muss ein paar Stunden Schlaf aufholen, weil er ohne Leo nicht gut schläft. Er braucht mittlerweile diesen warmen, festen Körper neben sich, der ihn hält, oder um den er sich schlingen kann.

„Auflauf Mittag okay?“, ruft ihm Xavi noch nach, als Adam bereits aufgestanden ist.

„Ja, gerne. Ich helfe auch Gemüse schnippeln, ich will nur noch ein bisschen Schlaf nachholen.“

 

Er schafft es tatsächlich, noch einmal wegzudösen in seinem einsamen Bett. Irgendwann wecken ihn Schritte und eine Schranktür auf. Er bildet sich auch ein, dass es nach Essen riecht und sein Magen knurrt wie auf Kommando.

„Rufst du ihn noch an, bevor wir Adam wecken?“, hört er Karows Stimme von draußen.

Adam dreht sich müde auf den Rücken.

Er streckt seinen Arm aus, aber die andere Hälfte des Bettes ist und bleibt leer und kalt.

Klar rufen die beiden Leo an. Scheiße.

Er will nicht, dass sie das tun, weil er befürchtet, dass sie ihm die Schuld geben dafür, dass Adam gerade so missmutig und traurig ist.

Er steht leise auf und tappt auf seinen Fußballen zur Tür.

„Hallo Xavi“, hört er Leos Stimme aus dem Wohnzimmer, leicht blechern und verzerrt aus dem Lautsprecher eines Handys. Er legt sich spontan auf den Boden und versucht, unter der Tür zu lauschen.

„Leo, wie geht’s?“

Adam will lachen und hört, dass Leo genauso reagiert. Ein belustigtes Schnauben. Was für eine Frage. Er liebt Xavi dafür, weil sie so schön beiläufig klingt, aber sie alle, er und Leo und Karow, wissen, wie Xavi das meint. Ehrlich… weil Xavi einfach immer ehrlich interessiert ist, wie es ihnen geht.

„Alles gut.“

Adam kann die Lüge bis hierher hören. ‚Glaubt ihm kein Wort’, will er den beiden da draußen zurufen. ‚Hört ihr das nicht?‘

„Ja?“, hakt Xavi nach.

„Ja. Ist Adam gut angekommen?“

Immer besorgt um ihn.

„Ja, er ist gut angekommen gestern. Es hat über Nacht noch stark geschneit, also hat er heute schon die Einfahrt freigeschaufelt.“

„Er soll auf seine Finger aufpassen. Wenn sie zu kalt werden, tun sie ihm manchmal weh.“

Adam legt seine Hand auf seinen Bauch und atmet durch. Seine beiden verheilten Finger pochen tatsächlich dumpf. Jahre ist es her, dass Boris sie gebrochen hat, und immer noch sind sie wie eine Wetterwarnung.

„Leo, Adam geht es gut.“ Xavi klingt so vorsichtig, wie er es tut, wenn es Leo nicht gut geht. Sieht er im Video etwa so schlimm aus? Vielleicht hätte Adam… „Wie geht es dir?“

„Ich sage doch, alles gut. Wir bearbeiten einen Mord. Die Leiche wurde-“

Zu Recht lässt sich Xavi die Ablenkung nicht bieten. „Ja?“, unterbricht er gnadenlos. „Wir vermissen dich.“

Ja, verdammt, ‚wir‘ vermissen dich, denkt auch Adam. Wir. Karow und Xavi und Adam vermissen Leo, egal wie scheiße es in letzter Zeit lief. Egal, wie bockig Adam war. Egal, wie sehr er plötzlich wieder alles allein und ohne ihr Team machen wollte.

„Kannst du mich mal mehr von dir sehen lassen?“, fragt Xavi jetzt. Das lässt Adam aufhorchen. Wenn es bei Leo so aussieht, als hätte er keine Energie zum Aufräumen gehabt, wenn seine Klamotten schmuddelig aussehen, wenn er auf der Couch lümmelt, statt am Küchentisch zu sitzen, ist das kein gutes Zeichen.

„Nein, Xavi. Hier…“

„Leo, du hast Adam rausgeworfen. Jetzt? Wir verstehen das gerade nicht so ganz.“

Adam hört, dass Leo still ist. Es hat also nicht nur in seinen Ohren wie eine Anschuldigung geklungen.

„Ist er da?“

„Nein, er holt ein bisschen Schlaf von letzter Nacht nach.“

„Es ist nicht… Adams Schuld.“

Adam hört Karow schnaufen und erinnert sich an das, was er von Xavi weiß: dass Karow zuerst nicht so recht wusste, was er mit Leo anfangen sollte. Er will da raus, ins Wohnzimmer, und dazwischen gehen. Er will Leo sagen, dass er weiß, dass er anstrengend war. Und er will Karow sagen, dass es nicht Leos Schuld ist. Und trotzdem klingt Karows Schnaufer so, als würde er damit sagen wollen ‚Das weiß ich selbst.‘ Denn mittlerweile kennt Karow sie beide gut genug, und weiß sehr wohl, dass Leo Adam über alles liebt.

Genau da sagt Karow: „Komm her. Fahr zum Flughafen und nimm das nächste Flugzeug und komm her.“

„Roberto“, murmelt Xavi leise.

„Nein, ich meine das ernst. Leo, ich sehe dich doch. Du dimmst das Licht und bemühst dich, zu lachen, aber ich habe dich schon gesehen, wenn du so aussiehst. Und Adam weiß nicht, was los ist… der denkt, das ist seine Schuld. Willst du das?“

Adam schließt die Augen. Er weiß gerade nicht, ob er lieber glaubt, dass das allein seine Schuld ist, oder ob er sich selbst gegenüber zugeben will, dass er übersehen hat, dass Leo eine Abwärtsspirale hat. So klingt es zumindest.

Karow übernimmt für ihn. „Schau nicht weg. Schau mich an. Ich sehe durch dich durch. Du willst, dass Adam ein schönes Silvester mit uns hat, weil du gerade in einem Loch steckst, aber denkst dabei nicht darüber nach, was das mit ihm macht.“

„Karow, genug“, hört Adam Leo blechern durch den Lautsprecher sagen.

„Schwing deinen Arsch in die Uckermark. Von mir aus hole ich dich mit dem Auto vom Flughafen ab, wir schaufeln die Scheißeinfahrt nochmal frei, ich leg Ketten an, ist mir ganz egal, aber ich will nicht, dass du allein in Saarbrücken hockst und auf ein Loch zusteuerst.“

„Es geht mir gut.“

Adam hört einen Knall – Handfläche auf Tischplatte. Karow, der genug hat.

„Aber Adam nicht. Und ich weiß, du sollst dich da erstmal um dich kümmern, das habe ich verstanden…  aber das tut Adam auch weh, wenn er weiß, es geht dir dreckig und er kann hier nichts tun.“

„Ich weiß“, kommt es leise aus dem Lautsprecher.

„Komm her. Heute kannst du wenigstens noch fliegen. Warte bis morgen und wir hören bis nach unserem Urlaub nichts mehr von dir, weil du nicht mal mehr genug Energie zum Duschen hast.“

„Ich will euch nicht so sehen!“

„Du willst nicht, dass wir dich so sehen“, sagt Karow leise. „Du, Leo, der aufgedrehte, der nur gefickt werden will, hm? Platinblondiert in jedem Urlaub, immer geil, immer drauf, kaum runterzubringen, drei Schwänze nicht genug, oder? Aber wehe, du gehst mal auf dem Zahnfleisch. Wehe, du bist mal nicht der, der eine Show abzieht. Als ob das nicht jeder von uns kennt, das Gefühl, dass man gerade nicht mehr weiterweiß.“

„Karow,“ murmelt Xavi, weil Karow immer lauter und aufgebrachter wird. Adam will das auch sagen, will Karow auch mit plötzlicher Habsucht von Leo wegwarnen, aber da lenkt Karow ein.

„Wir wollen dich so oder so. Adam... Und du verkriechst dich, du Feigling.“

„Karow, das reicht“, sagt Xavi nun bestimmt und Adam hört, wie Karow aufsteht. Er hört Schritte auf ihn zukommen, wahrscheinlich weil Karow ihn holen will. Er bewegt sich nicht, bleibt bei der Tür liegen, weil es zu spät ist, um so zu tun, als hätte er das nicht alles mitbekommen.

Als die Tür aufgeht und Karow überrascht stehenbleibt, bemüht Adam sich um ein Lächeln.

„Da bist du“, murmelt Karow und geht in die Hocke. Eine große Hand legt sich auf Adams Brust und er atmet tief ein. „Er will dich nicht belasten und verkackt dabei alles“, fährt Karow genauso leise fort. „Er meint es nicht so.“

„Ich hab-“ Eigentlich war es doch seine Schuld, denkt Adam.

„Du warst pampig?“, fragt Karow, immer noch in dem gleichen, leisen Ton. „Du hast einen Streit angezettelt, weil du genug hattest? Wolltest einfach mal deinen Weg gehen?“

Adam nickt.

„Und hast dich wahrscheinlich schon gefragt, welche Zeichen du übersehen hast.“

Karow kennt ihn zu gut. „Ja“, antwortet er. „Weil ich doch eigentlich wissen müsste…“

„Was, einmal in zwei, drei, fünf Jahren? Das sollst du riechen, dass er den Streit aus ganz anderem Grund anfängt? Der kennt dich genauso gut, wie du ihn.“

Adam schluckt, weil er nicht einsehen will, dass er das nicht mitbekommen hat. Weil er auch gar nicht versteht, warum Leo ihn deshalb wegschicken würde. Leo hat solche Phasen eigentlich gut im Griff, weiß, wenn eine kommt, so selten sie auch passieren. Und er holt sich auch selbst wieder raus. Es dauert nur manchmal eine Woche oder zwei oder vier.

Scheiße… wenn Leo das kommen gespürt hat, um Weihnachten herum, und er Adam deshalb weggeschickt hat? Weil er Adam die Ferien nicht verderben wollte? Leo ist ein Vollidiot.

Er hört Xavi im Hintergrund mit Leo reden, aber er ist so auf Karow konzentriert, dass er die einzelnen Worte gar nicht mitbekommt.

Irgendwann zieht Karow ihn hoch und nimmt ihn mit auf die Couch. Mit seinem Kopf auf Karows Oberschenkel, sieht er Xavi an, der den Laptop mittlerweile zugeklappt hat und ihnen etwas zu trinken holt.

„Und?“, fragt er.

„Lasst ihn mal überlegen.“

„Vielleicht sollte ich einfach zurückfliegen“, überlegt Adam laut.

„Es ist seine Entscheidung, nicht? Er hat dich rausgeworfen, er wusste, was das mit euch macht.“ Karow kann trotzig sein.

„Er wirft mich nie raus.“ Er weiß auch warum, so ungerne er das zugeben will.

Er legt sich auf die Couch und überlegt, ob er zurückfahren soll. In acht, neun Stunden wäre er wieder in Saarbrücken und könnte sich um Leo kümmern. Könnte einfach in ihre Wohnung spazieren und Leo aufsammeln und ihn ins Bett schleppen, weil er weiß, dass Leo bestimmt wach ist. Weiß, er wird Leo um drei in der Früh mit einem Buch auf der Couch vorfinden, auch wenn er in solchen Phasen normalerweise mehr schläft, nur eben nicht nachts.

Karow setzt sich irgendwann zu ihm und zieht ihn an sich; streichelt ihn und lässt ihn nicht los.

 

Leos Textnachricht kommt eine halbe Stunde später:

‚Holt mich jemand um 19:30 am BER ab?‘

Überraschenderweise ist es Karow, der antworten möchte. ‚Ich hole dich ab.‘, bietet er an und zeigt ihnen, was er geschrieben hat: ‚Guten Flug. Wir freuen uns auf dich. Du musst nichts tun, nur hier sein.

„Ich mache das“, sagt er und sieht auf die Uhr.

„Danke, Karow.“

Der verdreht nur die Augen und küsst Adam auf die Wange. „Wer sagt, dass ich das für dich tue, hm?“

Adam muss grinsen und legt den Kopf schief. Ja, stimmt eigentlich.

„Aber ja. Ich will nicht, dass du hier traurig bist und er in Saarbrücken.“

Adam weiß, was Karow damit sagen will. Karow ist nicht…‘sauer‘ auf Leo, weil er Adam rausgeschmissen hat. Er will nicht Adam schützen, oder Leo auf der Fahrt eine heimliche Standpauke halten. Er will hier nicht Schiedsrichter sein. Er versteht sie beide und Leo vielleicht im Moment sogar ein bisschen mehr.

Er versteht, vielleicht auf eine eigene Art und Weise, wie Leo sich fühlen muss. Weil Leo mit Adam gestritten hat und Adam nicht da ist und Karow weiß, wie es ist, wenn man nach einem Streit allein ist.

„Und jetzt schlaf noch eine Runde“, fährt Karow fort. „Ich sehe mal nach dem Auto.“

Xavi bietet sich als Kissen an, indem er sich zu Adam legt.

„Manchmal läuft es nicht so, wie man sich das alles vorstellt“, murmelt Xavi.

Heimlich hat Adam sich das aber so vorgestellt: dass Leo nachkommen und plötzlich betreten vor der Tür stehen würde, wie in einem Weihnachtsfilm. Jetzt kommt Leo nach, zwar ein bisschen anders, als er sich das gedacht hatte, aber immerhin. „Manchmal doch“, sagt er deshalb. „Manchmal läuft es so, wie man es sich vorstellt.“

Xavi hält ihn. „Manchmal muss man Geduld haben, mit dem Mann, den man liebt.“

„Karow ist sicher auch nicht immer einfach.“

„Wäre doch langweilig, findest du nicht?“

 

Als Adam an dem Abend neben Leo im Bett liegt, kann er endlich wieder durchatmen. Leo hat sich dicht an ihn gekuschelt und schläft bereits, oder döst zumindest. Er fühlt sich aber immer noch kalt an, weshalb Adam sich so gedreht hat, dass er ihn halten kann. Eine warme Decke liegt über Leos Seite, die er wahrscheinlich im Schlaf runterstrampeln wird. Sie haben bei Leos Ankunft kurz gesprochen und sich beide entschuldigt - viel zu vorsichtig und zaghaft sind sie dabei miteinander umgegangen. Morgen geht es weiter. Und übermorgen. Und danach wird es immer noch weitergehen.

Nichts ist perfekt, aber sie sind zusammen.