Work Text:
Dass Leonard McCoy einen betrunkenen Jim Kirk zurück nach Hause schleifte, geschah zum ersten Mal acht Tage nach ihrer Ankunft in der Akademie.
Er wusste selbst nicht, was ihn in dieser nasskalten Herbstnacht dazu bewogen hatte, die Abgeschiedenheit seines Zimmers gegen das hektische Nachtleben San Franciscos einzutauschen. Wahrscheinlich trafen an diesem Tag schlichtweg all die Komponenten zusammen, die im Laufe der Woche aufeinander aufgebaut hatten, bis der Druck in seinem Inneren unerträglich wurde und die Wände seines Zimmers sich immer enger um ihn schlossen. Er musste einfach hinaus, musste sich wenigstens für eine kostbare Stunde der Illusion hingeben, vor seinen Problemen davonlaufen zu können.
Da gab es die Flutwelle der Veränderung, die über ihm zusammengeschlagen war ...
Die Flucht in ein neues Leben, das ihm zu groß für sich erschien, größer, als er handhaben konnte ...
Die Erinnerungen an das, was er zurückgelassen hatte ...
Das Unverständnis seiner Exfrau, die ihn bei ihrem letzten Anruf gefragt hatte, ob er endgültig von allen guten Geistern verlassen sei, bevor sich das Gespräch wieder den altbekannten Vorwürfen und gegenseitigen Beschuldigungen zugewandt hatte ...
Leonard schüttelte den Kopf, um Jocelyns Stimme aus seinen Gedanken zu vertreiben, verärgert über sich selbst. Unwiederbringlich verloren. Weder die Schuldgefühle noch die verzweifelte Wut würden die Scheidung rückgängig machen oder ihm seine Tochter zurückgeben.
Mit hochgezogenen Schultern, den Kopf gegen den überraschend scharfen Wind gebeugt, beschleunigte Leonard seine Schritte. Er achtete kaum auf den Weg; im Grunde war ihm egal, wohin ihn seine Beine trugen. Überall wäre es besser als an dem Ort, den er verlassen hatte. Wegrennen hilft nicht, Len, aber genau das tust du. Immer und immer wieder, flüsterte eine Stimme in seinem Geist, die verdächtig nach der seiner Exfrau klang, und er ging nur noch schneller.
Wenigstens eine Last war von seinen Schultern genommen worden: Das Aufnahmeverfahren lag endlich hinter ihm. Es war die Hölle gewesen, das auf jeden Fall, aber wider Erwarten hatte er bestanden und durfte sich nun offiziell als Kadett der Sternenflottenakademie bezeichnen. Er wusste nicht, ob ihm diese Tatsache Befriedigung verschaffte oder ihn verängstigte.
Die anderen Kadetten schienen die Dinge einfacher zu sehen – aber, dachte Leonard mit bitterem Zynismus, die anderen Kadetten waren noch halbe Kinder, illusorisch und von der Launenhaftigkeit des Schicksals verschont geblieben. Und diese Kinder hatten offenbar beschlossen, die erfolgreiche Aufnahme mit einer ausgedehnten Tour durch die Kneipen der Stadt zu feiern.
Leonard hatte sich von vornherein von diesem Vorhaben ausgeklinkt; nicht; dass sich irgendjemand die Mühe gegeben hätte, ihn zu fragen, ob er sich nicht einer der Gruppen anschließen wollte. Medizinstudenten blieben gerne für sich, erst recht pessimistische Studenten mit Flugangst und einer Abneigung gegen soziale Konventionen. Trinken konnte er auch alleine, ohne das Grölen betrunkener Möchtegern-Offiziere und ohne ohrenbetäubende, geschmacklose Musik um sich herum.
Trotzdem ließ sich in dieser Nacht den weitreichenderen Auswirkungen jenes Aspekts des sozialen Lebens nicht ganz ausweichen. Es war wohl eine dieser Gelegenheiten, in denen Weichen für die Zukunft gestellt wurden, unbeabsichtigt und unbewusst, aber mit tiefgreifenden Folgen. Leonard hatte den Glauben an eine höhere Macht spätestens nach dem Tod seines Vaters aufgegeben, doch rückblickend würde es ihm manchmal wie der Wille des Schicksals vorkommen, der ihn ausgerechnet am Hinterhof einer Bar vorbeiführte, in der sich eine Horde frischgebackener Kadetten betrank.
Anfangs schenkte er dem in die Tage gekommenen Gebäude kaum Beachtung. Die monotone Musik, die sich ihren Weg nach draußen bahnte und sich mit der nächtlichen Geräuschkulisse vermischte, verriet ihm alles, was er über die Qualität der dort erhältlichen Drinks wissen musste – kein Anreiz, um innezuhalten.
Er hatte den Hof schon fast hinter sich gelassen, als andere, verdächtigere Geräusche die Nacht durchdrangen – ein dumpfer Aufprall, ein Stöhnen.
Leonard blieb stehen, aufmerksam lauschend. Ein weiteres Stöhnen, diesmal deutlicher, ließ ihn resigniert die Augen verdrehen. Er wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte, und so gerne er einfach weitergegangen wäre, zur Genüge ausgelastet mit seinen eigenen Problemen – der Arzt in ihm verbot ihm, sich einfach abzuwenden.
In Gedanken verfluchte er alles und jeden, nicht zum ersten Mal an diesem Abend, und machte auf dem Absatz kehrt.
Der schwache Lichtschein, der von der Straße seinen Weg in den verwahrlosten Hof fand, lüftete den Schleier der Dunkelheit gerade genug, um Leonard eine schmale Figur erkennen zu lassen, die einige Schritte von der Hintertür der Bar entfernt auf dem Boden kniete. Den Gestank nach billigem Schnaps, der von dem Mann ausging, konnte man sogar auf der Straße noch riechen, und Leonard verzog angewidert das Gesicht, als er langsam auf die Gestalt zutrat; das hier war nur der Anfang, das wusste er genau.
„Hallo?“
Seine Stimme hallte unverhältnismäßig laut in der Halbdunkelheit wider, und der am Boden kniende Mann gab ein schwaches Stöhnen von sich. Unberührt blieb Leonard vor ihm stehen und blickte auf ihn hinab.
Es war immer besser, sich anzukündigen – man wusste nie, wie verschiedene Personen auf übermäßigen Alkoholkonsum reagierten. Ihn selbst versetzte der Alkohol einfach nur in Melancholie und Selbstmitleid, doch diese harmlose Variante bildete seiner Erfahrung nach eher die Ausnahme; unangenehm viele Menschen reagierten stattdessen mit nicht zu unterschätzender Aggressivität. Auch wenn der Mann auf dem Boden nicht den Anschein erweckte, als könnte er in seinem Zustand noch eine Gefahr für sich selbst und andere darstellen – sicher war sicher.
Vorsichtig ließ Leonard sich in die Hocke sinken. Von dort aus bekam er ein besseres Bild seines Gegenübers: ein junger Mann, dem, obwohl er keine Uniform trug, der Kadett ebenso deutlich anzusehen war wie seine Betrunkenheit.
Das also ist die Zukunft der Sternenflotte, dachte Leonard zynisch. Stockbesoffen und wimmernd auf allen Vieren in einem heruntergekommenen Hinterhof, und ich könnte meine ärztliche Zulassung darauf verwetten, dass dieser Junge sich in spätestens fünf Minuten die Seele aus dem Leib kotzt.
„Hey, Junge. Schauen Sie mich mal an“, befahl er, vielleicht ein wenig gröber, als es sich für einen empfindsamen Arzt gehörte; aber immerhin hatte ihn niemand darum gebeten, sich um diese klägliche Gestalt zu kümmern, und außerdem war dieser Junge eindeutig selbst schuld an seinem Elend. Wahrscheinlich war er ohnehin zu betrunken, um sich am nächsten Tag an Leonards Hilfe zu erinnern, und falls er es doch täte, wüsste er sie nicht zu schätzen. Es war immer dasselbe.
Zögerlich kam der junge Mann seiner Anordnung nach. Als er den Kopf hob, fiel das schwache Licht zum ersten Mal auf sein Gesicht, und Leonard stockte für einen kurzen Moment der Atem. Gesprächsfetzen schossen durch seinen Geist, die Erinnerung an das Vibrieren eines metallischen Ungetüms um ihn herum, die Angst davor, lebendig darin begraben zu werden ... Ich glaube, diese Dinger sind ziemlich sicher ... Die aufgesetzte Gelassenheit des jungen Mannes neben ihm, ein junger Mann, dessen Gesicht und Hemd deutliche Spuren einer brutalen Schlägerei zierten, der die Flasche entgegennahm, die Leonard ihm reichte, und sich vorstellte als –
„Jim Kirk“, sagte Leonard ungläubig. Derselbe Jim Kirk, der auf dem Flug von Iowa nach San Francisco neben ihm gesessen hatte und ihn, wenn auch nur unbewusst, davon abgehalten hatte, vor lauter Flugangst endgültig die Nerven zu verlieren. Ausgerechnet.
Kirks Augen weiteten sich, und Leonard erwartete (befürchtete? hoffte?), dass auch er ihn erkannte; doch diese Annahme löste sich in Luft auf, sobald Kirk zu sprechen begann.
„Bones? Bissu das?“, lallte er. Sein Atem roch so sehr nach Hochprozentigem, dass Leonard sich Mühe geben musste, nicht durch den Mund zu atmen. Er schüttelte den Kopf, irgendwo zwischen Verwirrung, Resignation und Ärger.
„Wen immer Sie damit meinen, Junge, ich bin es nicht.“
„Bones?“, wiederholte Kirk, undeutlicher als zuvor, und ehe Leonard eine Vermutung darüber anstellen konnte, was zur Hölle in Kirks vom Alkohol umnebelten Gehirn vor sich gehen mochte, krümmte Kirk sich zusammen und übergab sich direkt neben Leonard.
„Oh, verdammt!“
Hastig sprang Leonard auf, zu angewidert, um den Gedanken an ein selbstzufriedenes Hab ich’s doch geahnt zuzulassen.
„Scheiße“, murmelte Kirk am Boden, und in diesem Fall stimmte Leonard ihm uneingeschränkt zu. Wieso war es eigentlich immer er, der aufwischen, zusammenkehren und reparieren durfte, was andere zerbrochen hatten? Es lag nicht nur an seinem Beruf; manchmal kam es ihm vor, als machte sich das Schicksal mit besonderer Vorliebe über ihn lustig.
Wäre er nur drei Minuten früher an dieser Bar vorübergegangen, ehe Kirk aus dem Hinterausgang gestolpert kam, hätte er sich nun nicht um das Chaos vor ihm kümmern müssen. Allerdings hätte Kirk dann leicht an jemanden geraten können, der seinen derzeitigen Zustand schamlos ausgenutzt hätte.
Mit einem Seufzen ging Leonard wieder vor dem jungen Mann in die Hocke, der Pfütze von Erbrochenem sorgfältig ausweichend. Einiges davon war auf Kirks Jacke gelandet, und Leonard reichte ihm zuallererst eines der guten, alten Taschentücher, die er aus Gewohnheit mit sich herumschleppte. Jocelyn hatte sich regelmäßig darüber lustig gemacht, hatte ihn als hoffnungslos altmodisch bezeichnet, aber in Situationen wie dieser zeigte sich einmal wieder der Nutzen solider, alter Errungenschaften der Menschheit, und ja, dazu gehörten auch einfache Taschentücher.
„Hier, nehmen Sie das.“
Zögernd griff Kirk nach dem Taschentuch und begann, ungeschickt erst seinen Mund und dann seine Jacke abzuwischen, offenbar zu betrunken, um sich vor Leonard, einem fast vollständig Fremden, zu schämen. Als er fertig war, ließ er das Taschentuch einfach fallen.
„Okay, hören Sie zu“, sagte Leonard in dem Tonfall, den er auch störrischen Patienten gegenüber anwandte. „Ich werde Sie wieder zur Akademie bringen, verstanden? Stehen Sie auf.“
Er erwartete nicht wirklich, dass Kirk in seinem benebelten Zustand die Bedeutung seiner Wörter verstand; umso mehr überraschte es ihn, als Kirk den Kopf schüttelte. Offensichtlich gab es noch einen winzigen Teil in ihm, der über so etwas wie Selbstkontrolle verfügte.
„Kann noch nich‘ gehn“, nuschelte er. „Muss nommal rein ...“
„Sie müssen nirgendwo hin, außer zurück zur Akademie und in Ihr Bett“, erwiderte Leonard bestimmt.
„Drinnen is‘ mein ...“, begann Kirk undeutlich, doch Leonard schnitt ihm das Wort ab. Es genügte, dass er Kirk hier nicht einfach liegen ließ, wie eine böse Stimme in seinem Hinterkopf, die nichts mit dem Arzt zu tun hatte, halbherzig verlangte; da konnte man wirklich nicht von ihm verlangen, dass er sich um Kirks sonstige Wehwehchen kümmerte.
„Passen Sie mal auf“, sagte er streng und schien damit tatsächlich einen Bruchteil von Kirks Aufmerksamkeit zu erreichen. „Ich stelle Sie jetzt vor eine ganz einfache Wahl: Entweder, Sie reißen sich zusammen und kommen ohne Beschwerden mit mir mit, oder ich rufe ein Taxi, lasse Sie auf Ihre Kosten zur Akademie karren, informiere Ihren akademischen Ausbilder über Ihre Ankunft und bitte ihn darum, Sie in Empfang zu nehmen. Ich bin mir sicher, er wird sehr begeistert sein.“
„Solltes‘ du als Arzt nich‘ freundlicher zu den Leuten sein?“, murmelte Kirk, doch sein Widerstand gehörte endgültig der Vergangenheit an. Klaglos ließ er es geschehen, dass Leonard die Zähle zusammenbiss und sich innerlich wappnete, dann nach Kirks Arm griff und ihn auf die Beine zog.
Schwankend beförderte er Kirk vom Hinterhof zur Straße, ihn halb schiebend, halb tragend. Nach nicht einmal einem Dutzend Schritten erkannte er, dass sein Unterfangen wenig Sinn hatte; wenn er Kirk auf diese Weise zur Akademie begleiten wollte, wären sie bei Sonnenaufgang noch nicht angekommen. Kirk schien jeden Willen verloren zu haben, sich eigenständig zu bewegen, und Leonard war sich ziemlich sicher, dass der andere Mann sich einfach zu Boden fallen gelassen hätte, sobald Leonard den Griff um seine Oberarme gelöst hätte.
Mit einem Fluchen versuchte er, sein Kommunikationsgerät aus der Tasche zu ziehen, ohne Kirk dabei loszulassen.
„Du schuldest mir was, Junge“, knurrte er, ehe er widerwillig ein Taxi rief – die einzige Möglichkeit, die ihm in den Sinn kam. Der Taxifahrer jedenfalls, der einige Zeit später vor ihnen am Straßenrand hielt, schien ihm darin zuzustimmen.
„Hatte das eine oder andere Gläschen zu viel, Ihr Freund, was?“, bemerkte er mit einem Blick, der sowohl Geringschätzung als auch Mitgefühl widerspiegelte, als Leonard Kirk auf die Rückbank bugsierte.
Es kam Leonard wie ein weiterer Hohn des Schicksals vor, dass er ausgerechnet an eines der wenigen Taxis geraten war, die noch nicht von einem Autopiloten gesteuert wurden. Er musste sich zurückhalten, um dem Fahrer nicht mitzuteilen, dass Jim Kirk um Himmels willen nicht sein Freund war – so weit kommt es noch! –, und beschränkte sich auf ein genervtes „Kann man wohl sagen.“
Den Fahrer schien das zufriedenzustellen.
Leonard verbrachte die kurze Fahrt damit, zu hoffen, dass Kirk sich nicht wieder übergeben müsste, und damit, ihn gleichzeitig zu verfluchen. Dieses Kind war schuld daran, dass Leonard einen viel zu großen Teil seiner Credits dafür verschwenden musste, den hoffnungslos überteuerten Fahrtpreis für das Taxi zu begleichen.
Er war mehr als erleichtert, als der Fahrer sie endlich vor dem Gelände der Akademie absetzte und mit einem fröhlichen „Dann kümmern Sie sich mal um Ihren Freund“ in der Dunkelheit verschwand. Nur noch wenige Minuten, und er könnte diesen unerfreulichen Abend zu einem Ende bringen.
Als er seinen ziellosen Spaziergang durch die Stadt begonnen hatte, hatte er den vagen Vorsatz gehabt, sich später noch zu betrinken; Kirks jämmerlicher Anblick hatte diesen Wunsch schnell wieder verscheucht. Stattdessen würde er sich einfach ins Bett legen und versuchen, sein ganzes elendes Leben zu vergessen, wenn auch nur für wenige Stunden.
„Bones? Sin‘ wir daheim?“, nuschelte Kirk, und Leonard fühlte sich zu erschöpft, um mit Ärger oder Spott zu reagieren.
„Ja. Wir sind daheim“, sagte er matt. Die feine Ironie in seinen Worten entging ihm nicht; wer war er schon, dass er noch irgendeinen Ort in diesem verdammten Universum daheim nennen konnte?
Er verstärkte seinen Griff um Kirks Arm und steuerte seinen unfreiwilligen Begleiter auf das Hauptgebäude der Akademie zu, seine verschiedenen Möglichkeiten abwägend. Er könnte Kirk irgendwie dazu bringen, ihm den Zugangscode für sein Zimmer zu verraten und ihn dort absetzen; sein erster, weniger nobler Impuls allerdings bestand darin, Jim einfach bei einem der für die Kadetten verantwortlichen Offiziere abzuladen und dieses Kind sein Leben alleine in den Griff bekommen zu lassen. Sollte er alleine mit den Konsequenzen seines unverantwortlichen Handelns fertigwerden.
Wieso auch nicht? Er und Jim Kirk waren einander nichts mehr schuldig. Kirk hatte ihm geholfen, den Flug zur Akademie zu überstehen, ohne sich übergeben oder vor Angst in die Hose machen zu müssen, und im Gegenzug hatte Leonard seine gebrochene Nase gerichtet, sobald sie gelandet waren und sein Magen sich wieder beruhigt hatte. Damit waren sie offiziell quitt; es gab also keinen Grund für ihn, sich jetzt die Probleme dieses fremden Kadetten aufzuhalsen, zusätzlich zur Last seiner eigenen Sorgen.
Keinen Grund außer dem flehenden Blick in Kirks Augen, die sich erwartungsvoll auf Leonards Gesicht hefteten.
„Ach, verdammt.“
Wütend auf die Menschheit im Allgemeinen und sich selbst im Besonderen drehte Leonard sich so ruckartig um, dass Kirk an seiner Seite fast sein ohnehin auf einer sehr wackeligen Basis aufgebautes Gleichgewicht verlor.
„Bones? Wohin gehn wir?“
„Halt einfach die Klappe und komm mit“, knurrte Leonard. Er wusste genau, dass er bereuen würde, was er gerade im Begriff zu tun war, aber bei Gott, machte das wirklich noch einen Unterschied? Seine derzeitige Ausgangssituation sah dermaßen schlecht aus, dass es auf eine Belastung mehr oder weniger auch nicht mehr ankäme.
Später würde Leonard auf die Frage, wieso er den hilflosen, ihm so gut wie unbekannten Jim Kirk ausgerechnet in sein eigenes Zimmer brachte, nicht beantworten können. Er hätte sich einen Dreck um die Angelegenheiten dieses jungen Mannes scheren sollen, er hätte sich seiner wohlverdienten Ruhe hingeben sollen ... aber stattdessen schleifte er Kirk zu dem etwas abseits gelegenen Gebäude mit Schlafräumen, die vorzugsweise den Kadetten der Abschlussklasse zugewiesen wurden und in denen Leonard zu seiner großen Erleichterung ebenfalls ein Zimmer ergattert hatte.
Manchmal brachte ein Doktortitel eben doch Vorteile mit sich, die den anderen Kadetten versagt blieben. Natürlich beschwerten sie sich hinter vorgehaltener Hand über diese Sonderbehandlung, aber Leonard war längst über den Punkt hinaus, an dem es ihn noch gekümmert hätte, wenn andere über ihn redeten. Sollten sie ruhig neidisch sein – er war froh um sein Einzelzimmer, froh darum, seine Privatsphäre nicht mit einem beliebigen Fremden teilen zu müssen, schlimmstenfalls mit einem übereifrigen Hitzkopf ohne Sinn für Ruhe und Harmonie, der bei seinem Glück noch zehn Jahre jünger als er wäre und sich für den nächsten Retter des Universums hielt ...
Nein, seine Privatsphäre war Leonard heilig. Und dennoch gewährte er in dieser Nacht einem jungen, betrunkenen Mann Zugang dazu, den er kaum kannte und der seine Hilfe womöglich gar nicht verdient hätte. Und es gab keine rationale Erklärung dafür, wieso er sich darauf einließ.
Seine altruistischen Anwandlungen würden ihn noch irgendwann ins Grab bringen.
„Ich hoffe, du weißt zu schätzen, was ich gerade für dich tue“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, als er vor seiner Zimmertüre innehielt, um den Zugangscode einzugeben.
Der Gang lag, genauso wie der größte Teil des Gebäudes, im Halbdunkeln; mittlerweile war es spät genug, um Leonard neugierige Blicke der anderen Kadetten zu ersparen. Jeder, der noch halbwegs bei Sinnen war, lag um diese Zeit längst im Bett, abgesehen vielleicht von ein paar leichtsinnigen Neulingen, die sich hingebungsvoll in den Kneipen der Stadt betranken.
„Wo sin‘ wir?“, fragte Kirk undeutlich. Inzwischen ruhte fast sein gesamtes Körpergewicht auf Leonard.
„In meinem Zimmer“, antwortete Leonard widerwillig.
Er steuerte Kirk auf das Sofa zu, setzte ihn mit einer gewissen Erleichterung dort ab und entledigte sich seiner Jacke. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass Kirk viel zu erschöpft war, um auf dumme Gedanken zu kommen, ging dann in den angrenzenden Schlafraum und kehrte kurze Zeit später mit einer Decke und einem Kissen zurück. Beides warf er neben Kirk auf das Sofa, der zusammengesunken und mit geschlossenen Augen halb auf der Armlehne lag.
„Hey, aufwachen.“
Leonard schnippte mit den Fingern, und zwei blutunterlaufene Augen öffneten sich widerstrebend, nur um sich sofort wieder gegen das grelle Licht zusammenzukneifen.
„Also, hör mir noch mal genau zu. Ich verlasse mich darauf, dass du dich hier benimmst, klar? Das hier ist keine Wohltätigkeitsanstalt, und glaub ja nicht, dass ich dich nicht jederzeit hinauswerfen könnte, wenn du mir auf die Nerven gehst. Das Bad ist dort drüben; ich werde dir ein Glas Wasser auf den Tisch dort stellen und eine Schüssel neben das Sofa, falls du dich übergeben musst, und du bist ruhig und benimmst dich zivilisiert, kapiert?“
Im Grunde glaubte er nicht, dass diese Ermahnung nötig war; Kirk erweckte nicht den Eindruck, als ob ihm in dieser Nacht weitere Dummheiten einfallen würden.
„Ach ja, und zieh die Schuhe aus. Und deine Jacke“, befahl Leonard. Mehr gab es nicht zu sagen.
Er drehte sich um und schritt auf das Badezimmer zu, bis ihn eine müde Stimme zurückhielt.
„Alles klar ... Bones.“
Leonard runzelte die Stirn, doch er wandte sich nicht noch einmal um. Er würde später herausfinden, wieso Kirk ihm diesen lächerlichen Namen verpasst hatte – entweder halluzinierte der Junge, oder er machte sich selbst in seinem unrühmlichen Zustand noch einen Spaß daraus, andere Menschen zu veräppeln.
Für diese Nacht jedenfalls hatte Leonard sich mehr als genug um Jim Kirk gekümmert, und er wollte nichts weiter, als sich endlich in sein Bett fallen zu lassen.
Was kümmerte es ihn, ob Kirk am Morgen mit einem Kater gigantischer Ausmaße aufwachen würde. Was kümmerte es ihn, dass Kirk nach wie vor seine nicht mehr wirklich saubere Alltagskleidung trug; und sollte sich herausstellen, dass es höllisch unbequem wäre, eine Nacht auf dem Sofa zu verbringen, wäre das nicht Leonards Problem.
Immerhin war er Arzt und kein Kindermädchen.
Trügerische Wärme hüllte ihn ein in den letzten, kostbaren Momenten des Schlafes, jenen Sekunden, bevor Träume von der kalten Gleichgültigkeit der Wirklichkeit eingeholt werden.
Er war zuhause in Georgia, an einem Morgen wie allen anderen, so vertraut, so sicher ... Gleich würde der Wecker auf die übliche, nervtötende Weise zu piepsen anfangen, Jocelyn neben ihm würde sich umdrehen, sich mit schlaftrunkener Stimme darüber beschweren, dass es eine Zumutung sei, einen Menschen in dieser Herrgottsfrühe zur Arbeit zu schicken, und dann würde sich die Schlafzimmertür öffnen und Joanna käme hereingestürmt, viel zu munter für diese Zeit ... sie würde auf das Bett springen, sich zwischen ihre Eltern fallen lassen und dafür sorgen, dass an ein geruhsames Weiterschlafen nicht mehr zu denken wäre ... und dann –
Dann ertönte ein Scheppern aus dem Nebenraum, gefolgt von einem verhaltenen Fluch, und Leonard kam endgültig in der Wirklichkeit an: in seinem trostlos wirkenden Zimmer in den Schlafgebäuden der Akademie, das auch eine Woche nach seinem Einzug noch nichts von seiner ungemütlichen Anonymität verloren hatte – nicht, dass Leonard sich bisher Mühe gegeben hätte, etwas daran zu ändern. Jeder klägliche Versuch, hier so etwas wie ein Zuhause zu erschaffen, würde ihm nur wie ein billiger Abklatsch des Zuhauses vorkommen, das er verloren hatte, und gleichzeitig diesen Verlust unabänderlich machen.
Stöhnend setzte er sich auf. Im Schlaf war ihm die Decke von den Schultern geglitten, und er fröstelte in der Kühle eines weiteren unfreundlichen Herbstmorgens.
„Computer, Zimmertemperatur um drei Grad erhöhen“, befahl er müde und schwang die Beine aus dem Bett.
Nicht nur die Kälte störte ihn – es gab irgendetwas anderes, das tief in seinem Hinterkopf nach seiner Aufmerksamkeit verlangte, aber noch war Leonard zu müde, um dieses nagende Gefühl genauer zu bestimmen.
Die Erinnerung an den letzten Abend kehrte erst mit aller Macht zurück, als ein zweites Scheppern aus dem Nebenzimmer die Stille durchbrach. Leonard hielt auf seinem Weg zum Kleiderschrank inne, die Augen erst vor Überraschung, dann vor Verärgerung geweitet. Verdammt.
Seine philanthropischen Neigungen hatten sich klammheimlich an ihn herangeschlichen und ihn umzingelt, und es gab keine Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Er hatte vorausgesagt, dass er es bereuen würde, dem betrunkenen jungen Mann in der Nacht zuvor Unterschlupf zu gewähren, und natürlich hatte sich diese Ahnung erfüllt, denn ja, in diesen Momenten bereitete ihm der Gedanke daran, dass er den Tag nicht in aller Ruhe alleine beginnen konnte, sondern sich mit einem höchstwahrscheinlich sehr verkaterten Fremden herumschlagen durfte, nicht gerade Begeisterung.
Verbittert drehte Leonard sich um, sich dem Unvermeidlichen fügend. Es kümmerte ihn nicht, dass er, unrasiert und im Schlafanzug, nicht das beste Bild bot. Sollte Kirk auch nur einen winzigen Kommentar über seinen Aufzug machen, würde er den jungen Mann hochkant aus dem Zimmer werfen; außerdem hatte er bei ihrem ersten Treffen auch nicht besser ausgesehen, kein Grund, Kirk etwas vorzumachen, und Kirk selbst hatte auch schon bessere Tage erlebt.
Er saß mit hochgezogenen Beinen auf dem Sofa und umklammerte ein Glas Wasser, als Leonard ins Zimmer trat.
„Morgen“, grüßte er, beinahe etwas kleinlaut klingend.
Mit verschränkten Armen blieb Leonard vor dem Sofa stehen und musterte Kirk abschätzend. Dass der junge Mann unter den unangenehmen Folgen seines exzessiven Alkoholkonsums litt, war wenig überraschend und nicht zu übersehen. Mit seinen zerzausten Haaren, den blutunterlaufenen Augen und der zerknitterten Kleidung hätte er jedem Obdachlosen Konkurrenz machen können.
„Na, den Schönheitsschlaf gut hinter dich gebracht?“, erwiderte Leonard sarkastisch.
Kirk senkte den Blick, und hätte Leonard es nicht besser gewusst, hätte er fast geglaubt, dass sich tatsächlich so etwas wie Verlegenheit in seinen Augen widerspiegelte.
„Dein Sofa ist verdammt unbequem“, sagte er, nahm einen Schluck Wasser und verzog das Gesicht.
Leonard musste sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Dieses Kind schien ein wahres Naturtalent darin zu sein, sich selbst und anderen seine Niederlage selbst in den aussichtslosesten Situationen nicht einzugestehen, und der Psychologe in ihm fragte sich unwillkürlich, was Kirk damit verbergen wollte. Nicht, dass es ihn etwas anginge, und nicht, dass er Kirk mehr als das Mindestmaß an Interesse entgegenbrachte, mit dem ein Arzt jedem Patienten begegnete.
„Danke, jetzt weiß ich das auch. Das erspart mir den Aufwand, selbst die Qualitäten dieses Sofas als Schlafstätte zu testen“, gab er trocken zurück.
Kirk ließ sein Glas sinken und blickte blinzelnd zu ihm auf.
„Bist du immer so zynisch? Ach ja, und könntest du vielleicht leiser sprechen?“
Kopfschüttelnd wandte Leonard sich ab. Er würde sich als Allererstes einen guten, starken Kaffee kochen, anderenfalls würde er den Tag nicht überleben.
Auf dem Weg zur Kaffeemaschine stolperte er fast über die Schüssel, die er Kirk am Abend zuvor für alle Fälle hingestellt hatte. Sie war unbenutzt, wenigstens das, doch es erweckte den Anschein, als sei an diesem Morgen schon mehr als einmal jemand über sie gefallen. Das immerhin erklärte das Scheppern, das Leonard zuvor aus dem diffusen Reich des Schlafes gerissen hatte.
„Hey, du bist doch Arzt, oder?“
Kirks Stimme ließ ihn bei der Zubereitung seines Kaffees innehalten. Eine weitere sarkastische Bemerkung drängte sich ihm auf – Nein, wirklich, wie kommst du denn darauf? –, aber er biss sie mit der ärztlichen Professionalität zurück, die ihn für gewöhnlich davon abhielt, sich an besonders schlechten Tagen so hemmungslos zu betrinken wie Kirk am gestrigen Abend.
„Ja, ich bin Arzt“, antwortete er schlicht. Er war stolz auf seinen Beruf, das Einzige, was ihm noch geblieben war, was ihm kein Scheidungsanwalt der Welt würde nehmen können.
„Schön. Dann hast du doch bestimmt irgendwas gegen Kopfschmerzen. Irgendwelche Wundermittelchen, du weißt schon.“
Nun ließ sich das Augenrollen nicht mehr verhindern. „Sag doch gleich, gegen einen Kater“, murmelte Leonard. Der Junge konnte froh sein, dass es Wochenende war und er sich in seiner derzeitigen Verfassung nicht in den Unterricht quälen musste.
Jeder hätte behaupten können, dass es für Leonard keinerlei Veranlassung dazu gab, sich noch mehr um Kirk zu kümmern, dass er ohnehin schon mehr für diesen Mann getan hatte, als er verdiente, und dass es Kirk sicherlich nicht schaden würde, ein wenig mehr unter den Auswirkungen seines verantwortungslosen Handelns zu leiden ... aber derselbe Teil in ihm, der Kirk mit auf sein Zimmer geschleppt hatte, wehrte sich auch jetzt dagegen, Kirk abzuweisen. Hier saß ein Patient auf seinem Sofa, der Leonards Hilfe brauchte, und es war ihm noch nie gelungen, die Bedürfnisse seiner Patienten zu ignorieren. Der Instinkt, zu helfen, war einfach zu groß.
Er kramte eine der Kopfschmerztabletten aus seinem eigenen Vorrat hervor – wie gut sie wirkten, wusste er aus eigener Erfahrung –, ging zu Kirk hinüber und reichte sie ihm. Im ersten Moment hatte er sie ihm einfach zuwerfen wollen, doch dann beschloss er, Kirks Reflexen besser noch nicht zu trauen.
„Danke“, murmelte der junge Mann.
Die Bewegungen, mit denen er die Tablette hinunterschluckte, waren routiniert und verrieten Leonard, dass Kirk sich nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation wiederfand. Nur dass es bei den letzten Malen wahrscheinlich keinen weitgehend Fremden gegeben hatte, der ihn von der Straße aufgesammelt und sich um ihn gekümmert hatte. Offensichtlich sahen Kirks Gedanken ähnlich aus; seine Schultern verkrampften sich und er wich Leonards Blick aus, augenscheinlich unsicher, wie er die Lage noch zu seinen Gunsten wenden könnte.
Leonard schüttelte leicht den Kopf.
„Diese Tablette wird das Schlimmste beseitigen, aber glaub ja nicht, dass sich damit alle Probleme aus der Welt schaffen lassen. Besser, du lässt es beim nächsten Mal erst gar nicht so weit kommen.“
Kirk zuckte mit den Schultern. Das Medikament schien seine Wirkung langsam zu entfalten; die Spuren des Schmerzes wichen aus seinem Gesicht.
„Ich wird’s mir merken, Doktor“, sagte er mit den Anflug eines arroganten Grinsens.
Leonard zog die Augenbrauen hoch. Kein Zweifel, dieser Junge besaß über ein gesundes Selbstvertrauen – groß genug, um ihm nach einem Fall wie dem gestrigen schnell wieder auf die Beine zu verhelfen, aber nicht groß genug, um die Verletzlichkeit vollständig zu kaschieren, die er auf Leonard ausstrahlte, wie er dort auf dem Sofa kauerte, die Haltung steif, die Hände um sein Wasserglas geklammert. Vielleicht aber täuschte er sich in diesem Punkt auch nur. Vielleicht war es nicht Verletzlichkeit, was er sah, sondern schlicht und einfach Erschöpfung. Die feineren Unterschiede verwischten schnell, vor allem, wenn man wie Leonard selbst noch zu müde war, um klar zu denken; und nebenbei bemerkt hatte ihn seine Menschenkenntnis im letzten Jahr mehr als einmal im Stich gelassen. Außerdem – was ging es ihn schon an?
„Ich hoffe nur, du hattest einen guten Grund für diese Eskapade gestern Abend“, brummte er unwillig. Eigentlich wollte er es gar nicht so genau wissen – und wieder, was ging es ihn an? –, doch Kirk sprang bereitwillig auf den versteckten Vorwurf an.
„Jaah, hatte ich. Die Aufnahme an der Akademie, das ist doch ein guter Grund, um ein bisschen Spaß mit Freunden zu haben. Gehst du nie aus und amüsierst dich?“
„Ein bisschen Spaß ist wohl untertrieben“, entgegnete Leonard trocken. Mit Bedacht ging er nicht auf Kirks Frage ein; ja, es war wirklich eine gefühlte Ewigkeit her, seit er zum letzten Mal ausgegangen war, sich einfach fallengelassen hatte, aber das brauchte Kirk nicht zu wissen. Vermutlich ahnte der junge Mann ohnehin mehr, als Leonard lieb war, seinem frechen Grinsen nach zu urteilen.
„Vielleicht solltest du das öfter mal tun, dann wärst du nicht so spießig. War echt toll gestern Abend, zumindest, bis du mich völlig grundlos weggebracht hast. Wegen dir musste ich übrigens meine Tasche und ein hübsches Mädchen in der Bar zurücklassen.“
Ein weiteres Mal verdrehte Leonard die Augen. „Nicht mein Problem.“
Hatte er ernsthaft Dankbarkeit für seine Fürsorge erwartet? Nein, hatte er nicht. Trotzdem tat Kirks aufgesetzt gleichgültiges Verhalten weh.
„Na ja, ich werde mich darum kümmern. Zumindest meine Tasche hätte ich gerne wieder. Was das Mädchen angeht ... tja, schade drum, aber es gibt ja noch andere.“
Leonard starrte ihn an, fassungslos und belustigt zugleich. Wer zur Hölle war dieser Mann? Und – wollte er es wirklich so genau wissen?
Die Antwort kam sofort, aus dem übermächtigen Winkel seines Herzens, der durch die Scheidung so stark geworden war, dass er den anderen, empfindsameren Teil fast immer überstimmte.
Nein, er wollte es nicht wissen, wollte diesen jungen Mann, der so gar nichts mit ihm selbst gemeinsam zu haben schien, nicht näher an sich heranlassen als unbedingt nötig. Es war an der Zeit, das Kapitel Jim Kirk endgültig abzuschließen.
„Schön, dann kümmere dich mal um deine Angelegenheiten. Am besten gleich. Ich hab nämlich noch zu tun. Im Gegensatz zu dir bin ich hier, um zu lernen“, sagte er.
Kirk verstand den Hinweis, und sollte er deswegen beleidigt sein, so zeigte er es nicht.
„Alles klar.“
Langsam erhob er sich, stellte sein Glas ab, griff sich seine Jacke, zog seine Schuhe an und schlenderte auf die Tür zu, mit einer Lässigkeit, die in einem beinahe komischen Kontrast zu seinem mitgenommenen Äußeren stand. Damals im Shuttle war es genau dasselbe gewesen, und Leonard fragte sich, ob das so etwas wie Jim Kirks Standardverhalten darstellte: seine Wunden mit gespielter Unbeschwertheit überdecken.
Nicht, dass es ihn interessierte.
„Und lass es heute sicherheitshalber langsamer angehen – Tabletten können nicht alles heilen“, warnte der Arzt in Leonard seinen Patienten, obwohl er bezweifelte, dass dieser sich seine Worte zu Herzen nehmen würde.
Kirk hielt inne. „Sicher doch.“
Er zögerte kurz, einen verräterischen Moment, und als er schließlich den Kopf zu Leonard umwandte, zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht, das irgendwo zwischen Unverschämtheit und Dankbarkeit schwebte.
„Und ... danke, Bones“, sagte Kirk – und ehe Leonard darauf reagieren konnte, war er aus dem Zimmer getreten und die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen.
Überrumpelt starrte Leonard auf die Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch ein unverfrorener Jim Kirk gestanden hatte. Seine Verwirrung war zu groß, um Verwunderung über den erneuten Gebrauch dieses obskuren Namens aufkommen zu lassen, und dann übernahm die Müdigkeit erneut das Steuer und redete ihm ein, dass das alles nicht so wichtig sei und er sich ein andermal mit dem Mysterium Jim Kirk beschäftigen könnte, falls überhaupt.
Leonard gab der Erschöpfung nach, drehte sich um und wandte seine Aufmerksamkeit stattdessen seinem Kaffee zu. Wenigstens der würde ihn nicht enttäuschen.
Er hatte nicht erwartet, dass seiner Geschichte mit Jim Kirk ein weiteres Kapitel hinzugefügt werden würde. Wieso auch? Ja, Kirk schuldete ihm definitiv etwas, aber wenn Leonard jedes Mal auf der Einlösung der ihm gegenüber fälligen Schulden bestanden hätte, wäre er längst wahnsinnig geworden. Besser, derartige Sachen auf sich beruhen zu lassen.
Es klappte auch dieses Mal, und Leonard war drauf und dran, den Vorfall als zwar lästige, aber im Grunde bedeutungslose Begebenheit in weniger beachtete Tiefen seines Gehirns abzuschieben, als sich Jim Kirk eine Woche später erneut ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte, diesmal mit voller Absicht.
„Hey, Bones!“
Leonard zuckte zusammen, unsanft aus seinen Gedanken gerissen, die irgendwo zwischen seinen Hausaufgaben für den Basiskurs Warptheorie und seiner Exfrau kreisten, mit der er am Morgen ein weiteres der altbekannten, unfreundlichen Gespräche geführt hatte.
Üblicherweise fingen diese Unterhaltungen zwischen ihnen möglichst neutral an, mit generellen Informationen über ihre Tochter und der Frage, wie es in Zukunft weitergehen sollte; doch was immer sie taten, so sehr sie sich bemühten, auf einer zumindest halbwegs höflichen Basis miteinander umzugehen, es lief am Ende trotzdem immer darauf hinaus, dass sie sich gegenseitig für das Scheitern ihrer Ehe und sämtliche andere Kleinigkeiten, die in ihren Leben jemals schiefgelaufen waren, beschuldigten.
Nicht verwunderlich, dass sich Leonards Laune nach derartigen Gesprächen regelmäßig am Tiefpunkt befand; und sie wurde nicht dadurch verbessert, dass sich nun ein unerträglich munterer Jim Kirk auf den Stuhl ihm gegenüber fallen ließ.
„Was dagegen, wenn ich mich zu dir setzte?“
Eigentlich war die Frage überflüssig. Kirk hatte längst sein Tablett abgestellt und erweckte den Eindruck, als dächte er nicht daran, sich in absehbarer Zeit wieder zu verziehen und Leonard mit seinen Gedanken alleine zu lassen.
Missmutig nickte Leonard ihm über die Reste seines Mittagessens hinweg zu – ein undefinierbarer Eintopf, offenbar eine Eigenkreation der Köche, den er hinuntergeschluckt hatte, ohne wirklich etwas davon zu schmecken.
„Ich werde dich nicht dran hindern können“, sagte er mürrisch, und Kirk lachte auf.
„Du bist nicht gerade ein Sonnenschein, weißt du das? Und ich dachte, deine schlechte Laune wäre letztes Mal bloß eine Ausnahme gewesen. Und das Mal davor auch, wenn ich’s mir recht überlege. Sieht so aus, als müsste ich diese Annahme revidieren.“
Leonard zuckte mit den Schultern, in der Hoffnung, dass Kirk es damit auf sich belassen würde. Es machte ihm nichts aus, sich mit Kirk den Tisch zu teilen, solange sein Gegenüber um Himmels willen den Mund hielt und ihn in Ruhe ließ; er hatte sich nicht umsonst einen Tisch in der hinterletzten Ecke des Speisesaals ausgesucht. Bisher hatte diese Taktik funktioniert und die anderen Kadetten hatten ihn weitgehend in Ruhe gelassen, doch Kirk schien für sein Bedürfnis nach Abschottung nicht viel Verständnis zu haben.
„Also“, sagte er mit vollem Mund und beugte sich näher zu Leonard. „Du bist in keinem einzigen meiner Kurse und du lässt dich so gut wie nie zu den normalen Zeiten in der Mensa blicken. Ich hab dich die ganze Woche nicht gesehen, sonst hätte ich dich früher gefragt, ob du nicht ein Bier oder so mit mir trinken willst. Heute Abend, ich lade dich ein.“
Leonard starrte ihn an, für einige Augenblicke tatsächlich sprachlos. Hatte ihn schon überrascht, dass Kirk sich zu ihm gesetzt hatte, stellte dieses Angebot, oder was immer es war, noch eine Steigerung des Grotesken dar, und Leonard hatte nicht die geringste Ahnung, woher es kam und wohin es ihn führen würde.
„Wir kennen uns überhaupt nicht“, stellte er schließlich fest.
Kirk zuckte die Schultern. „Und? Darum kann ich mich doch trotzdem dankbar für deine Hilfe erweisen.“
Sein Blick war offen und ehrlich und hielt Leonard davon ab, eine bissige Bemerkung abzugeben. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Kirk seine Fürsorge nicht einfach als selbstverständliche Gefälligkeit hinnehmen würde, die man mit einem falschen Lächeln und einer Handbewegung abtun konnte; und obwohl er diesen jungen Mann kaum kannte, kam ihm der Gedanke, dass Jim Kirk wahrscheinlich immer für eine Überraschung gut wäre. Die Frage war nur, ob Leonard bereit wäre, sich darauf einzulassen.
Früher hätte er ohne viel Zögern zugesagt, wenn auch nur, um endlich in Ruhe gelassen zu werden; damals hatte er sich allerdings noch nicht als Einzelgänger bezeichnet. Doch die Zeiten hatten sich geändert, Freundschaften waren zerbrochen und sein soziales Leben war weitestgehend eingeschlafen.
„Hör mal, du hast dich bei mir bedankt und damit ist es gut“, sagte er ausweichend.
Kirk ließ sich damit nicht abspeisen.
„Na und? Ich schulde dir trotzdem was, und danach können wir die Sache meinetwegen vergessen, also stell dich nicht so an. Ich kenne eine gute Bar.“
„So gut wie die, in der ich dich letzte Woche aufgesammelt habe?“
Falls diese Bemerkung Kirk in Verlegenheit stürzte, ließ er es sich nicht anmerken. Langsam bezweifelte Leonard, dass der Begriff Verlegenheit überhaupt zum Wortschatz dieses Kindes gehörte.
Er schenkte Leonard ein selbstzufriedenes Grinsen.
„Besser.“
„Ich bin zu alt für so etwas“, murmelte Leonard und ließ seinen Löffel heftiger als beabsichtigt in den Teller fallen. Das unangenehme Klirren von Metall auf Porzellan hob sich kaum von der Geräuschkulisse der Mensa ab.
Kirk verdrehte die Augen.
„Das glaubst du ja selbst nicht. Wie alt bist du überhaupt?“
Die unverschämte Direktheit brachte ihn derartig aus dem Konzept, dass ihm die Antwort entschlüpfte, bevor ihm einfiel, dass Kirk alle persönlichen Daten, die über Leonards Namen hinausgingen, eigentlich gar nichts angingen.
„Achtundzwanzig.“
„Du tust ja fast so, als ob in diesem Alter das Leben längst vorbei wäre“, bemerkte Kirk, halb spöttisch, halb anklagend, und ganz vielleicht sogar ein kleines bisschen mitleidig. „Komm schon, Bones, komm mal aus deinem Schuhkarton raus und hab ein bisschen Spaß. Heute ist Samstag, du hast morgen sicherlich nichts vor ... Ich weiß ja, dass Medizinstudenten gerne unter sich bleiben, aber dass ihr so spießig seid, glaube ich einfach nicht.“
Er schaffte es tatsächlich, dass diese Aussage sich nicht wie die Beleidigung anhörte, als die man sie leicht fehlinterpretieren könnte, und Leonard zog die Augenbrauen hoch. Genaugenommen verstand er, was Kirk antrieb; er selbst jedenfalls hasste das Wissen, anderen etwas schuldig zu sein. Es machte ihn ruhelos und reizbar und ließ ihn erst in Frieden, wenn er meinte, seine Schulden eingelöst zu haben.
Mit einem Seufzen schob er seinen Teller von sich weg.
„Ich werde es mir überlegen.“
Kirks siegessicheres Grinsen ließ ihn diesen Satz beinahe sofort wieder bereuen; um sich davon abzulenken, lehnte Leonard sich seinerseits nach vorne und fragte: „Was soll überhaupt dieser lächerliche Spitzname?“
Kirk lächelte. „Na, das hast du mir doch bei unserem ersten Treffen gesagt, weißt du nicht mehr?“
Leonard runzelte die Stirn. Undeutliche Erinnerungen schwammen in seinem Kopf umher, überlagert vom Nebel der Panik, jagten einander, stießen zusammen und verschmolzen miteinander, so dass es ihm schwerfiel, eine einzige davon zu erfassen.
„Da war ich betrunken.“
Betrunken klang besser als kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Kirk sah ihn spöttisch an, doch der entsprechende Kommentar blieb aus. Stattdessen richtete sich sein Blick auf irgendeinen Punkt hinter Leonards Rücken.
„Apropos, wo wir schon bei Namen sind“, sagte er unvermittelt, „da hinten ist ja Uhura. Wenn du mich bitte entschuldigst, ich geh mal zu ihr rüber. Ich muss unbedingt noch ihren Vornamen rausfinden. Wetten, dass ich ihn innerhalb der nächsten zehn Minuten erfahren habe?“
Das bezweifelte Leonard ernstlich, aber er behielt seine Gedanken für sich. Sollte Kirk mit seiner optimistischen Selbstüberschätzung glücklich werden.
Der junge Mann erhob sich und griff nach dem Tablett mit seiner halb beendeten Mahlzeit. Er hatte sich schon halb ungewandt, als ihm wieder einzufallen schien, weshalb er überhaupt hergekommen war. Schwungvoll drehte er sich um, verschüttete dabei beinahe den Inhalt seines Glases und rief Leonard zu: „Also, heute Abend um, sagen wir, 2100 vor dem Campus, alles klar?“
Und ohne eine Antwort abzuwarten, kehrte er Leonard endgültig den Rücken zu und hastete davon, um Kadettin Uhura mit seiner Gegenwart zu beglücken.
Leonard sah ihm nach, nicht sicher, was er von der ganzen Sache halten sollte. Ein aufgezwungenes Gespräch, eine Einladung, von der er nicht sicher war, ob er sie annehmen sollte, ein unergründlicher Kadett namens Jim Kirk ...
Nur eines wusste er mit Sicherheit: sobald Kirk fort war, kam er sich aus unerklärlichen Gründen zum ersten Mal einsam an seinem leeren Tisch vor, isoliert mitten innerhalb einer Horde munter miteinander plaudernder Kadetten.
Verärgert über sich selbst erhob er sich, gab sein Tablett ab und machte, dass er die Mensa verließ und zurück zu den Schlafräumen hastete, wo ein leeres Zimmer auf ihn wartete.
Gegen Abend kam ein leichter Wind auf, der den salzigen Geschmack des Meeres mit sich brachte und Leonard seltsam klar im Kopf werden ließ, als er fünf Minuten nach der, wenn auch eher einseitig, vereinbarten Zeit das Schlafgebäude verließ und über das Akademiegelände hastete.
Es war fast, als ließe der Wind das komplette Konstrukt an Sorgen in sich zusammenfallen und trüge die Trümmer nach und nach ab, bis nur noch eine angenehme Leere übrig blieb. Vielleicht nicht unbedingt Unbeschwertheit, aber auf jeden Fall eine gewisse Erleichterung, die es Leonard ermöglichte, sich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag.
Normalerweise war er nicht der Typ fürs Zuspätkommen. Als Arzt wurde einem diese Denkweise vom ersten Tag an eingetrichtert: Wenige Minuten konnten über Leben und Tod entscheiden, Zögern stellte eine Art von Schwäche dar, die man sich vor einem Patienten niemals leisten durfte. Notorische Pünktlichkeit ergab sich dabei irgendwann ganz von selbst.
Dass Leonard an diesem Abend trotzdem zu spät war, lag an den Zweifeln, mit denen er sich den ganzen Nachmittag herumgeschlagen hatte – endlose Stunden des Abwägens, Für gegen Wider, begleitet von der einsamen Stille seines Zimmers.
Am Ende hatte die Seite in ihm gesiegt, die sich nicht gerne vor Herausforderungen drückte. Überhaupt, was hieß schon Herausforderungen? Er würde in einem überschaubaren, von vornherein klar abgesteckten Rahmen ein Bier mit einem anderen Kadetten trinken, der ihn eingeladen hatte, um eine Gefälligkeit zu erwidern. So etwas tat man doch, oder? Nichts Unübliches, und nichts, was Leonard während seines Studiums nicht ab und an gemacht hätte.
Sollte Jim Kirk sich dabei als nicht zu rettender Idiot herausstellten, dann würde Leonard den Abend so gut wie irgend möglich überstehen und danach könnten sie sich für den Rest ihrer Akademiezeit ignorieren. Und falls sich zeigen sollte, dass man mit Kirk im Grunde ganz gut auskommen könnte ... nun, es schadete nie, Leute zu kennen, die einem wohlgesonnen waren. Sie mussten nicht einmal Freunde werden – selbst flüchtige Bekanntschaften konnten sich während einer Ausbildung manchmal als unschätzbar erweisen.
Kirk hatte keinen genauen Treffpunkt genannt - vor dem Campus, das war ziemlich weit gefasst –, aber sobald Leonard das Akademiegelände verließ, stellte er fest, dass er sich keine Sorgen oder Hoffnungen darüber hätte machen müssen, den anderen Mann nicht zu finden.
Direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, von den Laternen in grelles Licht getaucht, stand eine kleine Gruppe von Menschen, bei denen es sich nur um Kadetten handeln konnte und die offenbar in ein heftiges Wortgefecht verwickelt waren. Der Wind trug einzelne Satzfetzen zu Leonard hinüber, und er runzelte die Stirn. Seine Begeisterung, ohnehin schon auf keinem hohen Niveau, sank augenblicklich weiter gegen Null. Er verspürte nicht das geringste Verlangen danach, sich in die Streitigkeiten dieser Leute einzumischen, doch wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er unter den erregten Stimmen eine halbwegs vertraute ausgemacht; und er hätte nicht nur seine letzte Flasche Bourbon darauf verwettet, dass eine der Personen dort drüben niemand anderes war als Jim Kirk, sondern auch darauf, dass der Junge es wieder einmal geschafft hatte, sich in Schwierigkeiten zu bringen.
Unschlüssig verharrte Leonard am Rande des Gehwegs, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, und dem Drang, dafür zu sorgen, dass die Situation nicht eskalierte und Verletzte zur Folge hätte, die ihn um seinen ruhigen Feierabend bringen würden.
„Du hältst dich wohl für was Besseres, aber ich sag dir, du bist nichts wert! Nichts! Nur weil dein Vater ach so Großes geleistet hat, heißt das nicht, dass du hier auftreten kannst, als gehörte dir die ganze Sternenflotte“, brüllte einer der Männer, und die Aggressivität in seinem Tonfall gab den Ausschlag für Leonard, innerlich fluchend die Straße zu überqueren und sich der Gruppe zu nähern. Eine sehr kleine Gruppe, wie er aus der Nähe feststellen konnte – Kirk und zwei andere Männer, von denen einer nun Anstalten machte, Kirk zu packen.
„Gibt es Probleme?“, rief Leonard in seiner entschlossensten Stimme. Die Männer erstarrten; im Licht der Laterne wirkten sie beinahe wie Marionetten auf einer Bühne, aufgestellt für eine Aufführung und dann von ihren Puppenspielern vergessen.
Drei Köpfe wandten sich ihm zu, und Leonard war inzwischen nahe genug an die Streitenden herangetreten, um ihre Gesichter erkennen zu können. Da war Jim Kirk, der zugleich wütend und überrascht wirkte; bei seinen Kontrahenten handelte es sich um einen untersetzten Mann mit undefinierbarem Haarschnitt und einen massigen Kerl mit sorgfältig gestutztem Bart, der Leonard vage bekannt vorkam – gut möglich, dass sie sich schon einmal über den Weg gelaufen waren, womöglich im Shuttle für die neuen Rekruten oder in der Mensa.
Dieser Mann war es auch, der vorläufig die deutlichere Bedrohung darstellte und der sich nun nicht gerade freundlich an Leonard wandte.
„Was zur Hölle wollen Sie denn? Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!“
In einer abwehrenden Geste hob Leonard die Arme.
„Hey, ich will keinen Ärger und ihr sicher auch nicht, also wieso reden wir nicht wie vernünftige Erwachsene miteinander und ihr sagt mir erst mal, was überhaupt los ist?“
„Halt du dich da raus“, zischte ihm Kirk zwischen zusammengebissenen Zähnen zu, offenbar alles andere als glücklich über den Verlauf der Ereignisse.
Leonard musste sich ein Seufzen verkneifen. War ja klar, dass dieser Junge in seiner Selbstüberschätzung Leonards Eingreifen für eine Schmähung seiner Selbstdarstellung hielt. Dabei lag ihm weniger daran, Kirk seine Kämpfe nicht alleine ausfechten zu lassen, sondern mehr daran, Kirk davor zu bewahren, noch innerhalb der nächsten halben Stunde in der Krankenstation der Akademie zu landen.
„Verdammt, Jim, das ist doch lächerlich“, gab er wütend zurück. Erst viel später würde ihm auffallen, dass er Kirk damit zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte, unbewusst und im Eifer des Gefechts. „Ich wollte eigentlich ein Bier mit dir trinken gehen, aber wenn du dich lieber prügeln willst, bitte, nur zu. Dann gehe ich eben wieder.“
„Wäre vielleicht die beste Idee“, warf der kleinere der beiden Männer böse ein; sein Freund jedoch fixierte Leonard, die Situation abwägend. Leonard hielt seinem Blick mit verbissener Entschlossenheit stand, auch wenn er genau wusste, dass seine Chancen ziemlich schlecht standen, sollte es tatsächlich zu dem Kampf kommen, den sich in dieser trauten Runde offensichtlich jeder außer ihm wünschte. Gut, objektiv betrachtet stand es zwei gegen zwei; subjektiv betrachtet dagegen ließen Leonards Fähigkeiten im Nahkampf sehr zu wünschen übrig. Er war Arzt, verdammt – er verletzte keine Leute, sondern er flickte sie zusammen.
„Na gut“, sagte der massige Mann schließlich, und Leonard musste sich Mühe geben, damit man ihm seine Erleichterung nicht anmerkte. „Nimm deinen kleinen Freund und verschwinde von hier. Aber eines kann ich dir versprechen, wenn er mir noch einmal blöd kommt, kannst du ihn danach mit einem Löffel von der Straße aufkratzen. Und dir sage ich, dann wird es niemanden geben, der mich davon abhalten kann, kurzen Prozess mit dir zu machen, alle Kadetten und Captains dieser Welt nicht!“
Der letzte Satz war direkt an Jim gerichtet, dessen Gesicht eine so kalte Wut widerspiegelte, dass Leonard unwillkürlich froh darüber war, auf seiner Seite zu stehen, wenigstens mehr oder weniger.
„Ach ja, meinst du?“, sagte Jim gefährlich ruhig. „Willst erst noch ein paar Freunde zusammentrommeln, bevor du es mit mir aufnimmst, was? Traust dich wohl nicht, mir in einem fairen Kampf gegenüberzutreten? Wie viele werden es nächstes Mal – zehn gegen einen? Vielleicht hättest du dann ja den Hauch einer Chance.“
Die Miene des massigen Kadetten verfinsterte sich, und Leonard sah seine letzte Chance auf einen ruhigen Abend langsam seiner Reichweite entschwinden.
„Ich bin mir sicher, diese Probleme lassen sich auch ein andermal beheben“, sagte er hastig. „Jim, wir gehen. Schönen Abend noch, Gentlemen.“
Und ohne große Umstände packte er den widerstrebenden Jim am Arm und schleifte ihn mit sich fort – auf die andere Seite der Straße, weg von den beiden kampflustigen Kadetten. Halb befürchtete er, dass sie ihnen folgen würden, und dann wäre er endgültig geliefert, aber ein kurzer Blick über die Schulter verriet ihm, dass aus dieser Richtung vorerst keine Gefahr drohte.
„Lass mich los!“, zischte Kirk. Mit einem Ruck befreite er sich aus Leonards eisernem Griff. „Scheiße, was sollte denn das? Wer bist du, mein Babysitter?“
„Vielleicht hättest du einen nötig“, sagte Leonard bissig, und Jim lachte auf, nicht gerade fröhlich.
„Und das ausgerechnet von dir.“
Leonard blieb stehen und drehte sich so abrupt zu Jim um, dass der junge Mann tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde überrumpelt wirkte.
„Jetzt hör mir mal zu“, sagte Leonard scharf, langsam am Ende seiner Geduld angekommen. „Kann ja sein, dass du dich für unbesiegbar hältst, aber was glaubst du denn, wer in diesem Kampf gewonnen hätte? Diese Kerle hätten dich ohne viel Mühe zu Hackfleisch verarbeitet, das musst doch selbst du einsehen.“
„Mit denen wäre ich schon fertiggeworden“, behauptete Jim störrisch. „Verdammt, das war mein Kampf. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lächerlich ich jetzt wirke, weil ich einfach abgehaut bin, dank dir?“
Nun war es an Leonard, aufzulachen, ungläubig und ein wenig verzweifelt. Himmel, das durfte doch nicht wahr sein. Er sollte zurück in sein Zimmer, seine Hausaufgaben vorbereiten oder gleich ins Bett gehen, aber nein, hier stand er, fröstelnd im kühlen Wind vor dem Akademiegelände, und diskutierte mit einem uneinsichtigen Kind.
„So also funktioniert die Welt für dich, ja? Denkst du eigentlich jemals an die Konsequenzen deiner Handlungen? Vor zwei Wochen jedenfalls hast du sicher nicht daran gedacht, so, wie du in diesem Shuttle aussahst. Ist das deine Art, durchs Leben zu gehen? Einfach losrennen, ohne nach rechts und links zu schauen, und es anderen überlassen, das wieder zu richten, was du kaputtgemacht hast? Was, zur Hölle, glaubst du denn, wie lange du damit weiterkommst? Du bist ein verdammter Kadett, und was ist das Erste, das du machst? Eine Schlägerei anfangen. Ist das deine Art, dich der Uniform gegenüber respektvoll zu erweisen?“
Ein Teil von ihm fühlte sich schuldig wegen dieser Worte, raunte ihm zu, dass er kein Recht dazu habe, in diesem Ton mit einem fast völlig Fremden zu reden. Der andere Teil allerdings behauptete, dass er jedes Recht dazu habe. Ja, er kannte Jim Kirk kaum, aber er hatte genug von ihm gesehen, um zu wissen, dass Kirk womöglich jemanden nötig hatte, der ihm ab und an auf die richtige Spur half. Leonard hatte nicht vor, diese Aufgabe permanent zu übernehmen, doch zumindest an diesem Abend tat er es mit voller Überzeugung, und das war richtig so.
Ein Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, unterlegt von der monotonen Geräuschkulisse der Stadt, und einen flüchtigen Moment lang befürchtete Leonard, etwas zerbrochen zu haben, das noch nicht einmal richtig zusammengesetzt worden war; aber bevor er dieses unerklärliche Gefühl genauer bestimmen konnte, stieß Jim betont theatralisch den Atem aus.
„Schön. Bist du fertig mit deinem ethischen Vortrag? Dann könnten wir uns endlich mal auf den Weg zur Bar machen.“
Unschlüssig vergrub Leonard die Hände in den Taschen, alles andere als zufrieden mit der Wendung, die dieser Abend genommen hatte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ...“
„Vergiss es“, schnitt Jim ihm resolut das Wort ab. „Ich hab gesagt, dass ich dich auf ein Bier einlade, und das mache ich auch. Also, komm mit. Ist nicht weit.“
Er setzte sich in Bewegung, ohne abzuwarten, ob Leonard ihm folgte. Leonard blickte seiner schmalen Gestalt einige Sekunden lang nach, dann hastete er ihm kopfschüttelnd hinterher. Das Grinsen, mit dem Jim ihn bedachte, sobald er ihn eingeholt hatte, verriet deutlich, dass Jim keinen Augenblick daran gezweifelt hatte, dass Leonard sich seinem Willen fügen würde.
„Okay“, begann Leonard, als sie nebeneinander durch den Wechsel von Licht und Schatten die Straße entlanggingen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wohin Jim ihn führen würde; ihm blieb nichts anderes übrig, als diesem Mann zu vertrauen, und er wusste nicht, inwiefern ihn diese Vorstellung beruhigte. „Lass mich raten: Dieser Kerl vorhin war derselbe, der dafür verantwortlich war, dass ich vor zwei Wochen deine Nase richten durfte?“
Jim schnaubte. „Ich weiß überhaupt nicht, wie du darauf kommst.“
Er kickte einen Stein vom Gehweg auf die Straße. Das hohle Klackern auf dem Asphalt verhallte wirkungslos, ein Misston im Konzert der Nacht.
„Hendorff hat es aus irgendeinem Grund auf mich abgesehen, seit wir damals in der Bar aneinandergeraten sind. Da hat er übrigens auch schon unfair gekämpft, nur dass du’s weißt. Wir hatten neulich eine weitere, nicht unbedingt erfreuliche Begegnung, und als er mich dann vorhin alleine dort warten sah, konnte er es sich nicht verkneifen, mich zu provozieren. Komisch nur, dass er das immer nur dann macht, wenn er sich mindestens zwei zu eins in der Überzahl gegen mich befindet.“
„Sein Provokationsversuch muss ja ziemlich erfolgreich gewesen sein“, entgegnete Leonard leichthin. „Was hat er gemacht – deinen Vater beleidigt?“
Sofort wusste er, dass er einen empfindlichen Punkt getroffen hatte; es wirkte, als schlössen sich eiserne Tore hinter Jims Augen. Die Botschaft war überdeutlich: bleib draußen.
„Ist nicht wichtig“, sagte Jim knapp, ein ebenso plumper wie klarer Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. In jeder anderen Nacht hätte Leonard sich darauf eingelassen, denn ja, er wusste genau, wie es sich anfühlte, nicht über seinen Vater sprechen zu wollen, oder über Familie allgemein. Trotzdem, an diesem Tag, nach allem, was vorgefallen war, konnte er sich eine weitere Bemerkung nicht verkneifen.
„Himmel, du lässt dich wirklich von so einer Kleinigkeit dermaßen auf die Palme bringen? Das ist doch die übliche billige Taktik, wenn du jemanden nicht leiden kannst: Beleidige seine Eltern. Kein Grund, gleich eine Schlägerei anzufangen – und ehrlich, was kann denn dieser Hendorff schon über deinen Vater wissen?“
Jim blieb so plötzlich stehen, dass Leonard beinahe ins Straucheln geriet – einerseits vor Überraschung, andererseits wegen der Härte in Jims Gesichtszügen, die nicht richtig in das Bild passte, das sich Leonard bisher von dem jungen Mann gemacht hatte.
„Vergiss es einfach, okay?“
„Ich ... okay“, sagte Leonard verwirrt. Was zur Hölle hatte er nun schon wieder falsch gemacht? „Ist was mit deinem Vater ... ich meine, du hast recht. Es geht mich nichts an. Entschuldigung“, fügte er hastig hinzu, doch Jim wirkte nun nicht mehr ärgerlich; die Härte in seinen Augen wurde durch Unglaube ersetzt.
„Warte mal ... du weißt es nicht?“
„Ich weiß was nicht?“, entgegnete Leonard verteidigend, in dem sicheren Gefühl, das Offensichtlichste überhaupt zu übersehen. Manchmal war er darin beängstigend gut.
Anstelle einer Antwort wandte Jim den Blick ab, jedoch nicht schnell genug, um die Verletzlichkeit zu verbergen, die sich in seine Augen geschlichen hatte und selbst in der Halbdunkelheit nicht zu übersehen war. Es war eine Verletzlichkeit, die von tiefen, längst nicht verheilten Wunden herrührte und die Leonard verdächtig bekannt vorkam.
Bilder wirbelten in seinem Geist umher, Gesprächsfetzen, Eindrücke ... all das Wenige, das er über Jim Kirk wusste ...
Und auf einmal kam er sich so unfassbar dumm vor. Jim Kirk. Jim Kirk.
„Scheiße.“
Ein gequältes Lächeln huschte über Jims Gesicht. „Ja. Scheiße.“
Leonard schluckte. Er hätte es wissen müssen. Jeder wusste es. Dass er zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, galt nicht als Entschuldigung für diese Blindheit.
„Die Kelvin“, sagte er leise. Wie hatte er es nicht sehen können?
Jim seufzte. Mit seinem gebeugten Kopf, den wie zum Schutz hochgezogenen Schultern und vor allem vor dem Hintergrund des neuen Wissens, das sich gerade enthüllt hatte, kam er Leonard wie ein völlig anderer Mann vor als noch vor fünf Minuten – älter, müder und gleichzeitig so viel schutzbedürftiger. Auf eine gewisse Weise ergab es Sinn. Auf eine gewisse Weise fügten sich die neuen Informationen perfekt in das Gesamtbild Jim Kirk ein.
„Hör zu, ich bin immer froh, wenn Leute nicht gleich bei der ersten Begegnung darauf zu sprechen kommen. Es kommt mir dann immer so vor, als sähen sie nicht mich vor sich, sondern meinen Vater, den großen Captain George Kirk, Vorzeigeheld der Sternenflotte ...“
Die Bitterkeit in seiner Stimme klang allzu vertraut. Jemand sein zu müssen, der man nicht war, war eine schwere Bürde, und wer diese Bürde einmal getragen hatte, erkannte seine Leidensgenossen meistens. Wenn auch manchmal erst spät.
„Ich dachte, du hättest es längst gewusst. Du musst doch etwas von den lächerlichen Gerüchten gehört haben, die überall in der Akademie kursieren ... dass ich nur wegen dem berühmten Namen meines Vaters aufgenommen wurde ... dass ich niemals in der Lage sein werde, so gut zu sein wie er ...“
Er lächelte bitter. „Na ja, selbst wenn du nichts davon gehört hast, Hendorff hat es.“
Leonard verschränkte die Arme. Nun, da sie sich nicht mehr bewegten, ließ der kühle Wind ihn erneut frösteln.
„Jim, ich ...“
Jim machte eine abwehrende Handbewegung. „Vergiss es. Ich komme schon damit klar. Nur manchmal kotzt es mich einfach so an, dass ich diesen verdammten Namen mit mir herumschleppe, wo immer ich bin. Obwohl, eigentlich kann ich mich nicht beschweren. Meinen Bruder hat es im Vergleich zu mir noch schlimmer erwischt. Er heißt George mit Vornamen.“
Er lächelte ein weiteres Mal, diesmal unbeschwerter. „Und ich habe absolut keine Ahnung, wieso ich dir das alles überhaupt erzähle.“
Mit einer gewissen Erleichterung erwiderte Leonard das Lächeln, zögernd und vorsichtig zwar – doch später würde er sich daran erinnern, dass es das erste Lächeln war, das er mit Jim Kirk teilte. Die Anspannung der letzten Momente war vorüber.
„Ich werde es für mich behalten.“
Jim nickte kaum merklich. Er sah nicht Leonard an, sondern richtete seinen Blick in die Ferne, wo sich die Golden Gate Bridge funkelnd von der mit Lichtpunkten gescheckten Schwärze der Nacht abhob.
„Was ist denn mir dir?“, fragte er. „Was verschlägt einen Arzt mit Flugangst aus, lass mich raten, Georgia – so, wie du redest – in die Sternenflotte?“
Eine Spur des üblichen Sarkasmus mischte sich in Leonards Lächeln. „Abgesehen von einer Familientragödie, einem unmöglichen Dilemma, einer in die Brüche gegangenen Ehe und einer habgierigen Exfrau?“
Jim schien zu verstehen. „Klingt ja fast genauso beschissen wie meine Geschichte“, urteilte er mit einem schiefen Grinsen, und Leonard zuckte die Schultern. Das nannte sich Leben, und während die Vergangenheit nicht geändert werden konnte, bestand immerhin die winzige Chance, dass die Zukunft besser werden könnte, auf irgendeine Weise, die sich seiner Vorstellung noch entzog. Wer wusste schon ...
Jim fragte nicht weiter, und Leonard war ihm dankbar dafür. Es gab Wunden, die nie verheilen würden, und Angelegenheiten, über die man nicht gerne sprach, schon gar nicht mit einem größtenteils Fremden. Für diesen Abend hatten sie genug Informationen übereinander ausgetauscht.
„Dann können wir eigentlich weitergehen, was? Bin gespannt, ob wir heute noch zu unserem Bier kommen“, bemerkte Jim, nun wieder in den lockeren Tonfall zurückfallend, der Leonard fast schon vertraut war und mit dem er auf jeden Fall besser umgehen konnte als mit der verletzlichen Härte in Jims Stimme.
Sie gingen einige Schritte, dann zögerte Jim ein letzes Mal. „Ach ja, und ... keine Fragen oder Kommentare mehr über meinen Vater, klar? Falls du das irgendwie nachvollziehen kannst, ich rede nicht gerne darüber.“
Fast hätte Leonard gelächelt. Es schien fast so, als hätte er die erste Gemeinsamkeit zwischen sich und Jim entdeckt: Er selbst redete auch nicht gerne über seinen Vater.
Und als der Abend voranschritt und ihr Gespräch sich in einer überraschend annehmbaren Bar unverfänglicheren Themen zuwandte – Neuigkeiten aus dem Universum, ihre Ausbilder, der Unterrichtsstoff –, glaubte er, vielleicht noch weitere Gemeinsamkeiten mit Jim Kirk zu entdecken. Auf jeden Fall erlangte er in dieser Nacht eine Erkenntnis, die vielleicht, ganz vielleicht, die Unannehmlichkeiten der letzten Woche aufwog: Womöglich war Jim Kirk gar kein so übler Kerl, wie Leonard anfangs befürchtet hatte.
Auch wenn er das niemals laut ausgesprochen hätte.
Der Abend veränderte vieles und beließ dennoch alles beim Alten.
Es stimmte, dass Leonard mehr über Jim Kirk erfahren hatte, als er für möglich gehalten hätte, sowohl durch das, was der andere Mann ihm erzählt hatte, als auch durch das, was ungesagt geblieben war; doch hatte er keine andere Möglichkeit, als dieses Wissen sorgfältig in eine gut gesicherte Kammer seines Kopfes einzusperren.
Was Jim ihm anvertraut hatte, würde er für sich behalten, darin bestand kein Zweifel, aber es war nicht so, als ob die Gespräche in der Bar oder auf der Straße zuvor sie zu anderen Menschen gemacht hätten. Sie waren immer noch der mürrische Leonard McCoy, der sich nicht gerne auf andere Personen einließ, der nach den Ereignissen, die ihn letztendlich an die Akademie geführt hatten, eine vorsichtige Annäherung jeder überstürzten Unbedachtheit vorzog, und Jim Kirk, der unnahbare Junge mit dem großen Ego, ein Meister darin, so zu tun, als brauchte er niemanden, der sich um ihn kümmerte.
Betrachtete man es nüchtern und objektiv, kam man zu demselben Schluss, den auch Leonard am darauffolgenden Montag zog, als Jim ihn in der Mensa zwar mit einem flüchtigen Kopfnicken bedachte, ihn ansonsten jedoch ignorierte. Eigentlich waren sie einander immer noch fremd, und keiner von ihnen hatte jemals auch nur den Hauch einer Andeutung darüber gemacht, dass sie nach diesem Abend in der Bar, nach der überflüssigen Rückbezahlung eingebildeter Schulden, weiterhin miteinander zu tun haben würden.
Es hätte Leonard nicht überraschen dürfen, dass ihre Rollen sich nicht veränderten. Jim hielt sich wie zuvor im Kreis seiner Freunde auf, fröhlich und selbstbewusst und stets das Zentrum der Aufmerksamkeit, und Leonard saß alleine in seiner Ecke des Speisesaals und versuchte, die lebhaften Gespräche um sich herum auszublenden und sich einzureden, dass es ihm überhaupt nichts ausmachte, ausgeschlossen zu sein, denn das war es doch, was er verdammt noch mal wollte. Und er könnte es jederzeit ändern, nicht wahr?
Die Vertrautheit, die er nach jener Nacht mit Jim Kirk zu teilen geglaubt hatte, hatte er sich wohl nur eingebildet, und es gab nicht den geringsten Grund dazu, das zu bedauern. So funktionierte nun einmal der Lauf der Welt, hart und willkürlich, aber nicht unbekannt. Leonard hatte im vergangenen Jahr lernen müssen, sich gegen ihn zu behaupten, und so tat er auch jetzt, was alle anderen taten und was ohnehin die einzige Option darstellte: seine Rolle wieder annehmen und weitermachen, als wäre nichts gewesen. Im Grunde war ja auch nichts gewesen, nur ein unverfängliches Bier zwischen zwei Kadetten, völlig alltäglich. Jim würde zurechtkommen, und Leonard würde es auch. Er musste.
Nicht nur um seiner selbst willen.
„Geht’s dir gut, Papa?“, fragte Joanna ihn am nächsten Sonntag, mit all ihrer kindlichen Unschuld, und unwillkürlich schlossen sich Leonards Finger fester um die Armlehnen seines Stuhls.
„Mir geht’s gut, Jojo“, sagte er, inständig hoffend, dass Joanna die nicht ganz zu kaschierende Bitterkeit in seiner Stimme nicht bemerkte.
Es tat ihm weh, seine Tochter anzulügen, aber in diesem Fall geschah das zu ihrem Wohl. Joanna war ein sensibles Kind, und sie hatte im letzten Jahr genug mitmachen müssen, da wollte Leonard sie nicht zusätzlich mit seinen eigenen Problemen belasten. Im Gegensatz zu seiner Exfrau nahm sie sich trotz ihres jungen Alters sein Wohlbefinden sehr zu Herzen, vielleicht sogar zu sehr, und so froh Leonard um ihre Fähigkeit zum Mitfühlen war – nun wollte er ihr seine Sorgen ersparen.
„Es ist nur ziemlich anstrengend an der Akademie, weißt du?“, erzählte er möglichst unbefangen. „Ein bisschen wie in der Schule.“
Er erkannte seinen Fehler erst, als Joanna munter und völlig arglos das Thema aufgriff und über ihre Schule zu berichten begann. Mit jedem Wort fühlte er sich ein bisschen schlechter, jedes Wort führte ihm mit brutaler Deutlichkeit stärker vor Augen, was er verloren hatte.
Seine Tochter war kein Kleinkind mehr, sie hatte die unterste Stufe auf der Treppe des Erwachsenwerdens erklommen, und er hatte diesen wichtigen Schritt verpasst. Anstatt Joannas Einschulung beizuwohnen, befand er sich am anderen Ende des Landes, geflüchtet vor den Scherben seines Lebens. Der Preis war hoch: Er hatte nicht nur die Belastungen zurückgelassen, die ihn vertrieben hatten, sondern auch das, was das Leben am lebenswertesten machte – seine Tochter. Und es hatte ja nicht erst mit der Scheidung angefangen. Wie oft hatte er in den Jahren zuvor nicht für Jo da sein können, wie viel hatte er verpasst, weil er dank endloser Überstunden im Krankenhaus festsaß?
„Ich finde Schule gar nicht anstrengend. Die Leute sind alle ganz nett“, sagte sie lebhaft. „Und meine Klassenlehrerin mag ich auch. Wir singen jeden Morgen ein Lied mit ihr. Nur Mathe ist doof.“
„Du schaffst das schon. Und Mathe ist sowieso nicht so wichtig“, meinte Leonard mit einem leichten Lächeln.
Jocelyn hätte ihm wegen dieser Bemerkung einen erbosten Vortrag über seine Vorbildfunktion als Erziehungsberechtigter gehalten, aber zur Hölle, das hier war seine Zeit mit seiner Tochter, die wenige Zeit, die ihm noch geblieben war. Schlimm genug, dass sie sich auf zwei knappe Telefonate pro Woche beschränken mussten – mittwochs und sonntags, das hatte sich nach und nach so eingependelt –, da würde er sich nicht Jocelyn zuliebe verstellen.
„Finde ich auch. Aber im Bastelunterricht haben wir gemalt, das hat Spaß gemacht“, plapperte Joanna weiter. „Und meiner Lehrerin hat mein Bild auch gefallen.“
Eifer fand den Weg in ihre Stimme, hervorgerufen durch eine plötzliche Idee. „Magst du es mal sehen?“
Eine Spur von Traurigkeit mischte sich in Leonards Lächeln. „Gerne, Jojo. Bitte doch deine Mutter, dass sie es an mein PADD schicken soll. Sie weiß, wie das geht.“
„Mach ich“, sagte Joanna.
Leonard brauchte nicht viel Vorstellungskraft, um sich auszumalen, wie sie mit roten Wangen und glänzenden Augen vor der Kommunikations-Schaltplatte auf und ab hüpfte, gänzlich eingenommen von ihrer neuen Aufgabe. Schnell verscheuchte er das Bild; das Verlangen, endlich einmal wieder von Angesicht zu Angesicht mit seiner Tochter zu sprechen, ließ sich jedoch nicht so leicht ignorieren. Das Kommunikationssystem der Akademie leistete gute Dienste, aber es war einfach nicht dasselbe wie ein persönliches Gespräch oder zumindest eine audiovisuelle Übertragung.
Er setzte dazu an, Joanna etwas zu fragen, irgendetwas – Hauptsache, sie redete mit ihm –, als sie von selbst zu sprechen begann, allerdings nicht mehr ganz so fröhlich klingend wie davor.
„Papa? Mama sagt, ich soll jetzt aufhören. Sie sagt, ich muss ins Bett.“
Leonard biss die Zähne zusammen. Reichte es nicht, dass Jocelyn ihm beinahe alles genommen hatte – musste sie ihm nun auch noch die kostbaren Momente mit seiner Tochter entreißen? Die Wut auf seine Exfrau umhüllte ihn wie eine zu warme Decke, doch er hielt sie entschlossen im Schach. Jocelyn saß am längeren Hebel; eine unbedachte Äußerung, und sie würde sich mit Vergnügen an ihm dafür rächen, und wieder wäre es Joanna, die darunter leiden müsste.
„Klar. Ich verstehe“, sagte er beherrscht. „Nächsten Mittwoch melde ich mich früher bei dir, okay?“
Wenn nötig, würde er eben seine Schicht in der Krankenstation der Akademie abbrechen, um mit seiner Tochter sprechen zu können.
„Ja, Papa. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Jo.“
Sie zögerte, offenbar kurz davor, etwas hinzuzufügen, aber nicht sicher, ob sie es tatsächlich tun sollte.
„Was ist, Jojo?“
Sie stellte die entscheidende Frage mit einer Direktheit, die Leonards Schutzschilde endgültig in sich zusammenbrechen ließ.
„Wann kommst du wieder heim, Papa?“
Irgendetwas in ihm verkrampfte sich. Als er Georgia verlassen hatte, hätte er sich nicht träumen lassen, dass es so sehr wehtun würde.
„Bald, Süße. Bald“, antwortete er mit zusammengeschnürter Kehle, und er wusste nicht, was mehr schmerzte: die Lüge oder die Freude in Joannas Stimme, als sie sich von ihm verabschiedete.
Leonard stand noch lange da und starrte auf die blinkende Anzeige auf dem Bildschirm seines Computers, nachdem die Verbindung längst beendet war. Fetzen des Gesprächs wirbelten in seinem Geist umher, und je länger er sie gewähren ließ, desto mehr wurden es, desto mächtiger wurden sie. Sie heften sich aneinander, bilden lange, klebrige Ketten des Vorwurfs, wickelten sich um sein Gehirn und machten es ihm unmöglich, an etwas anderes zu denken als Joannas kindliche Hoffnung, die unweigerlich früher oder später in Enttäuschung umschlagen würde, wie so oft zuvor.
Irgendwann, als die Dunkelheit längst ins Zimmer gekrochen war, stellte er seinen Computer auf den Ruhemodus um. Es hatte keinen Sinn, sich in Selbstmitleid zu verlieren, das wusste er genau, und dennoch hielt ihn nur ein plötzlich einsetzender Summton davon ab, zu einem bewährten Mittel zu greifen und seinen Vorrat an Alkohol hervorzukramen. Stirnrunzelnd warf Leonard einen Blick auf die Zeitanzeige. 2007. Wer zur Hölle ...?
Das Summen bedeutete, dass jemand in sein Zimmer eingelassen werden wollte, etwas, das bisher noch nicht vorgekommen war. Hastig wog er seine Optionen gegeneinander ab, dann siegte seine Neugierde; außerdem war der Abend sowieso schon an seinem Tiefpunkt angelangt, schlimmer könnte es nicht werden, was auch immer der unerwartete Besucher wollte.
„Tür öffnen“, befahl er dem Computer und wandte den Kopf – nur um sich im nächsten Moment fassungslos einem grinsenden Jim Kirk gegenüber zu finden, der unaufgefordert über die Türschwelle trat, ganz so, als gehörte ihm die Wohnung.
„Hallo, Bones“, grüßte er unbefangen. Sein lockeres Verhalten stand in groteskem Gegensatz zu seinem Äußeren, wieder einmal: Für einen flüchtigen Moment erinnerte Jim Leonard an einen Soldaten, der von einer Schlacht zurückkehrte, zwar siegreich, aber deutlich mitgekommen. Jims Lippe war aufgeplatzt, um seinen Wangenknochen herum begann sich ein Bluterguss zu formen und er presste ein blutdurchtränktes Taschentuch gegen seine Schläfe.
„Was zum Teufel ...“
Sekundenlang stand Leonard wie erstarrt da, dann übernahmen ganz automatisch seine medizinisch geschulten Instinkte das Kommando. Er trat auf Jim zu, packte ihn am Arm, zog ihn zum Tisch und drückte ihn auf einen Stuhl nieder. Keine Fragen trieben ihn an, keine Verwunderung und kein Ärger, erst recht keine Gedanken an Motive und Gegenleistungen, nur der Drang, einen Patienten zu verarzten.
„Verdammt, langsam“, beschwerte sich Jim. Unwillig befreite er sich aus Leonards Griff. „Es ist nur ein Kratzer.“
„Das sehe ich“, murmelte Leonard zynisch. Vorsichtig zog er Jims Hand mit dem Taschentuch von seinem Kopf und ließ seine Augen prüfend über die Wunde gleiten. Typische Platzwunde, unschön, aber nichts, was er nicht innerhalb kurzer Zeit richten könnte.
„Lass mich raten: Hendorff?“, fragte er abwesend, während er sich abwandte und zu dem Schrank hastete, in dem er seine Ausrüstung verstaut hielt.
Er war ohne das geringste Gepäck in San Francisco angekommen, mit nichts als den Kleidern, die er am Leib trug, und einer kleinen Flasche Bourbon, doch bei seiner ersten Schicht in der Krankenstation hatte er seine medizinische Grundausrüstung aufgestockt, einfach aus alter Gewohnheit. Er fühlte sich unwohl, wenn es in seiner Nähe weit und breit nichts gab, womit er eine Erstversorgung und mehr durchführen konnte; eine weise Entscheidung, wie sich herausstellte. Mit dem, was er in seinem Zimmer hatte, könnte er Jims Verletzungen problemlos versorgen.
Ein Schnauben hinter ihm lenkte ihn kurz von seiner Arbeit ab.
„Du solltest Wahrsager werden, Bones.“
Eine kurze Pause entstand, dann stürzte Jim sich unaufgefordert in einen Bericht über die Vorfälle, die ihn zu Leonard geführt hatten.
„War eigentlich klar, dass er mich nicht in Ruhe lassen würde. Leute wie er hängen sich ewig an irgendwelchen Kleinigkeiten auf, das macht sie so gefährlich ... eines sage ich dir, wenn ich mal mein eigenes Schiff kommandiere, überlege ich mir zweimal, ob ich Cupcake in meine Crew aufnehme. Jedenfalls bin ich ihm vorhin auf dem Gang begegnet, eines hat zum anderen geführt und was passiert ist ... na ja, du siehst es selbst. War übrigens ein guter Kampf. Er wäre noch besser gewesen, wenn ich ihn ordentlich hätte beenden können, aber blöderweise hat uns einer der Ausbilder unterbrochen ... war nicht sehr begeistert, der gute Mann, hat erst mal eine Rede über Vorschriften und Disziplin vom Stapel gelassen und uns dann auf die Krankenstation geschickt.“
Er räusperte sich. „Aber da ich dachte, dass die Ärzte dort bestimmt Besseres zu tun haben, als Kadetten nach einer Prügelei zusammenzuflicken, beschloss ich, dass ich genauso gut dir einen Besuch abstatten könnte.“
„Wie aufmerksam von dir“, sagte Leonard. Er hatte alles zusammengesucht, was er brauchte, und legte es nun auf dem Tisch neben seinem Patienten ab, der ihn unschuldig musterte.
„Nicht wahr? Ich dachte mir, du freust dich, mich zu sehen.“
„Dein Ego möchte ich haben“, brummte Leonard. Kurz wurden seine Gedanken von der Frage beschlagnahmt, was wirklich hinter Jims Entscheidung lag, denn dieser Teil seiner Geschichte entsprach sicherlich nicht der Wahrheit; doch dann konzentrierte er sich auf das dringlichere Problem.
Im Grunde war es egal, wieso Jim zu ihm gekommen war, ob er nur eine Hintertür suchte, um den Formalitäten auf der Krankenstation zu entgehen, oder ob er sich bei Leonard tatsächlich in besseren Händen glaubte. Es zählte nur, dass er hier war – ein Patient wie jeder andere auch, dem es zu helfen galt.
Erst später würde sich auf die Frage, wieso Jim sich ausgerechnet ihm anvertraute, eine klarer umrissene Antwort in seinem Kopf formen, die Leonard zugleich erheiterte und verstörte: In gewisser Weise ließ sich Jim mit einem ausgesetzten Welpen vergleichen, den man einmal aus gedankenlosem Mitleid zu fressen gegeben hatte und der einem deswegen folgte, wohin auch immer man ging. Ihn wieder loszuwerden, würde sich als schwierig erweisen.
„Täte dir vielleicht ganz gut“, meinte Jim, ziemlich frech für jemanden, dem man seine Schmerzen deutlich ansah. Er mochte die Rolle des starken Kerls aufrechterhalten, so lange er wollte; das Schmerzmittel, das Leonard ihm wortlos reichte, schluckte er trotzdem sofort hinunter.
„Es war wirklich ein guter Kampf, er kam mir gerade recht. Ich hatte schon befürchtet, es würde ein langweiliger Abend werden“, erzählte Jim weiter, und dann schlich sich ein trotziger Unterton in seine Stimme.
„Ich hätte gewonnen.“
„Natürlich hättest du das“, sagte Leonard mit einem resignierten Kopfschütteln. „Und danach hättest du garantiert nicht mehr auf eigenen Beinen einen Arzt aufsuchen können. Langsam glaube ich wirklich, dass du eine geradezu morbide Veranlagung dafür hast, dich in Schwierigkeiten zu bringen.“
Jim wischte diesen Einwand mit einer Handbewegung beiseite. „Captain Pike hat behauptet, die Tendenz, zu springen, ohne dabei hinzuschauen, liege in meiner Natur. Ich bin also komplett machtlos dagegen.“
Leonard verdrehte die Augen, einzig und alleine, um die Form zu wahren. Er hätte viel dafür gegeben, bestimmte Tatsachen so leichthin schönreden zu können wie Jim.
„Wenn das so ist ...“, brummte er, dann kam ihm ein Gedanke. „Was hast du überhaupt mit Captain Pike zu tun?“
„Hab ihn halt mal zufällig getroffen.“
Das vielsagende Grinsen, das diese Aussage begleitete, verriet Leonard, dass er mit keiner ausführlicheren Antwort zu rechnen hatte – und außerdem, so wichtig, dass er weiter nachbohren würde, war die Sache nicht. Jims Verletzung hatte momentan oberste Priorität.
„Alles klar ... und jetzt halt still.“
Man konnte über Jim behaupten, was man wollte – das Stillsitzen jedenfalls gelang ihm meisterhaft, sehr zu Leonards Verwunderung und zugleich zu seiner Befriedigung. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, ließ Jim zu, dass Leonard die Wunde säuberte und verarztete. Dank der modernen Technik ging die Arbeit schnell und unkompliziert vonstatten, und als Leonard sich schließlich zurücklehnte, gab es kaum noch Spuren, die von Jim Kirks ach so heroischem Faustkampf zeugten.
„Das wär’s“, meinte er knapp, und Jim hob mit anerkennendem Blick die Hand, um seine Schläfe zu betasten.
„Du bist ein besserer Arzt, als ich gedacht habe, weißt du das?“
Leonard ging nicht auf dieses in Spott verpackte Kompliment ein; doch als er nach seiner Ausrüstung griff, ertappte er sich bei dem vagen Gedanken, dass es sich schon beinahe vertraut anfühlte, sich um Kirk zu kümmern. Schnell schob er die ungebetene Empfindung beiseite, ehe sie seine Professionalität schwächen könnte.
„Sorg lieber dafür, dass du in Zukunft nicht zu oft in den Genuss meiner ärztlichen Behandlung kommst“, sagte er trocken. Erst später wurde ihm auffallen, dass er damit unbewusst eine Hintertür geöffnet hatte, eine Pforte in eine Zukunft, in der sich ihre Wege vielleicht öfter überschneiden würden, als er jetzt realisierte.
Jim zuckte nonchalant mit den Schultern.
„Ich kann für nichts garantieren, aber ich werde es versuchen.“
Leonard bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln, dann achtete er für einige Momente nicht auf ihn, vollständig damit beschäftigt, seine Ausrüstung wieder aufzuräumen. Er erkannte seinen Fehler erst, als hinter seinem Rücken ein leises Klingeln ertönte und er, sobald er sich umdrehte, feststellte, dass Jim plötzlich sein PADD in den Händen hielt, das zuvor unbeachtet auf dem Tisch gelegen hatte und dessen Bildschirm nun aufgeleuchtet war.
„Hey, leg das weg“, sagte Leonard ärgerlich. Was fiel Jim ein, einfach in seinen Sachen herumzuschnüffeln? Das hatte er davon, wenn er, arglos, wie er war, seine PADDs offen und ungesichert in der Gegend herumliegen ließ. Aber, verdammt noch mal, in seinen eigenen vier Wänden!
Jim schien ihn nicht zu hören. „Hübsch“, meinte er, die Augen auf das PADD gerichtet. In Sekundenschnelle war Leonard an seiner Seite; und das Wenige, das er von seiner Perspektive aus erkannte, genügte, um seine Hände zu Fäusten zu formen. Ein buntes Etwas auf dem Bildschirm, offensichtlich das Foto eines Bildes ... Erkenntnis sickerte durch sein Gehirn, gemischt mit Überraschung. Jocelyn. Er hatte nicht erwartet, dass sie seiner Bitte nachkommen würde, und schon gar nicht so schnell ... Perfektes Timing, wie immer.
Das Universum musste ihn mehr hassen, als er annahm.
„Gib mir das“, befahl er, die Hand fordernd ausgestreckt, doch Jim hielt das PADD von ihm fort, gerade außerhalb seiner Reichweite. Wie alt war dieser Junge? Zehn? Elf? Joannas Bild funkelte ihm höhnisch entgegen, und jeder freundliche Gedanke Jim Kirk gegenüber verschwand.
„Gib es her!“, sagte Leonard mit allem, was er an einschüchternder Autorität aufbrachte, und so scharf, dass Jim tatsächlich gehorchte, perplex und vielleicht sogar ein bisschen kleinlaut.
„Schon gut ...“
Leonard schenkte Jims plötzlicher Verlegenheit kaum Beachtung; alles, was ihn interessierte, war das PADD. Seine Finger schlossen sich fester als nötig darum, und er gab sich Mühe, Jims Blick auszuweichen, einerseits beschämt über seine Heftigkeit, andererseits vollkommen von dem Bild eingenommen. Als er es zum ersten Mal in Ruhe betrachtete, musste er schlucken: Joanna hatte eine Familie gemalt – Mutter, Tochter und Vater, die Hand in Hand und mit breiten Lächeln auf den Gesichtern unter einer grinsenden Sonne auf einer Blumenwiese standen. Eine verdammte Familie ...
„Das ist von meiner Tochter“, informierte er Jim knapp, denn irgendeine Erklärung sollte er wohl liefern.
Er hielt es Jim zugute, dass er nicht mit einem überflüssigen „Du hast eine Tochter?!“ reagierte; im Gegenteil, anstatt ungläubig oder erstaunt klang seine Stimme beinahe sanft, als er fragte: „Wie alt ist sie?“
„Sie wird Ende diesen Jahres sechs“, antwortete Leonard nach kurzem Zögern. Der Moment der Anspannung war vorüber, und mit ihm ebbte auch der Ärger ab. Stattdessen kroch eine schleichende Erschöpfung durch seine Adern.
Jim erhob sich, seine Hände in einer entschuldigenden Geste ausgebreitet. „Schon gut, ich werde nicht weiter nachfragen. Tut mir leid“, sagte er, und erneut überraschte er Leonard mit der Vielfalt an Facetten, die sich in ihm zu verbergen schien. Da gab es auf der einen Seite den arroganten, überheblichen Jim Kirk, der sich gedankenlos mit einer Überzahl von stärkeren Kadetten prügelte und erwartete, dass Leonard ihn danach ohne Weiteres wieder zusammenflickte ... und auf der anderen Seite versteckte sich ein sensibler junger Mann, empfindlich für alles, was irgendwie mit Familie oder ihrer Vergangenheit zu tun hatte.
Und das waren nur die Seiten, die Leonard in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft entdeckt hatte. Was mochte sich sonst noch in Jim verbergen?
So sehr es ihn interessierte – dieser Abend war nicht der richtige, um es herauszufinden.
„Ist schon okay. Nur ... lass die Finger von meinen Sachen, klar?“
„Sicher.“ Jim zögerte kurz, und dann kehrte sein verspieltes Grinsen zurück, ein Schritt in eine Normalität, die sich dem Rahmen dieses Begriffs eigentlich entzog.
„Also, ich verziehe mich dann besser mal. Hab noch was vor“, verkündete er munter.
Leonard fragte nicht nach. Er wollte gar nicht so genau wissen, womit sich Jim Kirk in einer Sonntagnacht die Zeit vertrieb.
„Danke für deine Hilfe und schönen Abend noch, Bones!“, sagte Jim mit einem spöttischen Salut, sich zum Gehen wendend. Spielend leicht wechselte er von einem Extrem ins nächste, tauschte Ernsthaftigkeit problemlos gegen Lockerheit ein. Mit dem Teil seines Geistes, der sich nicht mit den unerwarteten Ereignissen dieses Abends beschäftigte, fragte sich Leonard abwesend, ob das nicht etwas wäre, was er eventuell von Jim Kirk lernen könnte.
„Mein Name ist Leonard!“, rief er ihm hinterher, nicht sicher, ob er amüsiert oder ärgerlich sein sollte. Wahrscheinlich eher ersteres.
Er erhielt keine Antwort mehr. Die Tür schloss sich hinter Jim, allerdings nicht schnell genug, um sein Lachen ungehört verhallen zu lassen; und als Leonard sich in dem nun seltsam leer wirkenden Zimmer umsah, überkam ihn der bizarre Gedanke, dass er sich alles nur eingebildet hatte.
Einen Tag später schlenderte Jim im Speisesaal wie zufällig an Leonards Tisch vorbei und fragte ihn, ob er sich nicht zu ihm und seinen Freunden setzen wolle, anstatt das Frühstück wie immer alleine zu verbringen. Als Leonard mit einem Kopfschütteln ablehnte, sich nicht einmal die Mühe einer ausführlicheren Antwort gebend – er war müde, verdammt, es hatte so vieles gegeben, das ihn letzte Nacht beschäftigt und ihm seinen dringend benötigten Schlaf geraubt hatte –, stellte Jim ohne viele Umstände sein Tablett neben Leonards ab und ließ sich ihm gegenüber nieder. Sie sprachen kaum miteinander, jeder zu beschäftigt mit seinem Essen, doch als sich ihre Wege zu Beginn des Unterrichts trennten, stellte Leonard fest, dass ein Teil seiner Schwermut verschwunden war, irgendwie.
Fünf Tage später empfand er es fast schon als verständlich, dass Jim sich beim Frühstück zu ihm setzte und ihn mit Beschwerden über ignorante Ausbilder und ahnungslose Kadetten von seinen eigenen Sorgen ablenkte; und irgendwann merkte er, dass er automatisch Ausschau nach Jim zu halten begann, sobald er die Mensa betrat.
Es war nicht so, als ob dieser Umstand irgendetwas zwischen ihnen veränderte, das besser nicht verändert werden sollte, als ob er sie zu mehr machte als nur flüchtigen Bekannten; aber es stimmte zweifelsohne, dass dieses gemeinsame Frühstücken zu einem festen Ritual in Leonards Leben wurde, das er, wie alle für sicher gehaltenen Strukturen, nicht mehr hinterfragte.
Neun Tage später sprach ihn nach dem Xenobiologie-Kurs ein Kadett an, dessen Namen er vergessen hatte – Ramírez? Rodríguez? –, und fragte ihn ausgerechnet nach Jim Kirk.
„Hey, du bist doch der Typ, der immer mit Kirk herumhängt, oder?“
Verblüfft starrte Leonard den anderen Mann an, für einen Moment ernsthaft erwägend, ob er sich verhört hatte. Der immer mit Kirk herumhängt – wer immer diese Halbwahrheit in Umlauf gebracht hatte, musste über ein bemerkenswertes Talent zur Übertreibung besitzen. Und überhaupt, was tat das zur Sache?
„Wir haben ab und an miteinander zu tun“, erwiderte Leonard vorsichtig. „Wieso?“
Der andere Kadett zuckte mit den Schultern. „Hat mich nur interessiert. Du weißt schon, wegen seinem Vater und so, die Geschichte ist in aller Munde, und man ist halt neugierig ...“
Verschwörerisch beugte er sich näher zu Leonard, der sich zwingen musste, nicht zurückzuweichen.
„Und, wie ist er so? Ein aufgeblasener Idiot oder tatsächlich so genial, wie manche behaupten?“
Unwillkürlich verkrampften sich Leonards Schultern; ein unerklärlicher Widerwille gegen seinen Gegenüber erfüllte ihn. Obwohl Jim nicht mehr als flüchtiger Bekannter war – eine Zufallsbekanntschaft, bedingt durch die Launenhaftigkeit des Schicksals – und sicherlich ein winziges Körnchen Wahrheit in den beleidigenden Gerüchten über ihn steckte, verspürte Leonard das plötzliche Verlangen, ihn zu verteidigen.
„Er ist in Ordnung“, antwortete er knapp, schwang sich seine Tasche über die Schulter und ließ den anderen Mann einfach stehen.
Und elf Tage später stürzte die ohnehin schon wackelige Fassade einer heilen Welt in sich zusammen und gab den Blick auf die dahinter liegende Erbarmungslosigkeit der Realität frei, eine Realität, der Leonard nicht entfliehen konnte, nicht in Georgia, nicht in San Francisco, nicht am anderen Ende der Galaxie.
Es begann mit einer scheinbar harmlosen Nachricht, die an jenem trüben Donnerstag auf seinem PADD aufleuchtete. Müde griff Leonard danach, in Gedanken noch halb bei der Präsentation, die er über das Wochenende für den Xenobiologie-Kurs vorbereiten musste. Er erwartete vieles, allem voran eine Nachricht aus der Krankenstation, die ihm mitteilte, dass dort mal wieder Personalmangel herrschte und ihn darauf hinwies, dass man ihm sehr verbunden wäre, wenn er seinen freien Abend für eine weitere, nervenaufreibende Schicht opfern würde; nur mit dem, worum es sich letztendlich handelte, hatte er nicht gerechnet, hatte er nicht rechnen wollen.
Es waren nur wenige Zeilen, aber völlig ausreichend, um die Seifenblase einer illusorischen Existenz zerplatzen zu lassen.
Leonard las den kurzen Text einmal, dann ein zweites und drittes Mal, als ob das etwas an dessen Inhalt ändern könnte. Er merkte nicht, wie das PADD in seinen Händen zu zittern begann, er spürte kaum die Welle heißer Wut, die in ihm aufstieg. Wichtig war einzig und alleine die Nachricht, die ihn in knappem, geschäftsmäßigem Ton darüber informierte, dass die größte Befürchtung, die er mit sich herumgeschleppt hatte, eingetreten war.
Diese herzlose, selbstverliebte, sadistische Schlampe ... In diesen Momenten konnte er in Jocelyn nichts mehr von der Frau sehen, die er einst geliebt hatte, für die er gekämpft hatte, der er bereitwillig versprochen hatte, für sie zu sorgen, bis dass der Tod sie trennte. Nun war sie nur noch die gesichtslose, seelenlose dunkle Macht, die ihm seine Tochter genommen hatte, ein namenloses Objekt, das seinen Hass verdiente.
Leonard ließ all seine Wut und Verzweiflung in die unausgesprochenen Beleidigungen seiner Exfrau fließen, als ob das irgendetwas an der Situation ändern könnte. Als ob ihm das seine Tochter zurückgeben würde.
Alleiniges Sorgerecht für Jocelyn Darnell ... eingeschränkte Besuchsrechte ... Die distanzierte Sprache verhüllte geschickt eine Wirklichkeit, die zu schmerzhaft war, um sie direkt auszusprechen: Er hatte Joanna verloren. Endgültig. Dass er nie erwartet hätte, dass Jocelyn so weit gehen würde, dass er trotz ihrer Androhungen mit naiver Zuversicht darauf vertraut hatte, dass sie ihm wenigstens Joanna nicht vollständig nehmen könnte, machte es nur noch schlimmer.
Und sie besaß nicht einmal den Anstand, ihm ihre Entscheidung persönlich mitzuteilen und ihm die Chance zu geben, das Unvermeidliche doch noch irgendwie abzuwenden, nein, sie hatte die Drecksarbeit bequem auf ihren Anwalt abgeschoben, den Anwalt, den sie mit Leonards Geld angeheuert hatte.
In den Minuten, die Leonard wie betäubt auf die Nachricht starrte, wusste er nicht, was stärker war: die Wut auf Jocelyn oder der Hass gegen sich selbst, weil er es überhaupt so weit hatte kommen lassen. Versager.
Mit zusammengebissenen Zähnen legte Leonard das PADD beiseite und gab seinem Computer einen knappen Befehl. Die Verbindung war schnell hergestellt, und während er wartete, dass Jocelyn sich meldete, kam Leonard der flüchtige Gedanke, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, was er ihr sagen wollte, und dass es vielleicht besser gewesen wäre, ein wenig zu warten – nur so lange, bis er den ersten Schock überwunden und sich beruhigt hätte, um wie ein vernünftiger Erwachsener mit seiner Exfrau sprechen zu können.
„Leonard“, begrüßte sie ihn in dem üblichen, frostigen Tonfall, den sie sich seit der Scheidung exklusiv für ihn aufhob. Natürlich hatte sie sofort erkannt, wer nach einem Gespräch mit ihr verlangte; er wunderte sich beiläufig darüber, dass sie seinen Anruf nicht einfach ignoriert hatte.
„Das ist nicht dein Ernst“, sagte er ohne Einleitung, und er hoffte, dass sie das Zittern in seiner Stimme nicht bemerkte. „Das kann einfach nicht dein Ernst sein. Was habe ich dir denn getan, Jocelyn? Was hat Joanna dir getan?“
Kurz herrschte Schweigen; offenbar sondierte Jocelyn die Lage.
„Mach dir nichts vor, Leonard“, erwiderte sie schließlich. Es gelang ihr tatsächlich, ihre Stimme noch eisiger als sonst klingen zu lassen, etwas, das Leonard nicht für möglich gehalten hätte. Im täglichen Zusammenleben ließ sich viel über einen anderen Menschen lernen, doch manche Dinge kamen erst ans Licht, wenn es längst kein zusammen mehr gab.
„Wem machst du hier eigentlich etwas vor?! Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht damit gerechnet hast.“
Er setzte zu einer Erwiderung an, doch sie schnitt ihm resolut das Wort ab. Ihre Entschlossenheit war ein Charakterzug, den er früher an ihr bewundert hatte, als er sich noch nicht hatte ausmalen können, dass sie eben diese Eigenschaft einmal rigoros gegen ihn verwenden würde.
„Ich habe dich gewarnt, aber du hast es ignoriert, so wie du jahrelang deines Berufes zuliebe alles ignoriert hast, was mit unserer Familie zu tun hatte. Jetzt musst du nun mal den Preis dafür zahlen, und du kannst nicht so tun, als sei das etwas völlig Neues für dich. Du wusstest ganz genau, dass es so kommen würde.“
„Joanna –“
Selbst diesen Versuch einer Verteidigung unterbrach sie, hielt ihn davon ab, das gewichtigste Argument von allen anzuwenden, und verwandelte es stattdessen in eine Waffe gegen ihn.
„Für Joanna wird sich nichts ändern. Ihr könnt immer noch miteinander telefonieren, davon kann und will ich euch nicht abhalten. Nur persönlich sehen wirst du sie in Zukunft nicht mehr oft, aber das wird dich ja kaum kümmern, denn das würdest du selbst mit Sorgerecht nicht – wie du sehr wohl gewusst haben musst, als du zur Akademie abgehauen bist. Ich bezweifele, dass die Ausbildung dir dort viel Zeit für deine Tochter lassen wird, und wie wird es erst sein, wenn du auf einem Raumschiff stationiert bist, erst recht einem, das mehrjährige Missionen im All unternimmt?“
Daraufhin fiel ihm einige lange Sekunden nichts ein, und Jocelyn nutzte seine Sprachlosigkeit aus, um ihm den endgültigen Todesstoß zu versetzen.
„Früher oder später wirst du auch ohne mein Zutun ein Fremder für unsere Tochter sein, Leonard, und das wäre nicht anders, wenn du noch Entscheidungen über ihr Leben fällen dürftest. Ich behaupte nicht, dass mir das gefällt, aber ich bitte dich, endlich mal auf dem Boden der Realität anzukommen und die Tatsachen nicht länger zu ignorieren. Und schieb bitte die Schuld nicht auf mich, denn ich habe dich gewarnt.“
Anscheinend glaubte sie nicht, dass es dem noch etwas hinzuzufügen gab, denn sie holte Luft und verabschiedete sich mit einem kühlen „Und nun entschuldige mich, ich habe noch zu tun“ – und dann beendete sie die Verbindung, sie wagte es wirklich, ihn mit offenem Mund dasitzen zu lassen, ohne die geringste Möglichkeit, noch irgendeinen Einwand hervorzubringen oder wenigstens etwas zu sagen, das ihn nicht als totalen Verlierer aus dem Gespräch hervorgehen ließ.
Der Unglaube verwandelte sich schnell in die fast schon schmerzlich vertraute Wut, und Leonard starrte sein PADD an in dem Verlangen, es gegen die Wand zu schleudern. Verdammte Schlampe ...
Nur Jahre harten medizinischen Trainings hielten ihn davon ab, der Aggressivität nachzugeben – er war Arzt, verdammt noch mal, er wusste sich zu beherrschen. Viel mehr brachte ihm seine Professionalität in dieser Nacht allerdings nicht; sie verhinderte zwar plumpe Gewalt gegen Möbelstücke, war jedoch nicht stark genug, um das Verlangen zu bekämpfen, das in ihm aufwallte – das Verlangen danach, zu vergessen, nicht an Joanna denken zu müssen und an die Enttäuschung, die er ihr unweigerlich bescherte, egal, was er tat ... einfach nur vergessen ...
Sicher, objektiv betrachtet veränderte der Verlust des Sorgerechts kaum etwas, Jocelyn hatte genaugenommen recht ... dennoch, Leonard wollte diese Niederlage nicht so einfach hinnehmen. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, nicht für seine Tochter zu kämpfen.
Wäre er der vernünftige, verantwortungsvolle Arzt gewesen, für den er sich gerne hielt, hätte er die Sache mit stoischem Gleichmut ertragen. Er hätte nicht doch noch auf seinen Vorrat an Bourbon zurückgegriffen, seine Wut, seine Trauer und sein Selbstmitleid in Alkohol ertränkt, und er hätte sich sicherlich nicht am nächsten Morgen orientierungslos und mit hämmerndem Kopf auf dem Sofa wiedergefunden.
Die Liste seiner Probleme war so lang, dass er sie kaum überblicken konnte, und dennoch war sein erster Gedanke groteskerweise ein zynisches Kirk hatte recht, die Couch ist wirklich höllisch unbequem.
Und erst dann fiel ihm alles wieder ein, und er stützte stöhnend den Kopf in die Hände und wünschte sich, der Alkohol hätte ihn länger schlafen lassen – jede Minute, in der er nicht an seine Tochter und vor allem nicht an seine Exfrau denken müsste, wäre ungeheuer wertvoll.
Müde legte er sich eine Hand über die Augen. Natürlich hatte er die Jalousien nicht heruntergelassen, und das viel zu grelle Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, verriet ihm deutlich, dass er verdammt spät dran war. Ein kurzer Blick auf die Zeitanzeige bestätigte das Offensichtliche: Sein erster Kurs hatte längst angefangen. Was soll’s. Zu spät kommen würde er so oder so, wen kümmerte es schon?
Am besten, er ging an diesem Tag überhaupt nicht zum Unterricht – besser den Stoff nachholen als permanent den mitleidig-spöttischen Blicken ausgesetzt zu sein, die sich nicht vermeiden ließen, wenn man sich an einem Donnerstagabend betrank und am Freitagmorgen alles andere als taufrisch in den Kursraum stolperte. Er bezweifelte ohnehin, dass ihn irgendjemand vermissen würde, und seine Nachmittagsschicht in der Krankenstation könnte er zur Not mit einer vorgeschobenen Ausrede absagen.
Unsicher kam Leonard auf die Beine. Der Raum um ihn herum drehte sich auf eine Weise, die ihm von vielen einsamen Abenden in der Zeit während der Scheidung nur zu vertraut vorkam, und er tastete sich langsam in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken und eines seiner Wundermittelchen hinunterzuschlucken. Nein, Pillen konnten nicht alles heilen, aber manchmal boten sie den perfekten Ausweg.
„Computer ... Jalousien schließen“, befahl er matt, um wenigstens die unerträgliche Helligkeit zu bekämpfen. Er hätte viel dafür gegeben, wenn er mit seinen Sorgen auf dieselbe Weise hätte verfahren können – sie einfach aussperren und so tun, als ob sie nicht existierten.
Mitsamt seinem Glas Wasser und einem Apfel schleppte sich Leonard zurück zum Sofa. Kurz erwog er, ob er sich noch einmal in Verbindung mit Jocelyn setzen sollte, ihr vielleicht eine Nachricht schicken sollte, die an ihr elterliches Verantwortungsbewusstsein und an ihr Mitgefühl appellierte, doch er verwarf den Gedanken schnell. Besser, er wartete einige Tage, bis die Eindrücke ihres letzten Gesprächs verblasst waren.
Stattdessen griff er nach seinem PADD, meldete sich verspätet vom Unterricht ab, lehnte sich dann mit geschlossenen Augen zurück und wartete, bis die Schmerzmittel zu wirken begannen.
Er verbrachte fast den gesamten Tag auf dem Sofa und versuchte vergebens, sich irgendeine geniale Lösung für das neueste Problem auf seiner Liste einfallen zu lassen, unterbrochen nur von gelegentlichen Gängen ins Badezimmer oder zum Kühlschrank.
Irgendwann beschloss er, doch noch zu seiner Schicht in der Krankenstation zu erscheinen, teils, weil sein Pflichtbewusstsein sich zu Wort meldete, hauptsächlich jedoch einfach nur, um sich von seiner eigenen Misere abzulenken. Dieser Plan klappte ganz gut, auch wenn es Leonard nicht ganz so gut wie gewöhnlich gelang, sich auf seine Patienten zu konzentrieren, und Schwester Chapel im Vorbeilaufen bemerkte: „Sie sehen nicht gut aus, Doktor McCoy. Schlechten Tag gehabt?“
Leonard antwortete ihr mit einem Schulterzucken und wandte sich wieder der Arbeit zu, und daraufhin belästigte ihn glücklicherweise niemand mehr mit Fragen über sein Befinden; und für den Rest seiner Schicht gelang ihm fast, wonach er sich so sehr sehnte: zu vergessen. Fast.
Das Gefühl, dort versagt zu haben, wo es am wichtigsten war, ließ ihn nie ganz los, und sobald seine Schicht beendet war, holte es ihn mit aller Macht wieder ein.
„Ruhen Sie sich aus, Doktor. Sie wirken, als ob Sie es nötig hätten“, rief Schwester Chapel ihm hinterher, als er kurz nach Einbruch der Dunkelheit die Krankenstation verließ, und das ungewohnte Gefühl, dass es jemanden gab, der sich zumindest ansatzweise um ihn zu sorgen schien, ließ Leonard beinahe stolpern. Ein bitteres Lächeln huschte ungesehen über sein Gesicht. Verloren.
Er sehnte sich danach, sich ins Bett zu legen und diesen elenden Tag zu einem Ende zu bringen, in der Hoffnung, dass der nächste wenigstens minimal besser wäre, doch selbst dieser bescheidene Wunsch wurde ihm vereitelt. Zu seinem Glück, wie sich später herausstellten würde, was Leonard zu diesem Zeitpunkt aber nicht ahnen konnte; und so reagierte er verständlicherweise nicht sehr begeistert, als er, vor seinem Zimmer angekommen, als Erstes Jim Kirk erblickte, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte und ihn erwartungsvoll musterte.
„Bones!“
Mit dem Gedanken, dass ihn das Schicksal endgültig zur Witzfigur Nummer Eins abgestempelt haben musste, legte Leonard die letzten Schritte zu seiner Zimmertür zurück. Für einen irrwitzigen Moment fiel ihm der Vergleich mit dem Welpen wieder ein: Verdammt, ich hätte ihn nie füttern sollen.
„Was willst du hier?“
Er klang grob und er wusste es auch, und es war ihm verdammt noch mal egal.
Jim zeigte sich unbeeindruckt. „Wo warst du heute Morgen? Hattest du keine Lust aufs Frühstück?“
„So ungefähr“, murmelte Leonard. Er gab seinen Zugangscode ein, ohne sich darum zu kümmern, dass Jim ihn dabei beobachtete. Mittlerweile war ihm so gut wie alles egal; notfalls würde er den Code eben ändern, sollte sich herausstellen, dass Kirk seine neuerlangte Kenntnis darüber ausnutzte.
Ohne eine Einladung abzuwarten, folgte Jim ihm über die Türschwelle, und Leonard war zu erschöpft, um seinem ersten Impuls nachzugeben und ihn kurzerhand wieder hinauszuweisen.
„Wow, du klingst ja noch mürrischer als sonst. Schlechten Tag gehabt?“
Die Frage, nun zum zweiten Mal gestellt, wurde durch ihre Wiederholung nicht besser. Leonard hatte Schwester Chapel keine ausführliche Antwort darauf gegeben, und auch Jim würde keine erhalten.
„Was willst du hier?“, kam er stattdessen direkt zum Punkt. „Brauchst du wieder unkomplizierten ärztlichen Beistand?“
Es war schließlich nicht so, als würden sie sich gegenseitig genug mögen, um aus reiner Sorge um den anderen Kindermädchen füreinander zu spielen. Wenn Jim bisher bei ihm aufgetaucht war, hatte das fast immer irgendeinen nicht uneigennützigen Grund gehabt, und Leonard bezweifelte, dass es diesmal anders sein sollte.
In gespielter Entrüstung hob Jim die Hände.
„Ich mache mir Gedanken um das Wohlbefinden eines anderen Kadetten, mehr nicht. Sie predigen hier ja immer von Loyalität und Zusammenhalt innerhalb der Sternenflotte, also dachte ich, ich arbeite an meinen sozialen Kompetenzen und schaue nach, wieso du heute Morgen nicht da warst.“
Er wies auf Leonards PADD, das unbeachtet auf dem Tisch lag.
„Ich hab dir eine Nachricht geschickt, aber du hast nicht geantwortet. Also habe ich mich dazu entschlossen, mal bei dir vorbeizuschauen, und dankenswerterweise bist du fast sofort aufgetaucht, nachdem ich hier ankam. Dein Zimmer ist viel schöner als meines, weißt du das?“
Leonard folgte seinem Blick, doch er machte sich nicht die Mühe, den Wahrheitsgehalt von Jims Worten zu überprüfen. Gut möglich, dass der andere Mann ihm tatsächlich eine Nachricht geschickt hatte, während er auf der Krankenstation beschäftigt gewesen war. Er nahm sein privates PADD normalerweise nicht mit in eine Schicht, denn die medizinischen PADDS dort erfüllten ihren Dienst völlig ausreichend.
„Schön. Könntest du mich jetzt bitte alleine lassen, da du ja nun weißt, dass ich noch lebe?“
Achtlos warf er seine Jacke über die Rücklehne eines Stuhls und ließ sich auf das Sofa fallen, dessen mangelnde Gemütlichkeit er mittlerweile überhaupt nicht mehr spürte. Nichts hielt ihn jetzt davon ab, sich zu entspannen und die unerfreuliche Realität auszublenden – nichts außer Jim Kirk, der sich einen Stuhl schnappte, ihn vor dem Sofa auf den Boden stellte und sich rittlings darauf setzte, Leonard mit gerunzelter Stirn betrachtend.
„Okay. Was ist los?“
Leonard wusste, dass er nicht antworten sollte. Er hätte Jim fortschicken sollen, ihm befehlen sollen, sich um seine eigenen Probleme zu kümmern, oder ihn zumindest ignorieren sollen. Und doch war da dieser Drang in ihm, sich jemandem anzuvertrauen, die Last auf seinen Schultern zu teilen ... selbst wenn es sich bei diesem Jemand nur um einen arroganten, selbstverliebten und unter chronischer Selbstüberschätzung leidenden flüchtigen Bekannten handelte, der in diesem Moment seltsamerweise gar nicht so überheblich wirkte wie sonst. Im Gegenteil, seine typische Arroganz war einem beinahe besorgten Gesichtsausdruck gewichen und er hörte aufmerksam zu, als Leonard wider besseres Wissen mit müder Stimme zu sprechen begann.
„Ich habe gestern Abend ein Gespräch mit meiner liebenswürdigen Exfrau geführt. Sie wollte das alleinige Sorgerecht für unsere Tochter ... und nun hat sie es.“
Verständnis zeichnete sich auf Jims Gesicht ab, unterlegt von Mitleid.
„Oh. Das ist ... schlecht.“
Angesichts dieser lapidaren Bemerkung musste sich Leonard ein bitteres Lächeln verkneifen. Wenigstens hatte Jim nicht Das tut mir leid für dich gesagt.
„Und das Schlimmste ist, dass sie mit allem, was sie sagte, richtig lag“, fuhr er düster fort. „Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob ich ein Sorgerecht für Jo habe oder nicht, weil ich sie sowieso nie sehe. Weil ich lieber abgehaut bin, als den Problemen daheim ins Gesicht zu sehen ... Mein Gott, was für ein Vater bin ich?“
Die Verzweiflung, die ihn seit dem gestrigen Abend begleitet hatte, umspülte ihn erneut mit aller Macht, und er war froh um die Stütze der Sofalehne hinter seinem Rücken.
„Das glaubst du doch nicht im Ernst“, sagte Jim. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass deine Ex recht hat und dass du ein schlechter Vater bist. Himmel, lass doch nicht zu, dass sie dir das einredet!“
Leonard stieß den Atem aus. Hier saß er und führte Gespräche über sein Privatleben, mehr noch, über sein Gefühlsleben mit einem jungen Mann, den das alles überhaupt nichts anging. Später würde er es wahrscheinlich bereuen, Jim nicht fortgeschickt zu haben, und dennoch – irgendwie fühlte es sich nicht falsch an, mit ihm darüber zu sprechen.
„Aber es stimmt“, gab er heftiger als beabsichtigt zurück. „Ich bin ein schlechter Vater ... ein schlechter Ehemann ... ein schlechter Arzt ... ein schlechter Sohn.“
Jim stützte das Kinn auf die Lehne des Stuhls und fixierte Leonard mit zusammengekniffenen Augen.
„Hör mal, ich kenne dich jetzt seit fünf Wochen und ich glaube, in dieser Zeit habe ich genug über dich gelernt, um zu wissen, dass nichts davon zutrifft. Du ...“
„Ich habe meinen Vater getötet“, unterbrach Leonard ihn schroff. Die Worte waren hervorgestoßen, bevor er überhaupt realisierte, was zur Hölle er tat, und er bereute es augenblicklich.
Jim blinzelte.
„Du ... was?!“
Leonard sah ihn nicht an, als er erklärte, was sich nicht erklären ließ, mit keiner den Menschen zur Verfügung stehenden Sprache: „Ich habe ihm beim Sterben geholfen, Jim. Er war schwer krank und ich habe die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt. Er hat mich darum gebeten, aber ... ich hätte es nicht tun dürfen. Ich habe ihn umgebracht, verstehst du? Und das, obwohl ich einen Eid geleistet habe, niemals jemandem zu schaden!“
Er konnte nicht weitersprechen, und außerdem gab es nichts mehr hinzuzufügen: Dies war die ganze Geschichte, schmerzhaft direkt zusammengefasst.
Es hätte Leonard nicht verwundert, Widerwillen gegen ihn in Jims Augen zu lesen – Wie könnte ihm eine andere Person ins Gesicht sehen, wenn sie wusste, was er getan hatte? Wie könnte er sich selbst jemals wieder ins Gesicht sehen? –, doch stattdessen zeigte sich in Jims Zügen etwas völlig Unerwartetes, etwas, das Leonard erst später einordnen könnte. Kampfgeist.
„Aber ... das ist doch etwas anderes“, sagte Jim entschlossen und fuchtelte mit der Hand, um sein Argument zu unterstützen. „Das ist etwas völlig anderes. Du hast ihn nicht getötet, du hast ihm einen würdevollen Abschied ermöglicht, das ist ein himmelweiter Unterschied, und das macht dich nicht zu einem schlechten Arzt, oder einem schlechten Sohn, Leonard!“
Zum ersten Mal überhaupt hatte er ihn mit seinem wirklichen Vornamen angesprochen, und das fühle sich irgendwie nicht richtig an. Leonard hatte sich schon fast daran gewöhnt, Bones zu sein.
„Erzähl das mal den Richtern“, erwiderte er dumpf. „Ich kann von Glück reden, dass ich meine Lizenz behalten habe. Das war aber auch so ziemlich das Einzige, was mir geblieben ist ... Alles andere habe ich im Scheidungsprozess verloren, und da kam Jocelyns Anwalt diese Sache mit meinem Vater ganz recht. Etwas, das man wunderbar gegen mich verwenden konnte ... Sie hat mir alles entrissen, und jetzt hat sie mir auch noch meine Tochter weggenommen ...“
Auf einmal, wie immer im unpassendsten Moment, stieg etwas Heißes in seinen Augen auf, und Leonard presste die Lippen zusammen und schluckte, krampfhaft darum bemüht, eine Fassade aufrechtzuerhalten, die längst eingebrochen war. Nein, er würde nicht weinen, er hatte sich schon genug vor Jim Kirk blamiert, er hatte kein Recht, sich so gehen zu lassen, er würde Kirk fortschicken, sie würden die Sache vergessen und er würde weitermachen wie immer, irgendwie.
Nur dass es unglaublich guttat, die Bürde seiner Sorgen, die ihn seit so langer Zeit begleitete, endlich mit jemandem zu teilen ... und zur Hölle, wem machte er hier eigentlich etwas vor?
„Und ich dachte, ich wäre der mit dem beschissenen Leben ...“, bemerkte Jim lakonisch. Sein darauffolgendes Schnauben durchbrach die angespannte Atmosphäre.
„Komm mit“, sagte er.
Leonard hob den Kopf, nicht sicher, ob er es wagen könnte, Jim anzusehen; am Ende tat er es trotzdem. Jims Miene war unleserlich, und im Grunde war Leonard ihm dankbar dafür. Die Beherrschtheit des anderen Mannes erleichterte es ihm, sich selbst zusammenzureißen.
„Was?“
„Komm mit“, wiederholte Jim. Er stand auf, ging in Richtung der Tür und wies Leonard mit einer Kopfbewegung an, ihm zu folgen.
„Wohin?“
Jim war keine Ungeduld anzusehen, nur Entschlossenheit.
„Wirst du schon sehen. Komm einfach mit. Ich will dir was zeigen.“
Leonard erwiderte seinen Blick einige Sekunden lang, und das reichte aus, um seinen Beschluss zu besiegeln. Was immer noch kommen würde, schlimmer als das, was bisher geschehen war, könnte es nicht sein; und außerdem gab es da einen unerklärlichen, nicht näher definierbaren, aber deutlichen Instinkt in ihm, der ihn dazu drängte, Jim Kirk zu vertrauen. Und sein Instinkt war etwas, auf das Leonard für gewöhnlich hörte, selbst wenn die Welt um ihn herum in Stücke brach. Vor allem dann.
Mit einem Seufzen erhob er sich, griff nach seiner Jacke und folgte Jim – zwar nicht direkt ins Unbekannte, aber in etwas, das vielleicht, ganz vielleicht ein neues Kapitel im Buch des Lebens bedeuten würde.
Jims Überraschung, worin auch immer sie bestehen mochte, führte sie nicht wie erwartet in die Stadt, sondern zum Hauptgebäude der Akademie.
„Jim, was machen wir hier?“, wollte Leonard wissen, seine Stimme unwillkürlich auf ein Flüstern senkend. Der Hintereingang war offen gewesen, aber um diese Uhrzeit lag das Gebäude völlig verlassen da, und jedes Geräusch schien unnatürlich laut in der Stille widerzuhallen.
Sie begegneten nicht einer einzigen Person, während sie durch ein Gewirr von Gängen hasteten, die Leonard zunehmend unbekannter vorkamen. Außer seinen Kursräumen, dem Schlafgebäude, der Mensa und der Krankenstation hatte er noch nicht viel vom Campus gesehen, und er wunderte sich beiläufig, dass Jim sich so problemlos zurechtfand, als hätte er sein ganzes Leben dort verbracht. Obwohl ... wenn er genauer darüber nachdachte, war das vielleicht gar nicht so verwunderlich. Was Jim Kirk anging, schien nichts unmöglich zu sein, das hatte Leonard inzwischen gelernt.
„Pst“, zischte Jim ihm unwillig zu. „Sei einfach still und folge mir.“
Und natürlich gehorchte Leonard ihm, nicht, weil er keine andere Wahl gehabt hätte, sondern weil ihm ihr nächtlicher Ausflug langsam Spaß zu bereiten begann. Was auch immer Jim vorhatte, es wäre besser als die Alternative: einen weiteren Abend nur in Gesellschaft von Alkohol in seinem Zimmer zu verbringen und sich in Selbstmitleid zu verlieren.
Im obersten Stockwerk machte Jim schließlich vor einer verschlossenen Tür halt.
„Hab’s gleich“, murmelte er, geschäftig das kleine Kästchen an der Wand bearbeitend, in das der Code einzugeben war.
Leonard konnte nicht sehen, was genau er tat, und im Grunde wollte er es gar nicht wissen. Ein untrügliches Gefühl verriet ihm, dass normale Kadetten sich eigentlich nicht an diesem Ort aufhalten dürften, doch dasselbe Gefühl stellte ebenso unmissverständlich klar, dass Jim sich selbst dann nicht von seinem Vorhaben abhalten ließe, wenn er in dessen Zuge jede einzelne Vorschrift der Akademie verletzte.
„So, da wären wir“, verkündete er stolz, genau in dem Moment, als Leonard seine Zweifel zur Sprache bringen wollte; und Leonard schluckte seine Fragen hinunter und folgte ihm ein weiteres Mal. Dieser Teufelskerl hatte es tatsächlich fertiggebracht, die Tür zu entsperren, und Leonard machte sich eine mentale Notiz, Jim Kirk niemals wieder zu unterschätzen.
Schon die ersten Schritte ließen seine Vermutung in Gewissheit umschlagen. Kühle Nachtluft begrüßte ihn, begleitet von einem leichten Wind. In der Ferne webte das leise Rauschen des Verkehrs den Klangteppich der Stadt, und über ihnen funkelten am Himmel die Sterne. Sie befanden sich auf dem Dach des Hauptgebäudes, und obwohl Leonard die Hausordnung bei seiner Ankunft desinteressiert überflogen hatte, war er sich sehr sicher, dass Kadetten sich hier garantiert nicht herumzutreiben hatten.
Unschlüssig blieb er direkt hinter der Tür stehen.
„Jim, was soll das?“, zischte er, und Jim, der sein Zögern nicht bemerkt zu haben schien, hielt inne und drehte sich zu ihm um. „Wir können nicht einfach ...“
Selbst in der schlechten Beleuchtung konnte Leonard das resignierte Augenrollen des anderen Mannes erkennen.
„Stell dich nicht so an“, sagte er in normaler Lautstärke. Offensichtlich fand er überhaupt nichts Bemerkenswertes an seinem Unternehmen. „Es wird nirgends explizit erwähnt, dass es verboten ist, sich hier aufzuhalten.“
Leonard verkniff sich ein spöttisches Schnauben. Wieso nur überraschte ihn diese unbekümmerte Antwort nicht?
„Seit wann muss man für etwas, das erlaubt ist, ein Schloss knacken?“, gab er trocken zurück.
Jim trat einen Schritt näher an ihn heran, und zum ersten Mal an diesem Abend wirkte er ungeduldig.
„Sei nicht so spießig. Ich war hier mittlerweile schon oft, und bisher hat sich niemand beschwert. Ich glaube nicht, dass sie diesen Bereich überwachen. Wieso sollten sie auch?“
Leonard stieß den Atem aus. Wenn er es genau bedachte, befand er sich wirklich nicht in der geeigneten Position, um eine Diskussion mit Jim vom Zaun zu brechen, schon gar nicht, weil Jim versuchte, ihm zu helfen, auf seine eigene, unkonventionelle Weise; und das Wissen, dass es jemanden gab, der bereit dazu war, ihn zu unterstützen, war etwas, das Leonard viel zu lange vermisst hatte. Er wollte es genießen, solange er es konnte, wenn auch nur für eine Nacht.
„Das also ist deine Überraschung?“, fragte er, um einen neutralen Tonfall bemüht.
„Genau.“ Jim klang zufrieden und selbstbewusst, ganz so, als ob er so etwas wie Selbstzweifel gar nicht kannte. „Und jetzt entspann dich, Bones, komm her und schau dir das an.“
Leonard blickte ein letztes Mal über die Schulter zur Tür zurück, dann warf er mit einem theatralischen Seufzen alle Bedenken über Bord und folgte Jim, der ihn bis an den Rand des flachen Dachs führte – und sobald Leonard sich die Zeit nahm, sich zum ersten Mal richtig umzuschauen, verstand er, wieso Jim ihn ausgerechnet hierher gebracht hatte.
Das Hauptgebäude der Akademie gehörte längst nicht zu den höchsten Gebäuden der Stadt. Im Vergleich zu den Wolkenkratzern San Franciscos nahm es sich beinahe wie ein Zwerg inmitten einer Gruppe von Riesen aus, aber dennoch gewährte es jedem, der sich auf sein Dach wagte, einen umwerfenden Rundumblick.
Die Aussicht war atemberaubend, beinahe schon kitschig, aber auf die Art, die leicht zu ertragen war. Die Stadt schien sich, einem glitzernden Lichtermeer gleich, bis ins Unendliche auszudehnen, und irgendwo am Horizont vermengten sich ihre Lichter mit den Sternen. Von oben wirkte alles, was sich dort unten abspielte, so unwichtig; Menschen wurden zu Schachfiguren in einem Spiel, das sich ihrer Macht entzog, und Sorgen verblassten im Licht des Mondes. Dort oben konnte man sich vorstellen, dass man über all dem stand, was das Leben erschwerte.
Irgendetwas in Leonard zog sich bei diesen Anblick zusammen, und er brauchte eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass Jim ihn von der Seite her genau beobachtete.
„Du hast gesagt, sie hätte den ganzen Planeten bekommen“, sagte er leise, sobald Leonards Augen die seinen trafen, und augenblicklich fühlte sich Leonard in der Zeit zurückversetzt an den Tag, an dem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Fünf Wochen ... unter der Endlosigkeit des Himmels dehnten sie sich zu einer Ewigkeit aus. „ Aber das hat sie nur, wenn du ihn ihr gibst. Nur, solange sie dich dazu bringt, das zu glauben. Schau ihn dir an. Er gehört dir. Und was meinst du erst, wie es sein wird, wenn wir ganz dort oben sind? Dann wird sie nichts sein.“
Etwas an seinem Tonfall gab Leonard zu verstehen, dass Jim in diesen Momenten nicht nur von ihm sprach, sondern auch von sich selbst. Das ungebetene Bild eines Jim Kirk, der die gesamte Nacht auf diesem Dach verbrachte und den Sternenhimmel betrachtete, drängte sich in seinen Geist, und er schob es schnell wieder fort. Vielleicht würde er irgendwann nachfragen, doch nicht heute. Nicht in dieser Nacht.
„Du bist ja ein richtiger Philosoph“, stellte er fest, allerdings ohne ironischen Unterton. Wieder eine neue Seite an Jim Kirk, die sich nahtlos ins Gesamtbild einfügte.
Ein flüchtiges Lächeln umspielte Jims Mundwinkel.
„Und du bist eine echte Herausforderung. Ein Glück, dass ich Herausforderungen liebe.“
Nun war es Leonard, der die Augen verdrehte. Nein, Jim war und blieb unverbesserlich – und auch, wenn Leonard ihm dankbar dafür war, dass er ihm Zutritt zu seinem privaten Rückzugsort gewährt hatte, gab es noch etwas zu klären, selbst auf die Gefahr hin, etwas zwischen ihnen zu zerstören, von dem Leonard noch nicht einmal genau wusste, inwieweit es überhaupt existierte.
„Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem du mir verrätst, wieso du dich überhaupt mit mir abgibst. Wieso es dir nicht völlig egal ist, ob ich mich den ganzen Tag über in meinem Zimmer verkrieche und mich betrinke“, sagte er entschlossen. Die Kernfrage. Wieso?
Als Jim die Augenbraue hochzog, fühlte sich das fast wie eine Vertauschung ihrer Rollen an.
„Weil ich ein freundlicher Mensch bin, der sich um das Wohlbefinden seiner Mitbürger sorgt?“, schlug er leichthin vor.
Leonard bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln.
„Wer’s glaubt.“
Jim ließ sich ungewohnt lange Zeit mit seiner Antwort, und als er schließlich zu sprechen begann, sah er nicht Leonard an, sondern die Sterne über seinem Kopf.
„Weil du dich zuerst um mich gekümmert hast, damals im Shuttle, weißt du noch? Du hast angeboten, mich zu verarzten, obwohl du überhaupt keine Veranlassung dazu hattest.“
Leonard blinzelte, gefangen zwischen der Erinnerung an diesen Vorfall und dem Hier und Jetzt.
„Das ist mein Beruf, Jim. Sich um andere Leute zu kümmern“, sagte er sanft, und das stimmte: Er hätte für jeden getan, was er für Jim getan hatte, und er wollte nicht, dass Jim ihn deshalb für einen besseren Menschen hielt, als er verdiente; falls das nach allem, was vorgefallen war, überhaupt noch im Bereich des Möglichen lag.
„Schon, aber wer kümmert sich um dich?“
Die banale Frage, mehr noch, die unausgesprochene Feststellung dahinter wurden mit einer solch offenen Direktheit hervorgebracht, dass sie Leonard für einige Sekunden die Stimme raubten; und als er die Sprache wiederfand, kam die Antwort, die er sich seit dem Tod seines Vaters immer und immer wieder vorgesagt hatte, nicht so leicht über seine Lippen wie sonst.
„Ich brauche niemanden.“
Jim verschränkte die Arme und fixierte Leonard mit einem strengen Blick, der ihn unwillkürlich an seinen Ausbilder während des Medizinstudiums erinnerte.
„Ja, und wenn du dir das lange genug einredest, glaubst du es vielleicht tatsächlich irgendwann.“
In dieser Aussage schwang kein Spott mit, sofern das überhaupt möglich war.
„Mediziner, heile dich selbst – heißt es nicht so? So edel das klingt, in Wirklichkeit funktioniert es einfach nicht so, Bones. Wenn du weiterhin auf dieser Schiene fährst, wirst du irgendwann in einer Sackgasse landen, aus der es keinen Ausweg mehr geben wird ... und ich glaube, du bist schon näher daran, als du ahnst.“
Auch Leonard verschränkte die Arme, unwillkürlich Jims Körperhaltung kopierend. Das Gespräch schlug endgültig eine gefährliche Richtung ein, und auf einmal wünschte Leonard sich, es wieder in sicherere Gefilde zu lenken. Weder er noch Jim würden all das vergessen, was zwischen ihnen ausgetauscht worden war, und Leonard war dankbar dafür; doch nun drängten sich andere Bedürfnisse in den Vordergrund. Die Erschöpfung, die ihn den ganzen Tag über im Griff gehalten hatte, meldete sich mit heimtückischer Vehemenz erneut zu Wort, belgeitet von der Tatsache, dass er seit dem Aufstehen kaum etwas gegessen hatte.
„Werde es im Hintergrund behalten“, sagte er und schlug dann einen betont fröhlichen Tonfall an, den Jim ihm ohnehin nicht abnehmen würde. „Und weißt du was? Jetzt brauche ich wirklich einen Drink.“
Es war spät genug, um die Vernunft ohne allzu viel schlechtes Gewissen beiseite zu schieben. Selbst die immer anwesende Stimme des Arztes in Leonard verstummte nach einer Weile, was sicherlich nicht nur Jims ansteckender Sorglosigkeit zugeschrieben werden konnte, sondern vor allem ein Verdienst der Drinks war, die im Laufe der folgenden Stunden den Weg zu ihm fanden.
Sie tranken und redeten über ungefährliche Belanglosigkeiten, und das war alles, was Leonard in dieser Nacht brauchte; und irgendwann, als er längst betrunken war und Jim noch mehr, fanden sie sich in der Akademie wieder, ein weiteres Mal beide in Leonards Zimmer, weil Leonard nicht wusste, wo genau sich Jims Zimmer befand, und Jim nicht den Eindruck erweckte, als erinnerte er sich an den Weg.
Der Morgen brachte ein fast schon vertrautes Déjà-vu mit sich, nur dass sie diesmal beide verkatert waren, Leonard zum zweiten Mal innerhalb zweier Tage – und so grausam sich das anfühlte (Nie, nie wieder, ich bin eindeutig zu alt für solche Späßchen), überkam ihn zum ersten Mal seit Ewigkeiten ein Gefühl von Frieden, als sie gemeinsam ihre Kopfschmerztabletten hinunterschluckten.
„Tut mir leid, dass ich schon wieder deine Couch in Beschlag genommen habe“, sagte Jim, ohne dabei übermäßig bedauernd zu klingen.
Leonard lächelte ihm über den Rand seines Glases hinweg flüchtig zu.
„Kein Problem. Solange wir das nicht zur Gewohnheit werden lassen.“
Sie ließen es nicht zur Gewohnheit werden, zumindest nicht in der darauffolgenden Zeit – was natürlich auch der Tatsache geschuldet war, dass sich Kneipengänge unter der Woche viel schwieriger realisieren ließen als am Wochenende. Außerdem änderte das Vorgefallene kaum etwas an der Grunddynamik zwischen ihnen, die, so eigenwillig sie vielleicht wirkte, doch gut funktionierte.
Sie waren immer noch Leonard, der in sich zurückgezogene, mürrische Zyniker, und Jim, der überhebliche Draufgänger mit der harten Schale und dem weichen Kern. Und sie waren noch weit davon entfernt, als beste Freunde bezeichnet werden zu können, aber spätestens bei ihrem Gespräch auf dem Dach des Akademiegebäudes wurde Leonard bewusst, dass er Jims Gesellschaft nicht unwillkommen fand, im Gegenteil.
Die unbekümmerte Art des jüngeren Mannes tat ihm gut, sie erinnerte ihn an etwas, das er längst verloren geglaubt hatte, und stellte einen mehr oder weniger angenehmen Gegenpol zu seinem Charakter dar. Leonard gewöhnte sich an ihr gemeinsames Frühstück, an das Nicken, das sie austauschten, wenn sie sich irgendwo auf dem Gang begegneten, und später würde er sich auch an die regelmäßigen Ausflüge gewöhnen, die ihn und Jim durch die Bars der Stadt führten.
Klammheimlich schlich sich Jim Kirk in sein Leben, wurde zu einem wichtigen Pfeiler seiner Existenz, den man nicht mehr so einfach entfernen konnte ... und seltsamerweise dachte Leonard auch zuerst an Jim, als er zwei Wochen nach dem Gespräch auf dem Dach die Benachrichtigung über einen eingehenden Anruf erhielt. Im nächsten Moment verwarf er den Gedanken; Jim schien, wie auch er selbst, eher der Typ für persönliche Unterhaltungen zu sein, und ohnehin hätte er sicherlich Besseres zu tun, als Leonard schon wieder zu belästigen. Wahrscheinlich wollte ihn lediglich die Krankenstation ein weiteres Mal zu Überstunden abordnen.
„Durchstellen“, befahl Leonard dem Computer, verärgert darüber, beim Lernen unterbrochen zu werden.
Die Stimme, die Sekunden später sein Zimmer ausfüllte, verwandelte seinen Ärger augenblicklich in eine ganze Flutwelle an negativen Emotionen und Eindrücken.
„Hallo, Leonard.“
Es fühlte sich an, als hätte er einen Eiswürfel hinuntergeschluckt, der ihm in den Magen glitt und ihn von innen her völlig taub werden ließ.
„Jocelyn?“
Eine unausgesprochene Frage schwang in der Erwiderung ihres Grußes mit – zwischen ihnen war alles gesagt worden. Sie hatte keinen Grund, ihn anzurufen. Außer –
Sofort füllten ungebetene Horrorszenarien seine Vorstellung, sämtliche Albträume eines jeden Elternteils.
„Jocelyn! Was – ist etwas mit Joanna? Ist sie ...“
Die ruhige Bestimmtheit, mit der seine Exfrau ihn unterbrach, deutete nicht auf eine eingebrochene Katastrophe hin, und Leonards Puls beruhigte sich minimal.
„Ganz ruhig, Leonard. Joanna geht es bestens.“
Langsam ließ er die Luft aus seinen Lungen entweichen.
„Was willst du dann von mir?“, fragte er grob, nicht gewillt, Jocelyn mehr Freundlichkeit zukommen zu lassen, als sie verdiente. Er hätte erwartet, dass sie ihm auf ebenso unfreundliche Weise antworten würde, ganz so, wie es seit der Scheidung und in den Monaten davor üblich für ihre Gespräche geworden war; doch stattdessen klang sie seltsam unsicher, als sie ihre Beweggründe enthüllte.
„Hör zu. Ich hatte einige Zeit, um nachzudenken, und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich vielleicht zu übereifrig gehandelt habe, was das Sorgerecht für Joanna angeht.“
Leonard kniff die Augen zusammen, vollkommen überrascht von dieser unerwarteten Wendung der Ereignisse. Und er traute dem verschleierten Friedensangebot nicht im Geringsten.
„Das heißt?“
Jocelyn seufzte wie jemand, der sich für etwas Unangenehmes wappnete.
„Ich bekam neulich einen Anruf von einem jungen Mann, der behauptete, ein Freund von dir zu sein“, sagte sie in neutralem Tonfall.
Sofort kletterte Leonards Puls erneut in die Höhe.
„Jim?“
„So nannte er sich, ja. Er hat mich gebeten, dir nicht zu sagen, dass er mit mir gesprochen hat, aber ich dachte, es wäre besser, wenn du es weißt. Richte ihm meine Entschuldigung aus.“
Leonard krallte die Finger in den Saum seines Pullovers, nicht sicher, welches Gefühl in ihm überwog – Verwunderung, Verletzlichkeit, Wut. Auf jeden Fall zeigte sich ihm hier ein weiteres Mal der unumstößliche Grundsatz auf: Unterschätze nie Jim Kirk. Niemals.
„Oh, dieser verdammte kleine ...“, knurrte er, hin- und hergerissen zwischen dem Drang, Jim den Hals umzudrehen, und dem Verlangen, mehr zu erfahren.
„Du solltest ihm dankbar sein“, sagte Jocelyn. „Er hat mir ein wenig die Augen geöffnet.“
„Inwiefern?“
Langsam begann die Sache, wirklich interessant zu werden. Schritt für Schritt tasteten sie sich zum Kern des Problems vor – oder, ganz vielleicht, auch zu dessen Lösung.
Die Sekunden, die Jocelyn sich vor ihrer Antwort nahm, dehnten sich ins Endlose aus.
„Er hat mir erzählt, wie du reagiert hast, als du erfahren hast, dass dir das Sorgerecht für Joanna entzogen wurde“, sagte sie schließlich, und auch diesmal war ihr keinerlei Regung anzumerken. „Wie sehr du unter der Vorstellung leidest, ein Fremder für sie zu werden. Er hat ziemlich deutlich klargemacht, was er von meiner Entscheidung hielt, und ich werde dir nicht alles wiedergeben ... die Quintessenz jedenfalls bestand darin, dass er es für unfassbar falsch hielt, jemandem den Kontakt zu Joanna einzuschränken, der sie so sehr liebt.“
Stille füllte den Raum. Auf einmal fiel Leonard das Denken schwer, und das Sprechen gestaltete sich noch schwieriger.
„Und ... das heißt ...“
„Dass ich dich nicht für etwas bestrafen sollte, für das wir beide zu gleichen Teilen die Schuld tragen.“
Endlich hatte sich die Teilnahmslosigkeit aus Jocelyns Stimme verabschiedet, ersetzt durch etwas, das man wohl als Unbehagen interpretieren könnte.
„Ich werde noch mal mit meinem Anwalt sprechen ... Natürlich wird es schwer, bei der Entfernung regelmäßige Besuchszeiten einzuführen, aber wenn du in deinen Ferien Zeit mit Joanna verbringen willst, möchte ich dich in Zukunft nicht davon abhalten. Sie hat schon genug unter unseren Streitigkeiten gelitten.“
Sie ließ ihm Zeit, das Gehörte zu verarbeiten, ehe sie weitersprach, nun beinahe sanft.
„Wir waren einmal Freunde, Len. Auch wenn viel vorgefallen ist, sollten wir das nicht vergessen.“
Nicht nur die Tatsache, dass sie ihn seit Monaten nicht mehr mit diesem Spitznamen angesprochen hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Ihr Friedensangebot kam zu überraschend, fühlte sich ebenso falsch wie richtig an und brachte neben einer Welle der Erleichterung auch Unsicherheit mit sich – und Leonard traute ihm immer noch nicht richtig. Aber es ging hier nicht um ihn. Es ging vordergründig um Joanna, und ihr zuliebe war er bereit, einen Schritt auf Jocelyn zuzugehen. Wenn es sein musste, auch mehrere.
„Ich glaube, das ist der sinnvollste Entschluss, den wir seit einem gesamten Jahr gefasst haben“, sagte er.
Zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten hörte er sie lachen, und ein Teil von ihm erinnerte sich daran, wie sehr er dieses Lachen einst geliebt hatte.
„Und, Joce?“, fügte er in einem plötzlichen Impuls hinzu.
„Ja?“
„Danke.“
Das Wort, von dem er sich nicht hatte vorstellen können, dass er es ihr gegenüber jemals wieder aussprechen würde, kaum auf einmal so leicht über seine Lippen. Auch wenn er nicht ganz sicher war, wem er dankte – ihr oder einem unverschämten Sturkopf namens Jim Kirk.
„Danke nicht mir, danke deinem Freund“, erwiderte Jocelyn und griff damit unwissentlich seinen letzten Gedanken auf. „Er hat mir die Augen geöffnet – auf ziemlich unorthodoxe Weise, aber ich glaube, er war erfolgreich.“
Unorthodoxe Weise. Das konnte sich Leonard nur allzu gut vorstellen. Vielleicht sollte er Jim fragen, was genau er Jocelyn an den Kopf geworfen hatte. Vielleicht ...
„Stimmt. Ich werde ihn dann mal suchen gehen“, gab er zurück. Er würde den zerbrechlichen Frieden und vor allem Jocelyns Sinneswandel nicht hinterfragen. Vorerst galt es nur, mit aller Kraft das zu umarmen, was er beinahe verloren hätte.
„Warte noch“, bremste Jocelyn ihn aus. „Zuerst gibt es noch jemanden, der auch gerne mit dir sprechen würde.“
Ein leises Rascheln ertönte, leichte Schritte, und dann –
„Papa?“
Das Lächeln, das sich auf Leonards Gesicht zeigte, breitete sich in seinem ganzen Körper aus und wärmte ihn von innen. Genau das. Darum ging es.
„Hallo, Jojo“, sagte er leise.
Es war bezeichnend für ihre seltsame noch-nicht-ganz-Freundschafts-Beziehung, dass Jim sich inzwischen so gut wie heimisch in Leonards Zimmer zu fühlen schien, während Leonard nicht einmal wusste, wo genau der andere Mann wohnte.
Dieser Umstand betonte ein weiteres Mal, wer sie wirklich waren: auf der einen Seite Leonard, abgekapselt und im Grunde seines Herzens sogar einsam, auf der anderen Seite Jim, unbegreifbar, immer auf dem Sprung, nie wirklich zu fassen; Jim, der kam und ging, wie es ihm gefiel, und der offenbar darauf vertraute, dass Leonard da wäre, wenn er ihn brauchte.
Vielleicht war es an der Zeit, daran etwas zu ändern.
Leonard brauchte nicht lange, um mithilfe seines Computers die Zimmernummer von Kadett Kirk herauszufinden, und so stand er eine halbe Stunde nach seiner Unterhaltung mit Joanna vor Jims Schlafraum und presste den Finger auf den Knopf neben der Tür, der den Bewohnern seine Anwesenheit verriet. Irritiert stellte er fest, dass er sich dabei tatsächlich ein wenig nervös fühlte.
Die Tür glitt zur Seite und gab den Blick auf einen Raum frei, der sofort dafür sorgte, dass Leonard den Luxus seines Einzelzimmers noch mehr zu schätzen wusste. Nein, Jim hatte nicht untertrieben, als er meinte, dass Leonards Zimmer viel schöner sei als seines; dem Raum, der gerade genug Platz für die nötigsten Möbelstücke bot, haftete nichts von dem an, was Leonards Reich heimisch wirken lassen könnte, wenn er sich mehr Mühe gäbe, sich dort ein Zuhause zu erschaffen.
An einem Schreibtisch am Fenster beugte sich eine schmale Gestalt über ihre Arbeit, doch als Leonard unsicher auf der Türschwelle verharrte, wandte sich der Kopf der Person zu ihm um und er erkannte voller Erleichterung Jim, der ihn mit einem Grinsen begrüßte, das fast schon als unverschämt zu bezeichnen war. Er zeigte nicht die geringste Überraschung angesichts des unerwarteten Besuchers. Vielleicht, weil der Besucher gar nicht so unerwartet war, wie es im ersten Moment den Anschein haben mochte.
„Hey, Bones.“
Sein schelmischer Tonfall verriet Leonard, dass Jim ganz genau wusste, wieso er hier war, und er beschloss, das Spiel mitzuspielen.
„Du bist ein gottverdammter Idiot, weißt du das?“
Das hatte er ohnehin längst einmal loswerden wollen. Jim lachte unbekümmert auf.
„Immer doch. Hat sich die alte Hexe also bei dir gemeldet? Hat ja lange genug gedauert.“
Leonard zog die Augenbrauen hoch und beschloss dann, die Bezeichnung alte Hexe zu ignorieren. Im Vergleich zu den unausgesprochenen Namen, die er Jocelyn während der Scheidung und direkt danach verpasst hatte, war das eine ausgesprochen schmeichelhafte Beschreibung.
„Wann hast du mit ihr gesprochen?“, fragte er, sich gegen den Türrahmen lehnend.
Jim schwang seinen Stuhl herum, so dass er ihm ins Gesicht blicken konnte, ohne sich dabei den Hals zu verrenken.
„Gleich am Samstagnachmittag, nachdem du mich in der Kneipe den ganzen Abend lang vollgejammert hast, wie sehr du Joanna vermisst.“
Stirnrunzelnd dachte Leonard zurück. Er erinnerte sich nur vage an das, was an jenem Abend zwischen ihnen gesprochen worden war, nachdem sie das Dach verlassen hatten, und womöglich war das besser so.
„Das ändert nichts an der Tatsache, dass du ein unerträglicher Idiot bist“, sagte er der Vollständigkeit halber und erntete damit ein weiteres Lachen.
„Weiß ich doch. Willst du nicht kurz reinkommen?“ Mit einer einladenden Geste wies Jim auf den wenig einladenden Raum. „Mein Zimmergenosse wird so schnell nicht wieder auftauchen. Komm schon, Bones, du hast eh nichts Besseres zu tun.“
Leonard zögerte, aber nicht lange genug, um wirkliche Zweifel an dieser Einladung zu vermitteln.
Waren weniger als zwei Monate zu kurz, um jemanden als Freund zu bezeichnen, vielleicht sogar als besten Freund? Und wenn schon ... Das alte Programm – niemanden an sich heranlassen – hatte seine Gültigkeit verloren, eigentlich schon, seit Jim sich zum ersten Mal beim Frühstück zu ihm gesetzt hatte, spätestens jedoch mit dem Gespräch auf dem Dach des Akademiegebäudes. Er hatte nichts zu verlieren, im Gegenteil; und unter Jims offenem Blick fiel ihm die Entscheidung leicht, eine Entscheidung, die mehr umfasste als das Angebot, Jim für einige Minuten Gesellschaft zu leisten.
„Gerne“, sagte er und trat endgültig in den Raum. Hinter ihm schloss sich die Tür, Jim lächelte ihm zu – und zum ersten Mal war Leonard gerne Bones.