Actions

Work Header

"In den Wäldern zurückgelassen"

Summary:

“There were forces at work that you have never considered,” Eris said coldly. “And I am not going to waste my breath explaining them to you. Believe what you want about me.”

Azriel erfährt endlich, warum Eris Morrigan zum Sterben in den Wäldern zurückgelassen hat.

__________

Vorschlag für eine alternative Deutung der Ereignisse um Morrigans und Eris' Verlobung - für Leute, die wie ich Spaß daran haben zu spekulieren, warum passiert ist, was passierte.

 

English version is available!

Notes:

Liebe alle,
Diese Geschichte ist für die Fans von Eris und Azriel, die schon viele Auseinandersetzungen der beiden kennen. Ich gehe davon aus, dass ihr daher damit zurechtkommt, wenn die Geschichte direkt in medias res anfängt. Stellt euch eine der typischen Streitszenen zwischen den beiden in der Hewn City vor. Beide sind Verbündete und müssen sich austauschen, aber Azriel hasst Eris noch von tiefstem Herzen. Jetzt will er endlich die Wahrheit wissen, was damals bei der Verlobung wirklich passierte. Zeitlich habe ich für mich selbst offen gelassen, wann genau sich diese Szene abspielt.

Ich habe versucht, mit der Geschichte dem offiziellen Kanon zu folgen, mir aber Freiheiten an den Stellen erlaubt, an denen Sarah J. Maas nicht in die Tiefe geht oder Dinge offen lässt. Wenn es hier Unstimmigkeiten gibt oder ich etwas übersehen habe, teilt es mir gerne mit.

Für mich ist Eris zur Zeit der Verlobung 15 Jahre alt und Morrigan 17. Ich habe die Bücher hier so interpretiert, dass Rhysand und Morrigan zum Ende (und nicht Anfang) des Krieges 28 sind – denn über einen 9jährigen Eris zu schreiben, macht wenig Freude.

Diese Geschichte soll auch eine Hommage an all die Autor*innen der Azriel/Eris-Liebesgeschichten und ihrer vielen kreativen Ideen um Eris‘ und Morrigans Verlobung sein!

Danke an dieser Stelle an euch, die ihr uns mit Geschichten bereichert und so einen unglaublichen Einfallsreichtum an den Tag legt! Ich hatte nie geplant, mich schriftstellerisch zu betätigen und habe auch vorher nie Fan Fiction geschrieben – aber eure vorliegenden Geschichten haben mich inspiriert, nun meine eigene Version der Ereignisse um Eris‘ und Morrigans Verlobung zu schreiben. Ich hoffe, dass ihr das Gefühl habt, hier wird euch noch einmal etwas Neues geboten!

Die Hauptideen, der Plot und auch die erste Niederschrift der Geschichte stammen von mir – aber es ist nicht ganz mein eigenes Werk, denn mein Partner hat Ideen beigesteuert und einige der coolsten Beleidigungen geschrieben. Es ist damit ein gemeinsames Werk geworden.

Viel Freude beim Lesen und ich freue mich über eure Spekulationen und Kommentare!

Lirii

Chapter 1: Kapitel 1

Chapter Text

 

“There were forces at work that you have never considered,” Eris said coldly. “And I am not going to waste my breath explaining them to you. Believe what you want about me.”

 

„Warum hast du Mor zum Sterben in diesen Wäldern zurückgelassen?“, herrschte Azriel Eris an.

Beide Fae standen sich unmittelbar in der Mitte einer faeverlassenen, kleinen Höhle der Hewn City gegenüber, ihr Gespräch durch Wards geschützt. Ein einziges, schwaches Faelicht hing direkt über beiden, und spendete gerade genug Helligkeit, um Eris üppigen Schmuck und sein goldverziertes Doublet aus smaragdfarbenen Samt zum Funkeln zu bringen. Azriels schwarze Lederkluft hingegen schien alles Licht in sich aufzusaugen. Nur seine schwarzen Haare schimmerten blau unter dem Schein der Lampe. Der Rest der Höhle, samt ihrer felszerklüfteten Wände, war in schattiges Dunkel getaucht.

Eris verdrehte die Augen. „Wir landen immer wieder bei diesem einen Tag, beim immer gleichen Vorwurf.“ Er äffte Azriels Stimme nach: „Du hast sie in den Wäldern zurückgelassen!“ Er reckte das Kinn kampflustig nach vorne und sah Azriel mit seinen bernsteinfarbenen Augen durchdringend an. „Ist euch Nachthofbastarden schon einmal aufgefallen, dass ihr mir immer und immer wieder den gleichen Vorwurf macht? Habt ihr euch das auf eure Unterarme tätowiert, denn es scheint mir, als benutzt ihr sogar jedes Mal den gleichen Wortlaut?“

Azriel faltete seine Schwingen drohend auf, seine Schatten waberten um ihn herum. „Lenk nicht ab. Es spielt keine Rolle, in welchen Worten der Vorwurf formuliert wird. Du hast sie dort zum Sterben zurückgelassen.“, sagte er mit tödlicher Ruhe.

Mit jedem folgenden Satz machte er einen Schritt nach vorne. Seine körperliche Präsenz und sein Tonfall waren so eindringlich, dass Eris Stück für Stück näher an die raue Wand zurückgedrängt wurde. „Skrupellos und grausam. Mit drei langen Nägeln in ihrem Bauch. Du hättest sie retten können. Aber du hast sie in den Wäldern zurückgelassen.“ Eris wich nach und nach zurück, bis er den Felsen an seinem Rücken spürte.

Azriel legte seine vernarbten Hände an Eris‘ Schultern und drückte ihn gegen die Wand. Wie Tentakel züngelten einige Schatten auf seinen Armen in Eris‘ Richtung. Nur noch wenige Zentimeter trennten die Gesichter der beiden. „Wenn unsere Allianz und all deine ehrgeizigen Pläne nicht augenblicklich enden sollen, Vanserra, dann wirst du jetzt aufdecken, welche Kräfte am Werk gewesen seien sollen, die wir nicht berücksichtigt haben.“

Wenn das spitze Gestein in seinem Rücken Eris Schmerzen bereitete, so konnte man es seinem Gesicht nicht ansehen. Seine Körperhaltung straffte sich in dem Moment, als Azriel seine Forderung an ihn stellte. Trotz der beengten Lage lächelte er mit einem Mal hintergründig. „Du willst also unbedingt wissen, was wirklich geschah damals… meine ungeschminkte Version der Ereignisse?“

Mit einer nicht unerheblichen Kraftanstrengung drückte er Azriel eine Armlänge weg von sich. Die Luft um ihn herum wurde heißer. Azriel ließ seine Hände und Schwingen langsam sinken, doch sein Körper blieb angespannt, bereit in jeder Sekunde sein Gegenüber wieder zu packen.

Die Schultern leicht ausschüttelnd, fuhr Eris mit lauterer, aber ruhiger Stimme fort. „Nun gut, Schattensänger, ich gewähre dir deinen Wunsch. Aber nur unter einer Bedingung: Wir schließen einen Handel. Denn wie wir soeben wieder gesehen haben, hast du dich nicht unter Kontrolle, wenn Morrigan und ich im Spiel sind. Wenn wir keinen Handel eingehen, dann wirst du mich das Ende der Geschichte nicht erzählen lassen. Und das wird auch das Ende der Allianz bedeuten.“

Eris zuckte nonchalant mit den Schultern. „Aber dann wirst du nie erfahren, was wirklich passiert ist.“ Mit einem ausforschenden Blick fragte er: „Also – willst du deinen Trieben folgen oder willst du die Wahrheit wissen“?

Azriels Nasenflügel kräuselten sich leicht, als er die Luft einsog. Er schwieg zu der Frage.

„Unser Handel, Schattensänger, sieht folgendermaßen aus: Du erfährst meine Wahrheit über die damaligen Ereignisse. Dafür musst du dir zwei Versionen der Geschichte anhören. Zuerst die einfache Variante. Bei dieser wirst du mich nicht unterbrechen… und spar dir das An-Wände-Drücken auf für wen auch immer du in deinem Privatleben bespringst.“

Eris machte eine Pause und sah Azriel auffordernd an. Als dieser mit einem halben Kopfnicken Zustimmung signalisierte, kehrte das gewohnte, selbstsichere Grinsen auf Eris‘ Gesicht zurück. Er fuhr mit einer Spur Herablassung in der Stimme fort: „Danach wirst du mich noch mehr hassen, mich noch mehr gegen den Felsen pressen wollen, mich schlagen wollen und was auch immer euch illyrischen Schlägertypen einfallen mag an roher, sinnfreier Brutalität.“

Azriels Augen verengten sich zu Schlitzen. Seine Schatten sammelten sich auf seiner Schulter, als würden sie von der erhöhten Position aus Eris beäugen.

Als er die nächsten Bedingungen stellte, wurde Eris ernst. „Daher wird ein Teil des Handels sein, dass du jegliche körperliche Gewalt unterlässt und stattdessen ein Glas Whiskey trinkst. Dann wirst du dir den zweiten, komplizierten und politischen Teil der Geschichte bis zum Ende anhören. Hier solltest du mir dann Fragen stellen, um es auch wirklich zu verstehen. Mit dem Handel wirst du dich zuletzt dazu verpflichten, dass du über das, was ich dir erzähle, gegenüber allen anderen Personen schweigst. Mit ‚Schweigen‘ meine ich keinerlei Kommunikation über alles, was wir hier im Folgenden reden.“ Er macht eine unbestimmte Geste, die wohl den Raum umfassen sollte. „So wenig wie du sonst redest, sollte das ja ein Leichtes für dich sein.“

Azriel fixierte Eris mit unbewegtem Gesicht. Das Flickern seiner Augenlider ließ erahnen, dass Azriel abwog, welche Schlupflöcher die Worte des Handels beinhalten mochten. Nach einigen Augenblicken schnaubte er schließlich: „Woher nehmen wir das Glas Whiskey für den Handel …?“

„Nun, das ist nichts, was ich nicht bedacht hätte…“, erwiderte Eris trocken, griff mit einer Hand seitlich in die Luft und holte aus der Tasche zwischen den Welten eine Flasche mit bernsteinfarbener Flüssigkeit heraus. Im Schein des schwachen Faelichts schimmerte der Whiskey in der Farbe von Eris‘ Augen. „Wenn du übergroße Fledermaus für einen Augenblick den Drang unterdrücken kannst, mich zu bedrängen, werde ich sie irgendwo hinstellen und das Glas dazu besorgen.“, sagte er im beiläufigen Tonfall eines Bartenders, der einem Stammgast seinen gewohnten Drink serviert.

Irritiert von Eris‘ Gelassenheit rückte Azriel tatsächlich einen weiteren Schritt von Eris ab. Dieser zog mit der freien Hand sein elegantes Doublet gerade und schüttelte seine langen, roten Haare aus, die sich wie von selbst zu ordnen schienen. Einen Moment später strahlte Eris wieder die Aura des makellosen Prinzen aus. Er stellte die Whiskeyflasche auf eine Felsausbuchtung neben den beiden, als wäre sie ein Serviertischchen, und zauberte zwei passende Gläser dazu.

Azriels Gesicht war zwar eine stoische Maske, aber das Schweigen verriet, dass er innerlich uneins war, ob er den Handel annehmen solle. Schließlich richtete sich Azriel zu voller Größe auf, entfaltete seine Schwingen und tauchte Eris damit in den Schatten seiner massigen Gestalt. „In Ordnung.“, erwiderte er kurz angebunden mit tiefer Stimme. Er ging einen Schritt auf Eris zu und sprach die magischen Worte. „Wir haben einen Handel.“

„Wir haben einen Handel.“, erwiderte Eris. Die Luft vibrierte kurz vor alter Magie, als der Bund besiegelt wurde.

Azriel faltete seine Schwingen wieder zusammen. Er ließ nun endgültig von Eris ab und schritt seitlich an den Rand der Höhle, ohne Eris aus den Augen zu lassen. Dort angekommen, lehnte er sich lässig gegen einen der Felsen. Die Umrisse seiner dunklen Gestalt verschmolzen mit den Schatten des Felsens. Während sein Körper sich entspannte, verloren die haselnussbraunen Augen nichts von Ihrer Intensität. Sie fixierten Eris abwartend.

Ein selbstzufriedenes Lächeln huschte über Eris' Gesicht und er trat zurück ins Faelicht, aus dem ihn der Schattensänger zuvor gedrängt hatte. Er hob die Hände, wie es die Erzählerinnen taten, wenn sie die Runde der Zuschauenden zum Schweigen bringen wollten. Im Faelicht wirkte seine helle Haut noch blasser als ohnehin, und scharfe Schatten akzentuierten seine Gesichtszüge. Als er Azriels Blick sah, fing er ihn auf und ließ der Stille zwischen den beiden Raum. Einige Momente versenkten sich ihre Blicke ineinander. Gerade als Azriels Schwingen leicht zuckten und er ansetzte, die Stille zu unterbrechen, fing Eris an zu erzählen.

„Hier ist also die einfache Version der Geschichte.“, begann er zunächst belehrend, um dann zu einem eisigen Tonfall umzuschwenken. „Morrigan hat mich bis ins Mark gedemütigt, indem sie sich von Cassian entjungfern ließ.“ Eris grimmiger Blick verriet, dass er dies damals wirklich so empfunden haben musste.

Nach einem kurzen Moment des Schweigens schnaubte Eris kurz und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es geht hierbei nicht um den Sex an sich oder gar um Eifersucht – meine Güte, bei der Mutter, mir war und ist vollkommen egal, mit wem es Morrigan zu treiben beliebt. Mir war schon als junger Fae klar, dass der ganze Unsinn mit Reinheit und Jungfräulichkeit nur dazu dient, um Frauen an der kurzen Leine zu halten.“

Er hielt inne und sein Blick schweifte kurz in die Ferne, als würde er an etwas – oder jemanden – denken. Er richtete aber gleich wieder seine Augen auf Azriel.

„Ich habe damals durchaus verstanden, dass dies für Morrigan eine Möglichkeit war, um unserer Heirat zu entkommen. Das Problem war, politisch hat sie in vollem Bewusstsein meinen Ruf und mein Leben gefährdet: Meine Zukünftige schläft lieber mit einem dahergelaufenen Bastard, als mich – den Kronprinzen des Herbsthofes! – zu heiraten. Als wäre ich so minderwertig und so fürchterlich, dass selbst ein armer, vollkommen statusloser Schlagetot und die Besudelung ihrer eigenen Ehre die bessere Wahl ist.“

Eris lachte kurz bitter auf. „Die Fae des Herbsthofes sind traditionell und konservativ und vor allem: Sie nutzen jede Schwäche des anderen gnadenlos aus. Im Herbsthof ist der Angriff auf den eigenen Ruf genauso bedeutsam wie ein Angriff auf den eigenen Körper. Ein Kronprinz, der sich so etwas gefallen lässt, ist kein Kronprinz und auch kein Prinz mehr. Er ist nur noch ein verachtenswerter Schwächling. Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als Morrigans Angriff gegen mich zu parieren. Und das ging nur, indem ich ihre eigene Tat gegen sie verwendete und sie selbst so hart wie möglich beleidigte.“

Eris nahm einen tiefen Atemzug und wiederholte die damals gesprochenen Worte mit einer Verachtung, als erlebte er den Moment erneut: „Morrigan hat sich von einem niedriggeborenen Fae-Bastard besudeln lassen. Ich ficke lieber eine Sau als sie.“

Azriel schnellte aus seiner lässigen Haltung hervor und kam nur wenige Zentimeter vor Eris zum Halten. Ein tiefes Knurren kroch aus seiner Kehle und seine Blicke durchbohrten den Prinzen voller Hass. Seine Schatten sirrten um ihn herum.

Einen Moment lang war unklar, ob der Krieger den Handel ehren oder versuchen würde, ihn zu brechen. Die Magie flimmerte über seine goldbraune Haut und tanzte mit den Schatten über seine Rüstung. Schließlich, gemäß dem Handel, sagte und tat er nichts weiter.

Sein Ausbruch war nicht spurlos an Eris vorbeigegangen. Auf dessen Fingerspitzen züngelten für einen Augenblick kleine Flammen, als der Schattensänger aufgesprungen war. Nachdem dieser langsam wieder einen halben Schritt abrückte und die Schatten sich ruhig um Azriels Lederkleidung legten, erlosch das Feuer. Eris fuhr fort: „Durch meine schroffe Zurückweisung lag die ganze Schmach ihrer Aktion wieder auf ihrer Seite. An weiblichen Fae blieb Schmutz schon immer wesentlich besser haften als an männlichen.“ Eris schnaubte kurz, was anzeigte, dass er diese Tatsache, die er für sich selbst genutzt hatte, trotzdem nicht guthieß.

„Ich dachte mir zudem, dass ich Morrigan durch die klar gelöste Verlobung jetzt genau das gegeben hatte, was sie wollte: Ihre Freiheit. Denn mit ihrem jetzigen Ruf konnte sie Keir auch an niemand anderen von Rang verheiraten, zumindest nicht in den traditionelleren Höfen wie Herbst oder Nacht.“

Eris beugte sich nach vorn, näher an Azriels Gesicht heran, seine Stimme tief und ernst. „Aber das ist keine Entschuldigung für meine Tat, Schattensänger. Und hier kommt der Teil, durch den du mich noch mehr hassen wirst: Ich habe Morrigan im vollen Bewusstsein beleidigt und auch gewusst, dass damit noch drastischere Konsequenzen aus ihrer Tat für sie erwachsen würden.“

Seine Stimme senkte sich bis zu einem Flüstern herab und erschuf damit eine kleine Welt, die nur Azriel und ihn umfasste. „Oh ja, Schattensänger, ich habe mir sogar gewünscht, dass sie bestraft wird, für die Unverschämtheit, für die Anmaßung, mich so sehr zu demütigen und damit mein ganzes Leben zu riskieren. Ich war voller kalter Wut. Ich wollte nie wieder etwas mit ihr zu tun haben, wollte eine Bindung zu ihr auf jeden Fall verhindern. Ich wollte, dass sie sich in dem Staub windet, in den sie mich hatte stoßen wollen. Kannst du das überhaupt ermessen? Sie hat mich nicht nur zurückgewiesen. Ich war nur Beiwerk in einem Machtkampf mit ihrem Vater. Kein Fae, kein fühlendes Wesen, sondern ein Ding, das man achtlos zertreten kann, um den Plan des Vaters zu vereiteln.“

Azriel knurrte abermals und ballte die Fäuste. Beide lieferten sich ein Blickduell: Azriel mit aus Liebe und Sorge geborenem Hass, Eris voller Zorn über das Geschehene.

Eris senkte als erster den Blick und krauste seine Stirn bei der Erinnerung, was danach folgte. „Was ich aber nicht wissen konnte, war, wie grausam Keir seine eigene Tochter bestrafen würde. Diese Nägel, vor allem aber diese Kaltherzigkeit…“

Er verzog voller Grausen das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Für einen Moment wirkte er, als sei er niedergedrückt von der Erinnerung. „Auch wenn du es mir nicht glaubst, Schattensänger, aber ich habe heute noch Alpträume vom Anblick der gemarterten Morrigan.“

Eris nahm Azriels Blick wieder auf und streckte den Rücken durch. „Aber dennoch – als ich sie dort sah, erfasste mich nicht etwa Entsetzen oder Schrecken oder Mitleid. Alles, was ich spürte, war eine kalte Wut auf sie für die Demütigung, die sie mir angetan hatte und den dreisten Versuch ihres Vaters, sie mir nach all dem doch noch aufzuhalsen. Ich wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben, nicht für sie verantwortlich sein und eine Bindung zu ihr auf jeden Fall verhindern. Wenn ihre Familie diese Strafe für angemessen hielt, sie wie Müll behandelte… dann war das nicht meine Verantwortung, sondern ganz allein ihre eigene. Sie hatte bereits in dem Kriegscamp die Wahl getroffen, dass sie lieber ihr Leben riskierte, als am Herbsthof zu leben. Und als ich sie dies fragte, sprach ihr Blick Bände. Also… ließ ich sie in den Wäldern zurück.“

Eris sah Azriel auffordernd und provozierend an. Er schien sich seiner Grausamkeit und Kälte nicht im Geringsten zu schämen, als spürte er heute noch die genau gleiche verzehrende Wut wie damals.

Azriels Zähne knirschten voller unterdrücktem Zorn und die Adern seines Halses schwollen an. Die Schatten richteten sich an jedem Körperteil drohend auf, als würden sie Eris gleich anspringen. Azriels ganzer Körper war gespannt vor Anstrengung, gemäß dem Handel Eris seine Untaten nicht zu vergelten.

„Du Monster…“, presste er hervor.

Eris lockerte seine resolute Pose und stand nun lässig vor ihm, als würde er die ganze Bedrohung gar nicht wahrnehmen. Er schmunzelte nur einmal kurz, als sein Blick über Azriel schweifte. „Whiskey?“, fragte er süffisant.

Ohne auf die Antwort zu warten, schritt er zur Wand. Eris nahm die Flasche auf, füllte das Glas und streckte es Azriel wortlos entgegen. Dessen Blick war voller Abscheu, als er wie mechanisch zu Eris ging und das Glas entgegennahm. Mit einem Zug leerte Azriel den Whiskey und sein Körper entspannte sich ein wenig. „Was ist der zweite Teil der Geschichte?“, knurrte er und klirrte das Glas auf die Felsenausbuchtung.

Chapter 2: Kapitel 2

Notes:

High Lord Rhion – Rhysands Vater

Familie Novara – der Nachname der Familie von Eris‘ Mutter

Eris‘ Tanten – ich mag den Gedanken, dass Eris und seine Mutter viele Kontakte zu seinen Tanten hatten, bevor diese im Krieg starben

Salz aus der Hewn City – hierzu hat mich die großartige Geschichte „our bodies, possessed by light“ von iftheshoef1tz inspiriert. Sollte jemand von anderen Handelsgütern wissen, lasst es mich wissen!

In diesem Kapitel habe ich eigene Interpretationen zur Heiratspolitik in Prythian einfließen lassen! (Auch, um wenigstens in Ansätzen die seltsame Situation in den Büchern zu erklären, warum High Lords wie Beron oder Rhysands Vater erst nach Jahrhunderten heiraten und nicht schon viel früher.)

Laut meiner Zeitrechnung findet der Erste Krieg gegen Hybern vier Jahre nach der Verlobung von Eris und Morrigan statt (wenn Morrigan am Ende des siebenjährigen Krieges 28 Jahre alt ist und nicht am Anfang des Krieges). Für mich macht es aber Sinn, dass schon viel früher politische Unruhen von den Menschen ausgehen und die Freiheitsbewegung der Menschen auch manche Lesser Fae zu eigenen Gerechtigkeitsforderungen inspiriert. Prythian ist in dieser Geschichte daher auch schon zur Zeit der Verlobung politisch instabil.

Chapter Text

„Was ist der zweite Teil der Geschichte?“, knurrte Azriel und klirrte das Glas auf die Felsenausbuchtung, neben der Eris und er standen.

Gemächlich schenkte Eris sich selbst sein Glas ein und trank es ruhig aus. „Für den zweiten Teil, Schattensänger, würde ich mich an deiner Stelle wieder anlehnen. Das wird jetzt einige Zeit in Anspruch nehmen und ich hoffe…“, er sah Azriel provozierend an, „die ganzen Windungen und politischen Implikationen überfordern dich unzivilisierten Wilden nicht.“

Azriel verengte seine Augen zu Schlitzen, zuckte nach vorn und entriss Eris mit einem Ruck die Whiskeyflasche. Mitsamt der Flasche zog er sich in die Dunkelheit des Felsens zurück. Eris stellte sein Glas auf den Felsvorsprung und schlenderte wieder in die Mitte der Höhle, wie ein Schauspieler, der die beleuchtete Bühne sucht. Er hob zu reden an.

„Nachdem ich Morrigan in den Wäldern zurückließ, dehnte ich die Patrouille bis zum nächsten Tag aus und schickte auch keinerlei Boten an Beron. Mein Vater sollte nicht die Möglichkeit erhalten, seinerseits Morrigan von der Grenze zu holen. All das brachte mir eine seiner berüchtigten Lektionen ein. Er hätte Morrigan lieber als ‚geschätzten Gast‘ am Hofe begrüßt und ich musste ihm mit jeder Einzelheit der Vorfälle Rede und Antwort stehen.“ Eris fuhr sich mit seiner Hand durch seine roten Haare. Ein leichter Schauder lief seinen Nacken herab, den nur jemand mit Azriels scharfer Beobachtungsgabe wahrnehmen konnte.

„Willst du jetzt Mitleid bei mir erzeugen?“, höhnte Azriel aus dem Dunkel hervor. „Die Lektionen hast du wahrlich verdient, Prinz, und ich wäre gern dabei gewesen.“, fügte er mit nicht verhohlener Genugtuung an. „Hätte Rhysand mich nicht abgehalten, hätte ich dich mit den Nägeln alle Schmerzen von Mor, ihre Verzweiflung, ihre Hoffnungslosigkeit und mehr spüren lassen.“

Eris rollte mit den Augen und winkte genervt mit der Hand ab. „Jaja, der Foltermeister vom Hof der Alpträume. Wir wissen alle, zu was du fähig bist.“

Ohne auf Azriels Reaktion zu warten, nahm er den Faden seiner Erzählung wieder auf. „Weil Morrigan nicht mehr zu finden war, vermutete Beron jedenfalls, dass ich ihr heimlich auf der einen oder anderen Weise geholfen hatte, einem Leben unter seiner Knute zu entkommen und dass ich im Herzen ein verweichlichter Schwächling sei. Aber er konnte mir nie etwas nachweisen, denn: Ich hatte ihr in der Tat nicht geholfen.“ Azriels Hand näherte sich Truth-Teller, ballte sich kurz zur Faust und senkte sich dann langsam und kontrolliert wieder.

 „Einige Tage später musste ich mich vor meiner Mutter und meinen Tanten verantworten, die zur besagten Zeit nicht im Waldpalast waren, sondern auf dem Landhaus ihrer Familie. Im Gegensatz zu meinem Vater waren sie mehr als schockiert darüber, dass ich Morrigan einfach kaltblütig ihrem Schicksal überließ. Sie waren entsetzt, welche Worte ich ihr gegenüber in den Mund genommen hatte. Meine Tante konnte nicht fassen, dass ich nicht in der Lage oder Willens gewesen war, Lösungen zu finden, um Morrigans Überleben zu sichern, ohne sie an den Herbsthof zu binden. Etwa heimlich einen loyalen Soldaten zurückzulassen, der Morrigan zur Flucht verhelfen könne. Oder unsere vertrauenswürdige Heilerin dort hinzubringen. Die Wachen im Winterhof zu alarmieren. Rhysand eine Nachricht zu schicken. Einen der Hunde auf sie aufpassen zu lassen. Oder wenigstens die verdammten Nägel aus ihrem Bauch zu ziehen und die Wunde zu kauterisieren. Es hätte so viel gegeben, was ich heimlich hätte machen können.“

Azriel schnaubte. „Sehr wahr.“ Er trank einen Schluck aus der Flasche.

„Ich hätte auch die Fähigkeiten dazu gehabt, denn wir alle hatten Beron damals schon mehr als einmal hinter der Fassade des scheinbaren Gehorsams hintergangen und ausgetrickst.“ Eris drehte an einem der vielen Ringe an seiner Hand.

„Aber egal, wie ich die Ereignisse im Gespräch mit meinen Tanten drehte und wendete: Beim Durchdenken der Alternativen entglitten mir meine Gedanken immer wieder und ich kehrte immer wieder zu denselben Gefühlen und Überzeugungen zurück: Ich war unglaublich wütend auf Morrigan. Ich wollte nie wieder etwas mit ihr zu tun haben und eine Bindung zu ihr auf jeden Fall verhindern.“ Eris betrachtete einen zarten, fast feminin wirkenden Ring an seinem kleinen Finger.

„Es gab im Nachklang dann einige Dinge, die mich nicht losließen. Wo war meine Gewitztheit geblieben, mit der ich in allen Situationen Alternativen finden konnte? Warum hatte ich mich so von meiner Wut überwältigen lassen und warum beherrschte sie mich immer noch? Mein ganzes bisheriges Leben hatte ich als Feuermagier gelernt, meine Gefühle zu kontrollieren und nach meinem Verstand zu handeln.“

Eris zog wie nebenbei von seinem linken Zeigefinger einen einfachen Goldring und entzündete beim Abziehen eine blaue Stichflamme an der Fingerspitze. Mit seiner rechten Hand hielt er, ohne hinzusehen, den Ring in die Flamme. Ein Goldtropfen fiel auf den grob gehauenen Boden. „Feuermagie meines Kalibers erfordert extreme Beherrschung, Schattensänger, alles andere ist tödlich für einen selbst und andere.“

Mit einer ruckartigen Bewegung schloss Eris seine Hand und ließ die Flamme verlöschen. Den beschädigten Ring ließ er in der Innentasche des Doublets verschwinden. „Und noch wichtiger, in den Worten meiner Tante, war ich wirklich so unbarmherzig und rachsüchtig, ein Abbild meines Vaters? So einfallslos und vorauseilend gehorsam wie noch nie in meinem Leben?“

Eris beginn hin und her zu gehen, als würden ihn heute noch diese Fragen nachts den Schlaf kosten. „Alle halten mich für den kalten, grausamen Prinzen, der Beron nach dem Wort tanzt, aber die Ereignisse untergruben mein ganzes Bild von mir selbst.“

Azriel lachte ungläubig auf.

„Und als ich die Ereignisse wieder und wieder in meinem Kopf durchging und mich selbst zu ergründen versuchte, kam immer mehr hoch, was ich plötzlich nicht mehr gut erklären konnte. Warum überhaupt hatte meine Einheit Morrigan gefunden und nicht eine andere? Wie konnte Morrigan trotz ihrer schweren Verletzungen und trotz der Gefahren in diesen Wäldern überleben, bis du sie gefunden hast? Wie konntest du sie finden?“

Azriel schwieg, die Stirn gerunzelt. Eris blieb abrupt vor Azriel stehen und fuhr mit bedeutungsschwangerer Stimme fort.

„Es war etwa ein Jahr später eine der militärischen Strategiesitzungen zu dem sich anbahnenden Krieg, in der ich plötzlich einen ganz neuen Blick auf die ganzen Geschehnisse bekam. Es wurde nämlich die politisch-militärische Situation der einzelnen Höfe debattiert, wer wohl die Seite der menschlichen Rebellen unterstützen würde und mit welcher militärischen Schlagkraft. Und dann fiel der folgenschwere Satz, der mich sehr, sehr lange beschäftigt hat: ‚Jetzt, wo Keir an Macht verloren und High Lord Rhion sich politisch wieder gefestigt hat…‘.“

Eris hielt inne und sah Azriel lange an, als müssten auch diesem nun einige Lichter aufgehen oder zumindest einige Fragen kommen.

Wortlos drehte Azriel die Flasche in seinen Händen und sah Eris dabei ruhig abwartend an. Eris setzte wie ein Schulmeister nach.

„Und, Schattensinger, was weißt du über die damalige innenpolitische Situation am Nachthof?“

Azriel grunzte kurz, räusperte sich dann. „Es gab damals beachtliche Unruhen in den illyrischen Camps, aber Rhion hat sie unter Kontrolle gebracht.“ Eine Hand wanderte zu Truth-Teller und drückte das Heft kurz, als käme eine Erinnerung hoch.

Eris nickte und dozierte: „Die Macht des Nachthofes beruht militärisch auf zwei Säulen: Einmal auf den Truppen der Illyrianer, zum anderen auf den Legionen der Dunkelbringer. Die Illyrianer sind gefürchtet in den Kriegen, aber für den High Lord durchaus unberechenbar, denn die Kriegsherren in Illyria haben schon immer dazu tendiert, Rebellionen anzuzetteln und gegen ihren High Lord aufzubegehren. Und auf die Dunkelbringer ist für den High Lord auch kein Verlass, denn laut alter Verträge obliegt es Keir als Truchsess der Hewn City, die Dunkelbringer zu aktivieren oder eben auch nicht.“

„Ich bin der verdammte Spionagemeister des Nachthofs, das musst du mir nicht erzählen.“, fauchte Azriel erzürnt und knallte die Flasche neben sein Glas.

„Unruhig, weil ich die militärischen Schwachstellen des Nachthofs kenne, Spionagemeister? Keine Sorge, darüber wird in ganz Prythian geredet. Du solltest dir lieber Sorgen machen, warum dein High Lord seit 500 Jahren nicht in der Lage ist, dieses Problem zu lösen …“, spottete Eris und konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen.

„Rhys hat alle Kriege gewonnen, in denen er gekämpft hat, wohingegen Beron sich mit seiner Armee nur aus dem Herbsthof heraustraut, wenn er dazu gezwungen wird. Darüber solltest du dir Sorgen machen, ‚General‘.“, erwiderte Azriel und zog Eris‘ militärischen Titel übertrieben in die Länge.

Kurz blitzte Anerkennung über Eris‘ Gesicht ob der schnellen Erwiderung auf seine Provokation. Als wäre nichts passiert, erzählte er weiter.

„Damals befanden wir uns jedenfalls wenige Jahre vor dem Krieg. Es gab viele Unruhen, die die Menschensklaven anzettelten, und viele Lesser Fae schlossen sich diesen mit eigenen Aufständen gegen die High Fae an – auch einige illyrische Kriegsherren. Und Rhions Situation war hier äußerst schwierig: Gegen rebellierende Illyrianer war er auf Keir angewiesen, der in ganz Prythian die einzige Truppe besaß, die rein aus High Fae bestand.“

„Komm‘ verdammt noch mal zum Punkt, Vanserra. Was hat das mit Mor und dir zu tun?“, fragte Azriel in gelangweiltem Ton.

„Oh ihr ungeduldigen Rohlinge wollt immer nur das Offensichtliche sehen und nie das ganze Bild!“, brach es aus Eris entnervt hervor. Er baute sich vor Azriel auf. „Du bist doch der Spionagemeister des Nachthofs, wieso beim verdammten Kessel will es nicht in deinen dicken Schädel hinein, dass alles, was zwischen den mächtigen Familien passiert, politische Hintergründe hat?!“, zischte er ihn an. „Diese Lektion musste ich damals auf die harte Tour lernen, also wirst du jetzt gefälligst einen Abend deiner Zeit erübrigen, um dir das erklären zu lassen!“

Beide lieferten sich ein wortloses Blickduell.

„Lass mich dir noch Keirs Situation in diesen Jahren aufzeigen, um das ganze Bild abzurunden, Schattensänger.“, setzte Eris seine Erläuterungen fort und begab sich wieder in die Mitte der Höhle. Azriel folgte ihm mit seinen Blicken, blieb aber statuengleich an der Wand stehen.

„Keirs Familie hatte vor einigen Generationen noch selbst die High Lords gestellt. In seinem Blut fließt zudem jenes von Rhions Familie. Er hat also von seiner Abstammung und seiner Zauberkraft her allen Grund selbstbewusst zu sein. Die illyrischen Rebellionen stärkten damals Keirs Position stark, weil Rhion jeden Moment als Bittsteller auf ihn zukommen konnte, um die Dunkelbringer einzusetzen. Und der Preis für diesen Einsatz wäre vermutlich hoch gewesen: Die ganze Hewn City stand damals geschlossen mit Keir zusammen in ihrer Abneigung gegen die Rebellionen der Lesser Fae und der Menschen, aber genauso gegen den High Lord, der eine besagte Lesser Fae geehelicht hatte. Keir konnte große Zugeständnisse von Rhion erwarten.“

Eris hielt kurz inne, damit seine Worte sich bei Azriel setzen konnten. „Und dann geschah noch ein weiteres Ereignis, das Keir sicherlich ein paar Freudentränen hat vergießen lassen: Morrigans erwachende Magie, die einen ganzen Berg erbeben ließ. Die Hewn City hat außer ihrem berühmten Salz nicht viele Handelsgüter, mit denen Keir Verbündete finden kann, und der Ruf als Hof der Alpträume ist auch nicht gerade förderlich für diese Belange. Aber eine extrem mächtige Tochter an einen anderen Hof zu verkaufen, das war für Keir eine einmalige Gelegenheit, um für seine Familie wieder einen Schritt Richtung High Lord zu machen.“ Eris wedelte zur Betonung mit seinem beringten Finger.

„Und dieser andere Hof, das war dann der Herbsthof…“, ergänzte Azriel ruhig aus dem Halbschatten.

„Beron war und ist besessen davon, mit den richtigen Frauen mehr Macht für die Vanserras zu züchten. Er hat nicht umsonst mehrere Jahrhunderte gewartet, bis die sehr kraftvolle Familie Novara endlich eine passende und vor allem magisch sehr patente Tochter – meine Mutter – gezeugt hatte. Morrigan war eine ideale Gelegenheit, denn ihre Art der Magie birgt nicht die Gefahr in sich, Feuermagie in irgendeiner Weise zu dämpfen. Weißt du überhaupt, welche Fae das Land aussucht, um High Lord zu werden?“

Azriel schnaubte ob der offensichtlichen Beleidigung seiner Bildung. „Natürlich weiß ich das, jedes verdammte Kind in Prythian kann dir das beantworten. Nicht der älteste Sohn des High Lords, sondern der magisch mächtigste männliche Fae.“

„Ja genau, mit einer weiteren Einschränkung: Er muss über jene Macht verfügen, die das Land repräsentiert. Wäre einer meiner Brüder, sagen wir, ein hervorragender Daemati und in seiner Kraft mächtiger als ich, würde ihm das trotzdem rein gar nichts nutzen.“ Eris grinste ob der Vorstellung.

„Daher kommt es selten vor, dass High Lords Frauen von anderen Höfen heiraten. Jemand mit Wasser- oder Eismagie käme für mich zum Beispiel gar nicht in Frage – denn dann wäre die Gefahr groß, dass die dem Land originäre Feuermagie in der Nachfolge geschwächt wird und eine der anderen mächtigen Familien des Herbsthofes den nächsten High Lord stellt statt einer meiner Söhne. Eine Gefahr, die sowieso immer besteht, und der man durch die richtige…“, Eris spie das nächste Wort verächtlich aus, „‚Zucht‘ zuvorkommt. In dieser Hinsicht hatte Rhion übrigens keine gute Partie gemacht: Eine dahergelaufene Illyrianerin, ob Seelengefährtin oder nicht, verschafft einem bei den High Fae Familien kein Ansehen und magische Macht ist von ihrem Blut auch nicht zu erwarten. Und dass er verhinderte, dass ihr die Flügel gestutzt werden, machte ihn wiederum bei den Illyrianern unbeliebt. Auch das dürfte die Rebellionen gefördert haben.“

„Wenn der Handel für dich beinhaltet, dass ich dir ewig mit lauter Abschweifungen zuhöre, noch dazu welchen, die mir alle bekannt sind, hast du dich getäuscht, Vanserra.“, sagte Azriel ruhig und tappte mit den Fingern gegen Truth-Teller.

Eris grinste diabolisch. „Es ist es viel zu amüsant, die Geschichte auszureizen, immerhin musst du mir bis zum Ende zuhören. Wann habe ich schon einmal deine volle Aufmerksamkeit und nicht nur die deiner Schatten, Spionagemeister.“ Theatralisch fasste sich Eris an die Brust. „Ich genieße das viel zu sehr, um das nicht auszukosten!“, scherzte er.

Azriel zog nur eine Braue hoch. Seine Schatten, die bisher im Dunkel nicht mehr zu sehen waren, wirbelten aufgeregt um die Krallen seiner Flügel herum.

„Aber um das abzuschließen: Rhion hatte mit vielen politischen Problemen zu kämpfen. Für Beron war Morrigan das ideale Zuchtmaterial. Zudem hatte er das Ziel, Rhion mit der Allianz zu Keir zusätzlich zu schwächen. Keir hingegen hatte das Interesse mit Beron einen Verbündeten zu gewinnen, der skrupellos genug war, irgendwann auch gegen Rhion in den Krieg zu ziehen, um Keir bei einem Putsch zu unterstützen. Und wer weiß, vielleicht wollte Keir auch die Chance haben, dass einer von Morrigans Söhnen ein Anwärter für den Nachthof wird.“

„Schön und gut, das mag ja alles sein, aber was beim verdammten Kessel hat das damit zu tun, dass du Mor im Wald zum Sterben zurückgelassen hast?!“

„Beantworte mir eine Frage, die ich mir auch gestellt habe, Schattensänger: Wie hatte eigentlich Rhion auf die Verlobung reagiert, die politisch für ihn ein einziges Desaster war?“

Chapter 3: Kapitel 3

Chapter Text

„Beantworte mir eine Frage, die ich mir auch gestellt habe, Schattensänger: Wie hatte eigentlich Rhion auf die Verlobung reagiert, die politisch für ihn ein einziges Desaster war?“, fragte Eris. Seine goldenen Augen funkelten unter dem Faelicht mit seinen Ohrringen um die Wette.

Den Blick nach innen gerichtet, neigte Azriel den Kopf nachdenklich zur Seite. Jetzt, wo das Helle seiner Augen nicht mehr zu sehen war, verschwand er fast in der Dunkelheit an der Wand der Höhle. Er schwieg einen Augenblick, als grabe er in seinen Erinnerungen. „Rhysand erzählte uns, dass es seinem Vater egal war, ob seine Cousins ihre Nachkommen als Zuchtvieh benutzten.“

„Oh ja, genau das war auch mein damaliger Wissensstand, so hatte ich ihn bei der Verlobungsfeier erlebt – nicht sonderlich interessiert, passiv, als ginge ihn all das gar nichts an. Ein Gesicht voller Langeweile – die Maske aller High Fae Höflinge, wie wir sie kennen und lieben.“, fügte Eris sarkastisch an. Seine Augen bohrten sich in Azriels. „Aber, Schattensänger, machte es Sinn für Rhion, einer Verlobung einfach nur zuzusehen, die seine Macht dermaßen untergräbt?“

Für einen Moment erwiderte Azriel Eris‘ Blick, dann sah er zur Seite und verzog seinen Mund missmutig. „Nein, machte es nicht.“, gab er widerwillig zu.

Eris nickte zufrieden. „Ich war ab sofort besessen davon, alles herauszubekommen, was sich damals am Nachthof abgespielt hatte. Ich würde sagen, das war mit ein Grund, warum ich später Chef der Spionage des Herbsthofes wurde. Ich heuerte damals meine ersten eigenen Informanten in der Hewn City an.“ Ein versonnenes Lächeln huschte über Eris‘ Züge. Einen Moment später wurde er aber wieder ernst.

„Der Verlobung gingen einige geheime Verhandlungen voraus. Beron und Keir wollten Rhion überrumpeln, der von den Aufständen in Illyria abgelenkt war. Keir hielt sich für stark genug, dass er seinem eigenen High Lord nur einen Tag vor der offiziellen Verlobungsfeier von derselbigen verkünden konnte. Morrigan hat übrigens von der Verlobung am selben Tag erfahren wie Rhion und Rhysand. Rhion wurde an eben diesem Tag als gelangweilt und gleichgültig beschrieben, wohingegen Keir auftrumpfte und vor Selbstzufriedenheit schier platzte.“

„Das war der Tag, an dem Mor Rhysand anbettelte, etwas zu unternehmen und es nicht geschehen zu lassen…“, murmelte Azriel und rieb sein Kinn.

Eris überhörte Azriels Kommentar und sein Ton wurde eindringlicher: „Am nächsten Tag war schon die Verlobungsfeier, die in der Hewn City stattfand und zu der meine Familie und ich eingeladen waren. Die Feier war sehr rituell, Morrigan und ich hatten praktisch keine Gelegenheit auch nur mehr als ein paar Worte zu wechseln, und sie wollte sowieso nicht mit mir sprechen.“

In Eris‘ Ton schlich sich Verbitterung ein. „Sie hatte ihr Urteil über mich schon gefällt. Ich erinnere mich gut an ihre und Rhysands Blicke voller Abscheu.“ Er verzog kurz den Mund.

„Keir schwänzelte die meiste Zeit um Beron herum und selbst als zukünftiger Schwiegersohn war ich für ihn nur mäßig interessant. High Lord Rhion nahm einfach nur gelangweilt an der Feier teil und versprühte als Herr des Hofs der Alpträume ab und an mit seinem Sohn wohldosierten Schrecken.“

Eris verdrehte die Augen und ätzte: „Jeder Schritt ein Erdbeben, dräuende Dunkelheit an allen Ecken und erzwungene Heiterkeit von den Bewohnern der Hewn City. Das volle Programm, wie es Rhysand immer noch nach all den Jahrhunderten nachahmt… Ihm könnte wirklich einmal etwas Neues einfallen… und ich werde Abbild Berons genannt…“

Als Eris sah, wie Azriels Kiefermuskeln sich anspannten und seine Hand sich auf die Waffe senkte, hielt er in seinem Spott für Azriels High Lord und Bruder inne. Die Körpersprache zeigte deutlich, dass der Spionagemeister hier keinerlei Spaß verstand. Eris stieß einen kurzen Seufzer aus. „Wie dem auch sei. Trotz des ganzen Gehabes hatte sich der High Lord erstaunlicherweise Zeit für ein Gespräch mit mir genommen.“

Azriel zog eine Braue nach oben.

„Einfacher Smalltalk, zu meinem Rang in der Armee, zu meinen Hunden… Nichts, was ich in meiner Aufregung damals für bedeutsam befunden hatte. Er führte einige Zeit vorher auch ein Gespräch mit Morrigan. Wie ich herausfand, darüber, dass sie eine gute Ehefrau werden und vor der Hochzeit gut auf ihre Jungfräulichkeit achten solle – das Typische, was steinalte Männer zu jungen Bräuten an Belanglosigkeiten, Belehrungen und Anzüglichkeiten sagen.“

Eris schlenderte zu der Whiskeyflasche und schenkte sich sein Glas ein. Er setzte das Glas an seine Lippen, hielt dann jedoch inne und fuhr fort: „Am Tag nach der Verlobung nahm Rhysand Morrigan in die illyrischen Camps mit, wo sie dann ihre grandiose Idee umsetzte, mit Cassian zu schlafen.“ Eris sah auf sein Glas und schwenkte den Whiskey ein paar Mal. Unvermittelt blickte er Azriel direkt an.

„Sag mir, Schattensänger,“, er führte das Glas abermals an die Lippen, „war Morrigan jemals vorher schon in den Camps gewesen?“ Er nahm einen langen Schluck, während sein Blick auf Azriel gerichtet blieb.

Ob der unerwarteten Frage huschte ein Hauch von Überraschung über Azriels Gesicht. Er strich sich eine blauschwarze Strähne aus der Stirn und antwortete bedächtig. „Nein, war sie nicht.“

„Interessant, nicht wahr? Die Bewohner der Hewn City kommen so gut wie nie aus der Stadt, und erst recht nicht die Frauen, die dort praktisch gefangen gehalten werden. Aber plötzlich nimmt Rhysand seine jungfräuliche und bildhübsche Cousine in ein Kriegscamp voller Illyrianer mit. Ohne jede weitere Bewachung, ohne Anstandsdame und das kurz nach ihrer Verlobung. Einer Verlobung, von der alle wissen, dass sie dieser überhaupt nicht zustimmt. Wieso, beim verdammten Kessel, sollte Keir das erlauben? Und überhaupt – wie kam Rhysand auf die Idee, dass ausgerechnet ein Kriegscamp ein guter Ort sei, um eine junge Frau zu trösten, die von einer Zwangsheirat bedroht ist?“

Azriel öffnete den Mund, hob seine linke Hand, setze zu einer Erwiderung an, dann sank die Hand wieder herab und sein Mund schloss sich wieder.

Eris streifte bedächtig mit der Hand über seinen Mund. Beim Anblick des perplexen Azriels blitzen seine Augen für einen Moment belustigt auf.

 „Vermutlich gab es mehr als einen Illyrianer, der sich vom Fleck weg in Morrigan verliebt hatte.“, murmelte Eris sarkastisch und warf einen vielsagenden Blick auf Azriel. Eris trank das Glas leer. „Und sicherlich genug willige Schwänze, mit denen sie ihr Ziel hätte erreichen können…“

Azriels Lippen pressten sich zu einem harten Strich zusammen, doch er zog Eris für dessen unverschämte Sprache nicht zur Rechenschaft.

Das Whiskeyglas klirrte leise, als Eris es abstellte. Er atmete tief durch. „Kommen wir zum letzten Fragenkomplex, den ich mir stellte. Wieso hat Keir seine Tochter ausgerechnet auf diese Weise bestraft? Was war der Sinn dahinter, was die eigentliche Botschaft?“

Einen Augenblick lang rang Azriel mit sich, dann presste er hervor: „Keir konnte nicht akzeptieren, dass seine Tochter seine Pläne dermaßen durchkreuzte. Sie hatte ja nicht nur dich gedemütigt, Vanserra, sondern auch Keir. Sie hatte durch den Verlust ihrer Jungfräulichkeit die ganze Familie beschämt. Zudem war sie nicht so gehorsam und unterwürfig, wie eine adlige Tochter vom Hof der Alpträume sein sollte. Keir musste seinen Ruf in der Hewn City retten. Also bestrafte er sie grausam und entsorgte sie dann, als wäre sie wertloser Müll.“

„Oh, er kann ja sogar mehrere zusammenhängende Sätze auf einmal von sich geben.“, rief Eris in gespielter Überraschung aus.

Angesichts des abgenutzten Witzes rollte Azriel nur die Augen. Auch diesmal ließ er sich von seinem Gegenüber nicht provozieren, sondern sprach unbeirrt weiter: „Ich denke, er wollte auch dir persönlich eine Lektion erteilen, weil du die Verlobung gelöst hattest und durch deine vulgären Worte nicht nur Mor, sondern auch Keir beleidigt hast. Und vermutlich wollte er noch Reste des Handels retten, den beide Höfe mit der Heirat eingehen wollten. Oder Beron in einen neuen Handel tricksen.“  

Eris nickte leicht, als würde er die Antwort als valide anerkennen, aber zugleich noch überlegen, ob er noch Schwachstellen finden könne. „Alles gute Gedanken, Schattensänger. Aber in der Mutter Namen – war es für Keir tatsächlich die klügste Reaktion? Vor allem politisch? Sich eines extrem wertvollen Guts zu entledigen, eines der wenigen, das er im Spiel der Höfe hatte? Seine einzige, mit verdammten bergerschütternden Fähigkeiten gesegnete Tochter? Und diese verletzt er mit Nägeln in ihrem Bauch, mit der Gefahr, dass sie nie mehr Kinder bekommen kann?!“

Mit jedem Wort wurde Eris‘ Stimme lauter. „Morrigan mag ja immer steif und fest behaupten, dass sie durch ihre sexuellen Eskapaden für Keir wertlos wurde und daher von ihm wie Müll behandelt wurde. Aber das ist eben ein unausgereifter Gedanke, der einer Frau von Morrigans Herkunft und Bildung nicht gut steht.“

Azriel schüttelte grimmig den Kopf. „Oh, es ist so leicht für dich, dich über Mor lustig zu machen, Vanserra. Aber die Ängste, die Verzweiflung, die Hilflosigkeit von ihr denkst du nicht mit. Natürlich konnte sie von der Welt nicht viel wissen, eingesperrt wie sie war. Und sie war eben auch erst nur 17, ein Kind!“

„Ich war damals 15, aber ich hätte nach deiner Ansicht alles, was sie verbockte, retten sollen?“, erwiderte Eris trocken.  „Was ich verlange, ist nicht, dass die Siebzehnjährige das alles durchschaut. Aber die jahrhundertealte Morrigan sollte aufhören sich im Selbstmitleid zu ergießen und sich stattdessen einmal tiefergehende Gedanken zu den Umständen der Ereignisse machen.“

Azriels Gesicht zeigte deutlich, dass ihm Eris‘ Worte Unbehagen bereiteten. „Auch wenn du hier nur Mor nennst, mir ist schon klar, dass dein Vorwurf uns allen gilt.“, sagte er mit finsterer Miene.

Eris nahm Azriels Worte nur mit einem leichten Zucken seiner Augenbrauen zur Kenntnis und setzte sogleich nach: „Und wenn Morrigan das getan hätte, dann wäre ihr aufgegangen: Sie hätte trotzdem noch verheiratet werden können. Vielleicht nicht an den Erben eines High Lords, aber an eine andere aufstrebende Familie. Oder an Höfe, in denen Jungfräulichkeit nicht entscheidend ist, etwa an den Hof des Frühlings oder Sommers. Sie hätte Keir immer noch Enkel gebären können, die er ebenfalls politisch hätte nutzen können.“

Eris hob abwehrend seine Arme, als würde er den Einwand eines nicht anwesenden Zuhörers entkräften: „Jaja, Keir hätte auch darauf setzen können, dass er selbst noch weitere Kinder zeugt und Morrigan für seine Pläne nicht entscheidend ist. Aber ihr wäre aufgegangen, ein Jahrtausendtalent wie sie – das ist verdammt noch mal für eine der mächtigen Familien nie wertlos, egal was sie und mit wem sie es treibt. Kein Kopf einer der mächtigen Familien, der nur ein Quäntchen Verstand in seinem Hirn hat, riskiert ihren Tod oder ihre Fruchtbarkeit, wenn sie bislang das einzige Kind ist. Man foltert und quält sie vielleicht, um sie wieder zum Gehorsam zu bringen und um den eigenen Ruf zu bewahren, das ja – aber man wirft sie unter keinen Umständen wie Müll weg.“ Er unterstrich seinen letzten Satz mit einer ausladenden Handgeste.

In diesem Moment änderte sich Azriels Körpersprache von einer abwartenden und abwehrenden Pose hin zu einer zugewandten Haltung. Es war, als müsse er nun wirklich erfahren, was der Erbe des Herbsthofes weiter herausgefunden hatte. Er trat einen Schritt auf Eris zu, aus dem Halbdunkel heraus.

„Moment, willst du damit andeuten, dass Keir nicht derjenige war, der Mor gefoltert hat? Aber sie hat es verdammt noch mal selbst erzählt, dass ihre Familie ihr die Nägel eingehämmert hat!“ Seine Schatten schwirrten verstört um ihn herum.

Eris spiegelte Azriels Bewegungen. „Das habe ich so nicht gesagt. Ich sage, dass es bei den Ereignissen viel mehr zu bedenken gibt, als ihr das bisher getan habt. Aber ich denke, dies ist der richtige Zeitpunkt noch einmal zusammenzufassen, was ich dir soeben alles erzählt habe, Schattensänger. Dann sehen wir, wohin uns unsere Überlegungen führen.“ Er hielt die Hand hoch, um die einzelnen Punkte mit den Fingern abzuzählen…

Chapter 4: Kapitel 4

Chapter Text

Eris hielt seine Hand hoch, um die einzelnen Punkte seiner Überlegungen mit den Fingern abzuzählen.

Stünden die beiden Fae nicht an der felsigen Wand einer verlassenen Höhle, man könnte sie für zwei Besucher einer schummrigen Taverne halten, die an der Bar vor ihrer Flasche Whiskey in eine Unterhaltung vertieft sind: Die Körper einander zugewandt, die Blicke aufmerksam auf dem anderen ruhend, die Köpfe leicht geneigt, als zöge jedes Wort des anderen sie tiefer in den Sog des Gesprächs.

„Ich war selbst bei der Diskussion mit meiner Mutter und meinen Tanten unfähig in Alternativen zu denken.“ Erster Finger.

„Immer wieder landete ich bei der gleichen Entscheidung: Ich will eine Bindung zu Morrigan auf jeden Fall verhindern.“ Zweiter Finger.

„Meine Handlungen und Gefühle entsprachen nicht unbedingt meinem wirklichen Wesen und Können.“ Dritter Finger.

„Keir und Beron profitierten politisch immens von der Hochzeit.“ Vierter Finger.

Eris atmete tief ein und aus. „Fahr jetzt du fort, Schattensänger.“

Wie ein Lehrling abgefragt zu werden, ließ Azriel kurz das Gesicht verziehen, doch offensichtlich waren ihm die gemeinsamen Überlegungen wichtiger als ein weiteres Wortgefecht. „High Lord Rhion…”, hob er an.

„Daemati-High Lord Rhion…“, korrigierte Eris ihn bedeutungsschwanger und hob den fünften Finger.

Vor nicht einmal einer halben Stunde wäre Azriel noch verärgert gewesen, jetzt übernahm er die Korrektur ohne sichtbare Regung. „Daemati-High Lord Rhion wurde durch die Hochzeit politisch geschwächt. Er hatte keinen Grund so desinteressiert…“

Er brach ab. Seine Augen bewegten sich unstet von rechts nach links, während sie eindeutig nach innen gerichtet waren – ein Zeichen, dass seine Gedanken rasten. Einige Momente herrschte Stille, dann brach es aus Azriel hervor. „Willst du damit sagen, dass High Lord Rhion seine Daemati-Fähigkeiten nutzte, um…“

Eris unterbrach ihn.

„Oh, ich weiß, dass ein Daemati in mir die Erwiderung verankert hat, dass ich lieber eine Sau ficke, als eine Fae, die sich von einem niedriggeborenen Bastard hat besudeln lassen. Und ich weiß, dass diese alles verschlingende kalte Wut in dieser Intensität nicht mein eigenes Gefühl war. Ich weiß, dass die sture Fokussierung darauf, jede Bindung zu Morrigan auf jeden Fall zu verhindern, nicht meine Art zu denken war.“ Eris richtete sich mit jedem Satz weiter auf. Das Kinn erhoben, ganz der selbstbewusste Erbe des Herbsthofes.

Azriels Blick wurde starr und auch die Schatten hielten in ihrem Kreisen inne. In seinem Gesicht zeichnete sich der Unglauben von jemanden ab, dem die Erkenntnisse nicht gefielen, die sich in seinem Geist breit machten. „Was, woher weißt du…?“

„Ich habe schlussendlich eine Daemati zur Bestätigung meiner Vermutungen aufgetrieben. Erinnerst du dich an Rhysands Versuch, meine Erinnerungen an Feyres Kräfte zu löschen?“ Eris schmunzelte selbstzufrieden und zitierte sich selbst: „Dumm gelaufen für dich, ich habe das eine oder andere Ding über Daemati gelernt.“

Azriels Körper spannte sich voller Unbehagen an und seine Augen huschten wieder hin und her. Es war ihm anzusehen, dass er zu verstehen begann, auf welche Version der Ereignisse Eris hinauswollte. „Rhions Gespräch mit Morrigan bei der Verlobungsfeier… Rhion hat Morrigan die Idee eingepflanzt, ihre Jungfräulichkeit an Cassian zu verlieren, damit die Verlobung platzt und Keir gedemütigt wird…“, sagte Azriel fassungslos.

„Ob er für diese ‚Einpflanzung‘ seine Daemati-Fähigkeiten brauchte oder nur die jahrhundertelange Erfahrung eines High Lords, das weiß ich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht vieler Hinweise oder Andeutungen bedurfte, um Morrigan klarzumachen, wie sie den Handel noch stoppen könnte.“, erklärte Eris.

„Im Prinzip musste er nur ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, wie wichtig ihre Jungfräulichkeit für die Hochzeit und für ihren Wert als Braut war. Verpackt in den guten Ratschlag eines High Lords, schön züchtig zu sein, war das zudem für alle Außenstehenden vollkommen unverdächtig. Mit seiner guten Faekenntnis – oder einem kurzen Blick in ihre Gedanken – hat er vermutlich gleich erkannt, dass Morrigan bereit war, auch bis zum Äußersten zu gehen.“ Eris nickte zu seinen eigenen Worten.

„Rhysands Idee, sie in das Kriegscamp mitzunehmen, kommt dann wohl auch von Rhion? Weil das war nun wirklich – nicht sonderlich durchdacht…“, fragte Azriel hoffnungsvoll, als ob er sich wünschte, dass Rhysand von sich aus sensibler mit Morrigan umgegangen wäre. Seine Schatten drapierten sich um seine Schultern und richteten sich leicht auf, Eris zugewandt. Es wirkte, als würden auch sie gespannt Eris‘ Worten lauschen.

Doch Eris schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt: Der Gedanke klingt einfach wesentlich mehr nach einem 17jährigen Kerl als nach einem über 900 Jahre alten High Lord. Auch wenn ich diese seltsame Idee zu gerne irgendwie rational wegerklären würde… selbst ich will ja nicht immer das Schlechteste von Rhysand annehmen… Aber ich glaube, dass nicht einmal Rhion die Fähigkeit hatte, unbemerkt in den Geist Rhysands einzudringen. Mächtigster Daemati aller Zeiten und so weiter.“

„Dann hat er Rhys, genauso wie Mor, ebenfalls einen väterlichen Rat gegeben und ihn damit gelenkt? Rhys wollte Mor ja wirklich gerne helfen, er war sicher offen für Vorschläge.“, überlegte Azriel laut.

„Hmm, kann sein.“, bestätigte Eris. „Aber wahrscheinlicher scheint mir eine andere Abfolge: Rhysand hatte die Idee schon am Tag vor der Verlobungsfeier und sein Vorhaben inspirierte seinen Vater, Morrigans Entjungferung voranzutreiben. Rhion hat ihn dann vermutlich als sein Vater bestärkt und ihm als sein High Lord den Ausflug mit ihr gestattet. Denn ich weiß jedenfalls, dass Rhysand keine Erlaubnis von Keir für den Ausflug einholte und Morrigans Familie wegen ihres Verschwindens in heller Aufregung war.“

Eris‘ Blick ging in die Ferne. „Es hätte jedenfalls jeder Illyrianer sein können.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich vermute, dass Rhion in Kauf nahm, dass sie irgendwen aussucht. Aber mich würde nicht wundern, wenn sich Rhion abgesichert hätte, dass wenigstens Cassian Morrigans Offerte nicht ablehnt und sie damit bei einem Illyrianer auch einen hundertprozentigen Erfolg hat. Ich glaube ja, dass er hierzu bewusst Cassian wählte. Und dafür brauchte es bei einem jungen und unbeherrschten Kerl wie Cassian nicht viel Einsatz. Kluge Daemati verstärken Verhaltensweisen, die sowieso schon in uns stecken. So bleibt ihr Einfluss unentdeckt.“

„Er hätte aber leichteren Zugriff auf mich gehabt – ich stand damals in Rhions Diensten und musste immer wieder Aufträge für ihn erledigen.“, wandte Azriel ein.

„Oh Schattensänger, spricht hier immer noch dein gebrochenes Herz, dass Morrigan dich nicht aussuchte und nun nicht einmal Rhion dich als Stecher in Betracht zog?“, zog Eris Azriel auf. „Ich würde mich an deiner Stelle nicht grämen, sondern das Lob darin erkennen. Du warst mit deinen einzigartigen Fähigkeiten viel zu wertvoll für Rhion und musstest durch deine Folterei in der Hewn City auch in Zukunft mit Keir interagieren.“

Einen Augenblick breitete sich Stille in der Höhle aus. Dann verschränkte Azriel die Arme und reckte sein Kinn nach vorne: „Cassian in dieser Hinsicht zu manipulieren, würde auch insofern Sinn machen, weil Rhion damit noch eine weitere Fliege mit einer Klappe schlagen konnte. Rhion hat uns als Gefahr empfunden und uns bewusst im Krieg gegen Hybern getrennt. Ein Streit zwischen Cassian und Rhysand kam ihm sicherlich sehr gelegen.“

Eris nahm Azriels Ausführungen interessiert zur Kenntnis.

„Und da er sich sicher war, wie Morrigan handeln würde, hat er dir schon bei der Verlobungsfeier die passenden Worte auf ihre Tat in den Kopf eingeschrieben?“, schob Azriel gleich als Frage hinterher.

„Ja, das war zumindest der Moment, in dem er den unmittelbarsten und unverdächtigsten Zugriff auf mich hatte.“, bestätigte Eris.

Azriel schüttelte den Kopf, als könne er immer noch nicht fassen, dass seine jahrhundertelangen Annahmen über Eris falsch waren. Er löste seine verschränkten Arme wieder.

„Aber was du mir am Anfang erzählt hast, Eris, all die Gründe, warum du die Verlobung gelöst hast…  Auch wenn ich verabscheue, was du getan hast – es ist nachvollziehbar, dass du um dein Überleben gekämpft hast. Mir gefällt es nicht, aber ich kann es tatsächlich sogar verstehen.“, gab Azriel zu. „Hat dir all diese Überlegungen Rhion eingegeben? Wie viel von deinem Verhalten schreibst du Rhions Beeinflussung zu?“

Während seine manikürten Finger eine seiner rotbraunen Locken zwirbelten, lachte Eris leise, aber freudlos. „Ja, so ist das mit Daemati… Es reicht, ein paar Gedanken oder Gefühle einzuflüstern und das Opfer findet von selbst gute Gründe, warum es nun genau in dieser Form denkt und fühlt. Ich glaube, es reichte aus, mir die Gefühle der Wut und der Demütigung sowie die konkreten Worte einzuschreiben. Ich war schon immer sehr einfallsreich und hervorragend darin, mir ganz schnell Argumente für alles Mögliche in kürzester Zeit auszudenken – den ganzen Rest habe ich mir vermutlich selbst zusammengereimt. Aber wer weiß? Vielleicht hätte ich auch ohne Rhion zum Gegenschlag ausgeholt.“, sagte er spitz.

„Allerdings ziehe ich auch meinen Hut vor Rhion. Er muss genau gewusst haben, was Morrigans Tat für politische Implikationen hat. Die Beleidigung ist sehr präzise komponiert. Sie rettet mich einerseits innenpolitisch aus dem Abgrund, in der er mich gestoßen hat. Aber außenpolitisch lässt sie mich als unflätigen, beleidigten Buben dastehen.“

Azriel dachte einige Augenblicke nach, während Eris ihn abwartend und mit undefinierbarem Gesichtsausdruck musterte. Sein Körper spannte sich an und seine Flügel zuckten leicht, als er schließlich fragte: „Und Keirs brutale Reaktion…?“ Die Schatten fingen an, wieder schneller über seinen Körper zu züngeln.

Eris nickte langsam, als hätte er auf diese Frage gewartet. Sein Gesichtsausdruck war weicher als bisher, als würde er einem Freund Verständnis für dessen Ängste und Aufregung vermitteln wollen.

„Ob Rhion etwas mit Keir gemacht hat, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich habe hierzu aber drei verschiedene Theorien. Willst du sie hören, Schattensänger?“, fragte er.