Work Text:
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2023
„Und du bist dann die Spargelkönigin?“
Kalli fühlte sich dumm, als er die Frage stellte. Natürlich war diese ganze Chose dumm; das hatte er ja schon gewusst als der Semmler ihm vom Fall erzählt hat. Auch als er dem Batic und Leitmayr im Auto die Videos gezeigt hatte. Jetzt hatte er den ganzen Tag damit verbracht, wie ein Hund durch das Event zu streunen und Autogrammkarten zu sammeln als wären sie Leckerlis. Aber Informationen zu beschaffen war nun mal auch Teil vom Job. Und der Leitmayr hatte ja recht: Die Königinnen würden lieber mit einem feschen jungen Mann sprechen als mit einem Ende-60-jährigen Kriminalhauptkommissar.
So auch Luise, die Spargelkönigin, vor deren Tresen er nun stand. Nur hatte sie ihn vorhin mit den Kommissaren gesehen und Kalli war sich sicher, dass sie dementsprechend weniger an einem Gespräch mit ihm interessiert sein würde. Niemand wollte gerne bei einem Festival verhört werden.
„Aichacher Spargelkönigin Luise.“, antwortete sie mit einem Lächeln. „Willst du auch mal drehen?“. Sie zeigte auf das Glücksrad neben sich.
Kalli schüttelte seinen Kopf. „Ne, danke.“
„Schade. Gibt paar coole Preise zu gewinnen.“
„Ja, ich bin ja jetz‘ ned so der Spargel-Enthusiast.“
Sie zuckte mit den Schultern und richtete die paar verstreuten Objekte auf ihrem Tresen wieder ordentlich hin. Ihre Autogrammkarten reflektierten das über ihnen stehende Sonnenlicht. „Willst du mich dann verhören? Oder warum bist du hier?“
Jetzt zuckte Kalli mit den Schultern. „Na, ich mein, kannst‘ mir ja vom Spargel erzählen, wennst‘ magst.“
Sie lachte, wirkte aber desinteressiert. Sie ist ja nicht dumm. Kann sich ja denken, dass Kallis Interesse zur Informationsbeschaffung dient. Kalli selbst fühlte auch schon den Burn-Out. Er hatte dieses Gespräch schon mit mehr als 30 Königinnen gehabt und wollte wirklich langsam mal zurück nach München um das Handy vom Gehrling zu entsperren. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die Königinnen ihre Klientel – irgendwelche 60-jährigen Bauern wie Gehrling – das ganze Wochenende unterhalten konnten, ohne verrückt zu werden. Bei Kalli reichten schon zwei Kommissare um ihn verrückt zu machen.
Besagte zwei Kommissare hatten wohl vorhin Luise auch verhört, wie ihm bei einem kurzen Gespräch mit den beiden zu Ohren gekommen war. Sie war wohl in irgendeiner Weise mit dem Fall verwickelt. Der Gehrling schien ja viele von den Frauen hier in irgendeiner Weise belästigt zu haben. Kalli versuchte kurz, sich einen Plan auszudenken, wie er Luise darauf ansprechen könnte.
Dann blickte Kalli zu ihr rüber und sah an ihrer Scherpe zwei kleine Pins hängen. Die waren ihm vorhin schon aufgefallen, aber dann war sie schon wieder so schnell weg, und dann war er die ganze Zeit beschäftigt. Aber jetzt konnte er sie genauer betrachten: Einmal die normale Pride-Flagge und dann noch die Trans-Flagge. Hm.
Luise bemerkte seinen Blick und legte schnell ihre Haare über die Pins um sie zu verdecken. Jetzt schossen Kallis Augen wieder zu ihr nach oben.
„Wenn du mich nicht befragen willst, dann steh hier bitte nicht so lange rum.“ Sie schien um einiges mehr unwohl als zuvor und stand nun mit verschränkten Armen vor ihm.
Fuck. Kalli hatte sie verschreckt.
Was steht er denn auch nur da und glotzt stumm auf die Pride-Flaggen wie irgendein Trottel?
„Ah, sorry. Ja, dann …“ Er kramte kurz nach seinem Handy um seine Notizen zum Fall zu finden. Drei Stunden Smalltalk hatten ihm die Gehirnzellen frittiert. Kalli verwarf den Plan, sie verdeckt nach Gehrling zu fragen. Jetzt musste er ja nicht mehr durch die Blume sprechen. Luise wusste ja, dass er Kripo war.
„Der Gehrling …“, fing er an, „Hast du denn persönlichen Kontakt mit dem gehabt? So, hat der mal mit dir geschrieben oder dich besucht oder so was?“
„Nicht wirklich.“, antwortete Luise, „Manchmal hat er vor ‘nem Event oder ‘ner Ansprache mit mir geredet. Aber nichts allzu persönliches.“
Kalli nickte.
„Umgebracht hab‘ ich den nicht.“, fügte sie hinzu.
„Davon geh‘ ich ja gar ned aus.“ Kalli tippte ein paar Zeilen in seine Notizen. Es war Stille zwischen den beiden, und Kalli war sich sicher, dass Batic und Leitmayr ihn für seine Unprofessionalität verurteilen würden. Dann fragte er: „Nichts Sexuelles? Mit dem Gehrling?“
Luise tippte mit ihren Nägeln auf dem Tresen. „Nein, nichts Sexuelles.“
„Nichts …“ Kalli stockte, und er fühlte sich unfassbar dumm als er es fragte, „…Transphobes?“
Luise, deren Blick während dem Gespräch auf Kallis Handy lag, sah wieder zu ihm nach oben. „Clever zusammengepuzzelt, Herr Kommissar.“, lobte sie. Dann blieb sie still.
Kalli pausierte sein Tippen. Er atmete langsam aus und meinte, „Ich stell‘ mir halt vor, dass die hier nicht so … offen dafür sind. Vor allem so einer wie der Gehrling.“
„Du klingst als würdest du gegen ihn ermitteln.“
„Meine Aufgabe ist es, den Mörder zu finden. Dazu braucht‘s ein Motiv.“
„Und du verdächtigst mich?“
„Ich wollt‘ nur wissen, ob der dir gegenüber transphob war.“
Sie schwieg weiterhin. Kalli fühlte sich schlecht. Eine große Voraussetzung für einen Kriminalkommissar war doch Empathie. Dass man sich in Leute hineinversetzen kann. Und jetzt konnte er es doch noch umso mehr. Er hatte sie vorhin schon unwohl gemacht, und jetzt auch noch an potentielles Trauma erinnert. Er sagte schließlich: „Wollt‘ dir da ned zu nahe treten.“
„Gut.“, antwortete sie kurz. „Ich will auch nicht mehr dazu sagen.“
Da kam auch schon eine Mutter mit ihrem Kind zu Luises Stand rüber, und Kalli merkte, dass er jetzt wohl einen Rückzug starten sollte. Luise richtete nämlich nun ihre Aufmerksamkeit weg von ihm und fing ihr Spargel-Königinnen-Gerede an.
Kalli zog seine Lippen zu einer Linie zusammen und steckte sein Handy zurück in seine Tasche. Er konnte noch für eine Sekunde Luises Aufmerksamkeit greifen und sagte nur: „Danke für die Infos. Noch ‘n schönen Tag.“
Er drehte sich schon zum Gehen um, als Luise ihm ein „Warte!“ hinterherrief.
Noch einmal sah er sie an. Er lächelte, als sie ihm ihre Autogrammkarte entgegenstreckte. „Falls du sie sammelst.“
„Danke.“, entgegnete er. Dann, in einem kurzen Moment des Muts: „Ich mag deine Pins.“
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(When you close your eyes and you go to sleep.
And it’s down to the sound of a heartbeat.)
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Als er Batic und Leitmayr wieder getroffen hatte, gab es ein kurzes Lagegespräch und einen Informationenaustausch. Kalli durfte nach seinem aufregenden Festivaltag endlich wieder Büroarbeiten in München machen, während die Herrschaften Batic und Leitmayr die Nacht im Hotel verbringen würden.
Kalli wollte sich gerade verabschieden, als der Herr Leitmayr im Weggehen noch von der Freundin vom Raupach sprach.
„Freundin? Welche Freundin?“, fragte Kalli.
Der Leitmayr und Batic drehten sich beide nochmal zu ihm um, und der Herr Leitmayr erklärte: „Der is‘ mit der Spargelkönigin zusammen. Heimlich.“
„Mit der Luise? Das is‘ ja bemerkenswert.“
„Wieso das?“
„Naja, weil …“
Jetzt stockte Kalli wieder. Er war sich ja nicht sicher, ob ‘bemerkenswert‘ da das richtige Wort war. Aber für einen Typen wie Raupach, der doch so umzingelt von Konservativen war wie er, fand Kalli schon schön, dass er zumindest seine Liebe zu ihr zeigte. Wenn auch nur ihr.
Kalli kannte es ja selber gut genug. Er hatte sich sehr lange selber von Liebe weggehalten. Man musste ja immer davon ausgehen, dass man abgewiesen wird, wenn man Trans ist. Erst mit Kathi konnte er langsam lernen, sich auf Liebe einzulassen.
Allerdings fiel ihm jetzt erneut auf, dass er wirklich noch nie dieses Thema mit seinen Vorgesetzten angesprochen hatte. Irgendwie war er nie dazu gekommen, es den beiden zu erzählen. Vielleicht war er ja zu voreingenommen. Aber in einem Verein wie der Polizei, mit Mitarbeitern die zu einem großen Teil aus cis Männern bestand, hatte Kalli einfach Angst, dass sie nicht gut damit umgehen würden. Und er wollte ja, dass sie ihn mögen.
Deswegen entschied Kalli sich für den einfachen Weg raus: „Sie wissen schon.“
Doch nach kurzer Stille merkte Kalli, dass sie nicht wussten. Er fing erneut an. „Die Luise is‘ ne Trans Frau.“
Jetzt weiteten sich die Augen der Beiden. Und Kalli fing an, zu grinsen. Es war nicht oft, dass Kalli etwas aus Menschen herauslesen konnte, was für die beiden unsichtbar war. Kalli war doch sehr verschmitzt. „Des hab’n Sie nich‘ mitbekommen.“
„Ah. Ja.“, antwortete der Leitmayr. „Ja, das ham mir tatsächlich nich‘ mitbekommen.“
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(I can hear the things that you’re dreamin’ about.
When you open up your heart and the truth comes out.)
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2019
Kallis Mutter reichte ihm das Glas Wasser und die 800er-Ibuprofen, die er am Morgen nehmen sollte. Die OP war jetzt schon drei Tage her und Kalli war seit zwei zurück aus dem Krankenhaus. Jetzt, immernoch wie ein Kranker, hing er fast den ganzen Tag im Bett und war noch für die meisten Dinge auf seine Mutter angewiesen. Er setzte sich mit Anstrengung auf und seine Füße hingen von der Bettkante runter.
„Danke.“, sagte er als er das Glas nahm.
Sie sah ihm dabei zu, wie er die Tablette nahm und stand dann auf. „Ich wollt‘ noch kurz a paar Semmeln hol’n. Willst was bestimmtes?“
„Na.“
Sie verließ das Zimmer und Kalli scrollte ein bisschen durch sein Handy. Gestern Abend war er schon früh weggepennt. Mix aus Schmerzmitteln und Müdigkeit. (Er hatte ja vor der OP fast jede Sekunde pausenlos ermittelt). Jetzt las er die Nachrichten von gestern Abend. Ein paar seiner Freunde wollten am Nachmittag vorbeikommen. War ja ganz süß, wie sie sich um ihn kümmerten. Hatte er nicht oft.
Er antwortete kurz auf die Gesundheitswünsche und Memes von seinen Freunden, aber es wurde ihm schnell wieder zu stickig im Zimmer. Seine Mutter hatte über die Nacht das Fenster geschlossen, weil am Morgen immer eine Schar Krähen direkt auf seinem Balkon Krach machten.
Vorsichtig stand Kalli nun auf und ging zum Fenster. Er hatte vielleicht den Hang zur Dramatik, aber er wollte lieber ein bisschen übervorsichtig sein, als dass er sich zu schnell wieder bewegt und irgendwelche Komplikationen riskiert. War ja seine erste OP jemals.
Mit einem Schwung öffnete er die Balkontür. Die entgegenkommende Luft war noch kühl, aber angenehm. Es war ja jetzt schon Anfang Mai, da wurde es langsam wärmer. Kalli stieg kurz hinaus. Er blickte auf den Balkontisch, auf dem Feuerzeug und ein paar Spielkarten lagen. Er hatte gestern Mittag noch mit zwei Freunden hier gesessen. (Sie hatten gekifft, Kalli hatte Witze gemacht, dass er sie dann verhaften müsste. Sie hatten entgegnet, dass es bald legalisiert werden würde.)
Kalli hörte in der Ferne die Musik vom Frühlingsfest. Nur ganz leise, und mehr nur den Bass als die Melodie. Er konnte auch auf der Straße Leute in Dirndl und Tracht erspähen, die wohl auf dem Weg dahin waren. Kalli wohnte ja nicht weit von der Theresienwiese weg. Er lehnte sich gegen das Balkongeländer. Der Batic und Leitmayr waren wahrscheinlich grad in der Gegend und ermittelten. Kalli kniff die Augen fest zusammen bei dem Gedanken. Wegen der OP musste Kalli die Arbeit verlassen und konnte erst in ein paar Wochen wieder zurück. Natürlich war er erleichtert über den Termin, aber fuck, der Fall war doch so interessant. Hätte er nicht operiert werden können, als er einfach nur zwei Wochen lang über Akten sitzen musste?
Kalli ging wieder nach drinnen, kippte das Fenster und setzte sich vor seinem Laptop hin. Dieser stand, neben ein paar unwichtigeren Akten, auf dem fast komplett vollgestellten Schreibtisch. Kallis Google Earth-Suche von vor zwei Tagen war noch offen, als er mithilfe eines Fotos versucht hatte, den Aufenthaltsort von einem Verdächtigen zu finden. Mittlerweile hatten die Kollegen das Foto wahrscheinlich schon orten können.
Kalli suchte dennoch weiter nach dem Ort. Er tippte sich durch ein paar Berichte. Sie hatten schonmal einen Fall auf der Theresienwiese gehabt. Vor ein paar Jahren; da war Kalli noch ganz frisch. Der momentane Fall hatte Ähnlichkeiten, nur war dieser jetzt nicht auf der Wiesn, sondern dem Frühlingsfest. Ganz skurrile Angelegenheit. Kalli las die Einträge vom Semmler und sah sich die Protokolle von den Verhören an. Batic hatte mal wieder keinen Bock auf saubere Protokollführung gehabt, bemerkte Kalli, als er den lustlosen Bericht von seinem Vorgesetzten durchlas.
Es klingelte an der Tür.
Kalli sah auf. Er hatte seiner Mutter doch einen Schlüssel für die Wohnung gegeben. Außerdem wäre sie doch ein bisschen länger weg sein müssen. Paketbote, wahrscheinlich. Kalli stand mühsam auf und machte seinen Weg zur Tür.
Bei der Gegensprechanlage bekam er keine Antwort. Er machte trotzdem unten auf und öffnete die Tür zum Treppenhaus. Widerwillig musterte er sich kurz im Spiegel, der im Eingangsbereich seiner Wohnung hing. Er trug einen verschwitzten oversized Hoodie und geduscht hatte er auch seit der OP nicht dürfen. Kalli sah wirklich schrecklich aus. Er blickte schnell wieder vom Spiegel weg. Der Anblick war nicht schön. Doch der Anblick der Personen, die nun vor ihm waren war nicht weniger überraschend.
Herr Batic und Leitmayr sind die Treppenstufen hochgestiegen und standen nun in seinem Treppenhaus.
„Du Kalli, warum bist denn eigentlich nicht in der Arbeit?“, fragte Herr Leitmayr während er sich seine Schuhe auszog.
Kalli starrte ihn dumm an und schwieg.
„Dürf‘ ma denn reinkommen?“, fragte Herr Batic.
Kalli brauchte noch eine Sekunde, dann nickte er schnell. „Ja, ja, klar.“
Er nahm einen Schritt beiseite, um den Herren Platz zu machen. Zwei gemurmelte „Dangschee“ bekam er, als die beiden eintraten. Kalli hatte die beiden schon oft zu einem Abendessen eingeladen, aber sie hatten bisher immer abgelehnt. Er hatte sich sogar schon einmal ein Krimidinner einfallen lassen und wartete bisher noch auf den richtigen Zeitpunkt, um die beiden dazu einzuladen. Aber dass die beiden komplett unangekündigt auftauchen, drei Tage nach seiner OP? Damit hatte Kalli irgendwie nicht gerechnet.
Kalli wurde schrecklich schnell bewusst, dass er noch hier und da in seiner Wohnung kleine Pride Flaggen aufgehangen hatte. Er hoffte inständig, dass seine Kollegen keine Ahnung hatten, was sie bedeuteten.
Kalli zeigte den beiden den Weg in die Küche und bat ihnen einen Kaffee an, den sie beide ablehnten. Wahrscheinlich hatten sie schon im Präsidium den ein oder anderen getrunken.
„Sag schon Kalli, warum bist denn nicht in der Arbeit?“, stellte Herr Leitmayr wieder seine Frage vom Anfang. „Bist ja auch am Freitag so schnell verschwunden.“
Kalli hatte sich selbst eine Tasse in die Kaffeemaschine gestellt und drückte nun den Espresso-Knopf, der für 20 Sekunden ein so lautes mechanisches Geräusch von sich gab, dass es das gesamte Gespräch übertönte.
Als die Maschine fertig war sagte Kalli schlicht: „Ich bin krank.“
Der Herr Batic und Leitmayr gaben sich einen vielsagenden Blick.
„Hör mal zu, Kalli. Der Semmler hat gesagt, du warst im Krankenhaus.“, sagte Herr Batic. Kalli verbrühte seine Zunge am Getränk. „Und dann haben wir nachgefragt, und du hattest ‘nen operativen Eingriff gehabt, ham die gesagt. An der Brust. Du hast doch den Zentner überführt — den einen Verdächtigen mit dem Drogendelikt. Hat der dich angegriffen?“, fragte Batic.
Als Kalli weiterhin schwieg, sagte Herr Leitmayr: „Der ist vorbestraft. Hat mal angeblich seine Frau angegriffen. Und dann haben wir uns gefragt, ob der des bei dir auch gemacht hat.“
Inzwischen hatte Kalli Milch in seinen Kaffee gerührt und sich an die Türschwelle gelehnt. Er trank einen Schluck und überlegte kurz, wie er das hier am besten spielen könnte. Er wollte weder, dass seine Vorgesetzten von dem wirklichen Grund der OP wussten, noch, dass sie irgendeinem Zentner jetzt einen Angriff anheften, der nie stattgefunden hatte.
„Nein, der war des ned. Ich hatte nur – “ Kalli stoppte kurz. Er wägte ab. „Ich hatte – weil, das is‘ so’n Gendefekt. Is‘ angeboren. Hatte jetzt nach paar Jahren die OP. War nix wildes, da müssen’S sich keine Sorgen drum machen.“
Die beiden waren still und Kalli war sich sicher, dass es eine unfassbar dumme Aussage von ihm gewesen war. Er hoffte nur, dass ihnen die Antwort reichte.
„Und du bist dir sicher?“, fragte der Leitmayr.
Kalli nickte.
Batic klinkte sich ein: „Weil wenn der des war, dann musst du das uns sagen, Kalli. Wenn der dir irgendwelche Rippen gebrochen hat—"
„Des war der ned.“
Herr Leitmayr schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und seufzte „Gut. Gut. Dann wars das. Könn‘ ma den nedmal dafür festnehmen.“
Herr Batic lehnte sich in der Stuhllehne zurück. „Wir könnten den doch für so viel anderes festnehmen.“
„Der hat doch seine scheiß Anwälte. Bisher hammer keine These gehabt, die der ned abstreiten konnte.“, sagte Herr Leitmayr. Dann lehnte er sich näher an Herr Batic und sprach in einem überspannten Ton: „Der is‘ wie so’n kleines Wiesel, das sich immer und immer wieder aus der Sache raus – rauswieselt.“
Die beiden verharrten in einem kleinen Blickduell, dessen Bedeutung Kalli nicht wirklich beurteilen konnte. Aber er atmete wieder ruhig. Sie hatten nicht weiter nachgehakt. Nochmal Glück gehabt.
Der Besuch war also dienstlich. Kalli schmunzelte.
„San Sie nur deswegen hergekommen? Weil Sie den verhaften wollten?“
Batic, der nun wieder die Augen von seinem Partner riss, hob die Hand. „Na, na, Kalli. Wir haben uns auch Sorgen um dich gemacht. Kannst doch ned einfach so von der Bildfläche verschwinden.“
Batic klopfte ihm auf die Schulter und nach einem kleinen „Au“ von Kalli entschuldigte er sich.
„Hast’ das Foto orten können?“, fragte Leitmayr.
Also wieder zurück zum Programm. Kalli hatte den Mund voll Kaffee und konnte nicht antworten, also summte er zustimmend und ging in sein Zimmer, um den Laptop zu holen.
Er hoffte, seine Mutter würde genug Semmeln für seine Kollegen mitbringen.
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(You tell me that you want me.
You tell me that you need me.
You tell me that you love me.)
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2023
„Du, sag mal. Denkst du der Kalli ist Trans?“
Die Frage stellte Franz nach einer guten halben Stunde Stille. Die beiden würden die Nacht im Hotel hier verbringen, da die Königinnen sich am nächsten Tag in alle Himmelsrichtungen verstreuen würden. Ivo hatte sich mit Tonis Buch beschäftigt, während Franz nochmal Beweismaterial durchgegangen ist. Beide im Hotelbett nebeneinander.
„Das schon wieder.“, sagte Ivo ohne Aufzusehen. „Da hatten wir doch mit’m Carlo drüber gesprochen.“
„Ja, aber der Carlo hat doch keine Ahnung. Hast doch gesehen, wie der Kalli uns vorhin angeschaut hat. So als würden wir den gleich auffressen.“
Franz zog seinen Laptop hervor und Ivo seufzte direkt. „Komm, geh‘ mir weg damit.“
„Nein. Ich will dich doch nur fragen. Schau.“ Franz öffnete seinen Browser. Ivo hatte Tonis Buch mittlerweile halb geschlossen und sah widerwillig auf den Screen. Es war ja nicht so, dass er sich nicht dafür interessierte. Es war nur so, dass der Fall ihn gerade dezent mehr interessierte. Und, dass Franz dieses Thema schon mehrmals erwähnt hatte und er sich doch immer so verdammt in die Dinge reinsteigern musste.
„Hier. Ich hab‘ mal recherchiert. So sehen die Narben von ‘nem Trans Mann aus nach der OP.“ Franz zeigte auf den Screen.
„Mhm.“
„Der eine Kollege aus der operativen Fallanalyse hat gesagt, dass der den Kalli beim Kollegensport mal in der Umkleide gesehen hat. Und da hatte er genau solche Narben. Und erinnerst‘ dich an den einen Fall beim Frühlingsfest? Da ham wir den Kalli besucht, und der hatte doch ‘ne Brust-OP. Da hat er damals aber nicht gesagt, was genau des war.“
„Des kann auch was anderes sein, Franz.“
„Ja, kann. Aber ich glaub sowas würd‘ der Kalli doch sagen.“
„Du musst des lassen. Der Kalli hat gesagt, dass die OP wegen ‘nem Gendefekt ist. Ich weiß du bist gern Detective, aber das grenzt doch schon fast an Stalking.“
„Du hast doch seine Wohnung gesehen. Hast doch die ganzen kleinen Flaggen gesehen. Ich weiß, Ivo, dich interessieren Flaggen nur, wenn’s die Jugoslawische is‘, aber des waren alles solche Pride-Flaggen. Und da hab ich auch bisschen recherchiert, schau –“
Franz öffnete einen neuen Tab und Ivo legte schnell seine Hand auf die Tastatur, um ihn vom Tippen abzuhalten.
“Franz, Franz, bitte. Nehmen wir mal an, deine Hypothese stimmt: Was dann? Sprechen wir ihn dann drauf an? Sagen, ‘Hallo Kalli, der Franz und ich, wir denken du bist Trans. Willst‘ zustimmen? Ja / Nein?‘ Is‘ doch Quatsch.“
„Nein, das muss ja auch ned sein. Ich mein nur, wir sollten offen dafür sein.“
„Bin ich doch. Sind wir doch.“
„Ja, sind wir. Weiß ich ja. Ich will halt ned, dass des für den Kalli genauso schwierig wird wie für dich und mich damals.“
Ivo atmete langsam aus und rutschte tiefer unter die Bettdecke. Franz führte fort: „Der soll sich ned darüber Sorgen machen müssen, dass wir den jetz‘ dafür hassen würden.“
Ivo blieb kurz still und sah seinen Partner einfach nur an. Mit leiser Stimme sagte er: „Franz, das waren die 90er. Die Kinder heute haben‘s einfacher.“
„Nicht immer. Und ich will zumindest, dass Kalli sich bei uns sicher genug fühlt, dass er es uns anvertrauen kann.“
„Wir sind ja schon Ansprechpartner für ihn.“ Ivo legte seine Hand auf Franz’ Brust. „Aber wenn‘s um sowas geht, dann soll er selber auf uns zukommen und es uns sagen. Sobald er bereit dafür ist.“
Franz rollte die Augen, dann nickte er aber doch. Ivo klappte den Laptop bestimmt, aber sanft, zu. Dann sagte er: „Du zerbrichst dir den Kopf und wofür? Ist doch immernoch unser Kalli.“
Franz ließ seinen Kopf ins Kissen fallen und schwieg für eine Weile. Dann: „Ja. Ja. Hast ja recht.“
„Hab‘ ich immer.“
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(And I know that I’m right.
‘Cause I hear it in the night.)
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Der Fall war geklärt und das tägliche Leben kehrte wieder ins Münchner Polizeipräsidium ein. Kaum Zeit war vergangen, aber die Gedanken von Produktköniginnen und Bolzenschussgeräten wurden schnell durch einen neuen Fall ersetzt.
Kalli stand den Vormittag lang über gelöschten Daten, die er rekonstruieren sollte. Videos von einer Festplatte. Nicht sonderlich professionell gelöscht. (Der Herr Leitmayr lachte jedes Mal, wenn Kalli den Satz von sich gab. Er hatte absolut keine Ahnung, wie man etwas ‘professionell‘ löschen könnte.)
Kalli brachte wie gewöhnlich ein bisschen Chaos ins Büro der Chefs, als er mit seinen Papieren und einem Laptop unter der Achsel geklemmt ins Zimmer kam.
„Also, ich hab‘ – neben ‘nem Haufen Pornos – ein paar Dateien gefunden, die ganz interessant sein könnten.“, fing Kalli ohne Einladung an, seinen Befund zu erklären und wollte gerade seinen Vorgesetzten ein Video zeigen, als er stutzig wurde.
Er stand direkt vor dem Tisch von Herr Batic. Mit halb-offenen, ermüdeten Augen sah dieser ihn an (Es war ja auch noch früh). Nur bemerkte Kalli etwas, das sein Vorgesetzter an seiner Hemdtasche angebracht hatte. Es war genau der selbe regenbogenfarbene Pin, wie Luise in trug.
„Seit wann tragenS‘ denn den?“, fragte Kalli, sich selbst im Halbsatz unterbrechend.
Der Herr Batic sah an sich runter, den Pin an, so als hätte er ihn gerade erst bemerkt, und dann wieder Kalli. Er antwortete achselzuckend: „Dacht‘ das setzt ein gutes Zeichen."
„Ah.“, antwortete Kalli. Dann, nach einer kurzen Pause: „Das‘ ja cool von Ihnen.“
„Woll’n ja alle bisschen inklusiver sein. Da fängt man klein an, weißt?“, sagte Herr Leitmayr, der sich an den Tisch vom Batic gelehnt hatte. „Akzeptanz und das alles.“
Kalli nickte. Dann fuhr er ohne Augenschlag fort, die Dateien zu erklären und sämtliche interessante Videos den Kollegen zu zeigen. Und dann war die ganze Chose auch schon wieder beendet.
Nur grinste Herr Leitmayr in sich hinein. Ivo konnte ihn so sehr auf den Arm nehmen, wie er wollte; er hatte schon den richtigen Riecher gehabt. Er hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Lächeln auf Kallis Lippen bemerkt, und das verdammte Strahlen in seinen Augen gesehen.
Sein Blick glitt nochmal auf den Pin von seinem Partner. Er sollte sich auch so einen holen.
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(I hear the secrets that you keep.
When you’re talking in your sleep.)
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