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Es fängt damit an, dass Boerne Thiel die Butter aus dem Kühlschrank klaut. Zwar lässt er ein anderes Stück Butter als Ersatz zurück und wenn er es nicht beiläufig in einem Gespräch erwähnt hätte, wäre es Thiel wohl niemals aufgefallen. Aber das macht es auch nicht besser.
Es bleibt nicht bei einem Stück Butter. Drei Wochen später (Thiel hat beschlossen, dass es das Gesündeste ist, den verstörenden Zwischenfall einfach zu verdrängen) – drei Wochen später fehlt das Glas mit den Oliven. Thiel weiß sicher, dass das Glas gestern noch da war. Es stand in der Kühlschranktür neben der Weinflasche. Er sieht sogar im Abfall nach, aber auch dort liegt es nicht. Also isst er sein Kartoffelpüree ohne Oliven.
Am nächsten Morgen ist das Glas wieder da. Bloß, dass es ein anderes ist: schwarze Oliven aus der Provence, handgeerntet, ungefärbt, naturbelassen, eine Delikatesse.
Vier Tage später: das gleiche Spiel mit einem halbvollen Glas Tomatensoße. Diesmal ist Thiel fast erleichtert, denn die Tomatensoße bekam er kaum runter, viel zu zwiebelig. Jetzt ist er sie wenigstens los. Aber auch das macht es nicht besser.
„Herr Professor“, sagt er mühsam beherrscht, „ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie nicht ständig Essen aus meiner Wohnung klauen würden.“
„Ich klaue nicht“, verbessert Boerne, „ich borge.“
„Mir egal, wie Sie es nennen – so läuft das nicht.“
„Wieso? Es läuft doch ganz ausgezeichnet.“
„Das ist meine Wohnung, Boerne, meine.“
„Im Grunde gehört Ihre Wohnung –“
„Sie können sich nicht einfach Essen aus meinem Kühlschrank nehmen, okay?“, unterbricht ihn Thiel. „Nicht klauen und auch nicht borgen. Das ist mein Kühlschrank – wissen Sie, wie bescheuert es ist, abends nach Hause zu kommen, und dann ist nichts Richtiges zu essen da?“
Das Gespräch macht Boerne nachdenklich. Als Thiel zwei Abende später todmüde in seine Wohnung torkelt und auf der Suche nach etwas Essbarem zum Kühlschrank schlurft, wird er von der Auswahl an Lebensmitteln beinahe erschlagen. Jedes Fach ist bis obenhin gefüllt: Butter, Oliven, Tomatensoße, aber auch Käse, Toastbrot, Marmelade, Karotten, Bier und Wein. Es sieht gut aus. Anders, voll, lebendig. Es sieht aus, wie es in einem richtigen Kühlschrank aussehen sollte. Thiel isst vier Toastbrote mit Käse, bevor er ins Bett fällt. Im Halbschlaf meint er, Geräusche aus der Küche zu hören, aber wenn es Boerne ist, der den Kühlschrank leert, ist das auch egal. Schließlich gehört das Essen eigentlich ihm.
Seitdem füllt Boerne öfters seinen Kühlschrank auf. Manchmal findet Thiel dort eine Packung Lachs, frisches Gemüse und einen Weißwein – das sind die Abende, an denen Boerne eine Stunde später bei ihm klopft und sie gemeinsam kochen. Meistens bei Thiel, aber manchmal auch bei Boerne. Bei dieser Gelegenheit klaut borgt Thiel den Zwiebelschneider aus Boernes Küchenschublade. Es ist ein praktischer Zwiebelschneider aus Edelstahl, der im Handumdrehen dünne, wunderbar gleichmäßige Zwiebelringe schneidet.
Eines Tages drückt Boerne ihm einen Schlüssel in die Hand mit den Worten: „Der ist nur für den Notfall. Von meinem Kühlschrank lassen Sie bitte die Finger.“
„Für welchen Notfall?“, fragt Thiel verwirrt.
Boerne antwortet nicht, aber beim nächsten gemeinsamen Essen in der Präsidiumskantine erzählt er Thiel die Geschichte von Frau Dörr, die früher im Haus gewohnt hat, die sich einen Fahrstuhl im Flur gewünscht hat wegen ihres kaputten Knies und die zwei Wochen tot in ihrer Wohnung lag, bis jemand es bemerkte („der Geruch, verstehen Sie, Thiel?“ – und das ist der Moment, ab dem Thiel weghört, weil die Frikadelle auf seinem Teller plötzlich nur noch wenig appetitlich wirkt).
Vermutlich ist es kein Notfall, wenn Thiel den Schlüssel dazu benutzt, sich in Boernes Wohnung zu schleichen und den Zwiebelschneider klammheimlich zurück an seinen Platz in der Küchenschublade zu legen. Und vermutlich ist es auch kein Notfall, wenn er dabei eine Packung Kaffeefilter mitnimmt, weil seine eigenen schon wieder leer sind.
Für Thiel fällt das unter ausgleichende Gerechtigkeit.
Neben dem Zwiebelschneider gibt es in Boernes Küche so einige praktische Gegenstände, bemerkt Thiel. Zum Beispiel den Eierkocher. Eigentlich hat Thiel ja einen eigenen Eierkocher, aber Boernes Eierkocher ist neu und hat vierzehn Kochprogramme und verliert kein Wasser und wenn die Eier fertig sind, dann ertönt in zarten Tönen die Frühlingssonate von Beethoven. Eines Sonntags, es ist halb sieben in der Früh, schreitet Thiel zur Tat und schleicht auf Zehenspitzen in Boernes Küche. Als er sich umdreht, den Eierkocher unter Arm, steht Boerne in der Tür, noch im Morgenmantel und mit verschlafenen Augen.
„Für mich bitte nur weich gekocht“, sagt er und lässt sich auf den Küchenstuhl fallen, „ich mag keine hartgekochten Eier.“
Vorsichtig stöpselt Thiel den Eierkocher wieder an die Steckdose an.
Seitdem frühstücken sie häufiger zusammen, mal hier, mal drüben, aber so richtig wird das Thiel erst bewusst, als er eines Tages seine Lieblingstasse nicht mehr findet, die St. Pauli-Sammeltasse mit dem angeklebten Henkel. Er sucht in der Küche, auf dem Couchtisch, auf dem Schuhschrank neben der Wohnungstür, und an den üblichen Tassenversammlungsplätze, bis ihm einfällt, dass die Tasse ja bei Boerne in der Spülmaschine steht. Vielleicht sollte er sich eine zweite Lieblingstasse zulegen: für jede Wohnung eine.
Boernes Wohnung ist ein perfektes Spiegelbild von Thiels Wohnung. Nicht in der Einrichtung, nicht in der Ausstattung, aber der Grundriss ist derselbe. Die Küche liegt vorne, zur Straße hin, und wo bei Thiel der Kaffeekocher steht, bewahrt Boerne Salz und Pfeffer auf. Zum Bad kommt man, wenn man sich hinten rechts hält – Thiel kann sich nicht damit anfreunden, dass Boerne die frischen Handtücher im Flur aufbewahrt und nicht im Bad selbst (was viel logischer wäre). Hinten links ist das Schlafzimmer, aber da war Thiel noch nie und deswegen kann er nicht sagen, ob Boernes Bett an der gleichen Stelle steht wie sein eigenes.
Manchmal wünscht sich Thiel, dass sie darüber reden. Dass Boerne darüber witzelt oder eine Bemerkung macht, ganz gleich wie verschlüsselt sie sein mag. Längst waschen sie die Wäsche des anderen oder tauschen füreinander kaputte Glühbirnen aus. Tun Nachbarn normalerweise so etwas? Es macht vieles leichter. Thiel muss nicht mehr tagelang für eine Waschmaschinenfüllung sammeln, und beim Einkaufen eröffnet sich eine ganz neue Welt, mit Familienpackungen, XXL-Paketen und Kauf-Zwei-Bezahl-Eins. Die Wohnung wirkt weniger leer, wenn man gemeinsam frühstückt oder zu Abend isst oder einfach nur nach Hause kommt und die vielen kleinen Dinge bemerkt: dass der Fernsehsessel verschoben wurde, das Geschirr gespült ist oder im Kühlschrank ein Stück Butter fehlt. Vielleicht ist es dann, nach all diesen Dingen, nur logisch und unabdingbar, dass Thiel eines Nachts nach Hause kommt und Boerne in seinem Bett schläft. Thiel ist zu erschöpft, um sich darüber aufzuregen. Er kramt Boernes Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche, schleppt sich in die Nachbarwohnung und fällt dort ins Bett. Im Grunde ist es ja egal, wo er schläft, hier oder drüben. Boernes Bett ist weich und bequem, es ist frisch bezogen und riecht gut, und nach dem anstrengenden Tag schläft Thiel wie ein Stein.
Als er am nächsten Morgen aufwacht, scheint die Sonne ins Zimmer. Boerne steht vor dem Spiegel und bindet seine Krawatte. „Guten Morgen“, sagt er und lächelt Thiel im Spiegel zu. Thiel lächelt zurück.
Vielleicht sind auch all die anderen Sachen, die sich verändern, logisch und unabdingbar. Vielleicht ist es logisch, dass Thiel eines Nachts neben Boerne ins Bett kriecht und dort einschläft. Das Bett ist schließlich groß genug für zwei. Vielleicht ist es auch logisch, dass Boernes Füße in manchen Nächten Thiels Beine streifen, dass Thiel sich herumdreht, dass Boernes Hände plötzlich auf seiner Haut sind und sie sich gegenseitig berühren, bis sie schließlich einschlafen können. Vielleicht sind all diese Dinge völlig logisch, aber Thiel kommen sie nicht so logisch vor. Er braucht das alles nicht: keinen Lover, keinen Busenfreund und auch keine Ehefrau, und er will das nicht für Boerne sein. Aber manchmal liegt er nachts wach und wünscht sich, es wäre anders: dass sie mehr füreinander sind als bloß Nachbarn, dass Boerne ihm Dinge ins Ohr flüstert, während er ihn berührt, dass sie sich danach festhalten und in der Dunkelheit Geheimnisse teilen.
Aber darüber reden sie nicht und wenn sie schließlich einschlafen, dann tun sie es Rücken an Rücken, jeder auf seiner Seite des Bettes, die Blicke voneinander abgewandt wie zwei perfekte Spiegelbilder.