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Ein Haus muss funktionieren

Summary:

„Adam, du kannst nicht die ganze Zeit im Hotel leben. Du brauchst doch- du brauchst doch irgendwas. Irgendwas, wo du heimkommen kannst.“
Leos Stimme ist bewusst leise und Adam wirft einen Blick aus dem Fenster, sieht zu, wie Saarbrückens Straßen an ihnen vorbeifliegen.
„Ja, okay“, sagt er zur Scheibe.
„Schön“, antwortet Leo.
Adam ist kotzübel. Er will kein Eigenheim. Er will keine Wohnung. Das sind alles nur Sachen, die zwischen ihm und einem schnellen Abgang stehen. Alles Sachen, die sich an ihn klammern und ihn festzurren.
________

Heide verkauft das Haus. Adam kauft eine Wohnung und muss sich damit auseinandersetzen, was ein Zuhause ist.

Notes:

Disclaimer: Ich habe noch nie eine Wohnung gekauft. Oder einen Mord ermittelt. Also sorry für etwaige Lücken im Plot :)

(See the end of the work for more notes.)

Chapter 1: Kapitel 1

Chapter Text

„Ich verkaufe das Haus.“ Seine Mutter malträtiert ein unschuldiges Salatblatt mit den Zinken ihrer Gabel, während sie ihm den Satz vor die Füße wirft. Den Blick hält sie gesenkt. 

„Okay. Mir scheißegal“, erwidert Adam schließlich. Der Salat, der sowieso nur mit den nötigsten Zutaten gewürzt ist, schmeckt auf einmal noch viel mehr nach Pappe zwischen seinen Zähnen. 

„Du bist nicht sauer?“ Die Stimme seiner Mama ist ganz klein, und Adam spürt es kurz hochkochen, weil sie so erbärmlich klingt, doch dann schluckt er diesen ersten Gedanken hinunter und zwingt sich, ganz ruhig den Kopf zu schütteln. 

„Ich dachte nur… Naja. Es gehört ja auch irgendwie dir.“ Seine Mutter sagt das, als wäre es etwas Gutes. Adam kann nicht anders, er schnaubt ein trockenes, fassungsloses Lachen aus. 

„Du würdest natürlich die Hälfte des Geldes bekommen. Nur, dass du‘s weißt.“ 

„Passt schon.“ Die Teller sind neu; cremefarben mit blau-gelber Musterung. Sowas wäre seinem Vater nie ins Haus gekommen. Und so richtig passen sie auch nicht in diesen Sarg aus Sichtbeton. Adam starrt auf die kleinen Blumen, die seinen Salat rahmen.

Adam.“ 

Ja, okay. Wenn‘s sein muss.“ 

„Es ist dein Erbe. Es steht dir zu.“ 

Adam lässt die Gabel sinken, als eine Welle der Übelkeit einen Schauer über seinen Rücken jagt. Das Scheppern, als das Metall auf den Teller knallt, ist ein bisschen zu laut für ihre schweigsame Zweisamkeit. 

„Und wohin gehst du dann?“, fragt er. 

„Zu Tante Ineke. Nach Hamburg. Die hat ja zu viel Platz, seit der Werner gestorben ist.“ 

Adam nickt, nimmt es still zur Kenntnis, dass seine Mutter so weit weg zu ihrer Schwester zieht. Irgendwie wird sie dann wahrscheinlich doch fehlen, aber er kommt nicht umhin, auch ein bisschen erleichtert zu sein, dass er nicht ständig auf sie aufpassen muss. 

„Und du?“ 

Adam hat gehofft, dass sie diese Frage nicht stellen würde, weil er, wenn er ehrlich mit sich selbst ist, keine Antwort darauf hat. Er wohnt jetzt schon viel zu lange wieder in einem abgefuckten Hotel, das den Namen kaum verdient. Aber bisher war’s okay. Keine Möbel, keine Verpflichtungen, keine bindenden Verträge. Das ist gut. Da fühlt er sich nicht so mit dem Rücken an die Wand gedrängt. 

„Ja, keine Ahnung. Muss mir mal was suchen“, murmelt er ausweichend und wirft dann einen beabsichtigt auffälligen Blick auf seine kleine digitale Armbanduhr. Es funktioniert sogar. 

„Musst du los?“, erkundigt sich seine Mama, woraufhin Adam Bedauern mimt und nickt. 

Sie räumen die blumigen Teller zusammen, und seine Mutter erzählt noch irgendwas über Makler und Immobilienfirmen und Preisschätzungen, wovon Adam einfach nur ziemliche Kopfschmerzen bekommt. Die Möbel müsse man verkaufen, außer er wolle irgendetwas mitnehmen – sie hätte keinen Platz dafür, versteht sich. Adam brummt nur abweisend und sieht sich um. Auf einigen dieser Möbel klebt wahrscheinlich noch irgendwo sein Blut, von damals, als sein Vater ihn dagegen geschleudert hat. Also eher nicht. 

Als er in sein Auto steigt, weiß er kurz nicht, wohin er fahren soll. Alles, was bisher Zuhause war, fängt an, langsam wegzubröckeln. Adam treibt ziellos durch endlose Weiten, kein Ankerplatz in Sicht. Es sollte ihn wahrscheinlich kümmern, aber tatsächlich fühlt er sich, als könne er das erste Mal seit Jahren wieder richtig aufatmen. Kein Zuhause mehr. Das ist schön, das ist das, was er sich immer gewünscht hat. 

Als er den Schotterweg Richtung Straße hinauf rollt, klatscht ihm trotzdem ein Schwall Traurigkeit gegen sein Hirn, mit solcher Wucht, dass sich seine ganze Brust plötzlich beklemmend anfühlt. Du bist vogelfrei, sagt diese Traurigkeit. Pass auf, dass du nicht abhebst und nie wieder landest. 

Adam tritt aufs Gas. 

 

***

 

Leo schenkt ihm Kaffee ein, als er ihm seine Tasse hinschiebt. Dabei wirft er einen fragenden Blick auf Adam und zeigt kurz auf dessen Augenringe. 

„Gut geschlafen?“, erkundigt er sich leise. 

„Gar nicht“, murmelt Adam zurück und sieht bittersüßes Mitleid über Leos Gesicht huschen. Doch ihm bleibt keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, was das in ihm auslöst, denn Esther stößt mit dermaßen viel Karacho die Tür zum Büro auf, dass die Lamellenvorhänge an den Fenstern zittern wie Espenlaub. 

„Jungs, Leiche. Ist eigentlich eure“, verkündet sie. „Oder sollen Pia und ich den Tatort übernehmen?“ 

Leo wirft einen zweifelnden Blick zu Adam. Adam zuckt nur müde mit den Schultern und versucht, so viel wie möglich von der widerlichen schwarzen Plörre von der Tasse in seinen Magen zu befördern, während Leo noch seinen Autoschlüssel sucht und seinen aktenübersäten Schreibtisch nach seinem schwarzen Notizbuch abtastet. 

„Alles gut. Wir fahren. Schickst du mir die Adresse, Esther?“ 

Leo entschwindet schonmal eiligen Schrittes, den Blick auf sein Handy gerichtet, während Adam beim Aufstehen kurz wankt, einen alarmierten Blick von Pia wahrnimmt, diesen ignoriert und Leo dann nachhechtet. 

Natürlich fährt Leo, und natürlich dauert es genau bis zum nächsten Kreisverkehr, dass Adam sich bezüglich seines Schlafmangels erklären muss. 

„Meine Mutter verkauft das Haus“, gibt er schließlich zu, weil es ja irgendwie doch keinen Sinn ergibt, jetzt einen auf bockig zu machen. Auch wenn das natürlich sein allererster Instinkt ist. 

Leo lässt unnötig viele Autos im Kreisverkehr an ihnen vorbeiziehen, bis er sich in eine Lücke schlängelt. 

„Okay. Und jetzt?“ 

„Ja, keine Ahnung und jetzt.“ 

Genervter Blick aus Fahrerseite. Hat er verdient. 

„Suchst du dir eine Wohnung? Oder ein eigenes Haus?“ 

Bei dem Gedanken an ein süßes kleines Eigenheim mit Vorgarten, Rasensprenger und passiv-aggressiven Nachbarn muss Adam ein bisschen hilflos lachen. Leo scheint nicht zu verstehen, was genau er daran so lustig findet, jedenfalls straft er ihn mit einem Blick, den Adam sonst nur kassiert, wenn er an irgendeinem Tatort mal wieder etwas enorm Unpassendes von sich gegeben hat. 

„Ja, vielleicht miet ich mir irgendwo so ’ne Einzimmerwohnung an.“ 

„Warum kaufst du nicht einfach? Lohnt sich doch viel mehr. Und ist eine gute Rücklage.“ 

Ja, natürlich denkt Leo an Rücklagen und die Zukunft. Über letztere hat Adam das erste Mal mit fünfundzwanzig nachgedacht, als ihm plötzlich klar geworden ist, dass er es ja tatsächlich lebend aus dem Bunker geschafft hatte, was im Umkehrschluss aber auch bedeutete, dass er sich jetzt echt mal einen Plan für sein Leben machen sollte. Aber warum hätte er auch Energie in Langzeitpläne stecken sollen, wenn er nichtmal wusste, ob er den nächsten Tag überleben würde. Und auch, wenn ihm jetzt nicht mehr ständig jemand im Nacken sitzt, ist es doch schwer, diese Eintagsfliegen-Gewohnheiten irgendwie abzuschütteln. 

„Ich weiß gar nicht, wie das geht“, meint er ausweichend und hofft, dass Leo das schluckt. Tut er natürlich nicht. 

„Da gibts so Immobilienwebsites, da kannst du dich anmelden. Ich hatte aber damals ’ne Maklerin.“ Leo macht brav einen Schulterblick, bevor er links abbiegt. „Dann sagst du der, was du dir so vorstellst und dann sucht die für dich Wohnungen raus.“ 

„Aha.“ 

Leo sagt erstmal nichts, aber Adam sieht, wie seine Fingerknöchel am Lenkrad ganz weiß werden vor Druck. 

„Adam, du kannst nicht die ganze Zeit im Hotel leben. Du brauchst doch- du brauchst doch irgendwas. Irgendwas, wo du heimkommen kannst.“ 

Leos Stimme ist bewusst leise und Adam wirft einen Blick aus dem Fenster, sieht zu, wie Saarbrückens Straßen an ihnen vorbeifliegen. 

„Ja, okay“, sagt er zur Scheibe. 

„Schön“, antwortet Leo. 

Adam ist kotzübel. Er will kein Eigenheim. Er will keine Wohnung. Das sind alles nur Sachen, die zwischen ihm und einem schnellen Abgang stehen. Alles Sachen, die sich an ihn klammern und ihn festzurren. 


Die Baustelle, an der die Leiche gefunden wurde, ist relativ gut gekennzeichnet durch die zwei Streifenwägen, die mit präziser Eleganz dermaßen scheiße geparkt haben, dass Leo keine Wahl hat, als sein Auto eine Straße weiter abzustellen. 

Adam schlurft Leo hinterher, die Müdigkeit noch immer tief in den Knochen, auch wenn der Kaffee ihm jetzt gnädigerweise immerhin ein bisschen Herzrasen verpasst hat. 

Sie folgen dem Team an weißen SpuSi-Gestalten und stoßen schon bald auf Henny, die zusammen mit einem Streifepolizisten in eine Grube lugt. Bei näherer Betrachtung verstehen sie auch, wieso: Am Boden besagter Grube liegt ihre Leiche auf dem Bauch in einem See aus Beton. Der Kopf ist zur Seite gedreht, sodass sie das Profil eines Mannes Mitte 40 ausmachen können.

„Oh, fuck“, entfährt es Adam. 

„Entschuldigen Sie mal!“, weist Henny ihn streng zurecht. „Aber ja. Schön ist was anderes.“ 

„Haben Sie schon irgendwas?“, erkundigt sich Leo. Henny schüttelt den Kopf. 

„Wir warten noch auf die Betonsäge. Anders bekommen wir den da nicht raus.“

„Nichtmal ’nen Namen?“, murrt Adam und kassiert schon den zweiten pikierten Blick von Henny. Egal. 

„Dazu wollte ich gerade kommen. Das Portemonnaie ist leider auch dem Beton zum Opfer gefallen, aber einer meiner Leute hat den guten Mann aus der Zeitung erkannt. Markus Lohnemann. Das ist der Bauunternehmer, der auf diese ganze Fläche“, sie deutet einmal vage auf das Areal, „mehrere Wohnblocks hinklatschen will. Also, wollte.“ 

„Und warum war der in der Zeitung?“, hakt Leo nach und Adam beobachtet, wie seine Augen von den halbfertigen Rohbauten zurück in die Grube vor ihnen huschen. Er hält sein Notizbuch gezückt und als Henny erneut ansetzt, flitzt bereits ein Stift über das Papier. 

„Da gab’s wohl ein paar Demos dagegen. Davor war da drüben ein Park und hier einige Einfamilienhäuser. Denen wurden aber allen ziemlich hohe Abfindungen gezahlt, damit sie die Häuser verkaufen und die dann abgerissen werden konnten. Der Park ist logischerweise auch Geschichte.“

„Also wahrscheinlich gar nicht so beliebt, der Typ“, stellt Adam fest. 

„Eher nicht. Ein Unfall war es nämlich nicht. Also selbst von hier oben kann ich eine Wunde am Hinterkopf erkennen.“, erklärt Henny. „Ihr kriegt sofort alle weiteren Infos, sobald ich den hier auf dem Tisch hatte. Das kann allerdings noch eine Weile dauern.“ 

„Danke, Henny.“ Leo schenkt ihr ein warmes, nur latent gestresstes Lächeln und wendet sich dann ab, um den Weg zurück zum Auto einzuschlagen. Adam dackelt hinterher, froh, dass er einfach Leos Schritten folgen kann, ohne sich Gedanken über mögliche Fehltritte machen zu müssen. 

 

*** 

 

„Alles klar. Mittlerweile bestätigt, Markus Lohnemann, 53, eine Vorstrafe wegen Steuerhinterziehung. War auf Bewährung, hat durch den Prozess aber finanziell ziemliche Einbußen gemacht.“ Tack, Leo heftet ein Bild ihres Opfers mit einem Magneten an die Wand im Büro. 

„Esther, du hörst dich mal bei den Demonstranten um, die gegen das Bauprojekt protestiert haben. Pia, schau mal nach, ob von den ehemaligen Hausbesitzern irgendwer was gegen die ganze Abriss-Aktion hatte.“ 

„Fast garantiert, oder?“, schießt Pia trocken zurück. Leos Stirnrunzeln quittiert sie mit einem Gähnen und einem leisen „Sorry. Müde“.

„Adam und ich statten jetzt mal der Familie Lohnemann einen Besuch ab. Vielleicht wissen die ja, ob er sonst noch Feinde hatte.“ 

Adam verkneift sich den Kommentar, dass Lohnemann nach einem ziemlich groben Arschloch aussieht und wahrscheinlich mehr Feinde hatte, als morgens Leute vor dem Bäcker anstanden. 

„Ich hol mir noch kurz ’nen Kaffee“, seufzt er stattdessen. 

Der Kaffee läuft mit nervenaufreibender Langsamkeit in den windigen kleinen Pappbecher, und riecht dabei auch noch elendig verbrannt. Adam starrt trotzdem auf den dunklen Strahl, hauptsächlich, um Leos Blick auszuweichen, der sich neben ihm an den Automaten gelehnt hat und dem irgendwas auf der Seele zu liegen scheint. 

„Ich hab meiner Maklerin geschrieben.“ 

Aha. Daher weht der Wind. 

„Okay“, gibt Adam zurück und verbrennt sich die Finger, als ihm beim Rausziehen des Bechers ein Schluck der heißen Plörre über die Finger schwappt. 

„Sie hat gesagt, sie hat ein paar Ein- bis Zweizimmerwohnungen parat, die sie dir zeigen könnte. Ich hab ihr deine Nummer gegeben, ich hoffe, das war okay.“ 

Adam hasst es, wie schrecklich effektiv Leo beizeiten ist. Er klemmt seine Zunge in seine Wange und beißt fest zu, bis er meint, Blut schmecken zu können. 

„Ja, danke“, würgt er schließlich hervor. 

„Ich kann auch mitkommen. Also, falls du irgendwas besichtigen willst.“ Als Adam ihn nur entsetzt mustert, schiebt Leo eine etwas leisere, schneller Erklärung hinterher. „Ja also, ich meine, ich hab den ganzen Mist ja schon hinter mir. Ich hab so viele Ratgeber gelesen, ich weiß jetzt, worauf man achten muss.“ 

„Na toll“, sagt Adam und rümpft die Nase – teils wegen Leos seltsam fehlplatzierten Nestverhaltens, teils, weil der Kaffee, genau wie erwartet, absolut beschissen schmeckt. „Lass mal fahren.“ 

 

***

 

Adam liegt in seinem Hotelbett und starrt die Decke an. Über sich hört er das Rauschen von Wasser in der Leitung, weil jemand duscht. Das Zimmer mieft ziemlich, nach Plastik, Teppichboden und Holz, das keines ist. Irgendwie ist es beruhigend, wie kaputt hier drin alles ist. Der Schrank schließt zum Beispiel nicht richtig. Das Fenster klemmt, und Adam kugelt sich immer fast die Schulter aus bei dem Versuch, es zu schließen. Die Lüftung ist zu laut. Den Spiegelschrank im Badezimmer darf man nicht öffnen, weil einem sonst die Tür entgegenfällt. Der Abfluss ist sowieso eigentlich immer verstopft. Da ist ein sehr großer Fleck im Teppich am Fußende des Bettes, von dem Adam ziemlich sicher ist, dass er über die Zeit größer geworden ist. 

Im Bunker wurden kaputte Sachen immer direkt aussortiert. 

Was nützt ein Gebrauchsgegenstand, wenn er zu nichts zu gebrauchen ist? 

Adam dreht sich mit einem leisen Raunen zur Seite und schlägt die Decke zurück, weil das Hotel natürlich auch total schlecht isoliert ist und sich die ganze Sommerhitze den Tag über durch die Wände gepresst hat. 

Sein Kopf dröhnt, seit Leo und er am Nachmittag die Familie Lohnemann befragt haben. Die Frau ihres Opfers war erstmal total aufgelöst gewesen, aber nur für ein paar Minuten, dann hatte sie sich kurz entschuldigt und war mit einem steifen Lächeln zurückgekommen. Ja, ihr Mann hätte Feinde gehabt. Die letzten Monate hätte er Drohbriefe erhalten. Ob sie die gemeldet hätten? Nein, ihr Mann sei nicht der Typ gewesen, der wegen jeder Kleinigkeit gleich zur Polizei rennt. An der Art und Weise, wie Leos Finger seinen Stift umklammert hatten, hatte Adam ablesen können, wie sehr dieser sich dabei zusammenreißen musste. 

Am Schluss hatten sie sich die Briefe übergeben lassen und diese bei der SpuSi abgeliefert – vielleicht ließen sich da ja noch ein paar Fingerabdrücke abziehen. Oder vielleicht war das seltsam bedruckte blaue Briefpapier ein Indiz auf den Täter. Die Briefe, vier insgesamt, stimmten rein inhaltlich auch miteinander überein: Jeder irgendeine Version von „Du weißt, was du getan hast und du wirst dafür zahlen“. 

„Hm. Frustrierend unpräzise“, hatte Esther im Präsidium kommentiert und ihnen ihre Erkenntnisse aufgetischt: Zwei der Demonstrierenden waren schonmal wegen Sachbeschädigung mit der Polizei in Kontakt gewesen, der Rest war ansonsten nicht weiter auffällig. Die beiden hatte sie befragt und war mit wasserdichten Alibis konfrontiert worden. Pias Befragung der ehemaligen Hausbesitzer lief noch, aber die, die sie bisher kontaktiert hatte, befanden sich seit zwei Wochen im Urlaub auf den Bahamas, was einen nächtlichen Mord in Saarbrücken doch relativ unwahrscheinlich machte. 

Leo hatte sie anschließend allesamt nach Hause geschickt, in der Hoffnung, dass Henny ihnen morgen mit neuen Erkenntnissen aus der Gerichtsmedizin aushelfen würde. 

Auf der Fahrt ins Hotel hatte Adam vor lauter Kopfschmerzen fast rechts ranfahren müssen, hatte es dann aber doch noch geschafft, sich mit zusammengekniffenen Augen in das kleine Zimmer zu schleppen und auf dem Bett zusammenzubrechen. 

Eineinhalb Ibus später waren die Kopfschmerzen dann einem dumpfen, trägen Pulsieren hinter seiner Stirn gewichen, und er war kurz eingedöst, nur um um ein Uhr nachts schweißgebadet wieder hochzuschrecken. 

Gott, ist das warm. 

Seine Augen protestieren, als er sich das grell leuchtende Handy direkt vor die Fresse klemmt und seine Chats aufruft. Viele sind es nicht. Leo, Pia, seine Mutter, irgendein Grindr-Typ, dem er in einem Anfall von Romantik seine Nummer gegeben hat und den er seitdem gekonnt ignoriert, weil der es gewagt hatte, nach seinem Tag zu fragen. 

Da ist ein neuer Chat, unbekannte Nummer. Sieben Nachrichten. Adam presst halb blind auf den Bildschirm. 

Hallo, hier ist Maria Leibich von Leibich Immobilien! Herr Hölzer hatte mir Ihre Nummer weitergeleitet. Ich war so frei, mich nach Wohnungen für Sie umzusehen. Sagen Sie mir gerne, ob Sie eine davon interessiert, dann können wir einen Termin für eine Besichtigung ausmachen. 

Dann sechs Links zu irgendwelchen leeren Wohnungen. 

Wahllos und mit Bauchschmerzen klickt Adam sich durch die Inserate, bis es ihm fast hochkommt. 

Wieder und wieder tippt und löscht er ein- und dieselbe Nachricht, bis er es dann doch wagt, auf Senden zu drücken. 

Einfach aus Reflex wechselt er danach in seinen Chat mit Leo. Der besteht hauptsächlich aus Nachrichten von Leo, die sich danach erkundigen, wie es ihm geht und ob alles okay ist, worauf Adam stets gewohnt schlagfertig antwortet. Sprich, gar nicht. 

Aber jetzt gerade ist er so unruhig und aufgekratzt, dass er sich überwindet. 

Ich hab der Maklerin geantwortet. Kannst du dann mitkommen?

Es ist fast beunruhigend, wie schnell Leo antwortet. Es ist mitten in der Nacht, verdammt. Einerseits ist Adam irgendwie sauer, andererseits sammelt sich eine angenehme Wärme in seinem Bauch, die die Stresskrämpfe dort ein wenig lindert. 

Klar. Und, weil es Leo ist, noch ein Daumen hoch hinterher. 

Adam denkt sich das Dankeschön, schaltet sein Handy aus und lässt es neben sich auf den Boden donnern. Dann strampelt er die Decke mit den Beinen in die Ecke seines Betts und windet sich noch einige Male gequält hin- und her, bevor er wieder in einen unruhigen Schlaf absackt. 

Chapter 2: Kapitel 2

Summary:

Adam und Leo befragen einen Zeugen und Adam hat eine kleine Krise.

Notes:

Conni hat Commitment Issues :) Und ich habe immer noch keinen Plan vom Wohnungskauf!

Chapter Text

Der neue Tag bringt einen dampfigen Regenschauer, eine ausführliche, aber nicht weiter hilfreiche Mail von Henny und Terminvorschläge von Leos Maklerin. Addiert man das alles, summiert es sich zu einem neuen Anfall von Kopfschmerzen bei Adam. 

„Ich bin gestern noch die übrigen Hausbesitzer durchgegangen“, erklärt Pia. Es folgt ein besorgter, aber dankbarer Blick von Leo. „Und?“

„Einer von denen hat sich wohl ziemlich gesträubt. Hat eine Gegenklage nach der anderen eingereicht, sich geweigert, die Abfindung anzunehmen. Die haben aber immer mehr Geld draufgelegt, und am Ende ist er dann doch eingeknickt. Zu hohe Anwaltskosten. Meinrad Werkner heißt der. 84.“ 

„Die haben einfach einen alten Mann aus seinem eigenen Haus geworfen?“ Esthers Ton lässt keine Zweifel daran zu, was sie von der ganzen Aktion hält. 

„Immobilienhai halt“, entgegnet Pia mit einem Schulterzucken. „Der Werkner wohnt immer noch in Saarbrücken, hat sich von dem Geld eine eigene Wohnung gekauft.“ 

„Schickst du mir die Adresse? Dann fahren wir da mal hin.“ 

Adam blickt von der Akte auf, durch die er sich gerade quält. Sein Finger ist blau, weil da der Kuli durchgesuppt hat. Er hatte irgendwie gehofft, heute nicht das Büro verlassen zu müssen. Auch, wenn er es ziemlich süß findet, wie Leo ihn voller Tatendrang durch die Gegend scheucht. 

Kaum, dass die Nachricht auf Leos Handy aufleuchtet, muss der auch schon grinsen. „Ach. Heimspiel. Das ist bei mir um die Ecke.“ 

 

***

 

Schon als der alte Mann die Tür öffnet, weiß Adam: Der war’s nicht. Er zieht ein kleines Wägelchen hinter sich her, dessen Mechanik ein wenig ächzt und fiept, und auf dem eine Flasche Sauerstoff festgeschnallt ist. Ein Schlauch verläuft unter seine Nase entlang, und er klingt permanent heiser, als er Leos Fragen zu Lohnemann beantwortet. Ab und zu hält er inne, um Luft zu holen. Leo bleibt geduldig und betont neutral, als der Alte ein röchelndes Lachen auslässt, nachdem er von Lohnemanns Ableben erfährt. Hat er ihn gehasst? Sicherlich. Aber das hat ja jeder. Sogar die eigenen Arbeiter, wenn man den Gerüchten glauben darf. 

„Inwiefern?“, erkundigt sich Leo. 

Das ist der Moment, in dem der Alte sie in seine Wohnung bittet, weil ihm die Puste ausgeht. Sie schieben sich durch einen engen Gang und folgen Werkner in ein Wohnzimmer, das vollgestellt ist mit seltsamem Krimskrams. Wahrscheinlich musste er nach dem Umzug zu viel Zeug in eine zu kleine Wohnung zwängen: Hölzerne Nussknacker-Figuren scheinen ein großes Thema in seinem Leben zu sein, genau wie winzige Nähmaschinen-Messingfiguren. Adam weiß ganz genau, wie furchtbar Leo so altbackenes Zeug findet. Leo ist mehr so der Typ für energieeffiziente LED-Lampen, Höffner-Wohnlandschaften und Topfpflanzen. Nicht die aus Plastik, echte. 

Adam hat sich noch nicht näher mit Einrichtungsdingen oder Feng Shui auseinandergesetzt, alle seine Wohnungen bisher bewusst möbliert gewählt (oder eben gar nicht, siehe Hotel), aber er findet es eigentlich ganz schön, wenn Dinge Charakter haben. Ab und zu kauft er gesplitterte Tassen auf dem Flohmarkt, die sonst keiner haben will. Kann ja die Tasse nichts für, wenn sie jemand kaputt macht. Dann muss man eben ein bisschen aufpassen beim Trinken.

Leo und Adam lassen sich auf zwei Holzstühlen nieder, deren Sitzpolsterung sich an den Ecken aufzulösen beginnt. 

„Ich war danach noch ein paar Mal an der Baustelle. Bis mein Haus abgerissen wurde, wissen Sie. Das macht was mit einem, wenn man Jahrzehnte irgendwo verbracht hat, und dann ist es plötzlich weg.“ 

Leo sieht mit erhobenen Augenbrauen zu Adam, der sich ein Augenrollen verkneift. Schon verstanden. 

„Und da haben Sie was mitbekommen?“, erkundigt Adam sich. Der Alte nickt. 

„Eines Tages gab’s ein riesiges Drama, weil wohl einer von den Arbeitern verunglückt ist. Viel hab ich nicht gesehen, aber danach haben die wohl ziemlich geschimpft über den Lohnemann-Deppen.“ 

„Gut, vielen Dank. Das hilft uns schon enorm weiter. Wir hätten nur noch eine Frage-“

„-Wo waren Sie in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch?“, unterbricht Adam. Leo tritt ihm unter dem Tisch sacht gegen das Schienbein. Es tut nicht weh, und die Tatsache, dass Leos Fuß danach dort verharrt, ist sowieso besser als jede Heilsalbe. 

„Im Krankenhaus“, hustet Werkner, und irgendwie glauben sie ihm das sogar. 

Bevor sie sich verabschieden, bemüht Adam noch die Toilette des Alten, die sich, gelinde gesagt, durch eine recht kreative Architektur auszeichnet. Außerdem liegen überall Muscheln und Glasflaschen voller Sand. Bisschen grässlich, aber auch bisschen herzerwärmend. Adam lässt eine Muschel mitgehen. 

Zurück im Auto lässt Leo einen tiefen Seufzer los, der sich in Adams Knochen schlängelt und sich dort festsetzt. 

„Also der war’s nicht“, meint Adam unnötigerweise. Die Muschel in seiner Jackentasche bohrt sich in das weiche Fleisch an seinem Bauch, als er sich tiefer in den Sitz sinken lässt. 

„Stimmt. Aber immerhin haben wir einen anderen Anhaltspunkt.“ 

Kurz breitet sich Schweigen im Auto aus, weil Leo es vor sich her zu schieben scheint, aufs Gaspedal zu drücken. Stattdessen zieht er sogar wieder die Handbremse an und dreht sich zu Adam. 

„Hast du schon einen Termin mit Maria ausgemacht?“ 

Kurz ist Adam verwirrt, bis ihm einfällt, dass die Maklerin ja so heißt. 

„Äh, ja. Samstag Vormittag. Um neun.“ Leo nickt. Dann, fast ein bisschen schüchtern: 

„Soll ich immer noch mitkommen?“ 

Adam zieht die Muschel aus seiner Tasche, weil es allmählich unangenehm wird, und fährt mit den Fingern die Rillen nach. 

„Keine Ahnung. Wenn du willst.“ Die eine Rille ist ein bisschen tiefer als der Rest. „Ja, wäre nett“, murmelt er endlich. 

Plötzlich ist da nicht mehr nur seine Hand auf der Muschel, sondern auch Leos. Ruhige, warme Finger verhaken sich in seinen und lassen seine nervöse Fummelei zu einem abrupten Halt kommen. 

„Klar will ich. Am Ende landest du noch in irgendeiner Bruchbude.“ 

Adam fühlt sich selbst manchmal wie eine Bruchbude, aber das sagt er jetzt mal lieber nicht. Nicht jetzt, wo Leos Finger zwischen seinen liegen und für einen kleinen Moment mal kurz alles gut ist. 

Irgendwann müssen sie aber doch losfahren. 

Zum Glück ist der Rest des Tages vollgestopft mit Recherchen zu dem Unfall an der Baustelle, und Adam darf einfach mal das genießen, was zu seinen liebsten Anblicken gehört: Leo, der ihm gegenüber sitzt und einfach da ist. 

 

***

 

Als Adam Leo in dessen kleinem Flur gegenübersteht, weiß er nicht so richtig, wohin mit sich. Er war schonmal hier, ein, zwei Mal, als er Leo abgeholt hat. Über den Flur hat er es nie hinausgeschafft. Aber selbst der schreit schon „Leo“. Da hängen seine Jacken, da stehen fein säuberlich aufgereiht seine Schuhe, da hängen seine Schlüssel an einem Schlüsselbrett, sowie der Chip für das Fitnessstudio, in dem Leo wahrscheinlich einen Vertrag bis an sein Lebensende abgeschlossen hat. 

„Magst du was trinken?“, fragt Leo und entschwindet nach links in die Küche. Adam kickt sich die Sneaker von der Füßen. Einer landet sogar bei den übrigen Schuhen, der andere schlittert durch die offene Tür in die Küche. 

„Was hast du denn?“, fragt Adam und beeilt sich, seinen Schuh ungesehen aufzuräumen. 

„Wasser, mit und ohne Sprudel, Multivitamin, O-Saft, äh, so veganen Cola-Sirup und Weißwein. Der ist aber ganz schön trocken.“ 

Adam weiß nicht, wann er das letzte Mal etwas anderes als eine einzelne Dose Red Bull auf dem Zimmer hatte. Unter anderem deswegen, weil der winzige Kühlschrank in seinem Hotelzimmer schon seit Wochen defekt ist. „Wasser klingt super. Still.“ 

Ihm wird das Wasser in einem Weinglas in die Hand gedrückt, das bestimmt teuer war, und Adam muss daran denken, wieviele von den Dingern er seit dem Spülen in diversen Barkeeper-Jobs in Berlin schon auf dem Gewissen hat. Einmal, mit 19, hat er sich an den Scherben die halbe Hand blutig geschnitten und musste in die Notaufnahme. Samstagnacht, Notaufnahme in Berlin mit ein paar oberflächlichen Schnitten. Die Ärztin hat sich scheckig gelacht. Genäht hat sie ihn trotzdem. 

Das Wasser ist seltsam lauwarm, aber das ist Adam ja aus dem Hotel gewohnt.  

Leo schenkt sich zur Feier des Tages ein Glas Wein ein. Adam fragt sich, mit wem er die Flasche angebrochen hat. Bestimmt ist das jemand nettes, lockeres, ohne eine komische Vorgeschichte mit Alkohol jeglicher Art. Er spült diesen Gedankengang mit einem Schluck seines lauwarmen Wassers hinunter. 

Anschließend legt Leo eine fast schon perverse Gastfreundschaft an den Tag und schneidet Gurken, Paprika und Karotten in Streifen, richtet diese fein säuberlich auf einem Teller an und ergänzt das Ganze durch einen Dip. Adam muss ein bisschen lachen. 

„Was?“ 

„Dip? Ernsthaft?“ 

Leo scheint nicht zu verstehen, warum Adam das so komisch findet, und nach kurzer Überlegung versteht Adam es eigentlich auch selbst nicht mehr. 

Er trottet Leo hinterher in dessen Wohnzimmer, und sie lassen sich auf einer von Topfpflanzen gesäumten Couch nieder. Leos Oberschenkel berührt Adams, als er seinen Wein auf dem Couchtisch abstellt, und wenn das schon toll war, dann wird es jetzt noch besser, denn Leos Hand kommt irgendwie auf Adams Bein zum Liegen, weil er den Teller mit dem Gemüse und dem Dip festhalten muss. 

„Jetzt zeig mal her.“ 

Gehorsam fummelt Adam sein Handy hervor und hält Leo den Chat mit Maria Leibich unter die Nase. 

Mit gerunzelter Stirn scrollt Leo sich durch die Links, während er voller Konzentration auf einer Karotte herumkaut und Adam das Handy irgendwann abnimmt. Adam betrachtet ihn von der Seite, in diesem Raum, der nach Leo aussieht und nach Leo riecht und schmeckt, und plötzlich ist da wieder diese Stimme, die er sonst eigentlich ganz gut im Griff hat, und die ihm sagt: Küss ihn doch einfach. 

Adam schiebt es darauf, dass Leo gerade einfach sehr küssbar aussieht: ein bisschen verstrubbelt, ein bisschen verschlafen, irgendwie weicher an den Rändern, entspannter als im Büro. Natürlich fängt die hauseigene Kopfkino-Produktionsfirma da an, Bilder vom gemeinsamen Aufwachen und Frühstücken und Mehr auf seine innere Leinwand zu projizieren. 

„Die ist schön“, meint Leo und hält Adam das Handy hin. Stimmt. Schön ist sie. 

„Aber ist die nicht ein bisschen groß?“ 

Leo zieht die Augenbrauen hoch. „Du bist wahrscheinlich der erste Mensch, der sich darüber beschwert, dass eine Wohnung zu groß für ihren Preis ist.“ 

Adam schiebt die Unterlippe vor. „Ja, aber, ist doch wahr. Ich hab ja eh nichts. Was soll ich denn mit so vielen Zimmern?“

„Es ist eine Dreizimmerwohnung, Adam, nicht das Saarbrücker Schloss. Und du kannst ja ein Zimmer als Gästezimmer benutzen.“ 

Adam will eigentlich keine Gäste, und er hat außer Leo auch gar niemanden, den er einladen könnte. Aber das sagt er nicht, sondern verbeißt sich nur wieder in seiner eigenen Zunge, bis Leo irgendwann aufgibt. 

„Ich mochte die“, merkt Adam schließlich an und klickt auf den fünften Link, den Maria ihm geschickt hat. Leo brummt missbilligend. Seine Hand brennt auf Adams Oberschenkel, sogar durch die Jeans hindurch. 

„Aber die Lage ist total scheiße. Und die hat keinen Aufzug, und Dachgeschoss ist sowieso immer kacke. Da stirbst du im Sommer. Vor allem in so ’nem Altbau.“ 

„Ja, okay, dann halt nicht.“ Adam weiß selbst, wie bockig er klingt. Leo lässt das Handy sinken und mustert Adam mit warmen Augen. Er sieht hinunter auf den Teller zwischen ihnen, den kaum angerührten Dip. Lehnt sich nach vorne, um die Schale auf dem Tisch abzustellen. 

Adam fängt grade an, die Finger auf seinem Bein zu vermissen, da spürt er plötzlich eben diese Finger an seinem Hinterkopf, wie sie ihm sanft durch die Haare kraulen. 

„Sorry“, sagt Leo, als würde er hier nicht gerade eigen- und einhändig Adams sorgfältig errichtete Mauern abreißen. „Soll ja dir gefallen. Wir können die schon anschauen.“ 

Adam schaut ihn nur an und ist plötzlich echt ein bisschen verzweifelt. Wie zur Hölle soll er Leo eigentlich nicht küssen? Seit er fünfzehn ist, schreit jede einzelne Zelle seines Körpers danach. Das ist hier gerade alles ein bisschen zu real und zu nah und schmeckt auch nach Jahren in Berlin und auf Grindr noch so widerlich bitter verboten. 

Oder vielleicht hat das auch alles nichts damit zu tun, sondern einfach damit, dass es Leo ist, der Adams Bruchbude zwar kennt, aber eben auch nicht alle Räume, und was, wenn er diese furchtbare Abstellkammer mit den ganz hässlichen Sachen sieht, die Adam so sorgfältig weggesperrt hat, und endlich checkt, wie ekelhaft Adam ist, und dann ist er schon wieder ganz allein. 

Das kann er echt nicht riskieren. 

Er duckt sich unter Leos Berührung davon und greift nach seinem Glas, in der Hoffnung, dass ihn das wieder ein bisschen im Hier und Jetzt verankert. 

„Naja, am Ende bist du hier der mit selbstgekauftem Eigenheim“, nuschelt Adam in sein Wasser, bevor er einen großen Schluck nimmt. Und dann noch einen. Und dann noch einen, bis das Glas leer ist. 

„Warum hast du dich da eigentlich so dran aufgehängt?“, fragt Leo und sieht ihn dabei an, als könne er direkt in Adams Seele gucken. Kann er ja auch, irgendwie. 

„Hab ich gar nicht“, erklärt Adam. Gerade wünscht er sich nichts sehnlicher, als den Rest von Leos Weinglas runterstürzen zu dürfen. 

„Genau, Adam. Ich bin doch nicht bescheuert. Du tust die ganze Zeit so, als wäre das ein Todesurteil. Es ist nur eine Wohnung.“ 

„Ach, keine Ahnung. Das ist alles so…erwachsen.“ 

„Du bist erwachsen, Adam.“ 

„Ach komm.“ Es fühlt sich nicht so an. Adam fühlt sich eigentlich permanent wie eine Eintagsfliege, die vor Jahrzehnten in einem Tropfen Harz einen Abgang hingelegt hat, und jetzt langsam zu einem Bernstein verkommt, auf ewig gefangen im Todeskampf. Eine Konservendose, und darin ein verängstigter Teenager, der es immer noch nicht schafft, über die eigene Zukunft nachzudenken. 

Leos Hand streichelt wieder sachte seinen Rücken auf und ab, und die sanften Berührungen lassen Adam fast aus der Haut fahren. Einerseits ist es schön, wie Leo mit ihm umgeht – als wäre er zerbrechlich, etwas Besonderes. Andererseits wünscht er sich nichts sehnlicher, als dass Leo ihn von sich stößt, gegen sein blödes Einbauregal vielleicht, und dass Adams Haut rot aufbricht und dass Leo ihn dann zu Boden schlägt und ihm sagt, dass er sowieso nichts wert ist und dass er aufhören soll zu heulen. Mit dieser Art von Liebe kann Adam nämlich umgehen. Das hat er trainiert. Da weiß er, wie der Hase läuft. 

Erneut windet er sich aus der Berührung heraus, und meint, so etwas wie Bedauern in Leos Augen erhaschen zu können. 

„Na gut. Also schauen wir Samstag dann einfach alle Wohnungen an?“ Leo verschränkt seine Arme vor der Brust. Also keine Chance auf noch eine Berührung. Adam versucht, sich einzureden, dass das okay ist. 

„Mal schauen.“ Zu sehr festlegen will Adam sich nicht, weil ein Teil von ihm immer noch mit dem Gedanken spielt, sowohl Maria als auch Leo einfach abzusagen. Und sich in den nächsten Zug zurück nach Berlin zu setzen, wenn er schon dabei ist. 

Adam hat heute kaum etwas gegessen außer Kaffee, darum wird ihm vor Müdigkeit und Koffein irgendwann vage schummrig, und als er das vorsichtig anmerkt, verbietet Leo ihm natürlich, nach Hause zu fahren. Stattdessen klappt er seine Couch zu einem kleinen Bett aus, bezieht einen Satz Bettwäsche und händigt Adam eine Zahnbürste aus. Warum hat Leo so viele Zahnbürsten? Darüber will Adam eigentlich gar nicht nachdenken. 

Er lässt sich von Leo auf die Couch bugsieren, und dann, weil er einfach so unfassbar fertig ist, vergisst sein Körper sogar seine übliche Abwehrreaktion, als Leo ihm noch einmal sanft durch die Haare fährt. 

Chapter 3: Kapitel 3

Summary:

Mordfall ist geklärt, jetzt hat Adam Zeit, sich mit Vermietern und Grindr-Geistern auseinanderzusetzen.

Notes:

Tipp: Recherchen zu Erben, Wohnungskauf etc. gerne tätigen BEVOR man eine 10k Geschichte dazu schreibt. naja

Chapter Text

Nachdem sie den Tipp des alten Werkners verfolgen, geht alles relativ schnell. Einer der freiberuflichen Handwerker gibt ihnen die Details zu dem Unfall: Lohnemann hatte an den falschen Ecken und Enden gespart, die Arbeiter bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit getrieben. Einer der Tischler war, schwindelig vom Sonnenstich, den er sich durch die Arbeit in der Mittagshitze zugezogen hatte, aus dem dritten Stock in eine Kreissäge gefallen. 

Als Esther den Bruder des Toten befragt, der ebenfalls auf der Baustelle arbeitet, knickt dieser fast sofort ein und gesteht unter Tränen, dass er Lohnemann für den Tod seines Bruders verantwortlich gemacht hat. Als der ihn also Dienstagabend auch noch angeraunzt hatte, waren ihm die Sicherungen durchgebrannt. Hammer lagen auf der Baustelle genug herum. Ein Hieb, ein frisches Betonfundament. Tja. 

Leo trägt mit vertraut verbissener Miene die Daten des Täters in die Akte ein. Das Hämmern der Tasten ist laut in ihrem stillen Büro – Esther und Pia hat Leo ins verfrühte Wochenende geschickt. Adam natürlich auch, aber der hat sich mit unglaubwürdigen Ausreden zurück in Leos Präsenz geschwatzt und sitzt ihm nun gegenüber, Fußspitze an Fußspitze unter dem Tisch, und quält sich durch irgendwelche Emails zu Verhandlungsterminen, die er von der Geschäftsstelle einer Richterin am Schwurgericht bekommen hat. 

„Steht das morgen noch?“, fragt Leo plötzlich, gefolgt von einem nachdrücklichen klickklickklick der Computertastatur. 

„Äh. Ja?“ 

„Wollte nur nochmal nachfragen.“ 

Adam ist genervt davon, wie wenig Leo ihm vertraut, auch deswegen, weil dieser ja jeden Grund dazu hat. 

„Du musst meinetwegen keine Wohnung kaufen, Adam. Das weißt du, oder?“

Adam ist froh, dass Leo zu sehr in die Arbeit an seinem Laptop vertieft ist, um ihm dabei in die Augen zu sehen. 

„Weiß ich“, brummt er. Dann, einfach, damit er sich selbst die Chance nimmt, doch noch einen Rückzieher zu machen: „Holst du mich dann ab?“ 

Jetzt blickt Leo doch auf. Seine Finger ruhen immer noch auf der Tastatur, und er stupst seinen Fuß kurz gegen Adams. „Klar.“ 

 

***

 

Leo sieht gut aus, schön sommerlich, und trotzdem seriös. Wahrscheinlich stand in einem seiner Ratgeber sogar, wie man sich als potenzieller Wohnungskäufer zu kleiden hatte. 

Dass Leo gut aussieht, findet offensichtlich nicht nur Adam, sondern auch Maria Leibich, deren österreichischer Dialekt kaum zu überhören ist. 

„Leo!“, begrüßt sie ihn voller Enthusiasmus. Nichts mit „Herr Hölzer“. 

„Hi, Maria“, meint Leo, und dann umarmen sie sich ein bisschen zu lange und innig und Adam könnte kotzen, und dabei haben sie noch nichtmal mit den Besichtigungen angefangen, sondern stehen schon seit zehn Minuten auf dem Parkplatz vor einem Mehrparteienhaus, wo sie auf den Besitzer warten. 

„Das ist mein Partner, Adam Schürk.“ 

Adam sieht etwas über Marias Gesicht huschen, was irgendwie verdächtig nach Enttäuschung aussieht. Er konzentriert sich lieber darauf als darauf, was es gerade mit seinem Kopf macht, dass Leo ihn als seinen Partner bezeichnet hat.

„Ah. Ja, Herr Schürk. Wir hatten sowieso geschrieben, ge?“ 

Er nickt nur verkrampft und gibt ihr dann die Hand. Nicht zu lange, weil er selbst merkt, wie er zu schwitzen beginnt. Er wirft einen hilfesuchenden Blick zu Leo, der natürlich ein bekräftigendes Lächeln parat hat. 

Marias Handy meckert, und sie tippt ein wenig darauf herum, dann: „Ah, der Herr Mühlberger wartet oben. Na, dann wollen wir mal, die Herren.“ 

Herr Mühlberger ist irgendwie unangenehm, und er scheint dasselbe von Adam zu denken, was wiederum Leo dazu verleitet, ihn so richtig zu grillen. 

Es dauert kaum zwanzig Minuten, da hat Leo die Wohnung verbal schonungslos bis ins kleinste Detail auseinandergepflückt – von der Lage, bis zu den Parkmöglichkeiten, dann ab über den Energieausweis und die seltsamen Steckdosen, bis hin zum Schimmelrisiko und den hellhörigen Wänden. Irgendwann hakt Adam gar nicht mehr nach, sondern genießt einfach die Show. Maria bemüht sich währenddessen, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen, schickt Adam und Leo aber anschließend vor, vermutlich, um dieses Desaster von einer Wohnungsbesichtigung wieder irgendwie glattzubügeln. 

„Also die nimmst du sicherlich nicht“, meint Leo resolut, als sie draußen vor dem Haus sind und unter einer hübschen, ausladenden Birke warten, die Leo vor zehn Minuten noch abwertend als „völlige Lichtblockade“ bezeichnet hatte.

„Alles klar.“ Adam bemüht sich, ernst zu bleiben. Klappt aber nicht, und er muss grinsen. Schließlich war er felsenfest davon ausgegangen, dass er die Sabotage seiner Wohnungssuche selbst übernehmen würde. Aber anscheinend hatte er da die Rechnung ohne Leo gemacht. 

„Komm mal her, du hast da was“, reißt Leo ihn aus seinen Gedanken, und im nächsten Moment sind seine Finger hinter Adams Ohr und pflücken ihm ein Birkenkätzchen aus den Haaren. 

Das mit dem Nicht-Küssen wird auch nicht leichter, denkt sich Adam. 

Zum Glück taucht Maria Leibich wieder auf, bevor er etwas phänomenal Blödes tun kann. 

„Leo“, meint sie nur kopfschüttelnd, während sie in ihren schwarzen Stiefeletten auf sie zu stapft. 

Leo zuckt mit den Schultern, hat aber den Anstand, betreten die Kiesel unter seinen Schuhen zu studieren. 

„Sorry“, meint er schließlich. „Wo ist die nächste?“ 

 

***

 

„Das hat ja richtig Spaß gemacht. Nächsten Samstag wieder?“, meint Adam trocken, gerade, als Leo seine Wohnungstür hinter ihnen schließt. Leo wirft ihm nur einen genervten Blick zu. 

Sechs Wohnungen und ebenso viele Auseinandersetzungen und Enttäuschungen später hat sich Maria von Leo mit einer Umarmung, von Adam mit einem steifen Winken verabschiedet. Da war die Sonne gerade untergegangen, und dann hatten sie anschließend noch durch komplett Saarbrücken gurken müssen, weil die letzte Wohnung natürlich am anderen Ende der Stadt gelegen war. Adam hatte gerade überlegt, wie er sich am besten selbst einladen konnte, die Nacht auf Leos Couch zu verbringen, da hatte ihn der bereits gezwungen, zum Abendessen mitzukommen. Dann dürfte ja das Einnisten auf dem Sofa keine größere Hürde darstellen. Hoffte er jedenfalls. 

„Der Wohnungsmarkt ist echt beschissen zurzeit. Das hast du schon mitbekommen, oder?“ 

„Am Rande“, erwidert Adam und tritt seine Sneaker in die Ecke. Er will Leo aber nicht weiter provozieren, als reiht er sie fein säuberlich neben dessen Einsatzstiefeln auf. 

„Ernsthaft. So schnell findet Maria keine neuen Wohnungen mehr. Falls sie darauf überhaupt noch Lust hat, nach der Aktion heute.“ 

Zum Glück kniet Leo auf dem Boden, um seine Schuhe aufzuschnüren. So kann er nicht sehen, wie sehr Adam die Augen verdreht. 

„Ich glaube, auf dich hat Maria immer Lust“, murmelt Adam und fragt sich schon im nächsten Moment, wo das auf einmal herkam. 

„Was soll das jetzt wieder heißen?“, ertönt es von unten, und eine Sekunde später hat sich Leo wieder aufgerichtet, um Adam verwirrt in die Augen zu sehen. 

„Die steht doch voll auf dich.“ 

Leo schüttelt nur fassungslos den Kopf und drängt sich an Adam vorbei in die Küche. 

„Ernsthaft, als ob dir das nicht aufgefallen ist.“ 

Leo zieht aus einem sorgfältig errichteten Geschirrturm einen Topf hervor und beginnt, diesen mit Wasser zu füllen. 

„Und wenn?“ 

„Ja was, und wenn“, meint Adam. „Hattet ihr was?“ 

Mit der Frage auf seiner Zunge kommt auch ein unangenehmes Ziehen in seiner Magengegend – diese eklige Übelkeit der bangen Vorahnung, die er früher immer hatte, als in der Schule die benoteten Klausuren ausgegeben wurden. 

„Sie wollte was Lockeres“, meint Leo, als er den Wasserhahn ausgestellt hat. Mit Nachdruck setzt er den Topf auf dem Induktionsherd ab. „Ich nicht.“ 

„Du wolltest nur das eine… ein Eigenheim.“ 

Unwillkürlich muss Leo lächeln. „Genau.“ Dann schraubt er höchst konzentriert am Knopf des Herdes herum. „Naja. Sie hat es mir erst danach gesagt. Dass sie keine Beziehung will, mein ich.“ 

Kurz muss Adam sich wieder auf die wunde Stelle an seiner Zunge beißen. Irgendwas in ihm verkrampft sich ganz widerlich, und kurz bringt er es nichtmal übers Herz, Leo anzuschauen. Er fragt sich, wie genau das abgelaufen ist bei den beiden. Er stellt sich kurz vor, wie sie in einem schicken Restaurant Essen waren, und Leo von seinem Leben erzählt hat und Adam dabei sorgfältig ausgelassen hat, weil man sich ja von seiner besten Seite präsentieren soll. Und Maria hat über Leos einstudierte Polizei-Anekdoten gelacht und dann ein paar ihrer eigenen Geschichten erzählt. Sie haben Wein getrunken, und dann haben sie schon im Taxi nach Hause rumgeknutscht und sind in Leos Bett gepurzelt, wie im Film. Und Leo war bestimmt total aufmerksam im Bett und hat ihr am nächsten Morgen oben ohne Frühstück serviert. Und dann hat Maria ihm mit betretener Stimme erklären müssen, dass er ja total süß sei, aber sie wirklich nicht auf der Suche ist, und sich jetzt verabschieden müsse. 

Und auch die Tatsache, dass Adam jetzt hier ist und bekocht wird, und nicht Maria, ändert etwas an dem Umstand, dass da jemand anderes war. Dass Leo eben nicht nur ihm gehört. 

„Scheiße“, würgt Adam hervor. Leo seufzt. 

„Naja. Die hat eh nur ziemlich viel von Wohnungen geredet.“ 

Adam zwingt sich, amüsiert zu schnauben. „Fast, als wäre sie Maklerin.“ 

„Ja. Aber ich darf mich nicht beschweren. Wahrscheinlich erzählt sie ihren Freundinnen, dass ich zu viel von meinem Kollegen geredet hab. Magst du Penne oder Tagliatelle?“ 

„Penne“, meint Adam, und dann kommt der Rest des Satzes bei ihm an. Leo redet über ihn, wenn er nicht da ist. Was heißt das? Wie redet er über ihn? Erzählt er Gutes, oder lässt er sich darüber aus, wie nervtötend Adam ist? 

Adam sieht zu, wie Leo fast eine ganze Nudelpackung im mittlerweile kochenden Wasser versenkt und eine Handvoll Salz hinterherwirft. 

Kurz lässt er den Gedankenzug rollen, den er sonst immer stoppt und auf eine andere Weiche schickt. Den Gedankenzug, der ihn mitnimmt in eine seltsame Zuckerwattewelt, in der er mit jemandem am Tisch sitzt und zu Abend isst, und die Person schreit währenddessen nicht rum und sagt ihm nicht, wie unfähig und unzureichend und scheiße er ist, sondern erzählt einfach ganz ruhig, was so in der Arbeit passiert ist. Und wenn sie anschließend auf der Couch liegen, kann Adam vielleicht auch mal zuerst einschlafen und verkrampft sich nicht sofort, wenn ihm jemand über den Rücken streichelt. Und irgendwann wird er dann sanft aufgeweckt und ins Bett gelotst, und jemand hält ihn die ganze Nacht über fest, und das Fenster ist offen und lässt warme Sommernachtsluft herein, damit Adam sich nicht fühlt, als würde er ersticken. 

Ja, er weiß schon, warum er diesen Zug nie anfahren lässt, denn gerade treibt ihm allein die Vorstellung davon fast Tränen in die Augen, die er irgendwie runterschluckt, weil Leo ihn nicht weinen sehen darf. 

„Ich geh mal Tisch decken“, erklärt er und gibt sich dabei Mühe, seine Stimme nicht komplett erstickt klingen zu lassen, auch, wenn er sich gerade fühlt, als würde er ertrinken. 

„Danke“, meint Leo und blickt auf von einer Zwiebel, die er angefangen hat zu schälen. 

Wenigstens ist Adam nicht der Einzige mit glänzenden Augen. 

Nachdem er die Teller und das Besteck genau so hingelegt hat, wie sein Vater es ihm in der Grundschule beigebracht hat, bringt Adam es nicht über sich, noch einmal die Küche zu betreten. Eigentlich ist sein erster Instinkt gerade auch, einfach die Wohnung zu verlassen und sich zum Abendessen eine Tüte Chips aus irgendeinem Bahnhofsautomaten zu ziehen, mit der er dann das Bett in seinem Hotelzimmer vollbröseln kann, während er auf Grindr wahllos durch schlecht belichtete Sixpack-Bilder scrollt. 

Aber er zwingt sich, sitzen zu bleiben. Der Platz auf dem Sofa ist schlecht gewählt, weil er von hier aus immer noch Leo sehen kann, der in Gedanken versunken Tomaten schneidet. 

Bevor Adam Schnappatmung bekommt, öffnet er den Chat mit dem Grindr-Typen, auf dessen Nachricht er schon seit einem Monat nicht reagiert hat, und die wohl mittlerweile fermentiert. Seine Antwort ist genauso nichtssagend und unpersönlich wie die Frage, der sie folgt.

Ganz gut, und selbst? 

Der Typ – Marcel – antwortet ein bisschen zu schnell. 

passt schon haha. was machst du heute so 

Adam lässt seinen Blick zu Leo wandern. 

Bin noch bei einem Freund beim Essen. Danach nicht mehr so viel 

Er weiß jetzt schon, wie enttäuscht Leo gucken wird, wenn er sich nach dem Essen eilig verabschieden wird. Und das wird ihm irgendwie einen Stachel ins Herz jagen, und dann wird er sich wie Dreck fühlen, aber all das ist immer noch besser als hier Vater-Vater-Kind mit Leo und seinen Pflanzen zu spielen. Das verpasst ihm nämlich nicht nur Herzschmerz, sondern ein Gefühl bodenlosen Terrors. 

also hättest du zeit für mich? ;)

Ja, why not 

Es folgt eine Nachricht mit Adresse und Anweisungen von Marcel, die Haustür nicht zuschlagen zu lassen, weil sich sonst der alte Typ im Erdgeschoss immer so aufregt. 

Adam antwortet mit einem losen OK, bis später, dann steht da plötzlich Leo mit einem Topf dampfender Nudeln vor ihm. 

„Ist nichts besonderes, aber besser als nichts“, erklärt er. Adam steckt hastig sein Handy weg. 

Er sagt Leo lieber nicht, dass er gar nicht mehr weiß, wann er das letzte Mal für sich selbst gekocht hat. 

„Danke“, murmelt er. 

Und dann sitzen sie gemeinsam an Leos Esstisch, und es ist alles viel zu sehr wie in Adams Vorstellung von einer perfekten Welt, und er weiß überhaupt nicht, warum er jetzt schon wieder so nervös wird und bereut, nicht den Platz direkt neben der Tür genommen zu haben.

„Wann verkauft deine Mutter das Haus?“, erkundigt sich Leo. 

Adam zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. So bald wie möglich, schätz ich.“ 

„Braucht ihr Hilfe beim Ausräumen?“ 

Adam schnaubt trocken in seine Penne mit Soße, die ein bisschen zu wenig gesalzen sind. „Ja, super, dann können wir uns zusammen durch den ganzen Müll wühlen. Passt schon.“ 

Er spürt Leos Blick auf sich, starrt aber weiterhin in seinen Teller. Nettes Geschirr. So Typ handbemalt-in-Portugal. Unnötig schön. 

„Dann eben nicht“, erwidert Leo nach einer gefühlten Ewigkeit.

Adam versucht, nicht zu gierig zu wirken, als er seine Nudeln hinunterschlingt. Aber das mit dem schnellen Essen, das bekommt er wohl nicht mehr raus.  

 

***

 

Als Marcel verschwitzte Anstalten macht, sich in seinen Arm zu kuscheln, rollt Adam sich stattdessen zur Bettkante und tastet seine Jeans auf dem Teppich nach seiner Zigarettenschachtel ab. 

„Kann ich…?“ fragt er und hält eine Kippe hoch. 

„Balkon“, meint Marcel. Er klingt ziemlich angepisst. Einerseits versteht Adam das, so ein bisschen Kuscheln ist ja bei den meisten schon noch drin. Andererseits – wer geht mit hohen romantischen Erwartungen in einen Grindr-Hookup? 

Auf dem Balkon schlägt ihm kühle Luft entgegen, und er fröstelt ein bisschen, so nur in Unterhose und T-Shirt. Es braucht ärgerlich viele Versuche, bis sein halbtotes Feuerzeug mal seinen Dienst erfüllt, und dann füllt endlich der vertraute, pappige Geschmack seinen Mund. Darunter schmeckt er immer noch die Nudeln, die er bei Leo gegessen hat. 

Adam nimmt einen tiefen Zug von seiner Kippe, damit er nicht daran denken muss, wie still Leo geworden ist, als Adam sich mit einem „bin noch verabredet“ entschuldigt hat. Danach hatte er Adam kaum mehr in die Augen gesehen, und kurz hat er ihn an den Leo von früher erinnert – nicht der Teamleiter von heute, sondern der kleine, schüchterne Junge ohne Vater, dem die Kommentare seiner Mitschüler langsam, aber sicher das Selbstbewusstsein zerfressen haben, bis er nur noch stumm auf den Boden starren konnte. Damals hatte es für Adam nichts Schöneres gegeben als den Anblick, wenn Leos Kopf hochschnellte und ein breites Lächeln sein Gesicht überzog, sobald er Adam sah. Da hatte Adam mal ausnahmsweise nicht das Gefühl gehabt, nicht genug zu sein: Dafür reichte er aus. Dafür, Leo zum Grinsen zu bringen, wenn der mal wieder einen Scheißtag gehabt hatte. 

Und jetzt ist Adam der Grund dafür, dass Leo wieder leise wird und nur stumm nickt, als er sich verabschiedet. 

Er könnte kotzen. 

Adam hört die Balkontür hinter sich, und ein paar Sekunden später schieben sich zwei warme Arme von hinten um seine Taille. Am liebsten will er Marcel seinen Ellbogen ins Gesicht jagen, einfach nur, damit er aufhört, ihn festzuhalten. Macht er aber nicht, sondern zwingt sich, ruhig zu bleiben und noch einen Zug von seiner Kippe zu nehmen. 

„Bleibst du noch?“, erkundigt sich Marcel und legt sein Kinn auf Adams Schulter ab. Das ist gerade viel zu viel zu viel zu viel – Körperkontakt, Nähe, Fragerei, Zuneigung, alles. 

„Muss morgen früh raus“, meint Adam, was Blödsinn ist, weil morgen Sonntag ist, aber lieber würde er jetzt gerade über das Balkongeländer klettern, als den Rest der Nacht mit Marcel zu verbringen. 

Er windet sich aus Marcels Umarmung und steckt den Rest seiner Zigarette in dessen schmollenden Mund. 

„Danke. Ciao.“ 

Auf dem Weg nach draußen blockiert er Marcel auf WhatsApp und Grindr, und lässt dann doch die Haustür ins Schloss fallen – so laut, dass die Fensterscheiben der Erdgeschosswohnungen vibrieren. 

Um diese Uhrzeit fahren keine Busse mehr. Adam könnte sich ein Taxi rufen, aber er genießt lieber den sachten Wind auf seiner Haut, der seine Gedanken durcheinanderwirbelt und seinen Kopf freipustet. Er muss sicher drei Kilometer laufen, einen zurück durch Leos Viertel und danach nochmal zwei, bis er bei seinem Hotel ist. 

Nach einer Viertelstunde wird ihm kalt in seiner Jeansjacke, und er vergräbt seine Hände tief in den Taschen, weil seine Fingerspitzen langsam zu kribbeln beginnen. 

Verdient hätte er es, sich bei dieser Aktion erkälten. Er könnte immerhin gerade auch auf Leos Couch liegen, wenn er nicht so ein gnadenloses, kaputtes Arschloch wäre. 

Er kommt sogar an Leos Wohnung vorbei, und kurz überlegt er, Sturm zu klingeln und zu hoffen, dass Leo ihn einfach kommentarlos in seine Arme zieht. 

Doch dann ist er schon um die Ecke, tut also genau das, was er am besten kann: flüchten. 

Er findet sich irgendwann in einer Straße wieder, die ihm vage bekannt vorkommt, und als er ein paar hundert Meter weiter einen Notarztwagen stehen sieht, weiß er auch wieder, wieso. 

Zwei Sanitäter laden gerade einen schwarzen Leichensack in den Rettungswagen, und ein Arzt redet sanft auf eine betreten dreinblickenden älteren Dame ein. 

Adam sieht zu, wie die Sanitäter eine wohlbekannte Sauerstoffflasche von ihrem Wägelchen lösen und diese sicher verstauen, bevor sie die Metallkonstruktion zusammenklappen. 

Armer Herr Werkner. Vor dessen Haus steht er hier nämlich. Adam muss an die unzähligen kleinen Nähmaschinen denken, die jetzt in seiner Wohnung versauern. 

Er weiß nicht genau, warum er dem Arzt seinen Dienstausweis unter die Nase hält, aber er erhält daraufhin die Information, dass Herr Werkner bereits gestern an einem Herzinfarkt verstorben ist. Die ältere Dame entpuppt sich als dessen Nachbarin, die vorhin alarmiert den Notarzt gerufen hatte, als Werkner auf keinen ihrer Kontaktversuche reagiert hatte. 

„Ich weiß gar nicht, wer das jetzt alles kriegt“, meint sie leise, während ihre Stimme zittert vor Schock. „Der hatte ja keine Kinder, keine Frau, keine Freunde, nichts. Der war ganz allein. So soll wirklich niemand sterben.“ 

Adam ist sich nicht sicher, ob sie mit ihm spricht. 

Kurz überlegt er, was passieren würde, wenn er morgen spontan einen Herzinfarkt erleiden würde. Ob er tagelang in seinem Hotelzimmer liegen würde, bis der Gestank seine Zimmernachbarn auf den Plan ruft. Oder ob ihn jemand suchen würde. Ob ihn jemand vermissen würde.

Eigentlich fällt ihm da nur eine Person ein. 

Er nimmt die Nachbarin in den Arm, streicht ihr ein paar Mal beruhigend über den Rücken. Alles wird gut, da findet sich schon wer, er ist jetzt an einem besseren Ort, gehen Sie ins Bett, alles Weitere kann bis morgen warten. 

Er begleitet sie bis vor ihre Wohnungstür, und auf dem Weg nach draußen fotografiert er sich noch den Namen der Hausverwaltung ab. 

 

*** 

 

„Guten Morgen“, sagt Leo. Er sieht müde aus. Das verwaschene graue T-Shirt und die lange Jogginghose bringen Adam kurz aus dem Konzept. 

Die ganze Woche über hat er den Eindruck gehabt, als würde Leo seine Gesellschaft meiden – er hatte Esther zu seiner Begleitung auserkoren und Adam und Pia zum Schreibtischdienst verdonnert. Er war dabei nicht unhöflich gewesen, einfach nur…distanziert. 

Und Adam hatte sich nicht einmal beschweren können. Immerhin war er ja abgehauen. Mal wieder. 

„Ich hab Frühstück dabei“, meint Adam und drückt Leo eine Tüte mit belegten Brötchen vom Bäcker in die Hand. 

„Okay…?“, macht Leo und inspiziert den Inhalt der Tüte. „Was verschafft mir die Ehre?“ 

Adam atmet tief durch. Er hat es noch nicht laut ausgesprochen, vor wem auch, also fühlt es sich irgendwie endgültig an, als er sagt: „Ich hab ’ne Wohnung gekauft.“ 

Leo lässt die Tüte sinken. 

„Ernsthaft?“ 

„Ja. Kann ich reinkommen?“

Leo öffnet die Tür, damit Adam sich an ihm vorbei in dessen Wohnung zwängen kann. Dann dreht er sich mit hoch erhobenen Augenbrauen zu ihm um, wie um zu fragen: Was zur Hölle, Adam?

„War super kurzfristig. Aber irgendwie…sollte es wohl sein.“ 

„Okay, und wo?“ 

„Zwei Straßen weiter. Erinnerst du dich noch an den Meinrad Werkner? Aus dem Immobilienfall vor zwei Wochen?“ 

Leo nickt, und langsam rutscht seine Miene in die Entgeisterung. „Ja…?“ 

„Ja. Da. Der ist gestorben. Ich hab die Wohnung übernommen. Und die ist total hässlich und noch voller Müll, aber die gehört jetzt mir.“ 

Als Leo nichts sagt, spürt Adam, wie sich sein Magen vor Nervosität zusammenzieht. 

„Keine Ahnung, ich dachte, du freust dich“, murmelt er irgendwann. „Jetzt…bin ich immer in der Nähe. Dachte ich mir.“ Adam hört selbst, wie seine Stimme zum Ende hin immer leiser wird. 

Vielleicht war das alles auch die dümmste Idee, die er je hatte. Warum würde Leo ihn noch näher haben wollen? Warum- 

Zwei starke Arme schlingen sich um ihn, und kurz fürchtet Adam den Erstickungstod, weil Leos Umarmung ihn fast erdrückt. 

Leos warmer Atem tanzt auf der nackten Haut über seinem Kragen, und Adam nutzt die Chance, den Duft von Leos Aftershave und dessen Shampoo einzuatmen. 

Vielleicht hat er ja zur Abwechslung doch mal was richtig gemacht. 

Chapter 4: Kapitel 4

Summary:

Love language: Beim Umzug helfen

Notes:

so, letztes Kapitel :) danke für die Kudos und Kommentare bisher!

Chapter Text

„Nähmaschine?“, bietet Adam an, während er die kleinen Messingfiguren in einen Karton stopft, jede sorgfältig eingewickelt in Küchenpapier. 

Leo, über ihm, setzt sich mit Meinrad Werkners Nussknackern auseinander. Von Holzfigur zu Holzfigur wird sein Gesichtsausdruck verwirrter, wie um zu sagen: Warum hat man sowas?

„Was?“, fragt er nach und blickt kurz von den bemalten Figurinen auf. 

„Nähmaschine?“, erkundigt sich Adam erneut und hält ihm eines der winzigen Messingmodelle hin. In seiner großen Hand wirkt sie noch kleiner. 

„Was soll ich damit?“ 

„Weiß nicht. Andenken? An ein wunderschönes Entrümplungswochenende mit mir?“ Adam grinst von seinem Platz auf dem Wohnzimmerboden zu ihm hoch. 

Leo schnaubt belustigt und pflückt ihm die Nähmaschine aus der Hand. „Na schön.“ 

„Ich hab noch welche. Falls du willst-“ 

„Eine reicht“, beeilt Leo sich zu sagen und Adam muss ein bisschen kichern, so panisch klingt er dabei. 

Adam hatte sich diese ganze Aktion sehr viel schlimmer vorgestellt. Eine Wohnung voller Krimskrams entrümpeln, seine eigenen drei Habseligkeiten verstauen, sich mit der Bank und dem blöden Steuerberater herumschlagen, obwohl die Finanzierung der Zweizimmerwohnung nun wirklich kein Problem gewesen war, irgendwelche Internet- und Stromverträge abschließen, bla, bla, bla. 

Im Endeffekt waren die meisten Dinge mit ein paar Postgängen hier und einigen Anrufen dort geklärt gewesen, sodass am Ende nur noch die Entrümpelung der Wohnung übrig blieb. 

Und selbst die war irgendwie schön. Weniger deshalb, weil Adam besonders darauf stand, Schränke aus Eiche massiv mit diesem seltsamen Kauz von eBay Kleinanzeigen in dessen Entführervan zu wuchten, sonder eher, weil Leo sich bereiterklärt hatte, ihm bei der ganzen Aktion unter die Arme zu greifen. Wochenende für Wochenende hatte Leo geduldig eine Wagenladung nach der anderen zum Sperrmüll gefahren, Löcher in der Wand verspachtelt und verstaut jetzt, auf den letzten Metern, sogar die Sammlerstücke des alten Werkners. 

„Und was machst du mit dem Rest? Und mit denen hier?“, fragt Leo und stopft eilig einen besonders gruseligen Nussknacker in sein Karton-Bettchen. 

„Vielleicht will die jemand geschenkt. Oder ich geh zu Bares für Rares.“ 

„Ich weiß nicht, ob die irgendwer geschenkt haben möchte“, brummt Leo. Der nächste Nussknacker in seiner Hand starrt ihn vorwurfsvoll an. 

Irgendwas zieht sich in Adams Brust zusammen. Das hier ist alles so viel einfacher, als es sein sollte. Es ist so einfach, Tage, Wochen am Stück mit Leo zu verbringen. Einfach, nach dem IKEA-Besuch noch ein Eis essen zu gehen und an der Saar entlang zu spazieren. Es ist einfach, bei Leo zu Abend zu essen, weil Adam seit seinem Umzug noch kein einziges Mal einkaufen war. Es ist einfach, sich von Leo helfen zu lassen. Das ist vielleicht das Schockierendste. 

„Irgendwer wird die schon nehmen. Egal, wie hässlich die sind“, murmelt Adam leise. 

Leo zuckt mit den Schultern und verstaut endlich den letzten Nussknacker in der Pappbox, die vor ihm auf den Tisch steht. 

Auch Adam ist mittlerweile fertig mit seiner Nähmaschinen-Mission. Er erhebt sich mit einem Ü30-Ächzen und schnappt sich die beiden Boxen, um sie neben die Eingangstür zu stellen. Dann vergisst er sie hoffentlich nicht, wenn er das nächste Mal nach draußen geht. 

Dabei fällt sein Blick auf ihre Schuhe. Leo hat sie fein säuberlich an der Wand entlang aufgereiht, sogar Adams ausgetretene Sneaker, die beide hinten an der Ferse ein Loch haben. 

Es sieht fast aus wie in einem Zuhause. 

Und was noch viel seltsamer ist, es fühlt sich auch so an. Nicht wie das groteske, parodistische Puppentheater, das er als Zuhause kennt. Tri-tra-trullala.

„Du, hast du- Alles gut?“ 

Adam schnellt herum und weiß selber, dass er komplett durchgeknallt aussehen muss, wie er da so neben der Wohnungstür steht und auf ihre Schuhe starrt. 

Er weiß selbst nicht, wo es herkommt, aber dann blubbert es auch schon aus ihm heraus. 

„Warum bist du noch hier?“ 

Leos Kiefer spannt sich an, das sieht Adam von hier.

„Was?“, fragt dieser, tut vergeblich so, als hätte er nicht verstanden, worauf Adam hinaus will. 

„Warum bist du noch hier? Warum hilfst du mir immer noch? Warum räumst du meine Scheiß Schuhe auf?“ Er wird immer lauter, anklagender, es bricht aus ihm heraus, weil Adam es schlicht und ergreifend nicht versteht, wie jemand ihn anschauen kann und trotzdem beschließen kann, ihn zu mögen. Vor allem so jemand wie Leo, der so perfekt und stark und beständig ist. 

„Wo soll ich denn sonst sein?“, erkundigt sich Leo leise. „Wo sonst, Adam?“ 

Und das ist irgendwie zu viel, weil es so unausweichlich klingt. So final. Als könne er gar nicht anders. Adam verzieht das Gesicht, merkt, wie seine Augen anfangen zu brennen. 

Nein, nein, nein, nein, hör auf zu heulen, hör auf, hör auf, hör auf. 

Er blinzelt die Tränen weg, das kann er, hat er ja lange genug geübt. 

„Irgendwo anders“, presst er hervor. Seine Stimme zittert trotz aller seiner Bemühungen. Sein Vater hätte ihm dafür jetzt schon eine verpasst. Aber der ist tot, und im Gegensatz zu ihm werden Leos Gesichtszüge nicht zu einer hasserfüllten Maske, sondern ganz weich und besorgt. 

„Bei irgendwem anders.“ 

„Ich will aber nicht zu irgendwem anderen. Ich will zu dir“, meint Leo, ganz ruhig und fast ein wenig traurig. 

Adams Herz verkrampft sich in seiner Brust, zieht sich ganz furchtbar schmerzhaft zusammen, als er das hört. Ihn wollte ja noch nie irgendjemand so richtig. Tolerieren, das war drin, meistens, weil Leute seine Fassade ganz unterhaltsam fanden. Hassen, ja, das kennt er. Hat sich ja lange genug gefragt, ob da vielleicht einfach irgendwas bei ihm falsch ist, dass er so eine Rage in jemandem hochbeschwören kann, der ihn doch lieben soll. Irgendein Fehler, der für alle anderen glasklar ersichtlich ist, nur für ihn eben nicht. Irgendein Fehler, der machte, dass ihn keiner so richtig wollte, jemals. 

„Warum?“, fragt er, fast verzweifelt. „Warum denn, Leo?“

Leo sieht zu Boden, auf die komischen Siebzigerjahrefliesen, die er vor einigen Wochen, als er sie das erste Mal länger studiert hatte, irgendwann mit einem resoluten „die müssen raus“ kommentiert hatte. 

„Du weißt doch, warum“, gibt er schließlich zurück, so leise, dass Adam es kaum hört. 

„Nee! Ich weiß gar nichts! Gar nichts. Ich kapier’s einfach nicht!“ 

Leo verzieht nun endlich das Gesicht, in eine bedrückte Grimasse, und schüttelt kaum merklich den Kopf. „Also dann kann ich dir auch nicht mehr weiterhelfen.“ 

Mit einem Seufzer macht er kehrt und verschwindet zurück im Wohnzimmer. 

Adam setzt ihm nach, plötzlich getrieben von irgendeiner seltsam wütenden Flamme in seiner Brust. 

„Du sagst mir nie irgendwas!“, mit diesem Satz stürmt er in den Raum. Ein verbaler Rammbock. Leo hat sich vor dem Fenster aufgestellt, den Rücken zu ihm, doch schnellt herum, als Adams Worte angeschossen kommen. 

„Ist das dein Ernst? Du? Du sagst mir, ich würde dir nichts erzählen?“ Leo zischt es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Was willst du hören, hm?“ 

„Warum du noch da bist! Warum du dich nicht einfach schon verpisst hast!“, spuckt Adam ihm entgegen. 

„Wie! Wie soll ich das tun, wenn ich verliebt in dich bin!“, bellt Leo ihm ins Gesicht und dann ist es plötzlich ganz still, als das Gesagte bei Adam ankommt. 

Es rauscht in seinen Ohren, und es wird ihm fast ein wenig schwindelig, wie er da so in Leos Gesicht starrt und dessen Atem lauscht, der schwer und erschöpft geht. 

Adam sucht in Leos Ausdruck nach irgendwas, das ihn verrät – das die Lüge entlarvt, weil es sich ja offensichtlich nur um eine Lüge handeln kann. 

„Kannst du mal was sagen?“, meint Leo. Die Unsicherheit in seinem Ton reißt Adam aus seiner Schockstarre. 

„Ernstha- Meinst du das ernst?“ 

„Natürlich mein ich das ernst! Gott. Fuck. Weißt du- Weißt du was, vergiss es. Ich fahr heim.“ 

Leos Augen glänzen, und als er sich an Adam vorbeidrängt, reibt er sich mit dem Handrücken über die Augen. 

„Nee, warte mal. Leo. Leo!“ Leo ist schon an der Wohnungstür, so lang ist der Flur nun eben doch nicht, und kniet verbissen auf dem Boden, um sich die Schuhe zuzuschnüren. 

Ohne nachzudenken, donnert Adam neben ihm in die Knie. 

„Hey. Nicht gehen. Bitte.“ 

Leo hält inne, um ihm in die Augen zu sehen. „Weißt du eigentlich, wie weh das immer tut, Adam? Hast du irgendeine Ahnung?“ Er schnaubt, und eine Träne rinnt seine Wange hinunter, die auf Adams Herz brennt wie Säure. „Nee. Hast du nicht. Du brauchst ja niemanden. Aber ich halt schon, checkst du das? Ich brauch dich.“

„Aber du hast mich doch“, flüstert Adam.

„Aber es fühlt sich nicht so an!“, entfährt es Leo und er klingt wirklich, als würde ihm dieser Satz physische Schmerzen bereiten. Und das reißt die letzte kleine Mauer der Zurückhaltung ein, die Adam um sich gebaut hat, und er nimmt Leos Gesicht in seine Hände, ganz vorsichtig. Leos Augen weiten sich, aber er weicht nicht zurück, als Adam einen Kuss auf seine Lippen presst. 

Es dauert einen Moment, dann küsst Leo zurück – die Schuhe sind vergessen, stattdessen gräbt er seine Finger in Adams Wangen. Gemeinsam erheben sie sich, Leo mit nur einem Schuh, und Adam lässt sich von Leo gegen die Wohnungstür drücken.

Als Leo kurz Luft holt, wispert Adam etwas in die wenigen Zentimeter zwischen ihnen. 

„Was?“, flüstert Leo zurück. 

„Natürlich brauch ich dich“, gibt Adam zu, lauter diesmal. „Ich bin doch da. Oder?“ 

Statt einer Antwort vergräbt Leo sein Gesicht in Adams Schulter und schlingt seine Arme um ihn, um ihn festzuhalten. 

Normalerweise hasst Adam es, wenn es zu eng wird. Mag keine niedrigen Decken, mag keine geschlossenen Räume. Mag es auch nicht, festgehalten zu werden. 

Normalerweise. 

Jetzt aber erwidert er die Umarmung, und Leos Kraft lässt schon seine Rippen schmerzen, aber gerade wünscht er sich fast, Leo würde ihn noch fester drücken, bis sie sich irgendwann so nah sind, dass sie ein und dieselbe Person werden. 

„Ich bin da“, wiederholt er und Leo schnieft in seine Schulter. „Ich geh auch nicht mehr weg.“ 

Sekunden später donnert Adams Hinterkopf mit einem dumpfen Schlag an die Tür, als Leo ihn erneut mit Anlauf küsst. 

Während Adam sich den Kopf reibt und Leo seinen Schuh wieder abstreift, stolpern sie ins Schlafzimmer, vorbei an seltsamen Figurinen und Kisten voller kaputter Tassen, und landen auf Adams bettgestellloser Matratze. 

Als Adam irgendwann spät am Abend dort wegdöst, die rosaroten Strahlen des Sonnenuntergangs im Gesicht, hält Leo ihn fest, fährt ihm mit der Hand durch die Haare und murmelt kleine, liebevolle Unsinnswörter in sein Ohr. Und das Fenster steht offen und lässt warme Sommernachtsluft herein und obwohl Adam jetzt so festgezurrt und sesshaft ist, fühlt es sich nicht so an, als würde er ersticken. Eigentlich fühlt es sich einfach nur an, als wäre er endlich angekommen. 

Notes:

Kudos & Kommentare immer willkommen!