Chapter Text
Es ist ein seltsames Gefühl, Thorsten in ihrer Wohnung zu haben. Nicht weil er sie stört. Sondern weil er sie nicht stört.
Thorsten ist ein anderer Mensch. Und andere Menschen sind Fremdkörper. Wenn sie in ihre Wohnung eindringen, in ihren sicheren Ort, in ihr Heim, dann fühlt sich das an wie ein Sandkorn im Auge.
Unwillkommen. Kratzig. Kaum auszuhalten.
Thorsten hingegen …
Susanne hat keinen passenden Vergleich. Jeder Fremdkörper fühlt sich im Auge unangenehm an. Selbst das Wasser beim Duschen.
Thorsten hingegen ist kein Fremdkörper.
Seit er direkt vor der Weihnachtsfeier im "Fischhaus am Hafentor" das erste Mal in ihrer Wohnung war, weiß sie, dass sie ihn gerne hier hat.
Obwohl sie seine kleine, vollgeräumte Bleibe inzwischen mag, mag sie es noch mehr, wenn sie bei ihr zu Hause sind. Sie hat sogar extra eine Couch für ihr Wohnzimmer angeschafft. Denn Thorsten braucht einfach eine Couch. Er sitzt immer auf einer Couch. Auch in ihren Gedanken und auf ihren Bildern.
Und jetzt sitzen sie beide auf der neuen Couch.
Es fühlt sich an, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Susanne hat ein Buch in der Hand, aus dem sie Thorsten vorliest. Er hat sich an sie gelehnt und lauscht.
Nach einer Weile ist das Kapitel zu Ende. Susanne blättert um und macht eine kurze Pause, so wie sie es an jedem Kapitelende macht. Manchmal hat Thorsten Fragen, manchmal muss auch einfach der Text noch ein wenig sacken.
Währenddessen genießt sie Thorstens Nähe und die Ruhe, die er ausstrahlt.
Es gibt nicht viel, das diesen Abend noch perfekter machen könnte. Vielleicht ein von Thorsten gekochtes Abendessen.
Bisher hat sie es nicht geschafft, ihn dazu zu bewegen, in ihrer Küche zu kochen. Aber sie ist zuversichtlich, dass das auch noch kommen wird. Er behauptet, er braucht seine Töpfe und kann nur auf einem Gasherd ordentlich kochen. Deswegen kümmert sie sich um das Essen, wenn sie den Abend bei ihr verbringen.
Meistens gibt es belegte Stullen. Sie weiß ja inzwischen, dass Thorsten am liebsten Brot mit Schrot oder ganzen Körnern mag, aber zur Not auch das Graubrot isst, das sie bevorzugt. Hauptsache, es sind genug Essiggurken vorhanden. Wobei sie sich nicht ganz einig sind, was genug wirklich bedeutet. Ist es normal, dass eine einzelne Person ein 330 Gramm Glas alleine isst?
Wenn es nach Thorsten geht, dann ja. Und er würde noch mehr verdrücken.
"Das ist ein kleines Gurkenglas. Das ist etwas für Kinder", hat er gesagt.
Ihr ist klar, dass Letzteres scherzhaft gemeint war. Aber Ersteres? Klein? Wirklich?
Während sie über saure Gurken philosophiert hat, ist Thorsten immer ruhiger geworden. Sein Atem ist tief. Sein Kopf liegt schwer auf ihrer Schulter. Ist er eingeschlafen? Sie lässt das Buch sinken und betrachtet ihn.
Thorstens Augen sind geschlossen. Sein Mund steht leicht offen.
Es geschieht nicht oft, dass er während des Vorlesens einschläft. Aber er hat heute schon müde und erschöpft gewirkt, als er bei ihr geklingelt hat.
Vorsichtig streicht sie über seine Wange. Sie möchte ihn nicht erschrecken, nur sanft wieder aufwecken. "Thorsten", sagt sie leise.
Seine Lider zucken, dann blinzelt er.
"Ich rufe dir ein Taxi, das bringt dich nach Hause." Er sieht wirklich nicht so aus, als sollte er sich heute noch hinters Steuer setzen.
Es gibt keine Widerrede. Kein Beteuern, dass er selbst fahren kann. Thorsten nickt nur, streckt sich und gähnt dann ausgiebig, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Wenn sie wollte, hätte sie wahrscheinlich seine Zahnfüllungen zählen können.
Zehn Minuten später hat sie sichergestellt, dass Thorsten im Taxi sitzt und zu sich nach Hause gebracht wird.
Jetzt ist sie wieder allein in ihrer Wohnung.
Eigentlich ist das schade.
Nicht dass Thorsten auf dem Weg ins Bett ist, sondern dass er nicht mehr hier ist.
Warum eigentlich?
Er könnte doch bei ihr übernachten …
Es ist inzwischen schon ungefähr ein Jahr her, dass sie gemeinsam auf Thorstens Couch eingeschlafen sind. Ungeplant.
Es war … nett.
Was spricht dagegen, das zu wiederholen? Aber dieses Mal ordentlich und kontrolliert? In ihrem Bett, nicht auf der Couch. Geplant und vorbereitet.
Denn sie ist nicht spontan.
Spontaneität bedeutet Chaos.
Und Chaos bedeutet Überforderung.
Also schreibt sie eine Liste.
~~~
Zuerst überprüft Susanne ihre Bettwäsche.
Sie weiß natürlich, welche Bettwäsche sie hat. Aber nur um sicherzugehen, räumt sie sämtliche Bezüge aus dem Schrank. Sie besitzt vier Sets. Alle identisch. Weiß, aus Baumwolle, bei neunzig Grad waschbar.
Nein. Das funktioniert nicht. Thorsten ist kein "Weiß aus Baumwolle und bei neunzig Grad waschbar"-Typ. Außerdem kann sie nicht zweimal die gleiche Bettwäsche benutzen, denn sonst erkennt sie nicht, welches Kissen Thorsten gehört.
Also geht sie einkaufen. Sie weiß ganz genau, was sie für Thorsten haben möchte, und klappert drei Geschäfte ab, bevor sie das Richtige gefunden hat.
Falls Thorsten spontan bei ihr übernachtet - also von ihm aus spontan, nicht von ihr aus, denn sie plant die Übernachtung ja, also ist sie nicht mehr spontan -, dann braucht er natürlich auch Kleidung. Einen Pyjama. Das ist der zweite Punkt auf ihrer Liste.
Ist Thorsten überhaupt ein Pyjama-Typ? Was ist, wenn er normalerweise nackt schläft? Sie hält einen Moment inne und denkt darüber nach.
Würde es sie stören?
Überraschenderweise lautet die Antwort nein . Dennoch hält sie es für eine kluge Entscheidung, Klamotten zu besorgen, in denen er schlafen kann.
Auch dafür sucht sie einen Laden auf.
Offenbar ist es ganz normal, als Frau für einen Mann Kleidung kaufen zu wollen. Die Verkäuferin zuckt nicht mal mit der Wimper, als Susanne ihr erklärt, dass sie einen Herrenpyjama sucht.
"Welche Farbe trägt Ihr Mann denn?"
Ihr Mann .
Die Bezeichnung überrumpelt Susanne ein wenig. Die Verkäuferin muss ihre Frage wiederholen, bevor sie sich darauf konzentrieren kann, welche Farbe Thorsten wohl bevorzugen würde.
Wahrscheinlich ist sie ihm sogar egal.
"Ich suche etwas ohne Knöpfe oder Taschen. Es muss weich sein. Und elastisch." So wie ihr Pyjama.
Tatsächlich hat die Verkäuferin ein paar Modelle, die Susannes Vorgaben entsprechen. Sie entscheidet sich für einen Kurz-Pyjama und ein langes Modell. Dann kann Thorsten selbst bestimmen, wie warm er es beim Schlafen haben möchte.
Nach langem Überlegen kauft Susanne auch ein zweites Kissen und eine Decke. Auf diese Weise muss er keine schon von ihr benutzten Dinge verwenden, sondern hat sein eigenes Set.
Während sie zu Hause alles wäscht, bügelt und zusammenlegt, denkt sie darüber nach, ob sie Thorsten die Sachen schenken soll. Zum Geburtstag zum Beispiel, auch wenn es bis dahin noch etwas dauert. Einerseits hat es durchaus symbolischen Wert. Es ist eine Einladung. Eine deutliche Aussage, dass Thorsten nicht nur ab und zu bei ihr übernachten soll, sondern dass er das von ihr aus gerne oft machen kann. Auch mehrmals die Woche.
Andererseits ist ein Geschenk vielleicht doch keine so gute Idee. Sie möchte nicht, dass er sich dann dazu verpflichtet fühlt. Er soll freiwillig hier bleiben wollen. Weil er es will, nicht weil er glaubt, es ihr schuldig zu sein.
Also kein Geschenk.
Als Drittes steht auf ihrer Liste Zahnbürste und Zahnpasta. Sie war bei Thorsten schon ein paarmal im Badezimmer, sie weiß daher, welche Marken er benutzt. Dazu kommt eine eigene Seife, ein Kamm - und braucht er auch einen Rasierer? Rasiert sich Thorsten jeden Tag? Sie glaubt nicht, ab und zu kommt er ihr stoppeliger vor, aber sie hat noch kein Muster entdeckt. Also landet zusätzlich ein Einwegrasierer in ihrem Körbchen im Drogeriemarkt.
Nur der letzte Punkt auf ihrer Liste bereitet ihr Kopfzerbrechen.
Was isst Thorsten zum Frühstück?
Sie haben nie darüber gesprochen. Wenn sie direkt fragt, was er zum Frühstück isst, würde er bestimmt antworten, dass es ihm egal ist. Höflich, aber unbrauchbar. Sie ist sich jedoch sicher, dass er nicht begeistert wäre, wenn sie ihm ebenfalls eine Portion Haferschleim machen würde.
Also schreibt sie eine etwas längere Liste.
Mögliches Frühstück für Thorsten:
- Brot
- Butter
- Marmelade (Aprikose?)
- Honig
- Käse
- Eier
- Obst (Apfel und Orange, die halten lang)
- Müsli (Basisvariante ohne Rosinen)
Vielleicht kann sie das Thema ja irgendwie beiläufig anschneiden. Sie hat nur noch keine Ahnung wie.