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Geschichten aus Ikaril Fragmente einer zerrissenen Welt

Summary:

Magie. Erinnerung. Runen.
Willkommen in Ikaril, einer düsteren Fantasy-Welt voller Geheimnisse, verlorener Königreiche und mächtiger Runenmagie.

📚 Jeden Mittwoch erscheint hier eine neue Kurzgeschichte - einzeln lesbar aber miteinander verwoben.
Entdecke Geschichten über starke Charaktere, Schattenkriege, zerbrochene Bündnisse und alte Götter in einer zersplitterten Welt voller Magie, Erinnerungen und Geheimnisse.

Ein uralter Kreislauf verband einst alles: Leben, Tod, Runen. Doch er zerbrach.
Heute flüstern Schatten von dem, was war - und von dem, was wieder erwacht.
Magie fließt durch Worte. Erinnerung ist Macht.

Wenn du gerne High Fantasy, Dark Fantasy und emotional tiefgründige Stories liest, bist du hier richtig.

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denn Ikaril ist mehr als nur eine Welt.
Es ist ein Zyklus, der nie vergessen werden darf.

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Chapter 1: Velir'Kaal – Das Jahr, das nie endete

Chapter Text

Datum: 1. Lunaris, 103. Jahre nach dem Kreislaufbruch (103 n.K)  
Ort: Elythara, Verborgene Tempelbibliothek  
Figuren: Namenlose Priesterin

 

In Elythara wurde das neue Jahr nicht gefeiert – es wurde geflüstert.

Die namenlose Priesterin bewegte sich lautlos durch den langen, dunklen Korridor der Tempelbibliothek. Stein, der Jahrhunderte alt war, lag kalt unter ihren bloßen Füßen, glattgeschliffen von den Schritten derer, die vor ihr hier entlanggegangen waren. Sie hatte die Sandalen vor dem Eingang gelassen, um kein Geräusch zu verursachen. Jeder Schritt war ein Risiko, jeder Atemzug ein Verstoß gegen Regeln, die niemand laut aussprach.

Von fern drang das gedämpfte Klingen goldener Glöckchen zu ihr – ein Echo der Feierlichkeiten, die in Solthara, der schwebenden goldenen Stadt, abgehalten wurden. Dort würden die Elythari in ihren fließenden, schimmernden Gewändern aus magisch verstärktem Stoff unter einem von den Priestern kontrollierten sternenklaren Himmel tanzen. Sie erinnerte sich an das sanfte Schweben der Plattformen zwischen den ewigen Flammen, die die heiligen Tempel erleuchteten, an den berauschenden Duft magischer Elixiere, die nur zu besonderen Anlässen gereicht wurden und in ganz Ikaril bekannt waren.

Doch hier unten, in den verborgenen Tiefen unter den goldenen Türmen, roch es nur nach altem Pergament, abgestandenem Wasser und Staub, der noch älter war als sie selbst. Ein Geruch, der die wahre Natur Elytharas besser einfing als alle goldenen Fassaden dort oben.

Sie hatte gelernt, unsichtbar zu sein. Ein Schatten unter vielen, eine Maske ohne Gesicht, verborgen unter einer Kapuze aus dunklem Leinen. Selbst ihre Augen, tiefbraun und wachsam, verschwanden fast vollständig in der Dunkelheit. Nur ihre Hände verrieten Nervosität – weiß und zitternd vor Kälte und Erwartung. Sie trug ein einfaches Gewand, nicht wie die prächtigen Roben der Unsterblichen des Rates, die oben im goldenen Licht schwebten.

Draußen in Solthara trugen die Menschen Masken, lachten gedämpft und ließen die Lichter brennen, bis die Nacht vorüber war. Sie selbst erinnerte sich kaum noch an diese Feste, obwohl sie sie als Kind so geliebt hatte: Tanz auf schwebenden Plattformen, das sanfte Vibrieren der Luft durch die Strömungen der Magie, der süße Rauch von verbrannten Kräutern aus den geheimen Gärten, die nur für die Elythari zugänglich waren. Doch je älter sie wurde, desto mehr erkannte sie, wie sehr Elythara auch an diesem Tag versuchte, etwas zu überdecken. Keine Feier, dachte sie jetzt, ist so laut, dass man nicht hören könnte, was darunter verborgen liegt.

Die Verborgene Bibliothek – denn das war es, wonach sie suchte – lag fernab dieser Festlichkeiten. Sie war ein stiller Ort, in dem sich Geschichte aufeinander stapelte, als wäre die Zeit nichts anderes als eine Last, die man irgendwo ablegen musste. Eine Last, die die Elythari zu tragen vorgaben, während sie sich als Unsterbliche bezeichneten. Die Priesterin war hierhergekommen, weil ihr etwas keine Ruhe ließ, ein Gefühl, das sie nicht genau greifen konnte – so wie ein Traum, der nach dem Erwachen verblasste, aber immer ein Echo zurückließ.

Durch ein hohes, schmales Fenster fiel ein einzelner Mondstrahl herein und enthüllte winzige Staubpartikel, die in der Luft tanzten wie winzige Sterne in einem vergessenen Universum. Die Priesterin hielt inne und betrachtete das Licht – es kam von einem der drei Monde, dem kleinsten, dessen silbriges Licht nur einmal im Jahr so intensiv strahlte. Ein Zeichen, wie die Ältesten sagten. Ein Versprechen des Kreises des Lichts, dass wahre Unsterblichkeit existierte – irgendwo jenseits der Grenzen dessen, was selbst die mächtigsten Elythari verstanden.

Ihr Ziel war eine vergessene Kammer am Ende des Korridors, verborgen hinter einer Mauer, die keine Tür sein sollte. Sie wusste nicht, warum sie den Weg hierher gefunden hatte, oder wie sie überhaupt wusste, dass diese Kammer existierte. Es war, als hätte etwas in ihr schon immer gewusst, dass dieser Raum existierte, verborgen hinter Legenden und verbotenem Wissen.

Als sie schließlich vor der Wand stand, atmete sie tief ein und strich mit den Fingern behutsam über den Stein. Er fühlte sich kalt an, und ihre Haut schien die leise Vibration der Vergangenheit aufzunehmen – ein Echo der Strömungen, die einst die Welt durchzogen hatten. Ein Druck, ein kaum hörbares Klicken, und die Wand öffnete sich lautlos, als hätte sie auf sie gewartet.

Der Raum dahinter war klein, kaum größer als die Kammer, in der sie schlief. Doch er war voller Regale, gefüllt mit Schriftrollen und Büchern, deren Einbände vor Alter brüchig geworden waren. Das Licht ihrer mitgebrachten Kristalllampe – ein kleines, verbotenes Juwel, das sie vom Hauptaltar der Halle der Erinnerungen entwendet hatte – ließ die Schatten der Regale bedrohlich wirken – als würden sie jeden Moment näher rücken, um sie festzuhalten.

Sie trat ein und die Luft änderte sich sofort. Kalt und trocken, und etwas anderes – ein Hauch von etwas, das älter war als Elythara selbst. Vorsichtig ging sie auf die Regale zu, strich mit den Fingern über die Rücken der Schriftrollen, bis sie an einer stehen blieb. Keine Beschriftung, kein Titel, nur blankes, abgenutztes Leder. Doch am Rand erkannte sie ein Symbol, so schwach, dass es kaum zu sehen war: zwei ineinander verschlungene Kreise, durchbrochen von einem einzelnen, gezackten Schnitt. Das Symbol des zerbrochenen Kreises – das Zeichen von Velir'Kaal.

Ihre Finger schienen die Rolle fast automatisch herauszuziehen, als wäre ihre Entscheidung längst getroffen worden. Das Pergament fühlte sich warm an in ihren Händen, fast lebendig, als pulsierte eine uralte Magie darin.

Vorsichtig entrollte sie das Pergament. Es raschelte leise, das Geräusch wirkte unangenehm laut in der stillen Kammer. Ihr Blick wanderte über die alten Zeilen. Die Schrift war blass, kaum noch lesbar – sie musste näher herangehen, das Papier beinahe an ihr Gesicht führen. Was sie erblickte, ließ ihren Atem stocken: Die Schrift war Ikaril, jene uralte Sprache, gleichnamig der Welt in der sie lebten, die nur noch wenige Elythari beherrschten und Sie hatte ihr ganzes Leben dafür studiert – ⨥⩎⩖'⩪⨭ ⨳⨯'⨍⩜⪣. ⨥⩖⩢'⨥⩎⩢ ⨳⨯'⩪⨭ ⩎⫸ – ⨥⩎⫸ ⩢⩎⫸ ⨅⨯ ⩪⨭ ⨥⩎⩖. ⨥⩖⩢'⩥⩎⩢ ⨳⨯'⩎⫸ ⩖⨦⩢. ⨥⩖⨍⩖⩢ ⨳⨯'⩎⫸ ⨥⩎ ⪨⨯⩎⫸ ⩢⩎⩸. ⩪⩪ ⨳⨯'⨍⩜⪣ ⪨⩎⩥ ⨳⨯'⨥⩖. –

Sie blinzelte, rieb sich die brennenden Augen. Einige Zeichen waren verwischt, andere so verblichen, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Sie fuhr mit dem Finger über die Linien, versuchte dem verblassenden Text Leben einzuhauchen.

"Kael'nir thal'... xor'zarien," murmelte sie, während ihr Gehirn die Runen zu deuten versuchte. "Velir'Kaal xor'nir... vel'ar lor..." Hier war ein ganzes Wort unleserlich, nur Schatten auf dem Pergament. "...kael. Vel'mir'kaar xor'ar thir."

Sie runzelte die Stirn, konzentrierte sich stärker. Die nächste Zeile enthielt ein Symbol, das sie noch nie gesehen hatte – ein verwirrender Schnörkel zwischen zwei bekannten Zeichen.

"Vel'quor xor'ar ka thal'... mir," fuhr sie fort, ihre Stimme unsicher. "Nai... thal'kaar xor'kael."

Sie lehnte sich zurück, Schweiß auf der Stirn. Nach allem, was sie entziffern konnte, lautete die Übersetzung etwa:
„Es gibt Jahre, die niemals... Velir'Kaal war kein Jahr – es war ein Atemzug zwischen... Herzschlag, der aussetzte und nicht wiederkehrte. Unsere Welt hielt inne, als der... zerbrach. Nicht... die Zeit selbst wagte weiterzugehen."

Die Worte, selbst fragmentarisch, hallten in ihr nach, pulsierten in ihrem Blut. Der Name Velir'Kaal war in Elythara kaum mehr als ein Mythos. Eine Warnung, die niemand mehr ernst nahm, ein Schreckgespenst für widerspenstige Novizinnen. Die Elythari, die sich so stolz die Unsterblichen nannten, hatten es zu einer Fußnote ihrer Geschichte degradiert.

Aber hier, in diesen staubigen Seiten, lag etwas anderes. Keine Legende, sondern ein Zeugnis. Und zwischen den Zeilen, die sie las, erwachte etwas anderes: Eine Handschrift, hastig und klein, als hätte sie jemand im Dunkeln geschrieben. Randbemerkungen, flüchtig und ängstlich.

„Die Strömungen waren niemals getrennt – sie verbanden mehr als nur unsere Welt. Wir hätten sie nicht zerbrechen dürfen."

Ein eiskalter Schauer lief ihr über die Wirbelsäule. Die Strömungen, von denen Elytharas Priester sprachen, galten als Pfade der Magie, als Wege der Macht. In Solthara feierten sie sie als Quelle ihrer Unsterblichkeit, als Beweis ihrer Überlegenheit. Doch was, wenn sie mehr waren als nur Metaphern, mehr als Bilder, die man Kindern gab, um ihnen Magie zu erklären?

Sie blätterte vorsichtig weiter. Der Kristall in ihrer Hand flackerte kurz – ein Warnzeichen, dass seine Magie schwächer wurde. Ihre Hände zitterten kaum merklich, als sie tiefer in die Zeilen sank. Jede Bewegung sandte kleine Staubwolken auf, die das Licht der Kristalllampe einfingen und in winzige goldene Galaxien verwandelten, bevor sie wie verlorene Träume zerfielen.

„Die Pfade verbanden alles. Sterne und Schatten, Leben und Tod, hier und dort. Wir wussten nicht, wie zerbrechlich sie waren, bis wir sie zu unserem eigenen Gewinn missbrauchten. Wir sahen die Pfade als Macht – nicht als Verbindung."

Neben diesen Zeilen stand, noch kleiner, eine zittrige Notiz:
„Wer auch immer dies findet – vergib uns."

Die Priesterin spürte, wie ihr Atem stockte. Der Raum um sie herum schien enger zu werden, als wollten die Wände näher rücken, um ihre Geheimnisse besser zu bewahren. Das Papier fühlte sich plötzlich warm an, beinahe lebendig, als wären diese Worte nicht geschrieben, sondern geatmet worden, direkt aus der Erinnerung einer längst verstorbenen Seele.

Sie zwang sich weiterzulesen. Jedes Wort schmeckte nach Staub und Wahrheit.

„Einer wollte sie kontrollieren. Einer wollte Herr über die Strömungen sein, wollte ihre Tore öffnen und schließen nach eigenem Gutdünken. Doch die Strömungen dulden keinen Herrn. Der Kreis zerbrach unter seinem Griff, und die Pfade versanken in Stille."

Eine Notiz, fast nicht mehr lesbar, stand darunter:
„Wir glauben, er lebt noch. Irgendwo. Irgendwie. In einer Erinnerung, die niemals stirbt."

Die Kammer fühlte sich plötzlich enger an, als würden die Worte wachsen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Sie kannte die Legenden über Velir'Kaal, über das Jahr, das nie endete, doch dies hier war anders. Es war keine Metapher, keine poetische Umschreibung eines kosmischen Missverständnisses – es war eine Tatsache, sorgfältig versteckt hinter Mythen und Märchen.

Als sie weiterlas, erfuhr sie mehr: Der Unsterbliche Rat, der nach außen hin als einzige Macht in Elythara galt, war in Wahrheit nur eine Fassade. Die wahre Macht lag bei den Verborgenen Ältesten, einer Gruppe, die so geheim war, dass nicht einmal alle Mitglieder des Rates von ihrer Existenz wussten. Und sie, diese Ältesten, waren die Hüter eines Wissens, das so gefährlich war, dass es aus der Geschichte gelöscht wurde.

Plötzlich erschien ihr alles anders. Elythara, die schwebende Stadt der Masken und Machtspiele, war nur ein kleiner Punkt in einer viel größeren Geschichte – und vielleicht nicht einmal der wichtigste. Die goldenen Türme, die magischen Elixiere, die kontrollierten Regengüsse – all das war nur eine Illusion, um etwas viel Dunkleres zu verbergen.

Die Priesterin schluckte schwer. Sie erinnerte sich an eine Geste, die Aldaris, einer der wenigen Elythari, die noch Ikaril sprechen konnten, ihr einst gezeigt hatte – eine kleine Bewegung mit den Händen, die wie ein Gebet aussah, aber anders war – älter, tiefer. Die Bewegung sollte den Kreis des Lichts symbolisieren, hatte er ihr erklärt. Damals hatte sie nicht verstanden, doch jetzt wurde klar, was Aldaris ihr hatte zeigen wollen: Es war eine Erinnerung an den zerbrochenen Kreis, verborgen in Gesten, die niemand verstand, weil niemand mehr die Wahrheit hinter den Worten kannte.

Sie begann, die Schriftrolle sorgfältig wieder aufzurollen, doch ein Geräusch ließ sie erstarren: Schritte. Sie waren gedämpft, kamen aber näher. War es einer der Unsterblichen Boten, die sich durch die Zeit falten konnten, wie die Legenden besagten? Ihr Puls raste. Hastig schob sie die Rolle zurück in die Nische, von der sie sie genommen hatte, versuchte ihre Hände zu beruhigen. Die Schritte kamen näher, stockten kurz, gingen dann vorbei und verloren sich in der Stille.

Ihre Beine zitterten. Sie lehnte sich gegen die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Die Wahrheit über Velir'Kaal war gefährlich – gefährlicher als jede politische Intrige Elytharas. Ein Verstoß gegen das Gleichgewicht der Unsterblichkeit – das größte Verbrechen, das ein Elythari begehen konnte. Doch sie wusste, sie konnte nicht länger blind bleiben.

Nach einigen Minuten hatte sie sich genug gefasst, um die Kammer zu verlassen. Vorsichtig schloss sie die schwere Holztür, die sie wieder zu einer Wand werden ließ. Sie blickte sich um, doch niemand hatte sie gesehen. Es war Lunaris, draußen war das Fest, doch hier im Tempel lag ein Schweigen, das schwerer wog als jede Feierlichkeit.

Als sie über den dunklen Flur zurückging, blieb sie an jenem Torbogen stehen, dessen Zeichen sie plötzlich verstand. Die Zeit hatte sie fast unsichtbar gemacht, doch jetzt spürte sie jede Linie, jede Kurve, jeden Riss. Es war das Symbol von Velir'Kaal – von dem Bruch, den niemand eingestehen wollte.

Leise sprach sie zu sich selbst, doch ihre Stimme klang fremd, fast wie ein Echo in ihren Ohren:
„Wenn das wahr ist... dann sind wir nie allein gewesen."

Die Worte blieben in der Luft hängen, schwebten zwischen Hoffnung und Furcht. Dann ging sie weiter, hinaus in den kühlen Wind, der durch die offenen Fenster wehte und den Geruch von Rauch und Festlichkeit mit sich trug. Doch dieser Geruch kam ihr plötzlich falsch vor, künstlich und leer – wie alles in Elythara.

Sie blickte nach oben, zum Himmel, der von Sternen durchsetzt war, und fragte sich zum ersten Mal, ob die Strömungen, an die sie glaubte, nicht nur Fragmente eines viel größeren Netzes waren, das niemand mehr sehen konnte. War die Unsterblichkeit der Elythari tatsächlich ein Geschenk – oder ein Fluch, wie es in den verbotenen Zeilen angedeutet wurde?

Langsam, nachdenklich ging sie weiter, den Gedanken festhaltend, dass Velir'Kaal niemals geendet hatte. Und während sie die Festlichkeiten in der Ferne hörte, wusste sie plötzlich, warum Elythara das neue Jahr mit Masken begrüßte – weil niemand das Gesicht tragen wollte, das erkannte, was verloren gegangen war.

Hoch über ihr schwebte Solthara, die goldene Stadt der Unsterblichen, deren fließende Gewänder im Mondlicht schimmerten. Die verborgenen Ältesten würden jetzt in der Ewigen Kammer zusammenkommen, einem Ort, den niemand außer ihnen je betreten hatte. Würden sie über ihn sprechen – den namenlosen Mann, der den Kreis zerbrochen hatte und immer noch leben sollte? War er der Grund für ihre Unsterblichkeit – oder für ihren Untergang?

Ihre Schritte hallten auf den Steinplatten wider, und je weiter sie ging, desto klarer wurde ihr, dass sie eine Grenze überschritten hatte. Nicht nur die Grenze der Kammer, nicht nur die Grenze ihrer Pflichten – sondern eine Grenze, von der es kein Zurück mehr gab.

Und tief in ihr flackerte ein Gedanke auf, der sie von nun an begleiten würde: Was, wenn die Kreise nie wirklich gebrochen, sondern nur vergessen worden waren?

Was, wenn die Wahrheit über Velir'Kaal nicht das Ende war, sondern ein Anfang?

Sie blickte noch einmal zum Himmel empor, wo die goldenen Türme Soltharas im Mondlicht schimmerten, unberührt vom Staub und den Geheimnissen der Erde. Wie die Elythari selbst schienen sie über allem zu schweben, makellos und zeitlos – und doch wusste sie jetzt, dass auch sie Gefangene waren. Gefangene einer Geschichte, die sie selbst geschrieben und dann vergessen hatten.

"Wir sind nicht die Herrscher der Zeit," flüsterte sie, die Worte eines unbekannten Elythari-Weisen wiederholend, die sie in den verborgenen Zeilen gefunden hatte, "wir sind ihre Gefangenen."

Chapter 2: Splitter im Blut – Der Schwur von Zarrek

Notes:

⚠️ _Content Warning / Triggerwarnung:_
Diese Geschichte enthält Darstellungen von Körperhorror, Mutation, psychischer Belastung, implizierter Gewalt, Selbstopferung und Tod.
Bitte lese nur weiter, wenn du dich emotional sicher fühlst.

Es geht um Mut, Verlust, Rebellion – und das stille Gewicht eines Satzes.
✦ „Nai xor’mir – kein Besitz mehr.“

Chapter Text

Datum: Spätes Vaelaris (Sturmzeit, 348 n.K)
Ort: Zarrek-Schluchten, Kael'Zara_
Figuren: Zwei namenlose Blutschmuggler

 

In Kael'Zara flüsterten sie, dass der Stein von Zarrek Blut riechen konnte. Nicht nur das Blut der Feinde – auch das der eigenen Söhne und Töchter, die in die Schluchten zurückkehrten.

Es war ein Flüstern, das niemand auszusprechen wagte, wenn die Stürme über das Land peitschten. In den Tavernen von Zir-Khaal sprach man davon nur hinter vorgehaltener Hand, in gebrochenem Kael'Zir-Dialekt, und niemals bei vollem Bewusstsein. Wer zu laut darüber sprach, wurde schon bald vermisst.

Die Zarrek-Schluchten waren älter als jedes Reich, das auf den kargen Felsen erbaut worden war. Sie schnitten sich wie offene Wunden durch das Land, geformt von uralten Strömungen, die längst versiegt waren – oder, wie manche sagten, nie wirklich verschwunden seien, sondern tief unter der Erde weiterflossen, verborgen, gefährlich, lebendig.

Der rote Staub des Abends wehte durch die steilen Klüfte, setzte sich auf Haut und Zunge, schmeckte bitter nach Stein und Eisen. Er kündete vom nahenden Sturm – typisch für das späte Vaelaris, wenn die heißen Tage in die gnadenlosen, trockenen Winterwinde übergingen.

Die Luft war schwerer geworden. Jeder Atemzug brannte in der Lunge wie flüssiges Metall, als würde der Staub selbst versuchen, in die Lungen einzudringen, sich dort festzusetzen wie ein Fluch, der nie mehr weichen wollte. Selbst der Wind klang hier anders – kein sanftes Rauschen, sondern ein klagendes Heulen, wenn er durch die zerklüfteten Felsen strich, wie der Schrei einer Seele, der keine Erlösung vergönnt war.

In diesem vergessenen Winkel des Reiches erzählte man sich von einem Herz, das tief unter dem Stein schlug – ein Herz aus Quarz und Blut.

Man sagte, hier unten lauerte der erste Bruch der Welt – verborgen unter meterdickem Quarzgestein, verflucht durch das, was einst die Kael'Zir gefürchtet hatten: Knochenquarz.

Sie nannten ihn „Zarharnil" – den Splitter im Blut.

Und Zarharnil war kein stiller Stein. Er pulsierte im Licht der sterbenden Sonnenstrahlen, schwach und unheilvoll, als würde er atmen. Karmesinfarbene Schattierungen tanzten über seine Oberfläche, wechselten von tiefem Blutrot zu schimmerndem Purpur, als würde Leben darunter fließen. Schwarze Adern durchzogen seine Oberfläche, fein wie Haarlinien, aber scharf genug, um die Strömungen selbst zu verletzen. Wer ihn zu lange ansah, konnte schwören, die Adern bewegten sich, als suchten sie Haut, die sie durchdringen konnten.

Nicht alle kehrten von hier zurück. Und jene, die es taten, kehrten nicht als das zurück, was sie einst gewesen waren.

In den Arenen von Zir-Khaal, wo Krieger um Ehre kämpften, war es verboten, ihn auch nur zu erwähnen. Ihn zu tragen, zu handeln, ihn auch nur zu berühren – nicht aus Prinzip. Sondern aus Angst.

Denn Zarharnil war keine gewöhnliche Ressource. Er war ein Überbleibsel der Ersten Kreise – jenes Materials, das in der Lage war, den Fluss der Strömungen zu fassen, zu zerschneiden, zu wenden. Wer ihn besaß, konnte Macht binden. Wer ihn atmete, konnte zerbrechen.

Die beiden Schmuggler wussten das. Sie wussten es besser als jeder Kriegsälteste, besser als der gewählte Kriegsherr selbst, der in den goldenen Hallen seinen Titel durch rituelle Duelle verteidigen musste. Sie kannten die Wahrheit, die den Bewohnern von Kael'Zara vorenthalten wurde.

Und doch bewegten sie sich durch die Schluchten, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, das Bündel auf dem Rücken schwerer als jedes Gesetz des Kriegerrats. Das Bündel enthielt etwas, für das selbst die berüchtigten Blutgeborenen Krieger ihre Heimat verlassen würden – falls sie überlebten.

Der eine war größer, seine Bewegungen ruhig, kontrolliert, wie ein Krieger, der seinen eigenen Tod schon lange akzeptiert hatte. Seine Gefährten nannten ihn einst Varkath, der Geduldige – ein Name, den er abgelegt hatte, als er die Hallen von Zir-Khaal verließ. An seinem Hals trug er eine alte Runenkette, ein Relikt aus der Halle der 100 Schwerter. Jeder, der sie sah, würde wissen, was sie bedeutete – ein Krieger ohne Namen, der sein Schwert nie niedergelegt hatte. Seine linke Hand war vernarbt, als hätte er einst in glühenden Sand gegriffen. Ein Zeichen der Schande oder der Treue – das entschied allein der Blick des Trägers.

„Ich vergesse jedes Mal, wie verdammt schwer dieses Ding ist," murmelte er, während er das Bündel auf seinem Rücken zurechtrückte. Seine Stimme klang rau, als hätte er sie in Jahrzehnten der Stille abgenutzt.

Der andere war kleiner, drahtiger. Seine Gefährten hatten ihn einst Lyreth genannt – der Schnelle. Sein Name war vergessen, ebenso wie seine Vergangenheit. Seine Schritte wirkten ungeduldiger, sein Atem flacher. Eine schwache Bindungsrune war auf seine Stirn gebrannt – das verschlungene Symbol eines Hauses, das längst aus den Chroniken gelöscht worden war. Er trug es offen, als würde es ihn daran erinnern, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Seine Augen waren hell, fast schon zu hell für einen Kael'Zir. Manche flüsterten, er sei einst als Sklave geboren worden, ein Bastard zwischen den Häusern – zu stark, um gebrochen zu werden, zu wertlos, um behalten zu werden.

„Natürlich, immer der gleiche Plan," erwiderte er mit einem flüchtigen, verbitterten Lächeln. „Hinein, heraus, und dabei nicht sterben."

Beide kannten die Legenden. Beide wussten, dass die Arena von Zir-Khaal nur noch für jene offenstand, die den Mut hatten, alles zu riskieren – oder nichts mehr zu verlieren hatten. Beide wussten, dass es kein Zurück gab.

Sie hatten gesehen, wie die Brunnenschächte von Tal'Marek vertrockneten, wie Kinder mit hohlen Wangen nach versiegten Quellen gruben. Sie hatten miterlebt, wie die Ernte auf den Feldern verdorrte, während die Hallen des Kriegerrats immer noch von Wasser und Wohlstand strotzten. Ein Körnchen Zarharnil, nicht größer als ein Fingernagel, konnte einen Brunnen für Monate mit Wasser füllen – wenn man wusste, wie man es einsetzte. Und wenn man bereit war, den Preis zu zahlen.

Sie gingen schweigend, doch die Spannung zwischen ihnen war greifbar. Immer wieder glitten die Finger des Kleineren über das Bündel, als wollte er sicherstellen, dass es noch da war, dass es echt war. Seine Lippen bewegten sich stumm, flüsternd, als spräche er ein Gebet – nicht an die Götter der Kael'Zir, sondern an das, was tief unter ihnen lauerte.

Kael'Zara war einst die Wiege der Runenmeister gewesen, doch seit dem Fall der Hallen von Vel'Kaarn war das Land verflucht – zerrissen von den gleichen Strömungen, die die Elythari oben in ihren goldenen Hallen zu bändigen versuchten. Hier gab es keine Verbündeten aus Ignirion mit ihren Waffen und Elixieren. Keine magischen Artefakte, um die sie mit Thal'Vareth und Elythara streiten könnten.

Gerüchte aus den Grenzen sprachen von einem kommenden Konflikt. Von Elythara-Spähern, die immer weiter in Kael'Zara-Territorium vordrangen. Von Thal'Vareth-Handelskarawanen, die plötzlich verschwanden. Das Machtgefüge der vier Reiche verschob sich, und Zarharnil könnte der Schlüssel sein – oder der Funke, der alles in Brand setzen würde.

Hier unten gab es keine Hallen. Nur Risse im Stein, so tief, dass das Licht selbst nicht wagte, ihnen zu folgen.

Die Schmuggler kannten die Pfade von Zarrek – enge Klingenpfade, die nur die Mutigsten nutzten. Wege, die sich wie alte Adern durch den Fels zogen, markiert mit uralten, in Stein gehauenen Kriegssymbolen, die nur noch sie zu deuten wussten.

Je tiefer sie kamen, desto ältere Zeichen tauchten an den Wänden auf. Keine Runen der Kael'Zir – diese waren zu neu, kaum tausend Jahre alt. Was hier in den Stein gemeißelt war, musste aus einer Zeit stammen, als die Strömungen noch anders flossen. Gebogene Linien, die aussahen wie gefrorene Wellen, verschlungene Kreise, die sich selbst zu verschlingen schienen, Symbole, die das Auge nicht erfassen konnte, ohne dass der Kopf zu schmerzen begann. Die Zeichen schienen im Licht der Quarzadern zu pulsieren, zu atmen, als wären sie nicht in den Stein gehauen, sondern als würden sie aus ihm herauswachsen.

Sie waren nicht das erste Mal hier. Vor vielen Jahren hatten sie an diesen Wänden geschworen, niemals zurückzukehren. Doch die Not hatte sie gebrochen. Und als sie an den eingeritzten Runen vorbeigingen, konnte der kleinere der beiden nicht anders, als kurz innezuhalten.

Sein Finger glitt über ein Zeichen – ein umgedrehtes Schwert, eingerahmt von zwei Kreisen.

„Der Schwur der Geteilten Klinge", flüsterte er so leise, dass der Wind es fast davontrug.

Der Größere warf ihm einen Blick zu, in dem Bitterkeit lag. „Keine Schwüre mehr", murmelte er.

Doch sie wussten beide, dass das eine Lüge war. Alles hier war ein Schwur – jeder Schritt, jeder Atemzug, jeder Tropfen Schweiß, den sie in den Sand der Schluchten vergossen.

Der Boden unter ihren Füßen veränderte sich. Feiner Staub wich grobem, schwarzen Gestein. Quarzausläufer zogen sich durch die Felsen, leuchteten schwach im Dämmerlicht, als würden sie auf ihre Berührung warten. Der kleinere Schmuggler kniff die Augen zusammen.

„Sie sind nah", murmelte er.

„Wir haben keine Wahl", kam die Antwort.

Der Größere ging in die Hocke, legte eine Hand auf den Boden.

Ein fast unhörbares Vibrieren stieg durch den Fels in seine Handfläche. Der Quarz summte, als würde er sie rufen. Unter seinen Fingern begann die vernarrte Haut zu kribbeln, als erwache sie zu eigenem Leben. Die alte Verbrennung, längst verheilt, schien plötzlich zu glühen, im selben Rhythmus wie der Quarz unter ihren Füßen.

„Der Stein ist heute unruhig", flüsterte der Kleinere.

„Er spürt sein Zuhause", antwortete der Größere, „und sein Zuhause ist nicht hier."

Sie zogen weiter, doch die Geräusche wurden lauter.

Ein Flüstern, das zu einem Raunen anschwoll. Erst glaubte der Kleinere, es sei der Wind, der durch die Spalten pfiff. Doch dann erkannte er, dass die Luft stillstand. Kein Lüftchen regte sich in diesem Teil der Schluchten.

Das Geräusch kam aus dem Gestein selbst. Ein Schaben, Kratzen – wie Nägel auf trockenem Stein. Der Kleinere sog scharf die Luft ein, sein Blick huschte über die Wände.

Er sah die ersten Zeichen. An manchen Stellen schien der Stein aufgeplatzt, als hätte etwas von innen versucht, sich nach außen zu graben. In den Rissen steckten Splitter von Zarharnil, schwarz und blutrot, scharf wie Glassplitter.

Zwischen den Spalten lagen Überreste.

Knochen – manche noch mit Fleischfetzen bedeckt, als wären sie erst kürzlich zerbrochen worden. Versteinerte Hände, die in den Stein eingekrallt waren, als hätten sie versucht, sich selbst zu retten, die Fingerknochen zu Kristallen verhärtet, die im fahlen Licht schwach glitzerten. Augenlose Schädel, deren stumme Münder in ewiger Stille geöffnet blieben. Aus manchen wuchsen feine Kristalladern, verbanden sie mit dem Gestein, als wären sie nie etwas anderes gewesen als Teil des Felsens.

„Sie haben es versucht", hauchte der Kleinere.

„Und sind gescheitert", ergänzte der Größere. Seine Stimme war fester, doch in seinen Augen lag ein Schatten.

Sie gingen schneller, doch je weiter sie kamen, desto stärker wurde das Summen in ihren Knochen. Das Bündel auf dem Rücken des Größeren schien schwerer zu werden, vibrierte leicht, als würde es seinen Träger locken, verführen – oder warnen. Mit jeder Berührung schien es wärmer zu werden, pulsierte sanft gegen seine Haut, als suche es nach einer Verbindung, einem Weg in sein Inneres. Er spürte, wie sein Herzschlag sich dem Rhythmus des Steins anzupassen begann, wie seine Gedanken klarer und gleichzeitig fremder wurden.

Plötzlich hielten sie beide inne.

Zwischen zwei Spalten stand eine Gestalt. Halb im Schatten, halb im Licht der schwach pulsierenden Quarzadern.

Ihr Körper war verhüllt in dunkle Tücher, doch das, was darunter hervorlugte, ließ ihnen das Blut gefrieren. Die Haut war von Rissen durchzogen, aus denen feine Quarzsplitter wucherten wie Dornen aus verdorbenem Fleisch. Die Augen – dort, wo einst Augen gewesen sein mussten – glimmten schwach in einem unnatürlichen Karmesinhot, als hätten sie das Licht des Zarharnil aufgenommen und würden es nun zurückwerfen wie zerbrochene Spiegel.

Ein Iz'kar. Ein vom Kristallfluch Befallener.

In den Hallen von Zir-Khaal flüsterte man von ihnen nur hinter vorgehaltener Hand. Niemand wusste genau, wie die Verwandlung begann – ob durch Berührung des Zarharnil, durch seinen Staub in der Luft oder durch die bloße Nähe zu den tiefsten Spalten. Doch das Ergebnis war immer das gleiche: Kristalle, die aus lebendem Fleisch wuchsen, die Knochen durchdrangen und den Willen brachen. Die Transformation war unumkehrbar, grausam in ihrer Langsamkeit.

Manche der Befallenen erstarrten vollständig, wurden zu grotesken Statuen, eingefangen in einem Moment des Schreckens. Andere – wie dieser hier – blieben aktiv, getrieben von einem fremdartigen Hunger, der sie alles angreifen ließ, was noch unberührt vom Kristall war. Als würden sie Gefährten in ihrem Leid suchen. Oder als würde der Zarharnil selbst durch sie hindurch nach neuen Wirten greifen.

Die Kael'Zir glaubten, der Ursprung dieser Mutation läge in einer zerstörten magischen Quelle tief unter den Schluchten. Eine Quelle, die durch den ersten Bruch der Welt verdorben worden war, deren Energie nun rückwärts floss – nicht Leben spendend, sondern Leben verzerrend.

Ein Schmuggler. Oder das, was von ihm übrig war.

Ein Schmuggler. Oder das, was von ihm übrig war.

„Götter..."

Der Kleinere machte einen Schritt zurück. Ein eisiger Schauer lief seinen Rücken hinab, während sich jedes Haar auf seinem Körper aufrichtete. Die Luft um die Gestalt schien zu vibrieren, als würden die Strömungen selbst vor ihr zurückweichen.

Die Kreatur bewegte sich nicht. Sie schien zu lauschen – den Kopf leicht geneigt, wie ein Tier, das Witterung aufgenommen hatte. An ihrem Hals hing eine zerbrochene Kette – das Symbol eines Kael'Zir-Hauses, das der Größere vage zu erkennen glaubte. Ein Schmuggler aus den östlichen Klippen vielleicht, der vor Monaten verschwunden war.

„Zurück", zischte der Größere, doch da war es zu spät.

Mit einem hässlichen Knirschen riss das Ding den Mund auf. Ein Schrei, so hoch und verzerrt, dass selbst der Fels zu beben schien, hallte durch die Schlucht. Es war kein menschlicher Laut mehr – es war das Lied des Zarharnil, das durch den entstellten Leib hallte. Der Klang ließ den kleineren Schmuggler auf die Knie fallen, die Hände an die Ohren gepresst, während Blut aus seiner Nase zu tropfen begann.

„Lauf!", brüllte der Größere. Er packte sein Schwert, zog es in einer fließenden Bewegung. Die Klinge fing das schwache Licht der Quarze ein, reflektierte es in einem matten Glühen. „Nimm das Bündel und lauf!"

Mit zitternden Händen nahm der Kleinere das Paket entgegen. Der Moment der Übergabe schien endlos – ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal. Keine Worte waren nötig. Sie wussten beide, dass nur einer von ihnen die Schluchten lebend verlassen würde.

Der größere Schmuggler wandte sich um, stellte sich zwischen die Kreatur und seinen Gefährten. Er hörte die hastigen Schritte hinter sich, das keuchende Atmen, dann das Verschwinden in den tiefen Schatten der Schluchten.

Die Kreatur bewegte sich, schabte über den Boden wie ein zerbrochenes Insekt. Ihr Kopf zuckte, als würde sie die Fährte aufnehmen – nicht mit Augen oder Ohren, sondern mit etwas anderem. Mit einem schrillen Kreischen stürzte sie vorwärts, schneller als jedes menschliche Wesen hätte sein dürfen.

Der größere Schmuggler schwang sein Schwert, spürte, wie die Klinge auf etwas traf, das weder Fleisch noch Stein war. Ein Knirschen, ein Funkenschlag, als würde Metall auf Kristall treffen. Die Kreatur taumelte zurück, doch nicht aus Schmerz – sondern aus Überraschung.

Er wusste, dass er sie nicht töten konnte. Niemand konnte. Man konnte nur Zeit kaufen. Zeit und Entfernung für den, der den Zarharnil trug.

Mit einem grimmigen Lächeln ging er in die Kampfhaltung, die er in der Arena von Zir-Khaal hunderte Male eingenommen hatte. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich wieder wie ein Krieger. Wie ein Kael'Zir.

Die Kreatur schrie erneut, und diesmal spürte er, wie der Klang durch seinen Körper schnitt wie eine physische Waffe. Blut sickerte aus seinen Ohren, doch er blieb stehen. Seine Hand am Schwertgriff zitterte nicht.

„Komm schon", flüsterte er. „Du hattest deinen Kampf. Jetzt gehört er mir."

Jede Ader des Zarharnil schien dem kleineren Schmuggler den Weg zu weisen – oder ihn tiefer ins Verderben zu locken. Der Stein unter seinen Füßen vibrierte, als würde er sein Herz aus dem Takt bringen. Seine Zunge schmeckte nach Metall, sein Atem wurde heißer, kratziger. Der Staub legte sich auf seine Haut wie ein zweiter Pelz, zog sich in seine Lungen, seine Adern, seine Gedanken.

Bei jedem Atemzug fühlte er, wie feine Kristallnadeln seine Luftröhre zerfetzten, wie flüssiges Feuer durch seine Bronchien strömte. Seine Beine wurden schwerer, als würde das Gestein selbst ihn festhalten wollen. Jeder Schritt kostete mehr Kraft als der letzte, jeder Herzschlag dröhnte in seinen Ohren wie Kriegstrommeln.

Er wagte es nicht, nach hinten zu sehen. Er wusste, dass es nichts mehr zu sehen gab. Doch die Bilder brannten sich trotzdem in sein Inneres: Die Gestalt seines Gefährten, die im Staub verschwand, der letzte Blick, das letzte Nicken, das lautlose Versprechen.

Seine Beine wurden schwerer. Das Bündel begann zu zittern – nicht nur in seinen Händen, sondern in sich selbst.

Es war, als würde der Zarharnil atmen. Als würde er mit ihm sprechen, in einer Sprache aus reinem Empfinden. Eine Sprache aus Hunger und Macht und etwas, das er nicht benennen konnte.

„Nicht hier... nicht jetzt..." keuchte er, versuchte die Worte zu schlucken, als könnte er die Wirklichkeit damit neu ordnen. Sein Blick verschwamm, während sich die Wände der Schlucht vor ihm zu verzerren schienen. Der Stein selbst schien plötzlich flüssig, atmend, lebendig.

Plötzlich tauchte vor ihm ein Riss im Boden auf. Einer der Alten Spalten – so tief, dass kein Licht ihn je berührt hatte. Aus der Dunkelheit stieg ein leises Summen auf, begleitet von einem kühlen Hauch, der nach verrottetem Gestein und altem Blut roch.

Ein Schritt zu weit, und er wäre gefallen.

Er blieb stehen, rang nach Luft, sein Blick schweifte umher. Die Klingenpfade endeten hier – ein toter Weg. Doch die Quarzadern unter seinen Füßen leuchteten stärker als je zuvor, pulsierten in einem hypnotischen Rhythmus, der ihn tiefer locken wollte.

Er ging in die Knie, legte das Bündel vorsichtig auf den Boden, seine Hände zitterten unkontrolliert. Die Rune auf seiner Stirn brannte, als würde sie von innen erhitzt, pulsierte im selben Takt wie der Zarharnil vor ihm. Er musste es hierlassen. Er konnte es nicht weitertragen.

Seine Finger glitten über das Leder. Zum ersten Mal erkannte er die feinen Risse darin, das schimmernde Glühen des Zarharnil, das schwach pulsierte wie ein schlagendes Herz. Jede Berührung sandte Schockwellen durch seinen Körper, ließ seine Nervenenden brennen, als würden sie zu glühendem Draht.

Dunkle Adern durchzogen den Stein, als wären es lebendige Venen, die nach einem neuen Wirt suchten. Im Inneren des Quarzes tanzten purpurne und blutrote Schleier, die ihn ansahen wie ein Auge aus einer anderen Welt.

„Du gehörst nicht hierher..." flüsterte er, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch.

Er nahm das Bündel noch einmal in die Hand, doch das Zittern hörte nicht auf. Es verstärkte sich. Das Vibrieren wurde zu einem leisen Pochen, einem Pulsschlag, der nicht seiner war. Der Quarz reagierte. Er konnte es spüren. Jede Faser seines Körpers rebellierte, sein Blut schien sich zu verdicken, als würde es selbst nach Stein greifen wollen.

Er spürte, wie sich das Zarharnil unter seinen Fingern bewegte, wie es versuchte, mit ihm zu verschmelzen, wie es nach seinen Strömungen griff, um sie zu verändern, zu verbiegen. Die Bindungsrune auf seiner Stirn glühte auf, schmerzte, als würde sie von innen heraus brennen.

Er biss die Zähne zusammen, versuchte den Schwindel zu unterdrücken. Doch der Zarharnil flüsterte bereits in seinen Gedanken – kein Klang, keine Sprache, sondern reine Empfindung. Macht. Gier. Hunger. Und etwas anderes... Etwas, das ihn an die trockenen Felder erinnerte, an die hungernden Kinder, an das, was er zu retten versuchte.

Seine Knie gaben nach, als ein stechender Schmerz durch seinen Brustkorb schoss, als würde ein glühender Draht sich durch seine Rippen bohren. Er presste die Zähne aufeinander, doch ein ersticktes Würgen entrang sich seiner Kehle. Blut sammelte sich an seinen Lippen, dunkel und dick wie Pech. Tropfen fielen auf den Staub zu seinen Füßen, zogen kleine, zitternde Muster in das trockene Gestein.

Er musste das Bündel loswerden.

Jetzt.

Mit letzter Kraft zerrte er es von seiner Brust und ließ es in die Spalte fallen. Es verschwand ohne Laut. Kein Echo. Kein Aufprall. Als hätte es nie existiert.

Er sackte zusammen, kauerte sich in den Staub, die Arme um seinen Körper geschlungen. Sein Blick verschwamm, als das Vibrieren langsam nachließ, doch das Kribbeln in seinen Adern blieb. Er wusste, es war zu spät. Der Stein war in ihm. Vielleicht nicht so tief wie bei jenen, die zu den Kreaturen wurden, die die Schluchten heimsuchten – aber tief genug, um ihn zu verändern.

Er starrte in die Dunkelheit der Spalte, flüsterte ein letztes Gebet an die Ewige Herausforderung, die jeden Krieger erwartete, der den Schwur gebrochen hatte.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrich. Vielleicht Stunden, vielleicht nur Minuten. Doch als er aufstand, war da nur noch Stille.

Kein Trommeln in der Ferne. Kein Flüstern im Stein. Keine Stimmen mehr.

Er war allein.

Langsam, mit schwerem Atem, machte er sich auf den Weg zurück durch die Schluchten. Jeder Schritt brannte. Jeder Gedanke wog schwerer als der letzte. Er hatte versagt – oder hatte er das?

Der Zarharnil war fort. Tief in den Spalten, wo ihn niemand mehr finden konnte.

Für den Moment.

Seine Beine trugen ihn zurück – nicht zum Ausgang der Schluchten, sondern tiefer in ihre verwitterten Wände. Er wusste, er würde nie mehr zurückkehren können. Nicht nach Zir-Khaal. Nicht in die Steppen. Nicht zu den Hallen, in denen Krieger ihre Schwerter niederlegten, wenn ihre Kämpfe vorbei waren.

Doch es gab einen letzten Ort, den selbst Verräter aufsuchen durften.

Die Halle der 100 Schwerter.

Es war kein Gebäude, keine Arena wie die anderen. Es war eine Senke im Gestein, ein heiliger Kreis aus schwarzem Obsidian, auf dem einst die größten Krieger ihre Klingen niedergelegt hatten. Niemand bewachte diesen Ort, denn niemand wagte, ihn zu entweihen.

Nur die Stimmen der Toten wachten hier – oder das, was von ihnen geblieben war.

Als er die Senke betrat, spürte er sofort die Veränderung. Die Luft war kühler hier, still wie das Innere eines vergessenen Tempels. Die Klingen der gefallenen Krieger glänzten im schwachen Licht der Quarze, manche blank, als hätte man sie erst gestern niedergelegt, andere verrostet, zerbrochen, verbogen – Zeugen verlorener Schlachten und gebrochener Eide.

Von den Wänden der kreisrunden Kammer starrten steinerne Gesichter auf ihn herab – die Masken der Ersten Krieger, in den Fels gehauen vor Jahrhunderten, ihre Augen leer und doch wachsam, als würden sie jeden Eindringling beurteilen.

Mit taumelnden Schritten erreichte er den Rand der Halle. Die Schwerter lagen noch da – verrostet, zerbrochen, manche blank, als hätte man sie erst gestern niedergelegt. Kein Krieger durfte eines berühren, es sei denn, er hatte es verdient.

Er fiel auf die Knie, riss den Dolch aus seinem Gürtel, den letzten, der ihm geblieben war. Nicht würdig genug für die Halle – aber es war alles, was er hatte.

Er legte ihn in den Staub, zwischen zwei der ältesten Klingen.

Ein stilles Zeichen.

„Ich habe versagt..." flüsterte er, seine Stimme heiser. „Aber ich habe gehalten, was ich konnte." Die Worte vergingen im Wind. Kein Echo. Keine Antwort. Er schloss die Augen und wartete. Auf den Tod. Auf das Urteil. Auf die Stimmen, die ihn holen würden. Doch nichts kam.

Nur der Wind.

Und das Flüstern der Schwerter, das durch die Zarrek-Schluchten hallte.

Ein Klang, den nur jene hörten, die den Schwur kannten – ein Versprechen, besiegelt unter dem Blick der Kriegsältesten.

Jahre später erzählten sich die Schmuggler in den schattenverhangenen Kammern von Kael'Zara eine neue Geschichte.

Von zwei Kriegern des Kriegerrats, die es beinahe geschafft hätten, das Zarharnil aus den verfluchten Schluchten zu bergen. Von einem, der nie zurückkehrte, dessen Name nur noch in rituellen Duellen geflüstert wurde. Und von einem, der in den tödlichen Zarrek-Schluchten verschwand, nur um Jahresläufe später als ein anderer zurückzukehren – mit Augen, die das fahle Schimmern des Knochenquarz widerspiegelten, und einem Herz, das nicht mehr im Takt der Kael'Zir schlug, sondern im gebrochenen Rhythmus der verdrehten Strömungen.

Sie sagten, der Zarharnil-Splitter sei nie wirklich verloren.

Nur verborgen in den Adern eines Verdammten.

Wartend auf jene, deren Blut stark genug war, die Strömungsbindung zu ertragen.

Und wenn der trockene Wind wieder durch die Steppen von Zir-Khaal strich, wenn der kupferfarbene Staub der Schluchten aufstieg und die alten Klingen in der Halle der 100 Schwerter zu flüstern begannen, dann erinnerten sich die Kriegsältesten an den Schwur. An die unsichtbare Last. An das Opfer, das ihre Welt vor dem Bruch bewahrt hatte.

Sie erinnerten sich an den Splitter im Blut, der in ihren Kriegern sang.

An den Schwur von Zarrek, der die Arena der Könige verstummen ließ.

Und an das Erwachen, das noch kommen würde, wenn der letzte Träger des verfluchten Minerals seine wahre Natur offenbaren und die ewige Herausforderung des Kael'Zir-Volkes auf die Probe stellen würde.

Chapter 3: Knochenquarz – Ernte aus dem Totenland

Chapter Text

Datum: Frühling, frühes Feymaris (Saatzeit, 344 n.K)  
Ort: Kareth'Zal, Gruben und Lager  
Figuren: Ein alter Minenarbeiter und sein lehrling

 


Es begann, wie es immer begann – mit Stille.

Nicht der Art von Stille, die Frieden bringt, sondern jener, die etwas verbirgt. Eine Stille, die atmet.
Kareth'Zal atmete nie flach. Es sog dich ein, langsam, bis du glaubtest, du wärst Teil des Gesteins selbst. Und irgendwann merkten die Schwachen es nicht mehr. Sie schlugen weiter auf die Adern ein, ohne zu spüren, dass etwas unter ihnen längst wach war. Doch Graufinger spürte es immer.
Er stand am Rand von Grube Neununddreißig, die Schultern schwer von nicht nur Jahren, sondern von Erinnerungen, die sich in sein Fleisch gruben wie Quarznadeln. Seine knochigen Finger umschlossen den Griff seines Erntehammers, vertraut als alter Freund, verhasst als alter Feind. Die Adern, die sich als schwarze, glimmende Linien unter seiner blassen Haut zogen, pulsierten schwach im schummrigen Dämmerlicht, synchron mit seinem schuldbeladenen Herzschlag. Knochenquarz – das Fluchmal seiner Lebensschuld. Pflicht, flüsterte ein Teil von ihm. Verrat, zischte ein anderer. Diese Stimmen begleiteten ihn seit dem Tag, an dem er zum ersten Mal einen Hammer gegen den lebenden Stein geschwungen hatte.

Der Himmel über Kareth'Zal war nicht mehr als ein vernarbtes Tuch aus Asche und blassem Licht, der Geruch von Schwefel und metallischem Staub so allgegenwärtig, dass nur Neuankömmlinge ihn noch bemerkten. Feymaris hatte begonnen, der zweite Monat im dreizehn-monatigen Zyklus des Jahres. Überall sonst in Kael'Zara würde man die Saat in die trockenen Felder treiben. Der Monat der Natur und Fruchtbarkeit würde mit den ersten zarten Grüntönen das Land schmücken, während Krieger sich zum Wettlauf der Stämme rüsten würden, gemäß der Tradition des Frühlings. In den Arenen von Zir-Khaal würde das Blut frischer Herausforderer den Boden färben – ein Opfer an die erwachenden Kräfte. Doch hier, tief unter den Atemlöchern der Erde, gab es keine Saat. Nur Splitter. Nur Staub. Nur Tod.

Er hörte Schritte sich nähern. Zu leicht, zu hastig, zu jung. Der Junge war pünktlich. Graufinger drehte sich langsam um, jede Bewegung ein bewusstes Abwägen zwischen Schmerz und Notwendigkeit. Der Lehrling war kleiner als erwartet. Zu schmal für einen Arbeiter, zu nervös für einen Kämpfer. Aber da war etwas in seinen Augen – ein Zittern, das nicht aus Angst geboren war, sondern aus der Art von Unruhe, die Graufinger gut kannte.
Energie. Ungebunden. Unkontrolliert. Der Junge sah den Stein. Er wusste es nur noch nicht.
„Du bist zu spät", brummte Graufinger, obwohl es nicht stimmte. Eine Angewohnheit aus tausend Belehrungen; kleine Grausamkeiten, um die große Grausamkeit erträglicher zu machen.
Der Junge senkte den Blick, aber das schnelle Zucken seiner Mundwinkel verriet, dass er die Lüge durchschaute. „Man hat mich geschickt. Zur Strafe." Die Stimme war fester, als Graufinger erwartet hatte. Gut. Er würde nicht lange überleben, wenn er sich schon vom ersten Wort beugen ließ.
„Wie heißt du?"
„Marn."
Ein gewöhnlicher Name. Wie Staub. Wie Stein. Wie alle Namen, bevor der Quarz sie fraß. Doch da war eine Kantigkeit in der Art, mit der der Junge ihn ausspuckte. Als würde er selbst schon den Geschmack seiner Bedeutungslosigkeit verachten. Graufinger musterte ihn genauer. Die Augen verrieten mehr, als Marn bewusst war – sie trugen den stumpfen Blick derer, die nie etwas anderes als die Mine gesehen hatten. Geboren im Lager, aufgewachsen in Ketten. Die Narben an seinen Handgelenken sprachen von frühen Jahren unter der Peitsche. Kein Wunder, dass er anders war als die anderen Lehrlinge, die Graufinger zuvor ausgebildet hatte. Die meisten kamen als Verurteilte, als Schuldner oder Kriegsgefangene hierher – sie kannten zumindest eine Zeit davor. Marn kannte nur Kareth'Zal, nur den Staub, nur die Peitsche. Sein Blick schweifte nie zum Horizont, denn er hatte keinen Begriff davon, was dahinter lag. Und dennoch... da war diese Unruhe in ihm. Diese Verbindung zum Stein, die Graufinger seit Jahren bei niemandem mehr gesehen hatte.
Graufinger drehte sich wieder zur Grube. Der Abgrund starrte zurück, gleich einem hungrigen Maul, das sich nie ganz schloss. Aus den Spalten drang ein leises Singen – so tief, dass man es mehr in den Zähnen als in den Ohren spürte. Die meisten nannten es das Knirschen des Gesteins. Graufinger wusste es besser.
„Die anderen sagen, du hast das Flüstern gehört."
Marn nickte langsam, als fürchte er, es laut zu bestätigen, als könnte das Aussprechen es realer machen als die Tatsache selbst. „Dreimal schon." Seine Stimme brach auf dem letzten Wort.
„Und? Hast du es verstanden?"
Stille. Dann ein unsicheres: „Nein."
Graufinger verzog die Lippen zu einem Lächeln, das mehr Narbe als Freude war. „Gut. Wer glaubt, es zu verstehen, stirbt schneller." Der bittere Nachgeschmack seiner eigenen Worte ließ ihn innerlich zusammenzucken. Wie viele hatte er das schon sagen hören? Wie viele hatte er selbst dabei verbraucht?
Marn schluckte sichtbar, sein Adamsapfel hüpfte in dem dünnen Hals gleich einem gefangenen Vogel. Doch seine Augen – bemerkte Graufinger – wichen nicht aus. „Warum habt ihr mich dann hergerufen?"

Eine gute Frage. Eine gefährliche Frage. Die Art von Frage, mit der Graufinger vor langer Zeit selbst begonnen hatte. Bevor der Quarz ihn gezeichnet hatte. Bevor er gelernt hatte, gleichzeitig zu dienen und zu hassen.
Er streckte die Hand aus, ließ den Ärmel seines abgetragenen Mantels zurückgleiten. Die schwachen Kristalladern unter seiner Haut leuchteten auf, kaum wahrnehmbar, doch da – gleich schlafenden Schlangen, die auf das nächste Opfer warteten. Er spürte ein Brennen, als würde flüssiges Metall durch seine Venen gepumpt. Zarharnil – das gefürchtete Mineral, das die Strömungen der Welt binden konnte, und das doch so begehrt war bei den Mächtigen.
„Weil ich der Letzte bin, der den Stein noch bändigen kann. Und weil das bald endet."
Er drehte sich zu Marn, zwang den Jungen mit seinem Blick, nicht auszuweichen. „Und weil du mein Erbe bist, ob du willst oder nicht."
Marn zog den Kopf ein, als hätte Graufinger zugeschlagen. Seine Finger ballten sich unbewusst zu Fäusten, dann entspannten sie sich wieder. Doch er floh nicht.
Wieder gut. Besser, als Graufinger gehofft hatte. Besser als er es verdient hatte.
Die Luft zwischen ihnen schien plötzlich dichter, als zöge der Stein selbst den Atem an sich. Graufinger konnte den metallischen Geschmack auf seiner Zunge schmecken, bitter und alt, gleich vergessenem Blut.

In den folgenden Tagen zeigte er dem Jungen, was kein Aufseher je erklären würde.
Wie man den Stein hört, bevor er spricht. Wie man ihn fühlt, bevor er zuschlägt. Wie man ihn führt, ohne von ihm gefressen zu werden.
Der Junge lernte schnell – zu schnell für jemanden, der nie die Kunst der Strömungslenkung erlernt hatte. Während Graufinger selbst fast ein volles Jahr gebraucht hatte, um die erste feine Resonanz zu spüren, schien Marn sie instinktiv zu erfassen. Vielleicht, dachte Graufinger bitter, war es gerade Marns Sklavendasein, das ihm half. Er hatte nie gelernt, seinen Sinnen zu misstrauen. Er hatte nie die Ablenkungen der Außenwelt gekannt, nie die Verwirrung der vielen Stimmen jenseits der Mine. Sein ganzes Leben war auf das Hier beschränkt gewesen, auf den Stein, auf den Staub in seinen Lungen.

Sie arbeiteten Seite an Seite, während oben der Kriegerrat seine Boten schickte. Männer in schweren Umhängen, deren Worte klangen wie Gesetz, aber hohl waren gleich den erschöpften Adern der oberen Minen.
Einer von ihnen blieb länger. Ein Gesandter mit glatter Haut, die zu sauber war für die Grube, und Augen, die alles sahen – außer die Wahrheit.
Salek Veylan, erinnerte sich Graufinger, obwohl der Mann seinen Namen nie genannt hatte. Er bewegte sich gleich einem, der gewohnt war, dass andere vor ihm zurückwichen. Seine Hände, makellos und ohne Schwielen, ruhten nie länger als nötig auf irgendetwas in den Minen. Als fürchtete er, der Schmutz könnte ansteckend sein.
Während er durch die Stollen schritt, flüsterten die Arbeiter, dass er aus dem Monat Veydris stammte – dem siebten Monat des Jahres, der mit Schatten und Geheimnissen verbunden war. Es hieß, dass die in diesem Monat Geborenen eine besondere Begabung für Täuschung und Verrat hätten. Graufinger glaubte nicht an solche Zeichen, und doch – der Name und das Gebaren passten zu gut zusammen, um es zu ignorieren.
Graufinger kannte diesen Blick. Er hatte ihn vor Jahren schon einmal gesehen, als einer der Blutgesandten ihn geprüft hatte. Die Art, mit der solche Männer über dich hinwegschauten, als wärst du nicht mehr als eine weitere Formation im Gestein. Doch er sprach nichts aus. Noch nicht.
Der Gesandte verlangte, dass man tiefer grub. „Die oberen Adern geben nicht mehr genug her", sagte er mit einer Stimme, die samtweich war und dennoch schnitt gleich einer Klinge. Er schien die Worte nicht zu sprechen, sondern zu formen, als wäre jedes einzelne ein kleines Kunstwerk der Beherrschung. „Wir brauchen mehr. Der Kriegerrat verlangt es."
Er sagte nicht: Ihr braucht mehr. Er sagte: Wir. Als ob er Teil dieses gebrochenen Ortes wäre. Als ob er je einen Hammer oder eine Sonde in der Hand gehalten hätte.
Graufinger widersprach nicht laut. Ein Flackern seines Blicks zu Marn genügte, um den Jungen zum Schweigen zu bringen, als dieser den Mund öffnete. Er wusste, was es brachte, wenn man den Rat in Frage stellte. Stattdessen senkte er den Blick – aber seine Gedanken fluchten, und in seinen Adern kochte der Quarz, als spürte er die Lüge.
Tiefer bedeutete Tod. Tiefer bedeutete, den Stein zu wecken.
Doch was bedeutete Schweigen? Das Gleiche.
Der Gesandte lächelte dünn, als Graufinger sein Zeichen der Unterwerfung zeigte. Ein Lächeln, das nicht seine Augen erreichte – kalt und berechnend gleich einem Feldherr, der seine Bauern opfert.
„Der Rat ist... besorgt über die Berichte vom Flüstern", sagte er beiläufig, während sein Blick über Marn glitt. „Es wäre unglücklich, wenn unerfahrene Arbeiter... Missverständnisse verbreiten würden."
Die Drohung stand unausgesprochen im Raum. Graufinger spürte, etwas in ihm sich verhärtete. Nicht aus Angst, sondern aus etwas Tieferem. Aus etwas, das er für längst begraben gehalten hatte.
Salek Veylan legte eine Hand auf Graufingers Schulter – eine Geste, die vertraut wirken sollte, aber sich anfühlte gleich dem Prüfen einer Ware. „Der Rat vertraut auf dich, Graufinger. Du warst immer... verlässlich."
Das Wort verlässlich klang gleich einem Urteil, einem Brandmal so tief, wie die Quartzadern selbst.
Als der Gesandte gegangen war, drehte Marn sich zu ihm um, die Augen weit und voller unausgesprochener Fragen. „Warum habt Ihr nichts gesagt? Über die tieferen Stollen? Über—"
„Weil Worte hier unten nichts bedeuten", unterbrach Graufinger ihn scharf. Dann, sanfter: „Außer die, die der Stein spricht."
Nachts saß er mit Marn am Rande der Grube, wo der Nebel aus den Spalten kroch gleich vergessenen Geistern. Der Geruch von feuchtem Stein und altem Eisen hing in der Luft, vermischt mit etwas Süßlichem, das niemand je benannt hatte.
Graufinger starrte in die Schwärze unter ihnen. Seine Finger zuckten unwillkürlich, als müssten sie selbst jetzt noch nach dem Hammer greifen, nach der Spitzhacke, nach allem, was ihn zur Maschine machte. Jahrzehnte der Pflicht hatten ihn ausgehöhlt gleich den Gängen unter ihnen.
„Du hast es gespürt, nicht wahr?"
Marn nickte langsam. Seine Finger strichen über den Boden neben ihm, fühlten die leisen Vibrationen, die kein normaler Arbeiter bemerkt hätte. „Es lebt."
Graufinger sah ihn scharf an. „Was hast du gespürt?"
„Wut. Hunger. Erinnerung." Die Antwort kam zu schnell, zu sicher. Nicht das nervöse Gestammel eines Anfängers, sondern die ruhige Klarheit eines Vertrauten.
Graufinger schloss die Augen, unterdrückte ein Zittern, das nichts mit Kälte zu tun hatte.
„Du bist weiter, als ich dachte."
Marn schwieg lange, sein Atem formte kleine Nebelschwaden in der kalten Luft der Nacht. Als er schließlich sprach, war seine Stimme leise, aber fest. „Sie sagen, der Stein sei nur... Stein. Dass wir uns das Flüstern einbilden." Er schluckte. „Aber das stimmt nicht, oder? Es... es will etwas."
Ja, dachte Graufinger. Es will uns alle.
„Sind wir deshalb hier?" fragte Marn weiter, mit einem Anflug von Bitterkeit, die einem so jungen Menschen nicht zustand. „Um den Stein zu beruhigen, während sie ihn rauben?"
Graufinger lachte kurz, ein trockenes, rasselndes Geräusch, das mehr aus Gewohnheit als aus Belustigung kam. „Wir sind hier, weil wir austauschbar sind, Junge. Weil wir weniger wert sind als das, was wir bergen." Er sah Marn direkt an. „Außer für einander."
Er erinnerte sich an die ersten Tage in der Mine, vor mehr Jahren, als er sich eingestehen wollte. Er war anders gekommen als Marn – nicht als Geborener, sondern als Gefallener. Ein Krieger, dessen Ehre zerbrochen war gleich einem alten Schwert. Damals, in den Tagen des Kaelmaris – dem achten Kriegsmonat des Jahres – hatte er einen Befehl verweigert. Keine große Heldentat, nur ein Moment des Zweifels, der alles kostete.
Sie hatten ihn nicht getötet. Das wäre zu gnädig gewesen. Stattdessen war er hierher geschickt worden, in die Zarrek-Schluchten, um Zarharnil zu schürfen – das verbotene Material, das in den falschen Händen die Strömungen brechen konnte. Die Ironie war nicht verloren gegangen: Der Mann, der sich geweigert hatte, Leben zu nehmen, verbrachte nun seinen Rest damit, den Tod aus der Erde zu holen.

Am dritten Tag zeigte er Marn den verbotenen Weg.
Nicht den Pfad der Aufseher, breit und gut beleuchtet.
Und nicht den Weg der Arbeiter, ausgetreten und sicher.
Sondern den, den nur die Quarzlenker kannten.
Hinab zu den uralten Kammern. Dorthin, wo der Zarharnil selbst den Stein gebrochen hatte.
Der Gang war eng, die Decke so niedrig, dass selbst Marn gebückt gehen musste. Die Luft war schwer von altem Blut und versteinerten Schreien – metallisch und süßlich zugleich, als hätte sich der Tod selbst mit dem Stein vermischt. Die Wände pulsierten schwach, nicht sichtbar, sondern spürbar, als führten unsichtbare Strömungen durch den Fels. Bei jedem Schritt zitterte der Boden unter ihren Füßen, eine winzige Erschütterung, ein leises Flehen oder Warnen.
Marn berührte die Wände mit den Fingerspitzen, und Graufinger sah das Zittern in seinen Schultern. Nicht aus Angst – das wäre verständlich gewesen. Aus etwas anderem. Aus... Erkennen.
„Warum zeigt ihr mir das?"
Die Stimme des Jungen war kaum ein Flüstern, als fürchte er, der Gang selbst könnte ihn hören.
Graufinger blieb stehen, die Fackel in seiner Hand warf gespenstische Schatten auf sein vernarbtes Gesicht. Er drehte sich langsam zu Marn um, jede Bewegung überlegt, als ginge er mit einem scheuen Tier um.
„Weil du sonst für sie stirbst. Wie ich. Wie alle vor mir." Er hob die Hand, ließ das schwache Leuchten seiner Kristalladern heller werden. Sie pulsierte im Rhythmus seines Herzschlags – ein schmerzhaftes Pochen, als versuchte etwas, sich durch seine Haut zu schneiden.
„Sie haben uns benutzt. Uns gebrochen. Weil wir die einzigen sind, die den Stein noch beruhigen können."
Der Schmerz in seinen Adern war konstant, gleich flüssigem Feuer, das durch seine Venen floss. Jedes Körnchen Zarharnil, das er über die Jahre eingeatmet hatte, hatte sich festgesetzt, hatte die natürlichen Strömungen seines Körpers verzerrt und verdreht, bis er mehr Mineral als Mensch war. Er trug den Fluch in seinen Knochen – die feinen Nadeln, die selbst Stein durchbohren konnten, die seine Kreisläufe gefangen hielten in einem ewigen Tanz zwischen Leben und Tod.
Als er vor dreißig Jahren zum ersten Mal den Staub eingeatmet hatte, hatten sie ihm gesagt, er würde nicht länger als fünf Jahre überleben. Die meisten Quarzarbeiter starben schnell – ihre Lungen zerfielen, ihr Blut gerann, ihre Knochen wurden brüchig. Doch bei Graufinger war etwas anderes geschehen. Der Quarz hatte ihn nicht getötet. Er hatte ihn verändert.
Jetzt, in den tiefen Stollen, wo das Flüstern am stärksten war, konnte er die Verbindung spüren – die Resonanz zwischen dem Quarz in seinen Adern und den lebenden Adern im Stein. Er konnte das Mineral lenken, beruhigen, manchmal sogar biegen. Es war kein Geschenk. Es war ein Fluch, der ihn am Leben hielt, nur um weiter zu dienen.
Er spürte die Bitterkeit in seiner Kehle aufsteigen gleich altem Gift. Wie oft hatte er sich diese Worte im Stillen vorgesagt? Wie oft hatte er sie unterdrückt, aus Furcht, aus Gewohnheit, aus der verzweifelten Hoffnung, dass er falsch liegen könnte?
Marn schüttelte den Kopf, als könnte er damit die Wahrheit abschütteln gleich Regentropfen. „Aber warum? Was… was ist das hier wirklich?"
Graufinger nickte in die Dunkelheit vor ihnen. Seine Augen glänzten im Fackellicht gleich feuchtem Stein. „Sieh selbst."
Sie traten in eine Kammer, so groß, dass selbst das Licht der Fackel nicht bis zu den Rändern reichte. Die Decke verlor sich in der Schwärze, als gäbe es keine Grenze zwischen Erde und Leere. Der Boden war nicht eben, sondern abschüssig, gleich einem Trichter, der zu etwas in der Mitte führte.
Und dort... Der Stein. Nicht abgebaut oder gebrochen.
Lebendig.

Ein gewaltiger Kern aus purem Zarharnil, pulsierend gleich einem Herz, das nie aufgehört hatte zu schlagen. Es leuchtete schwach in einem Licht, das nicht vom Feuer kam – ein tiefes, pulsierendes Schwarzviolett, das Schatten warf, die sich bewegten, wenn man nicht hinsah. Schwarze Adern zogen sich über Wände und Boden, schlugen Wellen in die Luft selbst, als webten sie ein unsichtbares Netz aus schmerzhafter Schönheit.
Das Flüstern hier war kein einzelner Ton, sondern ein Chor – hunderte Stimmen, tausende, die gleichzeitig sprachen, sangen, stöhnten, schrien. Nicht laut genug, um die Ohren zu verletzen, aber so eindringlich, dass jeder Nerv im Körper zu vibrieren schien.
Marn starrte mit offenem Mund, das Gesicht ein Gemisch aus Ehrfurcht und Grauen. Der Kern spiegelte sich in seinen geweiteten Pupillen gleich einem dunklen Stern. „Was… was ist das?"
Graufinger trat näher, sein Gesicht von dem violetten Leuchten gezeichnet wie eine Maske. „Das ist der Ursprung. Der erste Riss, den sie nie gestopft haben. Der Anfang vom Ende."
Der Kern pulsierte stärker, als hätten Graufingers Worte ihn berührt. Die Adern an den Wänden zuckten gleich verwundeten Schlangen. Marn wich zurück, stieß gegen die Wand hinter ihm. Sein Atem ging flach und schnell. „Es ist... wunderschön", flüsterte er. „Und furchtbar."
Graufinger nickte langsam. „Wie alles, was mächtiger ist als wir."
Graufinger wusste, dass der Junge nicht verstehen konnte, was er da vor sich sah. Niemand verstand es beim ersten Mal. Auch er hatte es damals nicht geglaubt, als sein eigener Lenker ihn hierher gebracht hatte. Und dennoch war es die einzige Wahrheit, die in Kareth'Zal Bestand hatte: Der Quarz war nicht einfach nur Stein. Er war Erinnerung. Er war Hunger. Er war das Erbe derer, die hier gestorben waren.
„Sie sagen, die Risse seien Geschichte", begann Graufinger leise. „Etwas, das längst vergangen ist. Eine alte Narbe an der Welt." Er trat näher, der Boden unter seinen Füßen vibrierte gleich einer schlafenden Kreatur, die im Traum zuckt.
„Aber dieser Riss ist hier. Und er lebt."
Die Legenden über den Zarharnil gingen tiefer als die offiziellen Verbote und Warnungen. In den ältesten Geschichten, die die Mütter im Lager ihren Kindern zuflüsterten – wenn die Aufseher nicht zuhörten – hieß es, dass die ersten Risse in den Tagen des Elytharis entstanden waren. Im neunten Monat, dem "Verlorenen Monat", als die Grenzen zwischen den Welten dünn waren gleich Morgennebel. Es hieß, ein törichter Zauberer habe versucht, die Strömungen zu binden, sie in eine Form zu zwingen, die gegen ihre Natur war. Der Zarharnil war seine Schöpfung – oder sein Fluch. Ein Material, das die Strömungen nicht nur lenken, sondern brechen konnte.
Die Risse, so erzählten die Geschichten, waren sein letztes Vermächtnis – klaffende Wunden in der Welt selbst, durch die die verdrehten Strömungen immer noch bluteten.
Marn trat einen Schritt zurück, der Atem flach, als würde die Luft selbst ihn erdrücken. „Das… das ist Wahnsinn."
Graufinger wandte sich langsam zu ihm um. In seinem Gesicht lag keine Wut, nur eine müde Gewissheit. „Ist es? Oder ist es Wahnsinn, zu glauben, wir könnten ihn ewig bändigen, während wir tiefer und tiefer graben?"
Er ließ den Blick durch die Kammer schweifen. Seine Stimme wurde leiser, fast vertraulich. „Dieser Ort war einmal verschlossen. Vor Generationen. Es hieß, keiner dürfe ihn betreten. Die alten Lenker haben ihr Leben gegeben, um den Eingang zu versiegeln."
Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen. „Doch die Aufseher kamen zurück. Weil der Quarz oben zu schwach wurde. Weil der Rat immer mehr verlangte." Seine Stimme wurde bitter, jedes Wort ein Splitter. „Und weil sie wussten, dass es uns gab. Die Lenker. Die, die den Preis bezahlen."
Der Kern pulsierte, als antworte er auf Graufingers Worte. Das Flüstern wurde lauter, dringender, als sprächen tausend Münder auf einmal.
Marn schwieg lange. Seine Hände zitterten, aber nicht mehr aus Angst. Etwas anderes hatte die Furcht verdrängt – ein Feuer, das selbst in diesem kalten Ort zu brennen begann. Als er den Blick hob, war etwas anders in seinen Augen. Etwas, das Graufinger lange nicht mehr gesehen hatte: Zorn.
„Was wollt ihr von mir?" zischte der Junge, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, aber scharf gleich einer Klinge. „Soll ich euch ersetzen? Weiterleben, nur um den Stein zu bändigen, bis ich auch so werde wie ihr? Bis ich..." Er stockte, deutete auf Graufingers Arme, auf die pulsierenden Adern darin.
Graufinger schloss kurz die Augen. Der alte Schmerz, der ihn nie verließ, flammte stärker auf, als hätte der Kern ihn angestachelt. „Nein, Junge. Ich will, dass du lernst, ihn zu befreien."
Marn starrte ihn an, als hätte er ihn nicht richtig verstanden. Die Luft in der Kammer schmeckte nach Metall und etwas Undefinierbarem – gleich Verfall und Ewigkeit zugleich. „Was?"
Graufinger trat näher, seine Haut im gedämpften Licht seltsam durchscheinend, die feinen Kristalladern unter seiner Haut pulsierten schwach in einem unnatürlichen violetten Ton. Als er sprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Hauch, der sich verteilte gleich feinem Staub im Raum, aber jedes Wort schien in der Kammer widerzuhallen, als würde der Zarharnil selbst mitschwingen. „Sie halten uns, um den Stein zu fesseln. Um das Gleichgewicht zu bewahren." Ein feines Knistern ging von seinen Armen aus, als würden winzige Nadeln unter seiner Haut brechen. „Doch das Gleichgewicht ist längst gebrochen. Alles, was wir tun, ist, das Verfaulen zu verzögern."
Er zeigte auf den Kern, der pulsierte gleich einem grotesken Herz vor ihnen. Mit jedem Schlag sickerte ein zartes, krankes Leuchten durch die Wände, ließ Schatten tanzen gleich Geistern einer vergessenen Zeit. „Dieser Ort... ist die letzte Hoffnung, dass etwas anders werden könnte."
Marn wich einen Schritt zurück, als müsste er Abstand zwischen sich und die Worte bringen. Ein feiner Film aus schimmerndem Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Im flackernden Licht des Kerns wirkten seine Augen wie dunkle Abgründe. „Ihr wollt den Riss... öffnen?" Seine Stimme brach, rau wie Stein auf Stein.
Graufinger schüttelte den Kopf. Ein leises Knirschen ging von seinem Nacken aus, als würden feine Quarzsplitter aneinander reiben. „Nein. Ich will ihn lösen. Die Stimmen darin befreien. Die Geister, die gefangen sind." Seine Stimme brach kurz, und in dieser Pause war das leise Singen des Steins deutlicher zu hören – nicht nur in den Ohren, sondern in den Knochen, ein fernes Lied aus einer anderen Welt. „Vielleicht... vielleicht finden sie dann Frieden. Vielleicht finden wir ihn alle."
Der Kern pulsierte stärker, schneller, als hätte er Graufingers Absicht verstanden. Das Flüstern wurde zu einem Summen, einem Vibrieren, das durch den ganzen Körper ging wie Fieber. Die Luft selbst schien dichter zu werden, mit jedem Atemzug schwerer, als würde man flüssiges Glas einatmen. Marns Gesicht war eine Maske aus Entsetzen und Faszination. Seine Finger zuckten unwillkürlich, als spürten sie bereits die feinen Nadelstiche des Zarharnil. „Und wenn nicht? Wenn es... etwas Schlimmeres gibt als das hier?"
Graufinger lachte leise, ein Geräusch wie brechendes Glas, das in der Kammer widerhallte und sich mit dem tieferen Pulsieren des Kerns vermischte. Feine Risse erschienen auf seiner Wange, durch die ein schwaches Leuchten drang wie Morgenlicht durch Kristall. „Schlimmer als langsam zu sterben, während dein Körper zu Kristall wird? Schlimmer als zu wissen, dass du nur lebst, um ein Monster zu füttern?" Er schüttelte den Kopf. Ein feiner Regen aus kristallinem Staub rieselte von seinen Schultern, schwebte in der Luft wie winzige Lichter. „Was könnte schlimmer sein als eine Ewigkeit in dieser Hölle?"

In jener Nacht kam der Gesandte zu ihnen. Nicht allein.
Drei Wachen begleiteten ihn, schwer gerüstet, Gesichter verborgen hinter den Masken der Blutgesandten – poliertes Metall, das im Fackellicht wie flüssiges Silber glänzte und keine menschlichen Züge erkennen ließ. Ihre Rüstungen schienen das Licht zu verschlucken und dennoch zurückzuwerfen wie die Oberfläche des Zarharnil selbst – eine Warnung in stiller Form. Sie bewegten sich mit der präzisen Gleichmäßigkeit von Männern, die im Gleichschritt des Krieges ausgebildet worden waren. Ihre Rüstungen klirrten nicht, ihre Schritte waren leise wie die einer Raubkatze trotz des schweren Stahls, den sie trugen. Die Luft um sie schien zu vibrieren, als würden unsichtbare Strömungen sie umfließen.
Graufinger erkannte die Haltung sofort. Zu aufrecht. Zu kontrolliert. Er kannte diese Schule. Diese Art zu atmen, tief und gleichmäßig wie die alten Strömungen selbst. Die Art, ihre Präsenz den Raum füllen zu lassen, ohne ein Wort zu sprechen, wie ein nahender Sturm, der die Luft verdichtet, bevor er zuschlägt. Er kannte diesen Mann.
„Kaelis Veydris", hauchte Graufinger, kaum hörbar, ein Name aus einem früheren Leben, bitter wie verbrannte Asche auf seiner Zunge. Doch es war nicht Kaelis. Es war jemand anderes. Jemand, der einst mit ihm unter denselben Bannern gekämpft hatte, lange bevor Graufinger in den Gruben verschwand, bevor der Knochenquarz begann, seine Adern zu durchziehen. Ein Schatten aus einer Vergangenheit, die er begraben geglaubt hatte.
Der Gesandte trat vor, die Wachen hielten Abstand – nicht weit genug, um zu zeigen, dass sie ihn nicht schützten, aber weit genug, um zu demonstrieren, dass er keinen Schutz brauchte. Feine Linien durchzogen den Boden unter seinen Füßen, als würde der Stein selbst vor seiner Berührung zurückweichen. Salek Veylan bewegte sich mit der geschmeidigen Eleganz eines Mannes, der nie für sein Leben kämpfen musste, und gleichzeitig mit der kaum wahrnehmbaren Anspannung eines Raubtiers. Seine Stimme war ruhig, gefährlich, das leise Knirschen eines Messers auf Stein, das Splittern von Zarharnil-Kristallen unter zu viel Druck.
„Es gibt Berichte über instabile Vorkommen. Über Ungehorsam. Der Kriegerrat verlangt Antworten."
Er sagte es nicht als Frage, sondern als eine Feststellung. Als läge die Schuld bereits offen vor ihnen wie ein aufgeschlagenes Buch, und das Gespräch sei nur eine Formalität vor dem Urteil. Die Luft in der Kammer wurde kälter, als würden die Strömungen selbst vor seiner Stimme weichen.
Graufinger stand ruhig, sein Atem ein leichter Nebel in der plötzlichen Kälte. Er ließ den Ärmel seines Mantels langsam nach hinten gleiten, sodass die leuchtenden Kristalladern sichtbar wurden. Sie pulsierten schneller als sonst, wie ein Fieber, das durch seinen Körper raste, tausend kleine Nadeln, die unter seiner Haut tanzten. „Antworten wollt ihr? Hier sind sie: Der Stein ist nicht mehr zu bändigen."
Marn zuckte hinter ihm zusammen, als hätte Graufinger ihn geschlagen, ein scharfes Einatmen, das in der Stille klang wie reißender Stoff. Doch der alte Mann hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Seine Finger zitterten leicht, nicht aus Schwäche, sondern aus einer tiefen, unterdrückten Wut, die seit Jahren in ihm schwelte. „Ihr haltet ihn mit Lenkern wie mir am Leben. Doch das Leben, das ihr euch nehmt..." Seine Stimme wurde rauer, als würden scharfe Kristalle seine Kehle schneiden. „Es ist kein Gleichgewicht. Es ist ein Raub." Er spuckte das letzte Wort aus wie Gift. Auf dem Boden schien die Spucke für einen Moment zu glimmen, violett wie die Adern in seinem Arm, bevor sie erlosch.
Der Gesandte trat einen Schritt näher. Das Licht fiel schärfer auf sein Gesicht, schnitt tiefe Schatten in seine Züge. Seine Haltung änderte sich kaum, aber etwas in seinen Augen veränderte sich – eine Kälte, die nicht von dieser Welt zu sein schien, als hätte er jenseits der Risse in die Leere gesehen und sie hätte zurückgeblickt. „Ihr habt den Jungen geführt. In die verbotenen Kammern. Ihr wisst, was das bedeutet."
Es war keine Frage. Es war eine Feststellung, hart und unerbittlich. Sein Blick glitt zu Marn, musterte ihn mit der kühlen Berechnung eines Metzgers, der ein Tier taxiert, oder eines Minenarbeiters, der einen Stein auf seinen Wert prüft.
Graufinger hob den Kopf, der Schmerz in seinen Armen ein ständiges Brennen, als würden tausend winzige Kristalle durch seine Haut schneiden wollen. Er ließ die Bitterkeit in seiner Kehle frei, die er so lange zurückgehalten hatte. „Es bedeutet, dass ich mehr verstehe als ihr alle zusammen."
Die Wachen bewegten sich, eine kaum wahrnehmbare Anspannung, die durch ihre Körper lief. Metall klirrte leise, als Hände sich um Waffengriffe schlossen. Die Luft im Raum verdichtete sich, wurde schwer vor einem Gewitter, geladen mit einer Spannung, die fast greifbar war.
Doch Graufinger war schneller. Mit einer Bewegung, zu fließend für einen so alten Mann, ließ er die Schwärze des Quarzes in seinen Armen aufleuchten. Das Knirschen seiner Haut war zu hören, ein Geräusch wie brechendes Pergament, als würde etwas von innen herausbrechen wollen. Seine Haut riss auf, feiner als Papier, und das Licht, das herausbrach, war nicht das sanfte Leuchten von zuvor, sondern ein hungriges, wildes Flackern, das den Raum in violette Schatten tauchte.
Der Stein antwortete.
Die Wände vibrierten, zuerst sanft, dann stärker, ein tiefes Grollen, das mehr zu spüren als zu hören war, bis kleine Steinchen von der Decke rieselten. Die Luft wurde dichter, schwerer, als würde sie selbst zu Stein werden wollen.
Die Kammer begann zu pochen, als wäre sie selbst ein gigantisches Herz, ein uralter Organismus, der aus seinem Schlaf erwachte. Mit jedem Schlag schien das Licht zu pulsieren, Schatten tanzten an den Wänden.

Marn wich zurück, die Augen weit vor Schrecken und – etwas anderem. Etwas, das Graufinger als Erkennen deutete, ein Funke von Verständnis in einem Meer aus Verwirrung. „Was macht ihr?" Seine Stimme klang dünn, zerbrechlich und schneidend zugleich.
Graufinger lächelte schwach, ein Riss in einer Maske aus Schmerz und Entschlossenheit. Feine Linien aus violettem Licht zogen sich über sein Gesicht. „Ich tue, was sie nie gewagt haben."
Der Gesandte schüttelte langsam den Kopf, seine Bewegung die eines Mannes, der einem Wahnsinnigen gegenübersteht. Doch in seinen Augen flackerte etwas, das Graufinger schon oft gesehen hatte – echte Furcht, rein und unverfälscht. „Du Narr", flüsterte er, seine Stimme nun ohne die frühere Kontrolle, roh wie frisch gebrochener Stein. „Weißt du, was du da entfesselst?"
Graufingers Lächeln wurde breiter, offenbarte Zähne, die im violetten Licht schimmerten wie polierter Knochenquarz. Aber sein Blick blieb hart, unerbittlich. „Besser als du, Veylan. Ich trage es seit dreißig Jahren in meinen Knochen."
Es brach alles gleichzeitig.
Die Wände splitterten mit einem Geräusch, das klang, als würde die Welt selbst zerreißen – ein Ton so tief und gewaltig, dass er nicht nur gehört, sondern in jeder Faser des Körpers gespürt wurde. Schwarze Risse zuckten über den Boden, öffneten Abgründe, die nach oben zu wachsen schienen, als würde die Schwerkraft selbst sich umkehren.
Der Gesandte schrie einen Befehl, seine Stimme zum ersten Mal ihrer kühlen Kontrolle beraubt, schrill wie brechendes Eis über einem zu tiefen See. Doch der Stein hörte nicht mehr auf ihn. Auf niemanden mehr. Die Strömungen selbst schienen sich umzukehren, zu verdrehen.
Die Iz'kar erwachten.

Sie krochen aus den Rissen, aus den Adern selbst, als hätten sie nur auf dieses Signal gewartet. Kristallüberzogene Leiber, die sich aus dem Stein lösten, mit Gliedmaßen, die mehr an Klingen als an Arme erinnerten – geschaffen nicht aus Fleisch, sondern aus lebendigem Zarharnil, jede Bewegung ein Lied aus Kristall und Schmerz. Ihre 'Gesichter', wenn man sie überhaupt so nennen konnte, waren nichts als glatte Flächen mit Rissen, aus denen ein violettes Glühen drang – Wunden, die nie heilen würden.
Graufinger packte Marn, zog ihn hinter sich mit einer Kraft, die nicht allein die seine sein konnte. Der Geruch von verbranntem Fleisch und etwas Älterem, Fremderem – Ozon nach einem Blitzschlag, Zeit, die rückwärts fließt – erfüllte die Luft. Der Schmerz in seinen Armen war jetzt ein Inferno, als würde sein Fleisch von innen verbrannt.
„Jetzt verstehst du es", knurrte er durch zusammengebissene Zähne, und seine Stimme klang wie das Knirschen von Steinen in einer Mühle. „Der Stein schläft nie. Er wartet. Und heute... wacht er auf."
Die Wachen waren schnell, bewegt mit der Präzision jahrelangen Trainings, aber nicht schnell genug für etwas, das nie zuvor gesehen wurde. Die Iz'kar brachen über sie herein, zerfetzten Fleisch und Metall mit kristallenen Klauen, die durch Rüstungen schnitten. Das Geräusch war furchtbar – nicht das erwartete Klirren von Metall auf Metall, sondern ein hohes Singen, als würden Gläser zerbrechen, vermischt mit dem dumpfen Geräusch reißenden Fleisches.
Der Gesandte schrie, ein Klang, der mehr Tier als Mensch war, ein Urlaut aus einer Zeit, bevor die Sprache geboren wurde. Doch der Stein verschluckte seine Stimme.
Marn zog an Graufingers Arm, sein Gesicht ein Gemisch aus Entsetzen und wildem Staunen. Seine Fingerknöchel waren weiß vor Anspannung, und seine Stimme zitterte. „Wir müssen fliehen!"
Graufinger drehte sich langsam zu ihm. In seinen Augen lag eine seltsame Ruhe, als hätte er endlich Frieden mit etwas gemacht, das ihn sein Leben lang verfolgt hatte. „Nein, Junge. Du gehst. Ich bleibe." Der Kristall in seinen Armen pulsierte stärker, ein zweites Herz, das mit seinem eigenen um die Wette schlug.
Marn riss die Augen auf, schüttelte heftig den Kopf. In seinem Blick lag pure Panik. „Nein! Ich... ich kann das nicht allein!" Seine Stimme brach, und für einen Moment sah Graufinger nicht den angehenden Lenker, sondern nur einen verängstigten Jungen, der zu viel gesehen hatte.
Graufinger lächelte traurig. Seine Hand, jetzt mehr Kristall als Fleisch, strich über Marns Wange – eine väterliche Geste, die er sich nie zuvor erlaubt hatte, rau wie Sandpapier auf junger Haut. „Doch. Du bist weiter, als ich je war." Seine Stimme war sanft, fast liebevoll, ein Kontrast zu dem Chaos um sie herum. „Und du wirst nicht meine Fehler wiederholen."
Er schob den Jungen zur Seite, ließ seine Hände aufleuchten, bis die Adern unter seiner Haut flammten. Der Quarz brach durch seine Haut – nicht langsam und quälend wie all die Jahre zuvor, sondern in einer explosiven Befreiung, formte Dornen und Splitter, die nach außen stachen. Der Geruch von Blut und etwas Älterem, Mineralischem, erfüllte die Luft – frisch gebrochener Stein, die Tiefe der Erde selbst.

Das Flüstern des Steins war jetzt ein Brüllen in seinen Ohren, ein Orchester aus Wut und Verlangen, das jeden anderen Gedanken verschlang. Die Temperaturen in der Kammer schwankten wild – einen Moment eisig kalt, im nächsten glühend heiß, als würden die Grenzen zwischen den Elementen selbst verschwimmen.
„Lauf!", brüllte er, nicht mehr ganz menschlich, seine Stimme ein Chor aus tausend gebrochenen Kristallen.
Marn zögerte einen Moment zu lang, gefangen zwischen Entsetzen und einer seltsamen Faszination. Doch dann, als eine der Iz'kar-Kreaturen sich in seine Richtung drehte, ihre kristallenen Glieder ein hohes Singen von sich gebend, gehorchte er. Er rannte, stolperte den Gang hinauf, den sie gekommen waren, seine Schritte ein verzweifelter Rhythmus gegen das Chaos hinter ihm.
Graufinger wandte sich dem Kern zu, der nun wie ein wahnwitziger Herzschlag pulsierte, jeder Schlag ein Stoß gegen die Grenzen der Realität selbst. Er spürte die Stimmen, das Flüstern, das Bitten – klarer jetzt als je zuvor, eine Melodie, die man endlich richtig hört, nachdem man sie ein Leben lang nur falsch summen konnte. Es waren nicht einfach nur Geräusche. Es waren Worte. Erinnerungen. Leben, die hier gefangen waren, verschlungen vom Stein über Jahrhunderte.
Nicht um Macht baten sie, nicht mit der gierigen Verzweiflung der Lebenden. Nicht um Kontrolle, nicht mit dem kalten Kalkül der Herrschenden. Um Freiheit. Mit der stillen Würde derer, die zu lange gelitten haben.
Er trat in die Mitte der Kammer, jeden Schritt ein Kampf gegen den Schmerz, der seinen Körper zu zerreißen drohte. Die Luft um ihn herum schien zu brennen, zu schimmern. Er hob beide Arme, ließ den Quarz in sich singen – nicht mehr gegen den Stein, sondern mit ihm, ein Instrument, das endlich richtig gespielt wird. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten kämpfte er nicht gegen das Flüstern an. Er wurde eins mit ihm, verschmolz mit dem Rhythmus, der älter war als die Menschen selbst.
Die Iz'kar hielten inne. Ihre Bewegungen, zuvor flüssig, wurden langsamer, fast zögernd.
Sie sahen ihn. Hunderte von glühenden Rissen, die sich auf ihn richteten. Und er sah sie. Sah durch sie hindurch, zu dem, was sie einst gewesen waren, bevor der Stein sie nahm, bevor die Strömungen verdreht wurden – Gesichter, die in Kristall gefangen waren.
„Kein Besitz mehr", flüsterte er, und seine Stimme war das Knirschen von Kristall auf Kristall. „Nai xor'mir." Die Worte sanken in die Stille. Seine Stimme war klar, trotz des Blutes, das seine Lippen benetzte, rot wie die untergehende Sonne auf poliertem Quarz. „Nur das Ende."
Er schlug beide Fäuste in den Boden.
Der Kern brach.

Es war nicht ein einfaches Zerbrechen, ein Splittern. Es war ein Auseinanderreißen der Wirklichkeit selbst, als würde ein Vorhang zerreißen, hinter dem eine andere, ältere Welt wartete. Ein Ton erklang, so tief, dass er nicht gehört, sondern nur gefühlt werden konnte – in den Knochen, in der Seele, das letzte Echo eines vergessenen Gottes.
Die Grube stürzte ein.
Ein Beben riss durch Kareth'Zal, ließ die Gerüste ächzen und die Stollen kollabieren. Das Geräusch war unbeschreiblich – nicht nur das Krachen von Stein und Holz, sondern ein tieferes, fremderes Geräusch, als würde die Welt selbst einen Schmerzenslaut ausstoßen.
Der Himmel selbst schien zu beben, als antworte er auf den Schrei der Erde. Die Luft vibrierte, wurde dichter, als würden die Strömungen selbst sich neu ordnen.
Die Arbeiter, die nahe genug waren, um zu sehen, aber weit genug, um zu überleben, sprachen später von einem Licht, das aus der Tiefe brach – nicht wie Feuer, wild und verzehrend, sondern wie ein schwarzer Stern, der für einen Moment die Nacht selbst vertrieb, ein Anti-Licht, das mehr offenbarte, indem es verbarg. Sie sprachen von einem Klang, der nicht zu hören, sondern zu fühlen war – ein Ton so tief, dass er in den Knochen vibrierte und den Geist berührte.
Und doch, aus den zerbrochenen Schächten, aus den zitternden Ruinen, wo der Staub noch immer tanzte in der aufgehenden Sonne... Da kam ein Junge.

Marn stand am Rand der zerstörten Grube, sein Gesicht von Staub und Tränen gezeichnet. Der Wind, der aus der Tiefe kam, trug den Geruch von frisch gebrochenem Stein, von fremden Energien und – seltsamerweise – von etwas, das an frischen Regen erinnerte, an einen neuen Anfang.
Er atmete schwer, die Haut versengt vom heißen Wind, der aus der Tiefe gekommen war, die Augen weit und voller Dinge, die kein Mensch je sehen sollte – und doch sehen musste, um zu verstehen. Seine Kleidung war zerrissen, sein Körper gezeichnet von kleinen Schnitten und Prellungen, Zeugen einer Flucht durch kollabierende Tunnel.
Doch er lebte. Und in seinen Händen...
Da glimmte noch immer der letzte Funken Quarz. Nicht wild und hungrig wie zuvor, sondern sanft pulsierend, im Rhythmus seines eigenen Herzschlags. Nicht als Fessel oder Fluch, als Werkzeug der Kontrolle und als Versprechen, dass der Verfall kommen wird, sondern als Erinnerung an etwas, das größer war als sie alle – ein Fragment einer Wahrheit, die noch immer darauf wartete, vollständig verstanden zu werden.
Der Zarharnil in seiner Hand schimmerte nicht mehr bedrohlich violett, sondern in einem sanften, fast friedlichen Blau, als hätte er seine wahre Natur wiedergefunden.
Er sah nicht zurück, als er sich von der Grube abwandte. Sein Gesicht, einst weich und jung, war nun hart geworden, von Erfahrungen gezeichnet, die ihn altern ließen. In seinen Augen lag ein Wissen, das älter war als er selbst – und ein Entschluss, der in den kommenden Tagen zum Gesetz werden würde, unerbittlich.
Er drehte sich um und ging, jeder Schritt vorsichtig und doch entschlossen, ein Mensch, der einen neuen Pfad beschreitet, von dem er weiß, dass er gefährlich ist, aber notwendig.
Nicht als Werkzeug, geformt von fremden Händen. Nicht als Erbe, belastet von alten Schulden. Sondern als Beginn von etwas, das größer war als alles, was Kareth'Zal je gekannt hatte – ein neues Kapitel in einer Geschichte, die älter war als die Menschen selbst. Sein Schritt war sicher, seine Haltung die eines Mannes, der nicht länger Angst vor dem hatte, was vor ihm lag. Der Quarz in seiner Hand leuchtete sanft, pulsierte im Rhythmus seines Herzens – nicht als Parasit, sondern als Begleiter, nicht als Herrscher, sondern als Zeuge.
Als die Aufseher ihn später fanden, ihre Gesichter grau vom Staub und der Angst, waren sie zu verängstigt, um ihn zu stoppen. Sie sahen etwas in seinem Blick, das sie zurückweichen ließ – etwas, das nicht einfach nur Macht war, mit der sie vertraut waren, sondern eine Wahrheit, vor der sie sich fürchteten.
Und tief unter der Erde, verborgen in der Asche der alten Kammer, wo nichts mehr existieren sollte, pochte es weiter.
Und in Kareth'Zal wusste jeder: Der Stein schläft nie wirklich.

Chapter 4: Kind der Kette

Chapter Text

Datum: Spätes Lutharis (Winter und 12 Monat des Jahres, 35 n.K)  
Ort: Bonewatch, Knochenfelder  
Figuren: ein kleiner Junge und sein Vater

 

In Bonewatch klang der Wind wie verlassene Ketten. Wie Ketten, die niemand mehr trug. Er zog durch gebrochene Bögen und über leere Gräber, schleifte sich an den Resten vergangener Kämpfe entlang, als wollte er nicht nur mahnen, sondern strafen.  Zwischen den knirschenden Steinen stand ein Junge – ohne Mantel, ohne Namen, mit den Augen eines Kindes, das begriffen hatte: Niemand würde zurückkommen. Sein Vater ging schweigend. Jeder Schritt war ein Urteil. Der Junge zählte mit: zweiundvierzig seit dem letzten Blick zurück. Dieser Blick war das Einzige gewesen, was länger währte als der Abschied.

Am Vorabend hatte der Mann erklärt, was kommen würde. Seine Stimme rau wie Stein auf Stein: „Die Prüfung macht dich stark oder nimmt dich. Seit Generationen durchschreiten die Kinder unserer Linie diese Felder allein."Er wandte den Blick ab. Für einen Moment sah der Junge etwas in diesem Gesicht – einen alten Schatten. „Dein Großvater überlebte es nicht. Ich kehrte zurück. Auch mein Bruder wurde hierher gebracht." Eine Pause. Zu lang für Zufall. „Er kam nicht zurück." Die Hand des Vaters zitterte – nur kurz, doch es verriet mehr als alle Worte. „So trennen wir den Würdigen vom Schwachen." 

Jetzt führte der Weg zu jenem Ort. Bonewatch lag in einer Senke aus schwarzem Gestein – zu flach für ein Tal, zu tief für Vergessen. Man sagte, hier ruhen Entscheidungen – nicht die, die man trifft, sondern die, die man überlebt. Über das Feld verstreut ragten zerbrochene Säulen empor, manche eingesunken, andere aufrecht wie beschuldigende Finger. Überall: Ketten. Verrostet hingen sie schlaff zwischen Stelen. Andere spannten sich straff, bewegten sich im Wind mit einem Klirren, das zu rhythmisch war für bloßes Wetter. Der Junge spürte eine seltsame Verbindung zu diesen metallischen Schwingungen – als erweckten sie etwas in ihm, das er nie gekannt hatte.

Was der Vater verschwieg: Bonewatch war einst ein Urteilsfeld der Runenrichter gewesen. Hier hatten drei Richter ihre Macht gebündelt, um mit Klangmagie über jene zu urteilen, die zu gefährlich waren für eine einfache Hinrichtung. In den Ketten lebte noch immer das Wissen jener Runenmeister – verschlüsselte magische Protokolle, Fragmente verlorener Urteile.

Der Vater trug sein Schwert sichtbar. Nicht gezogen, nicht gerichtet – aber präsent. Eine Erinnerung daran, dass er nicht gezögert hätte. Und vielleicht auch daran, dass er bereute, es nicht zu dürfen. „Du bist anders, Junge", sagte er schließlich. „Und ich weiß nicht, ob das ein Fluch ist… oder Anfang." Sein Blick fixierte einen fernen Punkt, wo ein einsamer Stein stand – ähnlich jenem, an dem sein Bruder einst gefallen war. „Die Ketten reagieren anders auf dich. Du erinnerst mich an ihn."Dann drehte er sich um. Der Wind fing sich in seinem Umhang. Der Junge sah die grauen Nähte, die Risse in der Klingenscheide. Er zählte die Schritte seines Vaters, bis der Umhang kleiner wurde, bis nur noch Wind blieb – und das Klirren der Ketten.

Er war allein. "Großartig," murmelte er und rieb die vor Kälte erstarrten Hände aneinander. "Nicht genug, dass ich verhungern soll – ich werde auch noch Stimmen hören." Seine Füße versanken im lockeren Staub. Kein Schnee fiel hier – Bonewatch war zu alt für Schnee. Die Erde war hart, aschenschwarz und trocken, selbst im tiefsten Winter. Jeder Schritt hinterließ keinen Abdruck, nur ein Echo, als hätte man nie existiert, aber die Welt müsse trotzdem nachhallen.

Er suchte keinen Unterschlupf – es gab keinen. Keine Mauern, keine Bäume, keine Höhlen. Nur Stein, Wind und vergrabene Namen. Schließlich kauerte er sich zwischen zwei zerborstene Säulen, an deren Enden noch Ketten schwangen. Sie waren seltsam unversehrt – blank, metallisch sauber, obwohl Wind und Zeit sie längst hätten nehmen müssen. Nicht bloße Fesseln, erkannte er, sondern Träger einer alten Resonanz. „Was ist das Schlimmste, das passieren kann?", fragte er die leere Luft. „Außer dem langsamen, einsamen Tod, den sie mir zugedacht haben."Er fragte sich, wer hier einst angekettet war. Wofür. Warum es keinen Leib mehr gab – und wieso die Ketten dennoch blieben.

Er hatte keine Decke, keine Waffe. Nur den Atem und das Zittern in den Fingern. Zehn Winter war er alt und noch nie in einer Welt ohne Wände gewesen. Die Stille war zu groß zum Fassen, zu nah zum Fliehen. Als die Kälte in seine Knochen kroch, bemerkte er etwas Seltsames: feine, beinahe unsichtbare Linien auf seinen Handflächen, die im schwachen Licht zu pulsieren schienen. Sie bildeten Muster wie die Runen, die sein Vater manchmal in Steine ritzte. Die Linien verbanden sich mit dem Stein – nicht durch Kraft, sondern durch Verständnis. Die Kette sprach nicht zu jedem. Aber wenn sie sprach, flossen ihre Worte durch diese Kanäle.

Die erste Nacht verging schlaflos. Nicht wegen der Kälte – wegen der Erwartung. Er glaubte, es müsse etwas kommen. Eine Prüfung, ein Tier, ein Fluch. Doch nichts kam. Nur das Klirren der Kette – mal leise, mal wie ein gezielter Schlag durch das dunkle Feld. Er lag wach, starrte in einen Himmel ohne Gesicht. Keine Sterne, kein Mond. Nur Grau auf Grau, als hätte der Himmel vergessen, dass er einst Licht getragen hatte.

Er wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, als der Hunger kam. Erst war es ein Ziehen, dann ein Loch. Schließlich nur noch das dumpfe Gefühl, dass er aus Stein bestand und nicht aus Fleisch. In einer verrosteten Feuerschale fand er Aschereste – keine Glut, aber den Geruch von etwas, das einst Wärme war. Er kratzte mit einem Splitter in die Erde. Nicht um Feuer zu machen, sondern um zu spüren, dass seine Hände noch etwas bewirken konnten. Der Splitter glitt über den Boden. Ohne bewusste Absicht formten seine Bewegungen seltsame Zeichen – geometrische Formen, die sich zu ineinander greifenden Mustern verbanden. Sie erinnerten ihn an etwas, das er nie gesehen hatte.

Am zweiten Tag begann er zu zählen: Steine, Ketten, Schritte. Immer wieder. Als könnten Zahlen Ordnung bringen in eine Welt aus Schweigen.

Am dritten Tag sprach die Kette. Nicht mit Worten oder Stimme – mit Ton, mit Muster. Der Wind stieg an. Die Kette schlug gegen einen Stein: dreimal, Pause, zwei Schläge, Pause, ein letzter, einsamer Klang. Der Junge erstarrte. Kein Zufall. Kein Wind kannte Rhythmus. Er lauschte. Nichts mehr. Dann trat er an die Stelle, wo die Kette geschlagen hatte. Sie hing von einem eisernen Bogen herab – rostfrei, obwohl alles andere längst dem Staub gehörte. Er legte die Hand auf das Metall. Kalt – aber unter der Haut vibrierte etwas.  Er schloss die Augen.

Da war etwas. Nicht Bild, nicht Wort – eher Form. Eine Ahnung, eine Welle, die nicht von außen kam, sondern von innen. Als wollte etwas in ihm erinnern. Die feinen Linien auf seinen Handflächen begannen zu glühen – ein schwaches Leuchten wie Kettenresonanz, von der die alten Gelehrten von Vel'Arazan sprachen. Er riss die Hand weg, stolperte rückwärts, fiel. Der Boden war hart. Er schmeckte Blut. Aber er war nicht mehr allein. Etwas beobachtete ihn – nicht aus dem Schatten, sondern aus der Tiefe.

In der nächsten Nacht träumte er nicht von seinem Vater oder von Flucht – sondern von Ketten und einem Auge, das sich nicht schließen ließ. Als er erwachte, leuchteten schwache Runen auf den gebrochenen Stelen um ihn herum – Zeichen, die im Tageslicht unsichtbar blieben. Seine Finger wanderten über den Boden, formten unbewusst ein Symbol in den Staub: eine gebundene Kette, geformt wie eine Rune. Seine Gedanken waren klar: „Wenn ich hier sterbe, kennt niemand meinen Namen. Wenn ich lebe... vielleicht ist das mein Name."

Am vierten Tag fraß er Moos, spuckte es wieder aus. „Nicht einmal das Moos will hier leben. Kann man es ihm verdenken?" Am fünften Tag leckte er Stein, trank Tau aus einer Vertiefung in einer zerborstenen Grabplatte. Am sechsten Tag wollte er fliehen. Die Kälte, der Hunger, die ständige Angst – sie fraßen an seinem Willen. Er blickte zum Horizont, wo sein Vater verschwunden war. Er könnte einfach gehen. Die Prüfung aufgeben. Das Erbe seiner Familie verleugnen. Ein Schritt Richtung Rand. Noch einer. Die Kette schlug – härter als je zuvor. Ein scharfer Klang, der die Luft zerschnitt. Er blieb stehen, die Füße wie festgewurzelt. Als er sich umdrehte, sah er die lange Kette im Zentrum des Feldes vibrieren, als wäre sie lebendig.

Ein Echo stellte ihm eine Frage – nicht mit Worten, sondern mit Klang: „Willst du gebunden sein oder binden?" Er wusste nicht, woher die Frage kam, aber er spürte ihre Bedeutung in den Knochen. Statt zu fliehen, ging er tiefer ins Knochenfeld – bis an dessen äußerste Kante, wo die Erde abbrach und Nebel so dicht war, dass die Welt aufhörte.  Eine einzelne Säule stand dort, umwunden von einer goldenen Kette. Unverrostet. Zu glatt. Zu neu. Er trat näher. Seine Füße zitterten, doch er zwang sie weiter. Mit jeder Bewegung wurde der Klang lauter – nicht in der Luft, sondern in ihm. Als wäre sein Herz eine Kette geworden, die schlug.

Er legte die Hand auf den Sockel. Die Welt hielt den Atem an. Ein Licht – kurz, hart, wie eine Erinnerung, die sich in die Netzhaut brannte. Er sah nichts, aber er _spürte_: einen Schrei, der keine Stimme war, sondern Kraft. Kraft, die aus dem Stein brach, in seine Fingerspitzen kroch, durch seine Knochen wanderte.  Die Runen auf seinen Handflächen leuchteten auf, absorbierten etwas aus der Kette wie Wasser, das in trockenen Boden sickert. Wissen öffnete sich in ihm – fragmentiert, unvollständig, aber mächtig. Bilder von Bibliotheken, alten Schriften, verborgenen Runentafeln strömten durch seinen Geist. Er sah Visionen einer früheren Verurteilung: drei Richter, die ihre Stimmen zu einem Urteilsspruch verbanden, der durch die Kette floss. Er keuchte, zog die Hand zurück, fiel zu Boden.

Diesmal stand er wieder auf. Langsam, unsicher – aber verändert. Es war nicht Magie im klassischen Sinn. Es war älter, roher – wie etwas, das vergessen hatte zu sprechen und nur noch durch Blut erinnerte. Die Runenmagie der Knochenfelder, von der nur wenige wussten und noch weniger verstanden. Er ging zurück in die Mitte der Grube, setzte sich und wartete. Aber diesmal nicht auf Rettung – er wartete, um zu _sehen_, was kam. Denn er war kein Kind mehr. Nicht weil er überlebt hatte, sondern weil er begriffen hatte: Bonewatch war kein Grab. Es war ein Spiegel. Und wer hier blieb, sah irgendwann nicht nur sich selbst – sondern das, was aus einem werden konnte.

Am Morgen des siebten Tages kam der Schatten zurück. Kein Geräusch kündigte ihn an. Nur ein Umriss auf dem Grat des Plateaus – wie eine alte Schuld, die den Weg heimfand.  Der Vater stand still. Der Wind war stärker geworden, die Kette schlug in kurzen, harten Takten. Nicht wie ein Ruf – wie ein Urteil. Die Rhythmen sprachen von Prüfung, von Tradition, von einer Linie, die durch Blut und Knochen weitergegeben wurde. Der Junge erhob sich. Er war nicht zusammengesunken – er saß gerade, die Schultern gespannt. Die Augen nicht trotzig, aber offen. Zu offen für ein Kind. In ihnen lag das graue Schimmern mit schwarzen Sprenkeln, das seinen Onkel einst ausgezeichnet hatte. Der Vater stieg hinab – aber es war kein Hinabsteigen mehr. Es war ein Betreten von etwas, das nicht mehr ihm gehörte.

Bonewatch hatte sich verändert. Oder begonnen, sich zu zeigen. Zwischen den aufgebrochenen Grabplatten standen Runen, die vorher verborgen gewesen waren. Die Ketten zitterten nicht mehr willkürlich, sondern schienen sich dem Wind zu widersetzen, als wollten sie sprechen ohne menschliche Sprache. Der Mann blieb stehen, als der Junge ihn sah. Keine Umarmung, kein Gruß – nur ein Blick. Er musterte ihn: keine Verletzungen, keine Frostwunden. Aber da war etwas in den Augen des Jungen, das ihn verstummen ließ. Etwas Altes, das nicht nur von einer Woche Überlebensprüfung stammte, sondern von tieferem Verständnis.

„Du bist nicht gestorben", sagte er, als wäre das ein Vorwurf. Der Junge antwortete nicht. Er betrachtete den Mann mit ruhigem Blick, senkte dann langsam den Kopf – nicht als Unterwerfung, sondern als Wahl. „Was hast du gelernt?"  „Dass der Wind nicht leer ist. Dass die Kette nicht schweigt. Dass ich mehr bin als euer Name."Der Vater schnaubte. „Große Worte für einen, der im Dreck gehaust hat."  „Im Dreck lernt man, wer man ist." Die Handflächen des Jungen prickelten, als die Bindungsmuster unter seiner Haut auf die Nähe der alten Magie reagierten. Schweres Schweigen legte sich zwischen sie.

Der Mann trat in den Kreis der gefallenen Steine, wo einst ein Ritualplatz gewesen sein mochte. Dort ruhte die Kette im Zentrum auf einer Steinplatte – lang, dickgliedrig, mit einem Verschluss, der nie geöffnet worden war. „Warum bist du nicht weggelaufen?" „Wohin? Alles, was ich war, habt ihr zurückgelassen."Der Junge blickte zu Boden, wo er im Staub das Runensymbol der Kette gezeichnet hatte – unbewusste Manifestation des Wissens, das in ihm erwachte. Ein Windstoß peitschte durch Bonewatch. Die Kette schlug wieder: drei Schläge, dann Stille. Der Vater versteifte sich, als hätte er etwas erkannt – als wäre das Muster eine Bestätigung seiner tiefsten Befürchtungen oder Hoffnungen.

„Du hast die Ketten gehört", stellte er fest, nicht als Frage. „Wie die alten Gelehrten von Vel'Arazan. Das ist seit Generationen nicht vorgekommen."Er griff in seinen Mantel, zog ein hartes Bündel hervor – verschnürt, raues Leinen. Er warf es vor die Füße des Jungen. „Ein Name."Der Junge starrte auf das Bündel. „Ich habe ihn mitgebracht. Wenn du ihn willst, nimm ihn." Die Finger des Jungen rührten sich nicht. „Und wenn nicht?" Der Vater trat einen Schritt näher. „Dann gehst du als keiner. Und wirst nie mehr jemand." Die Kette hinter dem Jungen vibrierte leicht. Der Wind hatte nicht zugenommen. Er kniete nieder – nicht vor dem Vater, vor dem Bündel. Berührte es, zog zurück. Dann stand er auf, trat zwei Schritte zurück: „Ich habe meinen Namen gefunden. In der Kette, im Wind. Nicht von euch. Nicht aus Blut." „Du sprichst wie ein Verrückter." Der Junge neigte den Kopf. „Vielleicht. Aber ich spreche nicht mehr für euch."

Das Leinenpaket blieb liegen. Der Vater trat näher, seine Hand wanderte zum Gürtel, wo das Messer hing. Nicht als Drohung – als Test.  Der Junge sah es und blieb stehen.  Dann, leise, kaum hörbar: „Ich habe dich nicht überlebt, um dich zu fürchten." Die Stimme war nicht lauter geworden – nur klarer. Der Vater griff nicht zum Messer. Stattdessen kniete er nieder, nahm das Bündel, schnürte es auf. Darin: eine einfache Plakette aus dunklem Metall. Darauf: ein Name. „Es war der Name deines Onkels, der gefallen ist. Ich wollte ihn dir geben, wenn du stark genug warst." Der Junge trat einen Schritt zurück. „Dann bin ich nicht dieser Name." „Aber du brauchst einen." „Nein. Nicht von euch."  Der Vater betrachtete ihn lange, legte dann die Plakette auf den Stein.

„Du wurdest für einen Zweck hierher gebracht. Die Prüfung ist älter als unsere Familie. Sie ruft diejenigen, die die Ketten hören können. Die Runenzeichen auf deinen Händen sind kein Zufall. Du wurdest erwählt, Wissen zu bewahren, zu schützen." Eine Pause. „Oder zu vernichten, wenn es zu gefährlich wird." Er sagte nichts mehr. Als er ging, nahm er die Plakette nicht mit. Der Junge wartete, bis die Silhouette verschwunden war. Dann ging er zum Stein, sah auf die Plakette, nahm sie in die Hand – nicht als Geschenk oder Erbe, sondern als Werkzeug. Dann wandte er sich der Kette zu, berührte sie mit beiden Händen und sprach nur für sich: „Nicht weil ich euren Namen trage – sondern weil ich ihn mir nehmen werde."

In den Tagen nach dem Urteil veränderte sich die Stille. Nicht weil der Wind aufhörte zu wehen, sondern weil er begann, ihn zu hören. Der Klang der Kette war nicht mehr Bedrohung oder Mahnung, sondern Muster. Seine Hände konnten nun die Schwingungen lesen – die feinen Bindungsmuster auf seinen Handflächen leuchteten auf, wenn er die alten Rhythmen berührte. Er saß oft am nördlichen Rand der Felder, wo der Stein weicher war und Risse wie Narben durch das Gestein zogen. Dort lagerten die ältesten Fragmente: Bruchstücke von Rüstungen, zerfallene Helme, Schildschnallen mit Symbolen, die keine Armee mehr trug. Er grub sie nicht aus – er beobachtete sie. Wie sie zitterten, wenn der Wind kam. Wie sie manchmal aufeinander reagierten, obwohl niemand sie berührte. Seine Finger begannen, die Muster der Vibrationen nachzuzeichnen – zuerst im Staub, dann auf Pergamentstücken, die er in verlassenen Lagerstätten fand. Es waren die ersten Aufzeichnungen dessen, was später sein Lebenswerk werden würde.

Die Knochenfelder waren nicht tot. Sie dachten nicht, sprachen nicht – aber sie erinnerten. Und er erinnerte mit ihnen. Die Kette im Zentrum Bonewatchs war mehr als Metall – ein Relikt, älter als das Dorf, älter vielleicht als die Ruinen selbst. Man sagte, sie habe einst drei Männer zusammengebunden, die einander nicht kannten, und dass sie auf ewig verbunden blieben, auch nachdem ihre Körper verrottet waren. In ihr lebte das Wissen der alten Runenmeister – ihre Rhythmusmuster waren verschlüsselte magische Protokolle, Fragmente verlorener Urteile. Als er die Kette berührte, war es zuerst nur Druck. Dann Hitze. Dann … Struktur. Sie reagierte auf ihn – nicht wie eine lebendige Kreatur, sondern wie etwas, das endlich wieder erkannt wurde. Als würde eine Stimme sagen: _„Du bist nicht fremd."_

Nachts schlief er unter offenem Himmel. Er kannte jetzt die Risse im Gestein, in denen sich Wärme hielt. Er wusste, welche Steine beim Schlafen unter dem Rücken vibrierten – und welche still waren wie Gräber. Er hatte gelernt, aus dem Klang der Kette Zeit zu lesen. Wenn der Wind aus dem Osten kam, schlug sie hohl wie gebrochener Atem. Aus dem Süden sang sie: kurz, dann lang, dann zweimal kurz. Er nannte sie die „Bruchreihen". Manchmal versuchte er, die Laute nachzuahmen – nicht mit Stimme, sondern mit Bewegung. Er klopfte mit einem Knochen gegen einen Fels, ließ Muster entstehen:   _„Ich bin."_   _„Ich höre."_   _„Ich nehme euch auf."_ An einem kälteren Morgen fand er einen neuen Splitter nahe dem westlichen Hang – zu glatt, um natürlich zu sein. Ein zerbrochenes Amulett: ein Zähnekreis, das Zeichen einer Fraktion. Eine Fraktion, die es nicht mehr gab, deren Mitglieder in den Knochenfeldern von Bonewatch liegen sollten – die Wissensbewahrer der alten Zeit. Daneben blinkte ein verblasster Fraktionsring im Staub, das elytharische Zeichen in Splittern.

Als er das Amulett berührte, zuckte er zurück – nicht vor Schmerz, vor Erinnerung. Ein Bild, kurz, bruchstückhaft: drei Männer im Kreis. Einer hält ein Kind. Einer fällt. Einer schaut weg. Er ließ das Amulett fallen, starrte auf seine Hände, hob es wieder auf.  Er trug es fortan am Gürtel – nicht als Schmuck oder Zeichen, sondern als Erinnerung an etwas, das nicht ihm gehörte, aber ihn kannte.

An einem Tag, als die Sonne fahl hinter Wolken stand und die Schatten länger erscheinen ließ, als sie waren, stand er auf dem zentralen Steinplateau. Dort, wo einst Rituale stattgefunden hatten, wie die eingeritzten Halbkreise andeuteten. Er hatte sich Kohle besorgt – von verbranntem Holz unter einem Felsspalt. Mit dieser Kohle zeichnete er auf den Stein. Nicht Runen – Linien, Kettensegmente. Immer drei, dann ein Bruch, dann zwei, dann Stille. Als er fertig war, betrachtete er das Muster, legte die Hand auf das Zentrum. Die Zeichnung erinnerte an die Muster, die später seine Hände schmücken würden – die Runen, die eines Tages pulsieren würden, wenn er alte Texte übersetzte und vergessene Magie entschlüsselte.

Zum ersten Mal sprach er es laut: „Ich bin Ormaris." Kein Echo, kein Beweis – aber die Kette schlug in diesem Moment. Nur einmal. Doch das genügte.  Er begann, alte Texte zu erinnern – in Fragmenten. Dinge, die sein Vater erwähnt, aber nie erklärt hatte:  _„Die Kette ist, was bleibt, wenn alles andere zerbricht."_   _„Man fesselt damit nicht nur Körper. Man bindet Wille."_   _„Wer Kette trägt, trägt Last."_  Er schrieb diese Sätze an die Wände der Grube, schnitzte sie in Knochenstücke – nicht zur Archivierung, sondern um ihnen Raum zu geben. Um zu verstehen, was es bedeutete, ein Wissensbewahrer zu sein. Zu schützen, was bewahrt werden musste. Zu verbergen, was zu gefährlich war, um gefunden zu werden.

Die Kette schwieg – endlich. Nicht weil sie verstummt war, sondern weil sie gesprochen hatte. Alles, was gesagt werden musste. Der junge Ormaris stand auf, noch benommen von dem, was sich in ihm geregt hatte. Seine Brust hob und senkte sich in flachen Stößen, als müsste sich sein Körper erst an die Idee gewöhnen, eine Form gefunden zu haben. Nicht mehr namenlos, nicht mehr zerbrochen, nicht mehr niemand. Er war nicht frei, nicht gerettet, nicht entkommen – aber er war wirklich.

Als er durch das Knochenfeld zurückging, bewegte er sich mit neuer Präsenz. Die bleichen Schädel starrten ihn nicht mehr anklagend an – sie waren Zeugen geworden. Stille Beobachter einer Wandlung, die nicht alle durchstanden. An den verbogenen Stelen strich er mit den Fingerspitzen entlang, spürte ihre raue Geschichte.

Die Morgendämmerung färbte den Horizont blutrot, als er die Grenze des Knochenfelds erreichte. In der Ferne erblickte er die Silhouette seines Vaters – eine einsame Gestalt am Rand der Welt, den Blick abgewandt wie jemand, der sein Urteil bereits gefällt hatte. Ormaris blieb stehen. Kein Wort verließ seine Lippen, kein Schritt folgte. Nur sein Blick, fest und unwandelbar, überbrückte die Distanz zwischen ihnen. Er wartete, bis die Stille so schwer wurde, dass sein Vater sie nicht mehr tragen konnte. Wartete, bis der Mann sich langsam umdrehte, als hätte er die Veränderung in der Luft gespürt. Wartete, bis sich ihre Blicke trafen über die Kluft von Generationen und Geheimnissen hinweg. Wartete, bis es zu spät war wegzusehen.  Dann sagte er: **„Ich bin."**  Kein Triumph in seiner Stimme, kein Trotz gegen Jahre der Namenlosigkeit – nur Wahrheit. Rein und unbestreitbar wie die Kette an seinem Hals.

Sein Vater, dessen Augen all die Jahre nur Prüfung gekannt hatten, der geschwiegen hatte, weil er geglaubt hatte, Schweigen würde härten – er sah jetzt in diesen Augen etwas, das nicht mehr zu leugnen war. Etwas, das nicht gebrochen werden konnte. Die Sonne stieg höher, löschte die Schatten zwischen ihnen. In diesem Licht konnte Ormaris zum ersten Mal klar das Gesicht seines Vaters sehen – die Furchen der Sorge, die Narben eigener Prüfungen, und dahinter, kaum wahrnehmbar: Erleichterung. Die Kette würde weiter an seinem Hals hängen. Die Last würde bleiben. Aber er war nicht mehr der, der sie trug – er war der, der sie verstand.

Viele Jahre später stand Ormaris in der Bibliothek von Vel'Arazan, hoch über den Nebelfeldern von Quarré. Die massiven Regale um ihn herum bargen Wissen aus Jahrtausenden, Texte in längst vergessenen Sprachen, Magie, die die Welt schon einmal fast zerstört hatte. Er lächelte, als seine Finger über einen besonders alten Folianten strichen. Die Runen auf seinen Handflächen – inzwischen zu komplexen Mustern herangewachsen, die seine gesamten Arme bedeckten – leuchteten im Rhythmus mit den Symbolen auf dem Bucheinband.  "Eine weitere Kette gelöst," murmelte er zufrieden.

Ein junger Lehrling trat nervös an seinen Tisch. "Meister Ormaris, der Rat der Sieben hat nach Euch geschickt. Es geht um die Störungen des Kreislaufs in Kael'Zara." Ormaris nickte langsam. "Die politischen Spiele beginnen wieder. Sie denken, sie können alte Magie für neue Macht nutzen." Er stand auf, seine Bewegungen präzise. "Sie verstehen nicht, dass die Ketten nicht nur binden – sie erinnern sich auch." Der Lehrling sah ihn verwirrt an. "Meister?" Ormaris lächelte wissend. "Die Welt existiert im Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung. Manche Dinge müssen bewahrt werden – und manche müssen frei sein, um sich zu entfalten." Er blickte abwesend in die ferne und für eine Sekunde schien es, als würde er Dinge sehen, die über das Fassbare hinausging. "Ich war einmal ein Kind ohne Namen. Jetzt bin ich der Hüter von tausend Namen, die zu gefährlich sind, um ausgesprochen zu werden." "Komm," sagte er rasch zu dem Lehrling. "Lass uns dem Rat erklären, warum manche Ketten niemals brechen sollten." Der junge Mann folgte ihm durch die gewundenen Gänge der Bibliothek, staunend über die Autorität, die von seinem Meister ausging – einem Mann, der einst hungrig und verzweifelt in einem vergessenen Knochenfeld gestanden hatte und nun das gefährlichste Wissen der bekannten Welt hütete.

Die Ketten hatten ihren Bewahrer gewählt. Und die Welt war sicherer dafür.

Chapter 5: Ein Hauch von Grün

Chapter Text

Datum: Früher Morgen des 24. Lutharis (343 n.K)
Ort: Heilgarten von Vaelarion - Innerer Palastbezirk
Figuren: Aeri'Vel Vael'Thir und Luaris Velyn'Elthar

Der Morgen lag still über dem Heilgarten, als wäre die Welt selbst noch in den sanften Schlaf der Nacht gehüllt. Silberne Nebelschleier zogen zwischen den Berrablüten hindurch, deren violette Kelche wie kleine Laternen im dämmrigen Licht schimmerten, und bewegten sich wie flüsternde Geister vergangener Tage durch die uralten Alleen. Das Licht war sanft und zaudernd – ein früher Schein, der sich nicht traute, den Tau zu vertreiben, der noch wie gläserner Atem auf den samtig-grünen Farnen lag und jeden Grashalm in winzige Kristalle verwandelte. Es roch nach warmer, fruchtbarer Erde und scharfer Süße, nach dem feuchten Schatten des Mooses und den offenen Wunden der Welt, die selbst hier, in diesem Refugium der Heilung, nicht gänzlich verheilt werden konnten.

Aeri'Vel ging schnellen Schrittes über den gewundenen Pfad aus weißem Mondstein, dessen Oberfläche unter ihren Füßen leise zu singen schien. Ihr Mantel, so makellos gefaltet wie ihre Gedanken scharf und geordnet, streifte die niederhängenden Zweige der Alyrien-Bäume, deren silberne Rinde in spiralförmigen Mustern gen Himmel wuchs. Bläuliche Pollen flimmerten kurz in der stillen Luft, funkelten wie Sternenstaub, dann vergingen sie wie ungehörte Worte in der Morgenbrise. Aeri'Vel spürte es, kaum merklich und doch unübersehbar – als würde jemand ihre Schritte zählen, während sie sie setzte, als lägen unsichtbare Augen auf ihr. Kein Blick, den sie hätte erwidern können, kein Geräusch, das sie hätte verfolgen können. Nur die Art von Gegenwart, die man nicht beweisen konnte, aber auch nicht loswurde, wie einen Schatten, der bei Mondschein tanzt.

Sie hatte nicht kommen wollen. Hatte sich geschworen, diesem Treffen aus dem Weg zu gehen.

Nicht, um _ihn_ zu sehen. Nicht, um sich erneut der Möglichkeit auszusetzen, dass ihre wohlgeordnete Welt ins Wanken gerät.

Der neue königliche Heiler war gerade erst vor drei Tagen angekommen, mit nichts als einem abgewetzten Reisebeutel und einem Brief des Rates, der seine Empfehlung in blumigen, doch vagen Worten aussprach. Ein Außenseiter aus den fernen Hügellanden, wo die Menschen noch mit den alten Wegen vertraut waren. Empfohlen vom Rat der Weisen höchstpersönlich. Ausgebildet in „alternativer Heilkunst", wie sie es genannt hatten. Ein Begriff, der in Aeri'Vels Ohren klang wie ein schlecht verhüllter Euphemismus. Was für sie nur bedeutete: ein weiterer Mann, der behauptete, mehr über Leben und Tod zu wissen als sie, die seit zwei Jahrzehnten in diesen Hallen die Kunst der Heilung perfektioniert hatte. Wieder jemand, der ihre wohlüberlegten Entscheidungen infrage stellen würde, ihre Methoden anzweifeln, ihre Autorität untergraben könnte.

Ihre schlanken Finger streiften unwillkürlich die drei silbernen Ringe an ihrem linken Handgelenk – kunstvolle Spiralen aus Mondsilber, jeder einzelne ein Gewicht, das schwerer war als sein Material vermuten ließ. Ein Ring für jede schwere Entscheidung, die sie hatte treffen müssen, wenn alle anderen Möglichkeiten erschöpft waren. Ein Ring für jedes Leben, das sie nicht hatte retten können, obwohl sie alles versucht hatte, obwohl sie Nächte durchwacht und ihr Herz dabei fast zerrissen hatte. Die Ringe klimperten leise im Rhythmus ihrer Schritte, ein melancholischer Klang, der niemanden außer ihr etwas bedeutete. Eine private Symphonie der Reue und der Verantwortung.

Aeri'Vel hatte schon einmal einen Fremden zugelassen – vor Jahren, als sie noch jünger und hoffnungsvoller gewesen war. Einen Mann aus den südlichen Weiten, dessen exotische Heilmethoden anfangs wie Wunder gewirkt hatten, letztendlich aber mehr Tod als Trost gebracht hatten, als seine unerprobten Mixturen sich als Gift erwiesen. Damals hatte sie gezögert, hatte ihren Instinkten nicht vertraut, hatte Diplomatie über Weisheit gestellt. Zögerlichkeit, die ein Leben gekostet hatte, ein junges Leben, das eines Mädchens mit Augen wie Frühlingsblüten, dessen schwacher Abglanz noch immer in ihren Träumen flackerte und sie aus dem Schlaf riss. Seitdem heilte sie schneller, entschlossener, kompromissloser. Und mit weitaus weniger Geduld für Rätsel in Menschenform, für charmante Fremde mit großen Versprechen und kleinen Beweisen.

Und doch, als sie in den zentralen Hain trat, wo das Herz des Heilgartens schlug, blieb sie wie angewurzelt stehen.

Nicht wegen eines Worts, das durch die Stille geschnitten wäre. Nicht wegen einer Geste, die ihre Aufmerksamkeit gefordert hätte. Sondern wegen der Stille selbst – einer Stille, die nicht leer war, sondern erfüllt von einer Präsenz, die sie bis ins Mark ihrer Knochen spürte.

Er kniete unter dem alten Lysbair-Baum, dessen mächtiger Stamm so breit war, dass sechs Menschen ihn kaum hätten umfassen können. Ein uraltes Gewächs, dessen ausladende Krone seit Wochen nicht mehr geblüht hatte, dessen einst smaragdgrüne Blätter nun welk und braun an den Ästen hingen wie die letzten Seufzer eines sterbenden Riesen. Die Hofheiler hatten ihn längst für tot erklärt, hatten ihre Köpfe geschüttelt und von unheilbaren Wurzelkrankheiten gesprochen. Doch er war noch da – verwelkt, in sich zusammengerollt, stumm vor einem Schmerz, den nur die alten Bäume kannten.

Die pragmatischen Hofgärtner hatten längst vorgeschlagen, ihn zu fällen und das kostbare Land für gesündere Gewächse zu nutzen. Doch Aeri'Vel hatte sich hartnäckig dagegen entschieden. Nicht aus Sentimentalität, redete sie sich ein, sondern aus Respekt vor der lebendigen Geschichte, die in seinem Stamm wohnte. Der Lysbair hatte bereits drei Königshäuser überdauert, hatte Kriege und Frieden, Dürren und Überschwemmungen erlebt. Seine rindenbedeckte Haut trug die tiefen Narben vergangener Epochen, eingebrannte Zeichen von Blitzschlägen und den Pfeilen längst vergessener Schlachten.

Neben dem majestätischen Baum lagen keine glänzenden Instrumente, keine kostbaren Salben in kristallenen Fläschchen, keine kunstvoll gravierten Amulette oder geflüsterten Zaubersprüche, wie sie die Hofheiler zu verwenden pflegten. Nur eine kleine, unscheinbare Tonschale, deren erdbraune Oberfläche von jahrelangem Gebrauch geglättet war, gefüllt mit aufgeweichtem Vareth-Moos, einem uralten Träger pflanzlicher Erinnerung, der die Geschichten der Erde in sich barg. Luaris hatte es behutsam über die freiliegenden Wurzeln geträufelt, langsam und beinahe ehrfürchtig, als führe er ein heiliges Ritual aus. Nicht als Mittel zum Zweck, sondern als demütige Frage an das, was tief unter der Erde lag und die Geheimnisse des Wachsens hütete.

Der fremde Mann berührte die uralte Rinde mit seiner bloßen Hand, ohne jeden Schutz zwischen sich und dem leidenden Baum. Keine Magie flimmerte in der Luft, kein leuchtender Kreis umgab ihn, kein mystisches Artefakt verstärkte seine Kräfte. Nur seine warmen, lebendigen Finger auf der rauen, schmerzvollen Rinde, wie ein unausgesprochenes Versprechen, dass es noch nicht zu spät war, dass Leben immer einen Weg fand.

Sie beobachtete seine Hände. Sie trugen keine funkelnden Ringe der Macht, keine schützenden Handschuhe aus verzaubertem Leder, nichts, was ihn vor der direkten Berührung mit Leid und Krankheit schützte. Eine alte, verblasste Narbe verlief über seinen linken Handrücken, gezackt und unregelmäßig wie eine vergessene Geschichte, die in seine Haut geschrieben war. Seine Finger waren kräftig, aber nicht grob, geprägt von ehrlicher Arbeit und nicht von Privilegien.

„Du bist müde, nicht wahr?" flüsterte er, und seine Worte waren kaum mehr als ein sanfter Hauch, der sich mit dem Morgenwind vermischte.

Doch der Baum vibrierte leise, als hätte eine unsichtbare Saite in seinem Inneren zu schwingen begonnen. Ein schimmerndes, fast durchsichtiges Licht breitete sich langsam an der Berührungsstelle aus. Blass und zart wie das letzte Leuchten einer Glut in der Asche. Und dann, wie ein kleines Wunder, entfaltete sich ein einzelnes Blatt, frisch und grün wie ein neuer Hoffnungsschimmer.

Aeri'Vels klare Stimme schnitt durch das ehrfürchtige Schweigen wie eine feine Klinge durch kostbaren Samt, scharf und präzise, aber nicht ohne eine verborgene Neugier.

„Sprechen Sie oft mit Bäumen, Meister Veyar?"

Er hob langsam den Kopf, als hätte er alle Zeit der Welt, und sah sie an, als hätte er gewusst, dass sie kommen würde – vielleicht nicht heute, vielleicht nicht zu dieser Stunde, aber irgendwann, unausweichlich wie der Wechsel der Jahreszeiten.

Seine Augen waren grau wie der Morgennebel, der über stillen Seen tanzt, doch mit einem unerwarteten Schimmer von Grün darin, als wäre etwas Pflanzliches, etwas Erdverbundenes in seinen Blick eingewoben. Ein Fremder, der aussah, als gehöre er hier her, als wäre er aus dem Boden dieses Gartens gewachsen. Ein lebender Widerspruch, der sie auf eine Weise irritierte, die sie nicht benennen konnte.

Sein Blick war weder fordernd noch unterwürfig, weder herausfordernd noch nachgiebig. Er war... ruhig. Eine Ruhe, die nicht aus Gleichgültigkeit geboren war, sondern aus einer tiefen Gewissheit, die sie gleichzeitig anziehend und beunruhigend fand.

„Nur mit den klügeren Wesen in meinem Umfeld", sagte er, und seine Stimme trug einen Hauch von trockenem Humor. „Sie scheinen besser zuhören zu können als die meisten."

Ein unwillkürliches Zucken spielte um ihre sonst so kontrollierten Lippen – der Ansatz eines Lächelns, das sie schnell zu unterdrücken suchte.

„Und was sagen sie Ihnen?"

Seine Augen funkelten mit einer Mischung aus Weisheit und schelmischem Mut.

„Dass Sie heute zu stolz sind, um sich helfen zu lassen."

Die Stille dehnte sich zwischen ihnen wie ein gespannter Bogen, geladen mit unausgesprochenen Worten und unerwarteten Wahrheiten.

Dann lachte sie – leise und überrascht, wie jemand, der sich dabei ertappt, über sich selbst zu staunen, wie jemand, der eine verborgene Seite an sich entdeckt.

„Sie sind dreist", stellte sie fest, doch in ihrer Stimme schwang mehr Bewunderung mit als Tadel.

„Nein", sagte er mit einem Lächeln, das nicht gefallen oder beeindrucken wollte, sondern einfach nur verstand, was sie nicht gesagt hatte.

„Ich bin ehrlich. Das ist etwas anderes."

Aeri'Vel trat näher, wobei ihre Schritte auf dem tau-benetzten Mondsteinpfad beinahe lautlos wurden, den prüfenden Blick fest auf ihn gerichtet, doch ihre Augen tasteten mehr als sie sahen, suchten nach Schwächen, nach Anzeichen von Täuschung oder Überheblichkeit, die sie bei so vielen vor ihm gefunden hatte. Der kühle Tau auf dem smaragdgrünen Gras durchfeuchtete langsam den kostbaren Saum ihres azurblauen Gewandes aus Seide und Mondsilberfäden. Eine kleine Unbequemlichkeit, die sie sonst niemals zugelassen hätte, die sie normalerweise mit einem simplen Zauber hätte verhindern können. Doch heute schien ihre Aufmerksamkeit gänzlich anderweitig gefangen zu sein.

Er war so völlig anders als erwartet, dass es sie verwirrte. Jünger, als die grauen Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar vermuten ließen – vielleicht Mitte dreißig, mit der Art von Gesicht, das sowohl Junge als auch Alter in sich trug. Sanfter, als seine kräftigen Hände und die wettergegerbte Haut seiner Arme suggerierten. Nicht weich – seine Züge waren zu markant, seine Haltung zu aufrecht dafür – aber still in einer Weise, die sie zutiefst beunruhigte. Seine Aura, die sie mit ihren geschärften Sinnen zu lesen gelernt hatte, war keine, die sich aufzudrängen oder zu beeindrucken versuchte, wie es bei den meisten Männern seiner Position der Fall war. Und gerade diese unaufdringliche Ruhe, diese natürliche Selbstverständlichkeit machte sie hellhörig und wachsam.

Er stand langsam auf, wobei seine Bewegungen eine mühelose Grazie besaßen, die an einen Tänzer oder einen Schwertkämpfer erinnerte, und ließ dabei die Hand einen Moment länger auf der gefurchten Rinde ruhen, als praktisch nötig gewesen wäre. Die Art, wie er sich von dem leidenden Baum löste, war wie ein zärtlicher Abschied zwischen alten Freunden. Als müsste er jedes Mal aufs Neue lernen, allein zu sein, als fiele ihm das Loslassen schwerer als das Berühren.

„Der Lysbair hatte seine guten Gründe für sein Schweigen", murmelte er, während er die Erde von seinen Knien klopfte, und seine Stimme trug eine Wärme in sich, die an das Knistern eines Kaminfeuers erinnerte. „Die meisten wahren Heilungen beginnen mit einem geduldigen Zuhören. Nicht mit einem hastigen Eingreifen."

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, eine Geste, die zur zweiten Natur geworden war, und spürte dabei die morgendliche Kälte durch den dünnen, luftigen Stoff ihres Ärmels kribbeln. „Und was heilt schneller – uraltes Moos oder bewährte Methode?"

Seine Augen bekamen einen nachdenklichen Glanz, als blicke er in eine Ferne, die nur er sehen konnte. „Kommt ganz darauf an, ob man den Körper retten will. Oder die Seele."

„Und was, wenn Zuhören nicht reicht?" fragte sie schärfer, als sie beabsichtigt hatte. „Wenn die Zeit davonläuft und das Leben auf der Kippe steht?"

„Dann hat man vielleicht die falschen Fragen gestellt", erwiderte er mit einer Sanftmut, die ihre Schärfe nicht erwiderte, sondern sie wie ein stiller See aufnahm. „Oder man hat noch nicht gelernt, die richtigen Antworten zu hören."

Er sah sie ruhig an, mit einem Blick, der weit über die Oberfläche hinausging, und etwas in seinen grauen Augen mit den grünen Sprenkelн schien weitaus mehr zu sehen als nur die königliche Heilerin vor ihm. Als könne er die Narben lesen, die ihr Herz trugen, die Ängste, die sie so sorgfältig verbarg. „Was genau möchten Sie heute von mir hören, Aeri'Vel Thir?"

Ihr Herz begann schneller zu schlagen, einen unruhigen Takt, der sich ihrer Kontrolle entzog, ohne dass sie einen erkennbaren Grund dafür hätte nennen können. Er hatte ihren vollständigen Namen ausgesprochen, ohne den ehrfürchtigen Titel, der ihr zustand. Und dennoch klang es nicht respektlos oder herausfordernd. Eher... vertraut, intim, als hätte er ihn schon hundertmal leise ausgesprochen, in nächtlichen Gesprächen, die niemals stattgefunden hatten, in Träumen, die er vielleicht geträumt hatte.

Sie hob das Kinn leicht an, eine Bewegung, die automatisch kam, nicht weil sie es bewusst entschieden hätte – sondern weil sie plötzlich merkte, dass sie es tat. Eine alte, tief verwurzelte Gewohnheit aus längst vergangenen Tagen, als sie sich noch täglich beweisen musste, als ihr Wort noch nicht das letzte und unumstößliche war, als sie noch um jeden Zentimeter Respekt hatte kämpfen müssen.

„Nichts Besonderes", sagte sie, doch ihre Stimme klang nicht so gleichgültig, wie sie gehofft hatte. „Ich bin lediglich hier, um zu prüfen, ob Sie mehr sind als nur ein weiterer Heiler mit großen Worten und kleinen, vergänglichen Erfolgen."

Er neigte den Kopf leicht zur Seite – nicht spöttisch oder herablassend, sondern zustimmend, beinahe dankbar. Als wüsste er genau, welche Enttäuschungen und Verrate in ihrem Leben das tiefe Misstrauen gesät hatten, das sie nun wie einen Schutzpanzer trug. „Dann werden Sie mich wohl eine Weile beobachten müssen."

„Wohl kaum", entgegnete sie mit wiedergewonnener Schärfe. „Ich werde Ihnen konkrete Aufgaben geben. Prüfungen. Dann werden wir sehen, ob Ihre Philosophie auch in der Praxis Bestand hat."

„Auch das ist gut und recht", sagte er, ohne eine Spur von Widerwillen oder Furcht in der Stimme. „Aber glauben Sie mir eines, Aeri'Vel..."

Seine Stimme wurde leiser, sank zu einem Flüstern herab, das sich mit dem sanften Wind vermischte – so wie der Morgenwind, der die Pflanzen zum geheimnisvollen Flüstern bringt, ihre Blätter zu einem Lied ohne Worte bewegt. „Ich heile nicht, um mich vor anderen zu beweisen oder um Anerkennung zu ernten. Ich heile, weil ich es nicht ertragen kann, wenn etwas Schönes, etwas Kostbares vergeht, ohne dass jemand es berührt, ohne dass jemand versucht hat, es zu retten."

Warum dieser einfache Satz ihr Herz so unvermittelt streifte wie ein Pfeil, der sein Ziel findet, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass er blieb, sich in ihr festsetzte. Wie ein Dorn im warmen Sonnenlicht. Wie eine längst begrabene Wahrheit, die man jahrelang vermieden hatte und die nun plötzlich wieder an die Oberfläche drängte.

Ein unerwarteter Windstoß ließ die Blätter über ihnen in einem silbrigen Tanz aufflirren. Das morgendliche Licht brach sich in tausend verschiedenen Schattierungen von Grün und Gold, tanzte spielerisch über seine ebenmäßigen Züge und ließ, für den Bruchteil eines Augenblicks, etwas in seinem Gesicht aufscheinen, das älter und weiser schien als er selbst – als trüge er das Gewicht von Erinnerungen, die nicht seine eigenen waren.

In der Ferne sang ein Lyvan-Vogel seinen melancholischen Gesang – selten zu dieser frühen Stunde, ein Lied, das die meisten Menschen nur in der Dämmerung zu hören bekamen. Ein Gesang, der in ihrer Erinnerung untrennbar mit dem Tod verbunden war, mit letzten Abschielen und unumkehrbaren Verlusten. Mit einem Versagen, das sie niemals vergessen hatte und das sie noch immer in schlaflosen Nächten heimsuchte.

Und für einen winzigen, kostbaren Moment stand die Welt still. Nicht ganz, nicht vollkommen. Aber genug, um etwas in ihr zu berühren, das sie längst für tot gehalten hatte.

Aeri'Vel drehte sich schließlich ohne ein weiteres Wort um, ihre Bewegung abrupt und entschieden. Ihre Schritte waren fest und zielstrebig, doch nicht mehr so hart und unerbittlich wie zu Beginn ihres ungewollten Besuchs. Der Wind griff spielerisch nach den Falten ihres wallenden Mantels, und für einen langen Atemzug sah es aus, als hielte die Natur selbst sie noch zurück, als müsste sie etwas Wichtiges sehen oder verstehen, das sie zu übersehen drohte.

Luaris blickte ihr schweigend nach, ohne ihren Namen zu rufen oder ihr zu folgen. Er tat nichts weiter, als ruhig zu stehen und zu beobachten, wie sie zwischen den uralten Bäumen verschwand. In seiner geduldigen Stille lag eine Ruhe, die nicht aus Nachgiebigkeit oder Resignation geboren war, sondern aus der tiefen Gewissheit, dass manche Dinge ihre eigene Zeit brauchten. Wie ein Baum, der wächst und gedeiht. Wie eine Wunde, die langsam heilt. Wie ein Herz, das wieder zu vertrauen lernt.

Als sie schließlich hinter einer Biegung des gewundenen Pfades verschwand und nur noch das Rascheln ihrer Schritte zu hören war, ließ er die Schultern langsam sinken, atmete tief die würzige Morgenluft ein und sah erneut zu dem majestätischen Baum empor. Der Lysbair hatte sein erstes neues Blatt zur wärmenden Sonne gewendet – zart und halb durchscheinend wie ein Hoffnungsschimmer, doch zweifellos lebendig. Ein Zeichen, so flüchtig wie bedeutsam. Eine sanfte Erinnerung daran, dass das Vergängliche nicht weniger kostbar und wertvoll ist als das Beständige.

Er kniete sich erneut in das weiche, moosige Gras, legte beide Hände flach auf den fruchtbaren Boden und flüsterte kaum hörbar: „Eine von vielen, nicht wahr? Eine weitere Seele, die zu heilen ist."

Die Erde unter seinen Fingerspitzen vibrierte leise – kaum spürbar für jemanden, der nicht gelernt hatte, auf solche Zeichen zu achten. Doch sie antwortete ihm, wie sie es immer tat für diejenigen, die zu hören verstanden. Ein stummes Gespräch zwischen ihm und dem Leben selbst.

Ein leiser Wind fuhr durch die Blätter und trug den betörenden Duft der Heilblumen fort, hinauf zu den kunstvoll gemeißelten Marmorbalkonen des Palastes, wo längst jemand das gesamte Gespräch beobachtet hatte, ohne sich zu zeigen. Eine schlanke, verhüllte Gestalt, deren verborgene Absichten wie dunkle Schatten zwischen den weißen Säulen lagen und deren Interesse an diesem Treffen weit über bloße Neugier hinausging.

Unten im duftenden Garten aber lag der zarte Beginn von etwas, das weder Aeri'Vel noch Luaris vollständig verstanden. Kein Anfang, den man sofort erkennt oder benennt. Kein Versprechen, das laut ausgesprochen wurde. Aber ein stiller, unsichtbarer Knoten, der sich zwischen ihnen geschlossen hatte – zwischen zwei Seelen, die sich vielleicht nicht bewusst gesucht hatten, aber dennoch unausweichlich gefunden worden waren.

Und irgendwo, tief in den verworrenen Wurzeln der uralten Heilpflanzen, regte sich das erste geheimnisvolle Flüstern einer Verbindung, die mehr sein würde als bloßer Zufall oder flüchtige Begegnung. Eine Verbindung, die Aeri'Vel noch nicht ahnte, die sie vielleicht sogar fürchtete. Die Luaris möglicherweise erahnte, aber nicht zu benennen wagte. Die das Schicksal jedoch bereits kannte und webte, Faden für Faden, in das große Muster des Lebens.

Ein leiser, verhängnisvoll-schöner Anfang – wie ein goldener Lichtschimmer im silbernen Morgentau, der versprach, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor.

Chapter 6: Der Ruf der Stummen Stimmen

Chapter Text

Datum: Frühes Veydris, Schattenmonat (347 n.K)
Ort: Thal'Vareth
Figuren: Ein Ordensflüchtling & Saren Vaal'Shir

 

Arkanis erinnerte sich an ihn – so, wie nur Städte erinnern können: schweigend, kalt, mit der Geduld von Äonen. Nicht jene Kälte, die Fleisch durchdringt und mit Wolle und Feuer bezwungen werden kann. Sondern die andere – die aus den Poren der Mauern sickert, aus Mörtelfugen kriecht, aus dem Gewicht akkumulierten Wissens aufsteigt. Eine Kälte, die Gedanken auf Hauttemperatur herunterkühlt, bis selbst das Herz zu zögern beginnt. Kein Winterfrost, sondern geistige Starre. Eine Stille, die mit dem Staub vergessener Archive durch die Korridore wandelt, als wäre jeder Band darin ein versiegelter Atemzug toter Gelehrter.

Varyn kannte diese Kälte wie einen alten Liebhaber – intim und schmerzhaft. Fünf Jahre lang hatte er sie vermisst, nicht mit Sehnsucht, sondern mit dem nagenden Gewicht einer unbezahlten Schuld. Und sie hatte ihn nie wirklich verlassen, nicht einmal als er Arkanis den Rücken kehrte. Sie lebte weiter in ihm, kroch durch seine Adern wie verdünnter Wein.

Die Kathedralen des Wissens ragten noch immer empor – majestätisch und unbeeindruckt von der Zeit, die an ihren Fundamenten leckte. Türme, deren Spitzen nicht demütig zum Himmel strebten, sondern ihn durchbohrten wie steinerne Speere – stumm, trotzig, wie eingefrorene Hymnen auf vergessenen Lippen. Errichtet nicht, um gehört zu werden, sondern um das Sprechen selbst zu verbieten. Zwischen ihren Bögen nisteten Schatten, die nicht wanderten, sondern warteten. Und Licht, das nicht wärmte, sondern wachte – wie die unblinkenden Augen einer uralten Präsenz, die nichts vergisst und alles verzeiht, außer dem Vergessen selbst.

Entlang der gewölbten Decken glommen magische Laternen in silbernem Licht. Niemals flackernd, niemals schwankend – ihr Schein konstant wie der Herzschlag einer schlafenden Gottheit. Nicht zur Orientierung erschaffen, sondern als permanente Mahnung: Du bist nicht allein. Hier sieht dich das Wissen selbst.

Der Boden unter seinen Stiefeln war glatt geschliffen, nicht von Handwerk, sondern vom stillen Tritt zahlloser Ordensmitglieder, von Pilgern der Gedanken, die über Jahrhunderte ihre Spuren in den Stein getreten hatten. Die Wände waren durchzogen von sogenannten Atemreliefs – den Einatmetäfelungen. Winzig, beinahe übersehbar, wie Pocknarben im Mauerwerk. In sie war Ikaril-Schrift gemeißelt – Konzepte: Einverleibung, Wahrnehmungsbruch, Zweites Hören. Worte, die nicht gesprochen, sondern eingeatmet wurden, die man im Raum wirken ließ wie Weihrauch einer intellektuellen Liturgie.

Arkanis war nicht erbaut worden. Es war emporgehoben worden – Schicht um Schicht aus den Eingeweiden der Berge geschält, wie ein fossiles Gedächtnis, das seine eigene Auferstehung vollzieht. Die Mauern besaßen ein Gedächtnis für jeden, der durch sie gewandelt war. Und sie erinnerten sich besonders scharf an jene, die niemals hätten zurückkehren sollen.

Varyn bewegte sich bedächtig durch die Gänge. Jeder Schritt war komponiert, kalkuliert. Er wollte aussehen wie jemand, der sich erinnerte, wie es sich anfühlte, dazuzugehören – wie ein Schauspieler, der eine vergessene Rolle wieder aufnimmt. Doch selbst die Stille schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, wie ein verstimmtes Instrument in einem ansonsten perfekten Orchester.

Fünf Jahre war er fort gewesen. Nicht verurteilt. Nicht gejagt. Aber aus der Ordnung gelöscht wie ein peinlicher Fehler in einer Abschrift. Der Eid der Stummen Stimmen, den er einst geschworen hatte, war nicht wie ein Vertrag zerrissen worden – sondern wie eine Melodie, die man absichtlich falsch spielt. Nicht laut genug, um Ohren zu verletzen, aber deutlich genug für jene, die die Partitur der Stille lesen konnten. In dieser Welt bedeutete das nicht nur Abweichung. Es bedeutete Dissonanz im kosmischen Chor.

Er war damals gegangen, weil er glaubte, das Schweigen sei pervertiert worden – missbraucht wie ein heiliges Werkzeug in profanen Händen. Jetzt war er zurück. Nicht aus Reue, die wie saure Milch schmeckte. Nicht aus Trotz, der wie Feuer brannte. Sondern weil ihn etwas gerufen hatte.

Kein Brief mit vertrautem Siegel. Kein Bote mit bekanntem Gesicht. Etwas Tieferes. Ein Vibrieren in jenem Fragment, das er nie hatte wegwerfen können – ein Überrest einer Bannschriftrolle, verkohlt, fast zu Asche zerfallen wie die Träume seiner Jugend. Und doch hatte es in jener einen Nacht zu flimmern begonnen – nicht zu glühen wie Kohle, sondern zu flimmern wie Erinnerungen auf der Schwelle zwischen Traum und Wachen. Als würde es sich erinnern an das, was es einst gewesen war. Und Varyn hatte gehorcht wie ein Hund seinem Herrn.

Er war durch Tunnel geschritten, die längst versiegelt sein sollten, vorbei an Wächtern, die ihn nicht aufhielten. Nicht, weil sie ihn übersahen – sondern weil sie ihn erkannten wie ein verlorenes Familienmitglied. Keine Worte wurden gewechselt. Kein Nicken ausgetauscht. Nur dieses leise Ausweichen, als hätte seine Rückkehr kein Gesetz gebrochen, sondern eines erfüllt, das älter war als alle geschriebenen Regeln.

Jetzt stand er dort. Vor jener Wand, die nur Eingeweihte kannten, nur eine Fläche von blasser, feuchter Unscheinbarkeit. Und doch... atmend. Nicht sichtbar, aber spürbar wie ein Puls unter der Haut. Wie eine Narbe in uraltem Stein, die nie richtig verheilt war. Wer wirklich lesen konnte – wer die Tiefenschrift der Realität entzifferte –, der sah es: Sie bestand nicht aus Stein, sondern aus kristallisierter Bedeutung. Keine Runen, keine offensichtlichen Zeichen, sondern Tiefenschrift – verwoben und geschichtet wie die Ringe eines uralten Baumes.

Varyn legte die Fingerspitzen auf das kalte Material. Kein ritueller Gruß. Kein geflüsterter Zauber. Keine komplizierte Formel. Nur ein Gedanke, klar wie Bergwasser: Ich bin bereit.

Die Wand öffnete sich nicht. Sie wich zurück – mit der stillen Gnade einer Idee, die endlich verstanden wird, wie ein Atemzug, der zu lange angehalten wurde.
Der Raum dahinter war klein – doch größer als jede Erinnerung. Die Kammer der Gedämpften Lehren. Sie war nicht zur Beobachtung entworfen. Sondern zur Transformation. Nicht zum Sitzen, nicht zum Sprechen. Nur zum Begreifen auf einer Ebene, wo Worte zu groben Werkzeugen werden.

Die Wände bestanden aus Marmor, aber nicht hell und einladend. Dunkel, durchzogen von feinen Adern aus Violett und Schwarz, die pulsierten wie Blutgefäße in durchscheinendem Fleisch. In ihnen lag keine Verzierung – sondern Verdichtung. Gedanken, die als Linien konserviert worden waren wie Insekten in Bernstein. Magie ohne Glanz. Struktur ohne sichtbare Formeln.

Im Zentrum: eine Plattform aus obsidianschwarzer Masse, so glatt poliert, dass sie jedes Licht verschluckte – ein Kreis der Auslöschung, nicht der Präsentation. Kein Staub hatte sich je darauf gesetzt. Kein Geräusch hallte von ihr wider. Keine Möbel. Keine Einladung. Nur Zweck, reduziert auf seine mathematische Essenz.

Die Decke wölbte sich in einem schlichten Bogen. Keine Fresken, keine Inschriften, keine Kunstfertigkeit. Nur ein einziger goldener Ring, der entlang ihrer innersten Linie verlief wie ein Heiligenschein ohne Heiligen. Kein Schmuck – eine Klangbremse, ein uraltes Artefakt zur Beruhigung des Raumes selbst. Einst hatte man hier wohl gesungen. Jetzt war selbst das Echo verstummt, als hätte es sich zu Tode geschämt.

Und da war sie. Saren Vaal'Shir.

Varyn hielt den Atem an, als würde Luft holen sie verscheuchen. Sie war nicht gealtert – nicht sichtbar jedenfalls. Doch etwas war anders, wie ein Lied, das in einer anderen Tonart gesungen wird. Ihre Haltung war nicht mehr der Stand eines Menschen, sondern die Form einer Idee, die Fleisch angenommen hatte. Sie stand wie ein Gedanke, der sich manifestiert hat und nun nicht mehr weiß, ob er materiell oder metaphysisch ist.

Ihr Mantel war tiefdunkel, fast lichtschluckend – „Stoff des Schweigens", gewebt aus Sedimentstaub und der Seide von Spinnen, die nie das Sonnenlicht gesehen hatten. Ein Gewebe, das Geräusche schluckte wie trockene Erde Regen. Ihre Lippen waren geschwärzt – nicht tätowiert, sondern täglich neu bemalt mit einer Tinte aus verbrannten Büchern. Ein Ritual. Ein stilles Bekenntnis: Ich habe gesprochen. Und beschlossen, es nie wieder zu tun.

Sie war einst seine engste Verbündete gewesen. Vielleicht mehr, vielleicht weniger – zwischen den Stummen Stimmen bedeutete Zuneigung nicht Nähe, sondern Synchronisation. Und Brüche klangen nicht durch Lautstärke, sondern durch Verschiebungen in der Harmonie der Stille.

Sie sprach. „Du denkst, du wärst zurückgekehrt." Ihre Stimme war wie Splitter in altem Holz – nicht zerbrochen, aber von Rissen durchzogen, die jederzeit aufbrechen konnten.

Ein halber Schritt auf ihn zu. Bewegung ohne Geräusch, wie ein Schatten, der seine Substanz vergessen hat. Und doch hatte sie Gewicht, Präsenz wie ein Druckabfall vor dem Sturm. „Aber wir haben dich geholt."

Varyn antwortete nicht. Noch nicht. Seine Finger glitten in die Manteltasche und zogen das Fragment hervor. Die Ränder waren verbrannt, zerfressen wie von Säure oder Zeit. Doch die Linien – die uralten, webartigen Zeichen – pulsierten schwach wie ein sterbender Herzschlag. Wie Erinnerungen, die sich weigerten zu verblassen, obwohl ihr Kontext längst verloren war.

Saren sah nicht das Fragment. Sie sah ihn – durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas geschnitten. In ihren Augen: keine Wut, die hätte explodieren können. Keine Überraschung, die hätte erschrecken können. Nur Pflicht – ein uraltes Echo ihrer Rolle, abgespielt wie eine Melodie, die sie im Schlaf summen könnte.

„Du bist zu spät", sagte sie mit der Endgültigkeit eines Grabsteins. „Oder genau rechtzeitig", flüsterte Varyn wie ein Gebet.

Sie schloss die Augen – nur für einen Moment, einen Herzschlag lang. Ein Atemzug, als würde sie etwas in sich hineinholen, das ihn betraf, eine Erinnerung oder Instruktion aus dem kollektiven Gedächtnis des Ordens. Dann trat sie zur Seite. Kein Befehl, keine Einladung. Nur: Raum.

Die Plattform war leer. Doch das, was hier wartete, war nie aus Stein gewesen. Varyn wusste es mit der Sicherheit des Ertrinkenden, der den Grund unter den Füßen verliert. Er trat auf die Fläche.

Es gab keinen Übergang, keine Veränderung des Lichts, nichts Spürbares. Doch etwas begann sich zu verschieben – nicht um ihn herum, sondern in ihm, wie Sediment, das sich in stehendem Wasser neu ordnet. Ein langsames Ziehen. Wie ein Gedanke, der endlich hervortreten darf, obwohl er jahrelang unausgesprochen geblieben war. Die Luft wurde dichter, schärfer – nicht durch Geruch, sondern durch Erinnerung, die sich formte wie Atem auf kaltem Glas.

Er stand – und doch sank er. Nicht körperlich, sondern in Bewusstseinsschichten. Von der Oberfläche des Wachseins hinab in tiefere Zonen, wo Gedanken noch nicht zu Worten erstarrt waren. Schicht um Schicht, Gedanke um Gedanke, bis Sprache bedeutungslos wurde und Bedeutung zu sprechen begann. Nicht zu ihm. Sondern mit ihm, in ihm, durch ihn hindurch.

Er spürte keine Gegenwart, kein Wesen, keine Stimme aus dem Jenseits. Aber etwas hörte ihn – oder hatte ihn längst gehört, vor Jahren, als er noch glaubte, allein mit seinen Zweifeln zu sein. Und jetzt – endlich – antwortete es. Nicht mit Sätzen, die hätten missverständlich sein können, sondern mit der Struktur von Entscheidung selbst.

Zuerst kamen Bilder. Verzerrt wie Reflexionen in zersprungenem Glas. Zerschnitten wie ein Schatten in bewegtem Wasser – erkennbar, aber nie greifbar. Nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern nach emotionalem Gewicht geordnet.

Der Bote in Elythara. Das Gesicht des Mannes – friedlich im Schlaf, ahnungslos. Varyns Hand an der versiegelten Rolle, die Siegel noch ungebrochen. Doch sein Blick war nicht mehr neutral, nicht mehr der eines unparteiischen Überbringers. Er wusste bereits, was in der Botschaft stand – nicht, weil er sie gelesen hatte, sondern weil er es wissen wollte, mit einer Gier, die an Sünde grenzte.

Dann – kein Feuer, kein spektakulärer Akt der Zerstörung. Nur Entschluss, kalt wie Stahl. Ein Wille, den Text zu tilgen, bevor er Schaden anrichten konnte. Ein Gedanke, schärfer als jede Klinge, die je geschmiedet wurde. Das Netzwerk der Stimmen hatte diesen Moment gesehen – nicht, weil es physisch anwesend war, sondern weil es überall weiterlief wie ein neurales System, das jeden Gedanken registrierte, der stark genug war, um Spuren zu hinterlassen.

Dann kam Deyvara. Aber nicht, wie Varyn es kannte, nicht die geordnete Stadt seiner Erinnerung. Nicht der Botschafter in seinem Amtssitz. Sondern die Frau, die schrie, als ihr Sohn nicht heimkehrte. Der Händler, der verstummte, weil Verträge plötzlich nicht mehr eingehalten wurden. Der Junge, der floh, obwohl er nicht wusste, wovor. Der Wächter, der nicht suchte – weil niemand mehr wusste, wem man trauen konnte in einer Welt, wo Botschaften verschwanden, bevor sie ankamen.

Dann kam Saren. Nicht verborgen hinter Schleiern und Masken. Nicht mystisch entrückt. Sondern am Rand eines Saals, schweigend wie eine Statue. Ihr Blick auf ihn gerichtet – nicht leer, nicht weich, nicht einmal vorwurfsvoll. Nur wach. Immer wach.

Ihre Gedanken kamen nicht als Stimme, sondern als Druck in seiner Brust, als Gewicht auf seinen Lungen: Ich habe dich gedeckt.

Er hatte das nie gehört, nie gewusst. Doch er wusste jetzt, dass es stimmte, mit der Sicherheit des Steins, der fällt. Denn jetzt spürte er es – das Netz, das ihn getragen hatte, auch als er glaubte, allein und verloren zu sein.

Er war nicht in einem Raum. Er war in einem Gedächtnis. Ein kollektives, stilles Archiv, kein Ort der Urteile oder Strafen. Ein Ort der Verbindungen, wo jeder Gedanke mit jedem anderen verwoben war wie Fäden in einem kosmischen Teppich.

Du wolltest gehört werden – nicht verstehen.

Dieser Satz war kein Tadel, der hätte verletzen sollen. Er war ein Knotenpunkt, eine Erkenntnis. Nicht geboren aus Moral oder Gerechtigkeit, sondern aus der nackten Beobachtung von Ursache und Wirkung.

Er sah sich selbst – nicht als Feind des Ordens, nicht als Verräter. Sondern als Schwachstelle im System, ein Riss in der Struktur. Nicht aus Bosheit entstanden, sondern aus Ungeduld, aus dem Wunsch, verstanden zu werden, bevor er selbst zu verstehen gelernt hatte.

Die Stummen Stimmen hatten ihn nie verstoßen. Sie hatten ihn weitergetragen, auch in seiner Abwesenheit, in der Stille, in der jedes Echo bleibt – selbst wenn es nie laut genug wurde, um gehört zu werden.

Jetzt war er dort, wo Bedeutung nicht mehr erklärt werden musste, wo Worte nicht zu überzeugen brauchten. Nur verstanden zu werden – oder nicht.

Eine letzte Welle durchfuhr ihn, nicht visuell, sondern emotional. Kein Bild, nur Gefühl: Der Schattenmonat. Der beginnende Riss zwischen den Welten. Nicht als einzelner Moment, sondern als Konsequenz einer langen Kette von Entscheidungen. Und er war Teil davon gewesen. Nicht der Auslöser – ein Katalysator. Ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Eine Stimme sprach – nicht laut, nicht seine eigene, sondern aus dem Netz selbst, aus dem kollektiven Bewusstsein der Stummen Stimmen: Du kannst nicht wiedergutmachen. Aber du kannst tragen.

Etwas schälte sich aus seinem Denken wie eine Schlange aus alter Haut. Ein neuer Gedanke, der nicht sein eigener war und doch aus ihm geboren wurde. Keine Aufgabe im traditionellen Sinne. Keine Rolle, die er hätte spielen müssen. Nur ein leeres Blatt – nicht aus Pergament oder Papyrus, sondern aus kristallisierter Stille.

In seiner Hand formte sich etwas: Die neue Schriftrolle. Kein physisches Material, keine Tinte aus Ruß und Galle. Nur Spur, Potenzial. Begonnen in ihm, fortzusetzen durch ihn, aber nicht von ihm allein bestimmt.

Die Prüfung war vorbei. Aber sie hatte nie begonnen, nicht wirklich. Denn sie war kein Test gewesen, keine Herausforderung, die bestanden oder nicht bestanden werden konnte. Sie war ein Satz, der auf Antwort wartete – nicht in Worten, die hätten gelogen werden können, sondern in Haltung, in der Art, wie ein Mensch durchs Leben geht.

Varyn stand wieder auf der Plattform, seine Füße fest auf schwarzem Obsidian. Sein Atem war ruhig wie ein schlafender See. Seine Knie schmerzten leicht – nicht vom Knien, das er nicht getan hatte, sondern vom Tragen eines Gewichts, das er nicht kannte.

Er hob den Blick. Saren war noch da, noch immer im Schatten, aber anders. Nicht als Wächterin, die hätte strafen müssen. Nicht als Henkerin, die ein Urteil zu vollstrecken hatte. Nicht als ehemalige Vertraute, die alte Wunden hätte heilen oder vertiefen können. Sondern als Teil desselben Netzes, als Knotenpunkt in derselben Struktur.

„Und?", fragte sie. Ihre Stimme war ein Schleier über einem Grabstein – nicht tot, aber jenseits des Lebens, wie sie es kannte.

Varyn antwortete nicht mit Worten. Aber er hob die Schriftrolle, zeigte sie ihr – so, wie man einen Eid nicht spricht, sondern hält, ohne dass Worte nötig wären.

Sie nickte. Ein Millimeter Bewegung, mehr nicht. „Dann bist du wieder einer von uns."

Er wusste, was das bedeutete. Nicht Vergebung, die hätte Schuld vorausgesetzt. Nicht Heimkehr, die hätte Abwesenheit bestätigt. Nur Teilsein. Wieder Teilsein.

Die Kammer atmete nicht auf – Steine haben keine Lungen. Sie veränderte sich nicht sichtbar. Aber etwas hatte sich verschoben, wie ein Puzzle, das ein fehlendes Teil zurückbekommt. Nicht sichtbar für Augen. Nicht benennbar für Zungen. Wie ein Satz, der nie vorgelesen, aber endlich verstanden wurde.

Varyn ließ die Rolle sinken und verließ den Raum – ohne dass sich eine Tür öffnete, ohne dass Stein sich bewegte. Der Nebel zwischen den Wänden wich zurück – nicht durch Magie, sondern durch Respekt. Durch Anerkennung.

Drei Tage vergingen wie Atemzüge eines schlafenden Riesen. Arkanis sprach nicht über ihn. Die oberen Hallen lagen wie immer in träger Gleichgültigkeit, durchbrochen nur vom Kratzen von Federn auf Pergament, vom Echo vereinzelter Schritte, vom Atem zwischen den Gängen. Kein Ruf nach Gerechtigkeit. Kein Aufschrei der Empörung. Kein Protokoll seiner Rückkehr.

Und doch: Etwas hatte sich verschoben. Nicht laut, nicht sichtbar. Wie ein Druck in der Luft kurz bevor ein Gewitter beginnt – eines, das sich nicht sicher ist, ob es kommen oder vergehen soll, ob es Zerstörung oder Reinigung bringen wird.

Varyn lebte zwischen Etagen, in Korridoren, die zu selten benutzt wurden, um Aufmerksamkeit zu erregen. Kein Quartier wurde ihm zugewiesen. Kein Bett erwartete ihn. Kein Zeitgefühl strukturierte seine Tage. Er war nicht angekommen, nicht wirklich. Nicht geblieben, nicht im herkömmlichen Sinne. Nur da. Präsent wie ein Schatten, der seinen Körper verloren hat.

Die Rolle schlief bei ihm – nicht im Physischen, denn sie hatte keine Substanz, die hätte ruhen können, sondern im Gedächtnis. Er trug sie nicht wie einen Gegenstand. Er führte sie wie einen blinden Gefährten.

Am dritten Tag, zur Zeit des ersten Schattenlichts – diesem seltsamen Dämmerglanz, wenn über Thal'Vareth der Himmel zugleich bricht und blüht wie eine Blume aus Licht und Dunkelheit –, stieg er empor zur obersten Halle der Magister.

Der Weg war steinern, verschlungen wie ein Gedankengang, von einem Hauch aus Eisen und altem Papier durchzogen, als würden die Bücher selbst atmen. Der Wind, der durch die Gänge strich, trug kein Geräusch mit sich. Nur Richtung, nur Zweck.

Die Versammlungshalle war so still, wie nur Orte sein können, an denen viel gesprochen, aber wenig gesagt wurde. Sie war nicht prunkvoll – Prunk hätte abgelenkt von ihrer Funktion. Sie war funktional, aber mit einer Würde, die nicht erkauft, sondern verdient war.

Im Zentrum stand ein sechzehnkantiger Tisch – breit wie die Karte eines Grenzlandes, geschnitzt aus einem einzigen Baum, der älter war als die meisten Städte. Umgeben von Kanzeln aus Rauchglas, jede davon besetzt mit Gildenführern, Stimmen der Einflusszonen, Teilchen einer Maschine, die nicht Macht war sondern die Verwaltung von Wirkung.

Varyn betrat den Saal nicht – er hatte kein Recht dazu, noch nicht. Er trat an die Milchglasscheibe, eine Wand für jene, die nicht sprechen durften oder sollten. Kein Schutz vor Gewalt, kein Filter gegen Wahrheit. Nur Perspektive, ein Rahmen für Beobachtung.

Die Gildenführer tagten mit der Effizienz eines Uhrenwerks. Worte flossen – präzise, gemessen, geschärft wie Klingen aus bestem Stahl. Diplomatie wurde wie ein Schachspiel gespielt. Wirtschaft wurde wie Wissenschaft behandelt. Die Sicherheitslage an den Grenzpassagen wurde analysiert wie ein medizinisches Problem. Die Wetterknoten in Vaedh-Tirn zeigten Anomalien – möglicherweise Folge überlasteter Kreislaufadern, möglicherweise etwas Schlimmeres, etwas, das sich nicht in Berichte fassen ließ.

Ein Navigationsmagister sprach von erhöhten Transitraten zwischen den Schmugglerrouten. Ein älterer Mann mit gelbem Haar und müden Augen, der aussah, als hätte er zu viel gesehen und zu wenig vergessen können, berichtete von neun neuen Routen, wo Schmuggler Wege fanden, die auf keiner Karte verzeichnet waren.

Varyn hörte nichts wirklich Neues. Aber er hörte anders als früher, mit Ohren, die für Untertöne geschärft waren. Die Sätze waren sauber konstruiert, grammatikalisch perfekt. Doch sie wichen aus wie scheue Tiere. Niemand benannte offen, was längst in der Luft lag wie Rauch von einem fernen Brand: Dass zu viele Systeme nicht mehr reagierten wie sie sollten, dass Netzwerke, einst synchron wie ein Bienenstock, nun stotterten wie Maschinen ohne Wartung.

Er legte die Schriftrolle auf das Glas. Keine dramatische Geste, kein magisches Symbol. Nur eine Verbindung, ein Fluss – nicht von Information, die hätte missverstanden werden können, sondern von Erinnerung, die tiefer ging als Worte.

Die Rolle bewegte sich nicht, veränderte sich nicht. Und doch – auf dem Tisch, inmitten des kartierten Landes aus Holz und Elfenbein, erschien ein einziger Satz. Nicht geschrieben mit Tinte, nicht gesprochen mit Stimme. Erschienen wie Tau am Morgen, als wäre er schon immer da gewesen und wartete nur darauf, gesehen zu werden: „Was nicht gesagt wird, bestimmt dennoch das Gespräch."

Er flackerte nicht wie eine Kerzenflamme. Er rief nicht um Aufmerksamkeit wie ein Marktschreier. Er war einfach da, unausweichlich wie die Schwerkraft. Wie ein Spiegel, der nie benutzt, aber auch nie entfernt wurde.

Stille folgte – nicht gewöhnliche Stille einer Pause, sondern die tiefe Stille der Erkenntnis. Dann – Bewegung, langsam wie das Erwachen aus einem langen Traum.

Ein alter Mann erhob sich aus seinem Stuhl. Sein Haar war grau wie der Winterhimmel, seine Augen blind wie Milchglas, aber seine Ohren hörten auf Bedeutung, nicht auf Klang. Sein Mantel trug das Zeichen der Ormathi – eine Kammer, die offiziell nicht mehr bestand. Ein Archivist. Im Ruhestand. Oder nie ganz.

Der Mann blickte nicht zu Varyn auf. Seine Augen ruhten auf den verschlissenen Steinfliesen, als läse er dort Geschichten, die nur er kannte. Doch seine Schultern strafften sich – eine unmerkliche Bewegung, die durch den Raum hallte wie der erste Tropfen vor einem Sturm.

Er verneigte sich. Nicht vor dem Satz. Sondern vor der Tatsache, dass er endlich gesagt worden war. „Die stillen Ratgeber sind erwacht", sagte er, und seine Stimme klang wie altes Pergament, das zwischen den Fingern raschelt.

Dann setzte er sich wieder, die Bewegung so bedächtig, als würde er ein kostbares Gefäß zu Boden stellen. Und der Rest sprach leiser. Nicht aus Angst. Sondern, weil sie sich erinnerten, dass Schweigen kein Vakuum ist – sondern Struktur. Ein Fundament, auf dem Wahrheiten ruhen.

Er hatte nichts gesprochen. Aber der Satz, den er getragen hatte – wie einen Stein im Magen, wie einen Dorn unter der Haut –, bewegte mehr als jede Abstimmung der letzten Wochen.

Draußen, auf dem oberen Hof, empfing ihn der Wind – nicht wie ein Freund. Aber wie jemand, der ihn kannte und keine Zeit für Höflichkeiten hatte. Er zerrte an seinem Mantel, peitschte kalte Finger um seine Knöchel, trug den Geschmack von Eisen und fernen Regenfällen mit sich. Varyn atmete tief ein und spürte, wie die Luft seine Lungen füllte – scharf, lebendig, unerbittlich.

Der Himmel über Arkanis war metallisch. Wie geschmolzenes Blei, das sich weigerte, eine Form anzunehmen. Unentschlossen. Schwer. Der Schattenmonat hatte seinen Zenit erreicht. Das Licht fiel anders – nicht schwächer, aber dichter, als müsse es sich durch unsichtbare Schichten kämpfen. Und in der Ferne – fast unsichtbar, nur ein Flüstern am Horizont – zogen sich die Wolken über Kael'Zara, als folgten sie alten Linien, die längst aus den Karten verschwunden waren. Pfade, die nur noch die Winde kannten.

Varyn trat an den Rand der Mauer. Der Stein unter seinen Handflächen war kalt und rau, von Jahrhunderten gezeichnet. Er spürte die Tiefe unter sich – nicht nur die physische Leere, sondern etwas Größeres. Ein Abgrund, der zurückblickte.

In seiner Hand: das alte Fragment. Das, was er einst verbrannt – und dann doch bewahrt hatte. Ein Widerspruch, der ihn seit Jahren verfolgte. Die Tinte war blass, fast verschwunden. Doch er kannte jede Schleife, jeden zittrigen Strich. Nicht mehr als Sprache. Sondern als Schuld. Als Erinnerung an den Moment, in dem er zum ersten Mal verstanden hatte, was Macht wirklich bedeutete.

Zwischen zwei tragenden Steinen – dort, wo das Regenwasser floss, wenn die Berge atmeten – fand er eine Nische. Klein, verborgen, wie für diesen Zweck geschaffen. Er schob das Fragment hinein, seine Finger zitterten leicht. Nicht wie ein Opfer. Sondern wie ein Platzhalter. Etwas, das wartet, bis jemand Neues bereit ist, es zu deuten. Bis die Zeit reif ist für eine andere Geschichte.

Dann – ein Laut. Nein. Kein Geräusch. Nur Bewegung, erkannt durch den sechsten Sinn derer, die zu lange in Gefahr gelebt haben. Erkannt durch Erfahrung. Ein Schatten, der sich löste, ein Atemzug, der nicht der Wind war.

Er drehte sich nicht um. Er wusste, wer da war. Der Geschmack von Eisen verstärkte sich, und etwas in seinem Nacken kribbelte – die primitive Warnung des Körpers vor dem Unvermeidlichen.

„Du hast getan, was du tun musstest", sagte Saren. Ihre Stimme schnitt durch die Luft wie eine Klinge durch Seide. Klar wie Glas, das kurz vor dem Zerbrechen steht.

Er sagte nichts. Was gab es noch zu sagen? Die Worte lagen alle hinter ihm, ausgesprochen oder für immer verloren.„Aber das reicht nicht." Ihre Stimme trug keine Gnade, kein Urteil. Nur Notwendigkeit. Ein Satz, der zu Ende geht. Der Punkt am Ende einer Geschichte, die zu lange gedauert hatte.Er schloss die Augen. Der Wind legte sich, als hielte die Welt den Atem an.

Der Schnitt war schnell. Präzise. Professionell. Kein Schmerz. Nur ein Aussetzen – ein leiser Riss im Zentrum seines Seins, als würde ein unsichtbarer Faden durchtrennt.

Er fiel nicht. Er verschwand – nicht im physischen Sinne, sondern auf eine Weise, die tiefer ging. Seine Präsenz löste sich auf wie Tinte in Wasser und seine Energie wurde in den Kreislauf gesogen. Sein Körper sackte zusammen, wie eine Entscheidung, die man zu lange getragen hat. Wie ein Buch, das endlich zugeklappt wird.

Saren stand still, eine Statue aus Fleisch und Blut. Sie wischte das Messer nicht ab. Sie sprach kein weiteres Wort. Es gab nichts mehr zu reinigen, nichts mehr zu erklären.

Am Fuß der Mauer – wo das Fragment in seiner steinernen Nische ruhte – vibrierte etwas. Bedeutung. Pure, unverdünnte Bedeutung, die sich durch die Luft ausbreitete wie Ringe auf Wasser. Ein Flüstern kehrte zurück in die Welt. Und diesmal blieb es. Als Struktur. Als neues Fundament für das, was kommen würde.

Der Wind nahm wieder auf, trug das Flüstern fort über die Dächer von Arkanis, über die fernen Berge, in die wartende Dunkelheit hinein.

 

Chapter 7: Nai xor'mir - Mehr als ein Satz

Notes:

⚠️ _Content Warning / Triggerwarnung:_

Diese Geschichte enthält sensible Themen wie Gewalt gegen Kinder, staatliche Hinrichtungen, Machtmissbrauch, magische Folter, kulturelle Unterdrückung und psychische Belastung. Bitte lese nur weiter, wenn du dich emotional sicher fühlst.

Es geht um Mut, Verlust, Rebellion – und das stille Gewicht eines Satzes.

„Nai xor'mir – kein Besitz mehr."

Chapter Text

Datum: 28. Sylvaris – Höhepunkt des Fests des Erblühens, kulturell verankert bei den Syl'Quen. (300 n.K)
Ort: Waldlichtung nahe Eldoria, in der Nähe eines alten Aesthyr-Baums
Figuren: Kaelenya, ein alter Schreiber, Erisen Tal'Quen, Selvarin & König Ivarion Thir'Vael

 

Der Wald von Eldoria kannte keine Stille – er atmete mit dem Herzschlag der Welt. An gewöhnlichen Tagen summte er leise Melodien zwischen den Wurzeln, flüsterte uralte Geheimnisse durch die Blätter oder lauschte einfach den Träumen seiner Bewohner. Doch heute, am achtundzwanzigsten Tag des Sylvaris, vibrierte jede Faser seines Wesens vor Leben. Das Erblühen hatte begonnen, und mit ihm erwachte eine Magie, die älter war als die ersten Städte der Menschen. Überall tanzten feuchte Blütenblätter auf samtigem Moos. Wassertropfen funkelten wie flüssige Diamanten auf geflochtenem Laubwerk. Von den oberen Ästen der ehrwürdigen Aesthyr-Bäume baumelten zeremonielle Bänder, die im gedämpften Licht glühten wie eingefangene Sterne. Runen aus schimmernder Wasserfarbe pulsierten sanft in der uralten Rinde – manche heilend, manche preisend, manche einfach nur da, um zu bezeugen, dass Leben existierte und sich seiner selbst freute.

Die Geister waren gegenwärtig. Unsichtbar wie Mondschein, ungreifbar wie Nebel, doch so real wie der Tau, der sich auf allem sammelte. Alte Legenden behaupteten, der achtundzwanzigste Sylvaris sei der einzige Tag im Jahr, an dem die Bäume selbst Gericht hielten – an dem Wurzeln entschieden, wem das Land gehörte und wem es seine Gnade entzog. Heute jedoch schien ihr Flüstern verstummt, als warteten sie auf etwas Bestimmtes. Vielleicht auf Mut. Vielleicht auf Trauer. Vielleicht auf jene verlorenen Seelen, die gegangen waren, ohne je wirklich aufgebrochen zu sein.

Am Fuß einer Wurzellichtung hockte ein Mädchen mit nackten, erdverkrusteten Füßen. Ihr Gesichtsausdruck passte so gar nicht zu der fröhlichen Feier ringsum. Ihre dunklen Locken klebten widerspenstig an der Stirn, als hätten sie längst aufgegeben, feierlich auszusehen. Die grünen Flecken an ihren Ellbogen verrieten bereits zwei gescheiterte Versuche, sich elegant zu bewegen. Ihr Name war Kaelenya – was in der alten Sprache so viel bedeutete wie „Blatt, das sich niemals niederlegt" – doch heute fühlte sie sich eher wie ein besonders gelangweiltes Farnkraut, das zu lange in der Sonne gestanden hatte.

Ihre Familie besaß genug Ansehen, um zu den Festen eingeladen zu werden, aber zu wenig Einfluss, um gefragt zu werden, was sie davon hielt. Wurzelheiler, sagten die einen mit Respekt in der Stimme. Sanfte Linien mit starker Strömung, murmelten die anderen. Für Kaelenya bedeutete das vor allem eines: immer mitlaufen, aber nie mitentscheiden. Immer Teil des Festes, aber nie Teil der Stimmen, die zählten.

Die Alten sangen ihre uralten Lieder. Die Jüngeren wirbelten in komplizierten Tänzen umher. Die Geister – falls man an sie glaubte – raunten durch die Jahresringe der Bäume. Und Kaelenya? Eine winzige Lichtkugel hüpfte über ein spiralförmiges Schneckenhaus. Die Schnecke ignorierte sie völlig. Kaelenya grinste und ließ das Licht noch einmal wirbeln. Hier gab ihr niemand vor, wie sie ihre Gabe zu nutzen hatte. Kein Stempel, kein Aufseher, keine Pflicht. Nur reines, unschuldiges Spiel. Der Zauber folgte ihrem Atem wie ein gehorsamer Welpe. Er folgte ihren Launen statt irgendwelchen Anweisungen. Irgendwo tief in ihr regte sich ein flüchtiger Gedanke – fremd wie ein unbekannter Duft im Wind: dass es Zeiten gegeben hatte, in denen Kinder Licht geformt hatten, weil es von ihnen verlangt wurde. Weil jemand das Flackern in ihren Händen besitzen wollte wie einen kostbaren Edelstein.

„Wenn du vor Langeweile explodierst, bist du selbst schuld", murmelte sie zur Schnecke. Die zeigte keinerlei Reaktion. Vermutlich stammte sie aus einer alten Wurzelgeisterlinie – oder war einfach nur bemerkenswert stoisch.

Kaelenya schielte hinüber zur Hauptlichtung. Wieder einer dieser endlosen Segnungsgesänge. Sie kannte sie mittlerweile auswendig.

„Elyka velquor ar
Sylkael mirzorin atem
Thalka ka ely

Vel'thor ka velkaen
Sylvaris tharmir lorin
Elythar zoriel ar

Zor'kael thalzar
Thalzar velquor ka
Elyka velquor ar"

Mit einem theatralischen Seufzer rollte sie sich rücklings das moosige Gefälle hinunter. Die Bewegung war definitiv alles andere als würdevoll. Sie landete auf dem Rücken zwischen zwei schimmernden Farnkronen. Über ihr verfing sich das Licht wie glühender Staub zwischen den sich kreuzenden Ästen. Sie schloss die Augen und gab sich der warmen Umarmung des Waldes hin. Vielleicht würde sie einfach hier liegen bleiben, bis jemand ihr einen Zeremonientrank direkt in den Mund goss.

Dann vibrierte etwas. Leise. Sanft. Wie ein Herzschlag, der plötzlich einen anderen Rhythmus fand.

Unter ihr. Tief im Boden. Sie hob den Kopf und lauschte. „Ich hab wirklich nichts kaputt gemacht", flüsterte sie vorsichtshalber in die Stille hinein. Ein Kribbeln durchfuhr sie. In der Haut. Im Zahnfleisch. Unter den Füßen. Als hätte die Erde selbst beschlossen, mit ihr zu sprechen.

Sie setzte sich auf und grub ihre Finger tief ins samtige Moos. Ihre Magie floss – nur leicht, ein zartes Streiflicht ohne feste Form. Ihre Gabe war weder mächtig noch präzise, aber sie besaß eine Sensibilität, die ihr manchmal Dinge spüren ließ, die anderen verborgen blieben. Und genau jetzt spürte sie etwas Ungewöhnliches. Es fühlte sich anders an als eine Wurzel. Anders als Wasser. Es war wie ein Strom aus reiner Energie – wirbelnd, verdichtet, als würde etwas Uraltes versuchen, sich wieder zusammenzufügen. Vorsichtig krabbelte sie tiefer ins Unterholz. Dort verschränkten sich die Äste zu einem grünen Dach. Der Boden roch plötzlich nach Ehrwürdigkeit. Nicht modrig oder feucht – sondern erhaben. Als hätte hier einmal etwas gebrannt, das niemals hätte brennen dürfen.

Die Magie in ihr kribbelte intensiver.

Unter einer dick verkrusteten Wurzel wartete etwas. Halb verborgen zwischen verwitterten Steinsplittern. Kaelenya blinzelte. Nein – es wartete nicht. Es rief.

Sie legte zögernd die Hand darüber, zögerte einen Herzschlag lang. Dann schloss sie die Finger darum. Es war kalt. Schwer. Und irgendwie... von unendlicher Traurigkeit erfüllt.

Ein zerbrochener Dolch. Doch keine gewöhnliche Klinge.
Das Material war Zarharnil – Knochenquarz, der nur in den verfluchten Schluchten von Kael'Zara wuchs.

Seine Oberfläche schimmerte blass wie verbranntes Elfenbein. Winzige, nadelartige Adern durchzogen das Material und flackerten selbst im gedämpften Licht. Kaelenya spürte instinktiv, dass dies kein Material war, das man berühren sollte. Trotzdem hielt sie es fest. Der Dolch fühlte sich kühl an, aber keineswegs tot. Als hätte er die Magie um sich herum verdrängt, um Raum zu schaffen für etwas Mächtigeres: reine, unverfälschte Geschichte.

Vielleicht hatte die Zeit ihm das Gift genommen. Oder vielleicht erkannte er sie. Der Splitter selbst war vielleicht harmlos – doch das, was ihn einst getragen hatte, war es gewiss nicht gewesen. Zarharnil galt als verboten. Ein Material, das magische Strömungen band und sie in verdrehte, unnatürliche Bahnen lenkte. Nur Narren, Fanatiker oder Verzweifelte hatten je Waffen daraus geschmiedet. Und nun lag ein Stück davon in ihrer zitternden Hand.

Ein Wort war in die Oberfläche eingeritzt – oder vielmehr ein Fragment davon.

„...mir"

Sie hielt es lange, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Magie zuckte wie nervöse Glühwürmchen. Der Splitter war mehr als ein Gegenstand. Er war eine Entscheidung, die darauf wartete, getroffen zu werden.

„Den solltest du hier nicht finden." Die Stimme erhob sich aus der Stille wie ein alter, müder Atem. Nicht direkt bedrohlich – aber auch alles andere als harmlos.

Kaelenya wirbelte herum. Ein alter Mann saß wenige Schritte entfernt. Er war halb verschmolzen mit dem Schatten eines gewaltigen Baumbogens. Ein Umhang hing um seine gebeugte Gestalt – er schien mehr aus Geschichte als aus Stoff zu bestehen. Seine Augen waren grau wie Winterhimmel, aber keineswegs trüb. Wach. Viel zu wach für jemanden, der so bewegungslos wirkte wie ein Teil des Waldes selbst.

„Warst du die ganze Zeit da?" fragte sie. Ihre Stimme klang höher, als ihr lieb war. „Nein", sagte der Mann bedächtig. „Ich war nur... nicht fort." „Wer bist du?"
„Jemand, der nicht mehr mitfeiert."
„Warum nicht?"

Er nickte bedeutsam auf den Dolchsplitter in ihrer Hand. „Weil manche Dinge nicht gefeiert werden." Sie senkte den Blick. Der Splitter war unscheinbar. Und doch fühlte er sich an wie eine Frage, die auf eine sehr persönliche Antwort wartete. „Weißt du, was das ist?" fragte sie.
„Ich weiß, was es einmal war." „Und was war es?" Der Alte legte die Hände bedächtig in den Schoß. Er sprach leise, aber mit einer Klarheit, die jeden Zweifel ausschloss.

„Ein Versprechen. Ein Verrat. Ein Echo. Ein Wort, das nie wieder leise war, auch wenn niemand es mehr auszusprechen wagte." „Willst du es mir erzählen?"

Er sah sie lange an, als würde er in ihren Augen nach etwas Bestimmtem suchen. Dann sagte er:
„Früher wurde es anders gezeigt. Man sagte es, ja – aber man zeigte es auch." Er hob zwei Finger an die Stirn. Dann führte er sie in einer langsamen, zeremoniellen Bewegung zur Erde. Er hielt sie dort einen Atemzug lang und ließ sie los, als würde er einen unsichtbaren Faden fallen lassen. „So zeigten wir es: Ich gehöre mir selbst. Weder dir noch eurer Ordnung. Nicht einmal der Angst."
Er blickte zu einem Punkt zwischen ihnen – vielleicht zu einem Ort, den sie noch nicht sehen konnte. „Ich erzähle es dir."

Der Wald schien den Atem anzuhalten, als der alte Mann zu sprechen begann. Jedes Wort füllte den Raum aus wie Nebel, der sich langsam zwischen die Bäume legte. Kaelenya saß im weichen Moos. Das Dolchfragment lag fest in ihrer Hand. Sie spürte, wie ihre eigenen Gedanken zu lauschen begannen. „Es war am fünften Kaelmaris, zum Blutturnier", sagte der Alte. Seine Stimme trug die Last von Jahrzehnten. „Ein Fest für Ehre, Krieg und Tradition – so nannten sie es damals. Eine uralte Vaelari-Sitte. Und als Ivarion Thir'Vael, der Sturmherrscher höchstpersönlich, seine Teilnahme ankündigte, geriet die gesamte Welt aus dem Gleichgewicht." Kaelenyas Augen weiteten sich. „Der König von Vaelarion? Er war dabei?"
Der Mann nickte schwer. „Er war der Grund, warum alles zerbrach." Er stützte sich auf sein Knie, als müsste er sich gegen die Last seiner Worte stemmen.

„Ich war Chronist im mittleren Protokollamt – dort, wo man Geschichten bewahrt, aber vor allem entscheidet, welche Version der Wahrheit das Recht bekommt zu existieren. Alles andere wurde weggeschlossen. Oder offiziell vergessen. Wir hatten den Auftrag, den Ablauf der Turniere aufzuzeichnen. Der Grund war weniger Neugier als Kontrolle. Was nicht festgehalten wurde, hatte nie stattgefunden. Und was die Archive segneten, wurde zur unumstößlichen Wahrheit." Seine Stimme wurde dunkler, wie Schatten, die sich über eine Lichtung legen. „In jenem Jahr forderte Ivarion etwas, das noch kein König vor ihm gewagt hatte: Dass alle Turniere an diesem Tag auf Leben und Tod ausgetragen werden sollten. Keine symbolischen Ehrenkämpfe mehr. Kein Rückzug. Kein Aufgeben. Nicht einmal für die Jüngsten."

Kaelenya runzelte die Stirn. „Aber warum?"
„Weil er glaubte, dass nur durch den Tod wahre Ordnung entstehen kann. Dass Mut sich erst im Angesicht der letzten Grenze beweist. Und weil er..." – der Mann hielt inne, als würde er gegen unsichtbare Fesseln ankämpfen – „weil er den Syl'Quen grundlegend misstraute."
Ein Windstoß rauschte über die Lichtung, als würde der Wald selbst das bestätigen.

„Wir hatten immer unsere eigenen Riten", fuhr er fort. „Wettkämpfe im heiligen Kreis. Bewegung, Magie, Ehre. Keine Tötung, keine Sieger. Nur geteilte Geschichte. Aber diesmal... mussten auch wir Kämpfer stellen. Und wir stellten zwei." Kaelenya vergaß zu atmen. „Der eine war Erisen Tal'Quen – Wächter der Dritten Wurzel, Bote zwischen dem Ältestenrat und dem Außenvolk. Kein Krieger im klassischen Sinne. Aber jemand, der Wurzeln trug. Gewicht. Eine Stimme, die zählte." „Und der andere...?" flüsterte sie.
„Ein Kind. Sie nannten ihn Selvarin. Er war elf Jahre alt. Gerade alt genug, um am Ritual teilnehmen zu dürfen – normalerweise ein Spiel, ein Schritt, ein Tanz ins Erwachsenenalter. Doch an diesem Tag... wurde aus dem Tanz eine tödliche Pflicht." Der Alte schloss die Augen, als könnte er das Geschehene noch immer vor sich sehen.
„Niemand hatte ihn bewusst gewählt. Es war als Ehrentanz geplant – so stand es auf den heiligen Tafeln. Die Namen der Kinder waren längst eingesendet, die Spiele vorbereitet, die Runen gebunden. Und dann... kam der Befehl."

„Ein Erlass aus Ivarions eigenen Händen, überbracht noch am Morgen des Turniers: Keine Rituale mehr. Keine Spiele. Nur Kampf. Nur Tod. Die Tafeln durften nicht neu beschrieben werden – die Teilnehmer standen unverrückbar fest. Es war, als hätte jemand beschlossen, ein Lied umzuschreiben, nachdem es bereits erklungen war." Der Alte hob den Blick. In seinen Augen lag kein Glanz, kein Trost. „Ich erinnere mich an das Geräusch, als er den Ring betrat. Kein Jubel. Kein Rufen. Nur dieses Murmeln. Das Murmeln, wenn alle hoffen, dass jemand anderes den Mut haben wird einzugreifen." Er blickte durch Kaelenya hindurch, als sähe er die Szene noch immer vor sich.

„Der Kampfplatz war kreisrund, gesäumt von steinernen Sitzen und uralten Bannerbögen. Die Luft lag schwer – nicht nur vom Rauch der Feuerschalen, sondern von einer Erwartung, die alles Leben aus dem Raum zu saugen schien. König Ivarion saß auf dem Sturmstuhl, seinem Reisethron – mit goldenen Nähten, die angeblich das Blitzmuster eines echten Himmelssturms nachzeichneten. Er sprach kein einziges Wort. Doch seine bloße Anwesenheit schnürte allen die Kehle zu."
„Und Erisen?"
„Er betrat die Arena. Wie immer. Ohne Zorn. Ohne Rüstung. Nur seine alte Klinge. Kein Zauber. Kein Schild. Nur aufrechte Haltung." Der Alte schloss kurz die Augen, als sähe er die Szene direkt vor sich – oder vielmehr in sich. „Der Befehl wurde gesprochen. Der Gong erklang. Das Kind stand da. Es zitterte, blieb aber aufrecht. Seine kleinen Finger umklammerten ein hölzernes Übungsschwert, das plötzlich viel zu schwer für seine dünnen Arme wirkte. Und Erisen... senkte die Waffe. Er legte sie auf den Boden." Ein langes, schweres Schweigen.

Dann sprach er – weder laut noch trotzig:
„Nai xor'mir. Nicht mehr Besitz.
Ich bin kein Werkzeug mehr. Ich bin kein Teil eures Spiels mehr."

„Es war kein Schrei. Kein Aufbegehren. Nur ein Satz, gesprochen wie ein letzter Gedanke vor dem ewigen Schlaf. Doch dieser Satz hallte wider. Wie Magie. Wie unumstößliche Wahrheit."

Kaelenya bekam Gänsehaut. Ein Schauer lief ihr über die Arme. Die feinen Härchen stellten sich auf. Der Splitter in ihrer Hand vibrierte, als hätte er den Satz wiedererkannt.

„Ivarion Thir'Vael rührte sich nicht. Kein Aufbrausen. Kein Blitz. Nur ein Blick, kälter als Wintereis. Dann sagte er: ‚Tal'varan. Es sei.' – ein uralter Spruch aus dem Vaelari-Recht, so selten gehört, dass die meisten seine Bedeutung vergessen hatten. Er bedeutete: Die Gnade ist entzogen, das Ende soll Bedeutung tragen. Nur ein König durfte ihn sprechen – und nur, wenn keine Revision mehr möglich war. Ein einziges Wort. So still wie ein Sturm, der noch nicht entschieden hat, wohin er schlagen wird."
„Manche sagen, der Befehl entsprang keiner Wut. Sondern dem Wunsch zu erfahren, wie weit man die Stille treiben konnte." Der Alte schluckte schwer. Seine Stimme wurde brüchiger. „Zuerst herrschte Stille. Eine Stille, die sich anfühlte wie die Luft vor einem Gewitter. Dann begann das Murmeln. ‚Vielleicht', dachten alle, ‚vielleicht würde der König Gnade zeigen. Vielleicht war das genug. Ein Zeichen der Unterwerfung.'
Selvarin ließ sein Holzschwert fallen und rannte zu Erisen. Der große Mann fing ihn auf. Für einen winzigen, hoffnungsvollen Moment sah es aus wie das Ende eines schlechten Traums. Das Kind vergrub sein Gesicht an Erisens Brust. Der Wächter legte schützend die Arme um ihn. ‚Es ist vorbei', flüsterte jemand hinter mir. ‚Der König kann doch unmöglich...' Aber Ivarion Thir'Vael stand auf. Langsam. Bedächtig. Wie ein Raubtier, das sich Zeit nimmt, weil es weiß, dass seine Beute nirgendwo hinlaufen kann. Seine goldenen Gewänder raschelten in der Stille wie trockene Blätter. Jeder Schritt hallte über den Platz, obwohl er Ledersohlen trug. Er blieb direkt vor Erisen und dem Kind stehen. So nah, dass er hätte flüstern können. Aber er sprach laut genug, dass jeder im Umkreis ihn hören konnte.
‚Du hast das Turnier verweigert', sagte er zu Erisen. Seine Stimme war ruhig. Beinahe freundlich. ‚Du hast die Ehre deines Volkes verweigert. Du hast mich verweigert.'

Erisen hob den Kopf. Immer noch das Kind im Arm. ‚Ich verweigere den Mord an einem Unschuldigen.'
‚Mord?' Ivarion lächelte. Es war das kälteste Lächeln, das ich je gesehen habe. ‚Dies ist kein Mord. Dies ist Ordnung. Dies ist die natürliche Folge von Ungehorsam.'
Er wandte sich an die Menge. ‚Seht ihr? So beginnt Aufruhr. Mit einem Mann, der glaubt, er könne entscheiden, welche Befehle er befolgt und welche nicht. Mit einem Mann, der seine eigenen Regeln über die eines Königs stellt.' Die Kriegsrichter zögerten. Sogar sie, ausgebildet für Gehorsam, schienen zu schwanken.
‚Majestät', wagte einer von ihnen zu sagen, ‚das Kind ist noch...' ‚Das Kind', unterbrach Ivarion scharf, ‚ist Teil des Turniers. Es wurde ordnungsgemäß eingetragen. Es hat teilgenommen. Und es hat verloren.'
Er deutete auf Selvarin, der sich noch enger an Erisen klammerte. ‚Sieh es dir an. Es versteckt sich. Es weint. Ist das der Mut, den ihr euren Kindern beibringt? Ist das die Ehre der Syl'Quen?' Murmeln erhob sich aus der Menge. Einige nickten. Der König sprach geschickt – er machte aus dem Kind einen Schwächling und aus Erisen einen Verräter.

‚Aber vielleicht', sagte Ivarion, und seine Stimme wurde fast sanft, ‚vielleicht gibt es einen Weg. Erisen Tal'Quen, Wächter der Dritten Wurzel, du kannst das Leben dieses Kindes retten.' Hoffnung flackerte in Erisens Augen auf. Ich sah es. Wir alle sahen es.
‚Knie nieder', sagte der König. ‚Schwöre mir ewige Treue. Verzichte auf deine Wurzelrechte. Werde mein Vasall, und das Kind lebt.'

Die Stille war ohrenbetäubend. Erisen blickte hinunter zu Selvarin, dann hinauf zum König. Der Junge sah zu ihm auf mit Augen voller Vertrauen. Er verstand nicht, was geschah, aber er vertraute darauf, dass Erisen ihn beschützen würde.
‚Ich...' begann Erisen. ‚Ja?' Ivarion lächelte wieder. ‚Du wirst knien?'
Erisen senkte den Kopf. Seine Knie begannen sich zu beugen. Und dann... hielt er inne.
Er sah zu dem Jungen hinunter. Zu diesem vertrauensvollen Gesicht. Und dann blickte er direkt in Ivarions Augen. ‚Nai xor'mir.'
Das Lächeln verschwand aus Ivarions Gesicht wie Wasser aus einem zerbrochenen Krug.
‚So sei es', sagte er. Seine Stimme war jetzt Eis. ‚Tal'varan.'

Was dann geschah... Die Kriegsrichter bewegten sich, als wären sie in einem bösen Traum gefangen. Selvarin begriff erst, als die Hände nach ihm griffen. Er schrie. Nicht vor Schmerz – vor Verwirrung. Vor Verrat.
‚Erisen!' rief er. ‚Erisen, hilf mir!'
Aber Erisen wurde von vier Männern festgehalten. Blut lief aus seinem Mund, wo er sich auf die Zunge gebissen hatte, um nicht zu schreien. Sie fesselten beide an denselben Pfahl. So nah, dass sich ihre Stirnen fast berührten. Selvarin zitterte vor Angst. Seine Augen suchten immer wieder Erisens Blick – als könnte dieser Blickkontakt ihn irgendwie retten. Das war Ivarions letzte, perfide Grausamkeit: Erisen zwingen zuzusehen, wie seine Prinzipien ein unschuldiges Leben kosteten.
‚Sieh ihn dir an', flüsterte der König kalt in Erisens Ohr. Seine Finger gruben sich in dessen Schulter. ‚Sieh, wie er auf dich hofft. Du könntest ihn retten, Erisen. Ein einziges Knien, und er darf leben'

Als das Urteil gesprochen war, traten zwei Schattenrichter hervor – schweigend, in Grau gehüllt. Ihre Hände trugen die rituellen Handschuhe. Die Handschuhe der Schattenrichter waren aus schwarzem Leder gefertigt – in sie waren Runen eingebrannt, aus Zarharnil-Staub. Die Runen galten laut den späteren Archiven als erste Anwendung der Bindungsrituale. Damals verstand noch niemand, dass diese Runen nicht nur töteten – sie versklavten. Dieses Detail erkannte ich erst Jahre später, als dieselben Symbole in die Haut gefangener Syl'Quen eingebrannt wurden.
‚Nein', flüsterte Selvarin plötzlich, als er den Dolch sah. Seine Stimme brach. ‚Bitte nicht...'

Der erste Schnitt traf den Jungen – aber nur oberflächlich. Blut rann ihm die Kehle hinab, doch er lebte noch. Der Schattenrichter hatte präzise gearbeitet: genug, um zu bluten, nicht genug, um schnell zu sterben.
Erisen musste mit ansehen, wie Selvarins warmes Blut über seine eigenen gefesselten Hände tropfte. Der Junge keuchte. Seine Augen weiteten sich vor Panik, als er spürte, wie sein Leben langsam aus ihm heraussickerte.
‚Du hättest...', würgte Selvarin hervor. Rosafarbener Schaum färbte seine Lippen. ‚Der König... er hätte...'
Dann begannen die Pfähle ihr wahres Werk. Die Zarharnil-Splitter erwachten und bohrten sich unsichtbar in ihre Körper. Nicht nur das Blut wurde ihnen entzogen – ihre Lebenskraft selbst wurde langsam herausgesaugt. Selvarin zuckte unkontrolliert. Seine kleinen Finger krallten sich in die Fesseln, als würde er versuchen, sich an seinem eigenen Leben festzuhalten.
Erisen konnte nur zusehen. Zusehen, wie das Kind langsam verblasste, wie seine Haut grau wurde, wie seine Augen ihre Farbe verloren. Der zweite Schnitt an seiner eigenen Kehle kam fast wie eine Erlösung – doch auch er starb langsam, während das Kind noch immer röchelte.
Selvarins letzter Atemzug war ein leises Wimmern. Sein Blick suchte Erisens bis zum Ende – nicht vorwurfsvoll, sondern voller einer schrecklichen, kindlichen Vergebung.
So endete nicht nur ihr Leben, sondern ihr Platz in der Ordnung.
Das war der Moment, in dem etwas in mir zerbrach. In dem ich aufhörte, an Ordnung zu glauben. In dem ich verstand, dass manche Regeln nichts als geheiligter Wahnsinn sind."

Kaelenya zuckte zusammen. Nicht sichtbar – nicht für jemanden, der sie beobachtet hätte. Aber in ihr bebte etwas. Ihr Atem stockte, und der feine Nebel, der eben noch an ihren Fingerspitzen tanzte, zerplatzte in winzigen Lichtsplittern. Ihre Finger umklammerten den Splitter so fest, dass sich feine Risse in der Haut bildeten, unscheinbar, aber brennend wie ein unausgesprochenes Versprechen. Der Dolch war kalt, doch ihre Hand war feucht vor Hitze. Kein Schrei entwich ihr, kein Wort – nur die plötzliche Erkenntnis, dass Trauer auch dann existierte, wenn man keine Tränen fand.
Der Alte schwieg lange. Tränen liefen über sein Gesicht.

„Der König blieb bis zum Ende. Er sah zu. Und als es vorbei war, sagte er: ‚So stirbt der Aufruhr.' Aber er irrte sich. In jenem Moment wurde er geboren. Es war keine gewöhnliche Hinrichtung. Kein Verbrecher-Tod. Es war... ein Ritual. Einer jener alten Strafakte, die nur vollzogen werden, wenn jemand mehr als nur Regeln bricht – wenn er Grundsätze zerschlägt.
Man durchtrennte mehr als nur Körper. Man durchtrennte die Energie einer Person selbst."

Kaelenya spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
„Und niemand schrie?" „Die Syl'Quen im Publikum weinten. Einige riefen. Andere gingen einfach. Noch während der Urteilsverkündung verließen zwei Ältestenpaare den Versammlungsplatz – ohne ein Wort. Ihre Runen begannen zu verblassen. Das war... das Ende der freiwilligen Bindung." Er schwieg lange. Dann sagte er: „Ich schrieb es auf. Natürlich im öffentlichen Register – das hätte ich nie gedurft. Ich gravierte es auf eine Tafel. Tief unter dem Archiv von Sil'varan, zwischen den versiegelten Texten. Ich weiß bis heute nicht, ob sie noch existiert."

„Aber das Fragment...?" fragte Kaelenya leise. „Als der König das Urteil sprach, bebte der Platz. Kein Blitz traf die Erde – aber etwas Unsichtbares zerbrach. Die Strömung selbst stürzte in sich zusammen." „Und Nai xor'mir...?" „Wurde zu einem Schatten. Man sagte es fortan weder laut noch leise. Doch manchmal... wenn ein Kind sich weigerte, den Stock zu heben, oder wenn ein Wächter den Befehl verweigerte – dann flüsterte jemand: ‚Er trägt das Wort im Herzen.'" Er sah sie direkt an. „Und nun hältst du es in der Hand."

„Es war bei weitem nicht der einzige Splitter", sagte er dann leise. „Einige liegen vielleicht noch im Flussgestein verborgen. Andere... in Händen, die gelernt haben zu schweigen. Was an diesem Tag begann, war nicht nur ein Bluturteil. Es war der erste Schritt in einer neuen Ordnung – einer Ordnung, in der man glaubte, Magie könne man zähmen, wenn man nur fest genug schnürte. Aus einem Satz wurde ein Gesetz. Aus „Nai xor'mir" wurde ein Warnsignal. Und aus einem Volk – wurden Werkzeuge."

Kaelenya schwieg lange. Der Splitter in ihrer Hand war kalt geworden, aber keineswegs stumm. Sie spürte, dass er mehr wusste, als je auf seiner Oberfläche eingraviert stand. Zwischen den feinen Rillen – kaum tiefer als Atemzüge – pulsierte etwas, das sie beim besten Willen nicht benennen konnte. Es war kein Zauber. Es war Geschichte. Nicht die geschriebene, sondern die verlorene. Die, die flüstert, wenn man zu lange in die Schatten alter Wurzeln blickt. Der Alte sah sie immer noch nicht direkt an. Seine Augen ruhten auf einem Punkt zwischen Farn und Wurzelholz, als hätte die Erde dort etwas zurückgelassen, das er niemals hatte loslassen können.
„Warum hast du geschwiegen?" fragte sie schließlich.

Er antwortete lange Zeit gar nichts. Und als er sprach, klang es wie pure Erschöpfung. „Weil ich befürchtete, dass niemand es hören würde – oder dass niemand es überleben würde." „Aber du lebst doch."
„Atmen und leben sind zweierlei."

Kaelenya senkte den Blick. Ihre Finger fuhren über die scharfe Bruchkante der Klinge. Sie hatte in ihrem Leben unzählige Geschichten gehört. Von Helden, die Drachen erschlugen. Von Geistern, die Lieder sangen, bis sie zu Flüssen wurden. Von Blutgesandten, die mit einem einzigen Blick töten konnten. Aber nichts davon hatte sich so angefühlt wie das hier. Dies war keine Geschichte. Es war eine Entscheidung, die noch immer Wurzeln schlug.

„Warum hat keiner etwas getan?" fragte sie. „Als sie Erisen und Selvarin fesselten. Als der König..."
Der Alte hob eine Augenbraue. Es lag keine Ironie darin. Nur bittere Wahrheit. „Man tut wenig, wenn man glaubt, dass das Richtige in der Ordnung liegt."
Sie sog die kühle Waldluft ein. Der Duft von Moos und blühenden Wurzelschirmen vermischte sich mit der Bitterkeit, die hinter seinen Worten lag.

„Ich war kein Weißrindiger", sagte er nachdenklich, „aber ich kannte ihre Zeichen. Gekratzte Linien auf der Unterseite alter Wurzelschuppen. Zählmuster in abgebrochenen Blatträndern. Sie waren leise. Doch wer lesen wollte, konnte verstehen, was gesagt wurde. Ich war Chronist, ja – aber nie ganz Teil ihrer Geschichte. Nur einer, der zwischen den Zeilen las, weil in den offiziellen Sätzen nichts Wahres übrig blieb." „Und was ist mit dir?" Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. „Hast du am Ende auch einfach... mitgeschrieben?"

Ein schmerzhaftes Zucken ging durch seine Wange. Er war getroffen, aber nicht beleidigt. „Ich habe versagt. Genau wie alle anderen auch. Nur... weniger sichtbar." Er stand langsam auf. Seine Bewegungen waren weder gebrechlich noch unsicher, aber vorsichtig – wie jemand, der wusste, dass selbst der Wald urteilt, wenn man zu hastig geht. „Ich bin hier, weil ich überlebt habe. Und das allein ist kein Verdienst."

Sie sah zu ihm hoch. Der Aesthyr-Baum hinter ihm neigte sich kaum merklich. Oder bildete sie sich das nur ein?
„Und warum erzählst du es mir jetzt?"
Er antwortete lange Zeit gar nichts. Dann: „Weil du gefragt hast. Weil du die Klinge gefunden und sie gekannt hast. Und weil du sie weder gesucht noch sofort behalten wolltest." Sie blickte auf den Splitter. Und dann, ganz leise: „Ich will wissen, was ich damit machen soll."
Ein sanftes Lächeln glitt über sein Gesicht. Kein glückliches. Aber eines, das den Wert dieses Geständnisses zu würdigen wusste. „Das Wort hat keine Anweisung. Es ist keine Waffe. Es ist... eine Weigerung, Werkzeug zu sein." Sie spürte, wie sich etwas tief in ihr regte. Kein Feuer. Kein Zorn. Etwas Tieferes. Wie Wurzeln, die sich neu ordnen.

„Ich bin niemand", sagte sie. „Keine Gelehrte. Keine Wächterin." „Das war Erisen auch. Er war nur jemand, der entschied, dass ein Kind nicht sterben darf, bloß weil es jemand befohlen hat."

Sie schloss die Hand fester um den Quarz. „Ich will es aufschreiben." Der Alte blinzelte überrascht. Und dann nickte er langsam. „Schreib es auf Borke. Auf Wasser. In Hände. In Augen. In dein Schweigen, wenn andere zu laut sind."
Sie stand auf. Es war keine Entscheidung oder Schwur, sondern nur ein Schritt. Der Wind hatte sich gedreht. Die Lichter auf der Lichtung waren weitergezogen – aber der Wald blieb.

„Wirst du bleiben?" fragte sie. Der Alte sah sich um. „Ich bin der Schatten an der Wurzel. Ich gehe, wenn Licht zu lange bleibt." Sie lächelte. Nicht fröhlich. Aber ehrlich. „Dann hoffe ich, dass du bleibst, bis mein Schweigen laut genug ist." Er sah sie zum ersten Mal mit echtem Respekt an. „Vielleicht bist du gar keine, die fragt, sondern eine, die antwortet."

Sie trat zurück auf den Pfad. Der Splitter in ihrer Hand fühlte sich schwer an. Nicht, weil er drückte – sondern weil er wog. Jedes Wort, das je gesprochen, aber nie gehört worden war, lag in diesem kleinen Stück konzentriert. Und während sie ging, wusste sie: Sie trug kein Schwert in der Hand. Sie trug ein Nein. Ein stilles, unbeugsames Nein gegen eine Welt, die glaubt, sie dürfe alles fordern, solange sie es mit Regeln bemalt.

„Nai xor'mir", flüsterte sie. Kein Spruch. Ein Selbstgespräch. Und der Wald hörte zu. Vielleicht war es das erste Mal seit langer Zeit, dass jemand das tat.

Ein leiser Wind fuhr durch die Äste. Hinter ihr löste sich ein einzelnes Blatt vom Aesthyr. Kein Zufall. Kein Herbst. Es fiel – es entschied sich. Es schwebte in einer langsamen Spirale zu Boden und landete mit der Unterseite nach oeben vor ihren Füßen. Eine Rune war hineingebrannt – feiner als jede Farbe, fremd in ihrer Form. Keine aus den Lehren, keine aus den Büchern. Nur ein Kreis, offen an einer Seite, wie ein Mund, der beschlossen hatte, das Schweigen zu brechen.

Kaelenya betrachtete das Blatt lange. Es war kein Zeichen von den Göttern. Es war ein Echo. Und manchmal, dachte sie, während sie das Fragment fester umschloss, begann Veränderung weder mit einem Ruf noch mit einem Schwert – sondern mit einem leisen, unbeugsamen Nein, das sich weigerte zu verstummen.

Sie hob das Blatt auf und legte es neben den Dolchsplitter in ihre Handfläche. Zwei Fragmente einer Geschichte, die noch geschrieben werden wollte. Der Wind trug den Duft von Moos und neuen Blüten zu ihr herüber, vermischt mit etwas, das sie erst jetzt zu verstehen begann: dem Geruch der Hoffnung.

Als sie die Lichtung verließ, folgte ihr das Flüstern der Bäume. Nicht als Warnung oder Prophezeiung, sondern als stilles Versprechen. Der Wald würde sich erinnern. An Erisen. An Selvarin. An die Worte, die gesprochen worden waren, als alle anderen schwiegen. Und vielleicht, nur vielleicht, würde er sich auch an ein Mädchen erinnern, das an einem Tag des Erblühens beschlossen hatte, dass manche Geschichten zu wichtig waren, um vergessen zu werden – auch wenn es gefährlich war, sie zu erzählen.

Der alte Mann blieb zurück, verschmolzen mit den Schatten der Wurzeln, so still wie ein Grabstein. Aber seine Augen folgten ihr, bis sie zwischen den Bäumen verschwand. In seinem Blick lag etwas, das dort lange nicht mehr gewesen war: die vorsichtige Glut einer Hoffnung, die sich noch nicht zu brennen wagte.

Kaelenya ging weiter, den Splitter fest in der Hand, das Blatt in der anderen. Hinter ihr erwachte der Wald zu neuem Leben, als hätte ihre Entscheidung etwas Uraltes wieder zum Atmen gebracht. Vor ihr lag der Pfad zurück zur Zivilisation, zu den Menschen, die feierten und lachten und vergaßen. Aber sie würde nicht vergessen. Und vielleicht, wenn sie mutig genug war, würde sie dafür sorgen, dass andere sich ebenfalls erinnerten.

Nai xor'mir. Die Worte flüsterte der Wind nun mit, trugen sie von Baum zu Baum, von Wurzel zu Wurzel, bis sie sich wie Samen in der fruchtbaren Erde der Wahrheit niederließen. Manche Samen, dachte Kaelenya, während sie zwischen Licht und Schatten hindurch wandelte, brauchten sehr lange zum Keimen. Aber wenn sie es einmal taten, konnte sie niemand mehr aufhalten.

Der Dolchsplitter in ihrer Hand pulsierte einmal, ganz leise, wie ein Herzschlag. Wie ein Versprechen.

Chapter 8: Verdanthollow

Chapter Text

Datum: 20. Sylvaris, (349 n.K)
Ort: Verdanthollow
Figuren: eine Wanderin

 

Das Boot glitt lautlos durch den Morgennebel. Nur das sanfte Gleiten der Flusshaut gegen das Holz verriet, dass es sich bewegte. Zu beiden Seiten ragten uralte Bäume aus dem Wasser, ihre Wurzeln griffen tief ins Dunkel, und dazwischen schimmerten die ersten Lampen. Es war das Zeichen, dass sie fast da war.

Verdanthollow zeigte sich, wie es immer war - still und voller Leben zugleich.

Als das Boot an einer niedrigen Plattform anhielt, stand sie auf. Die Bohlen unter ihren Füßen waren feucht, aber fest. Kein Begrüßungsruf, kein Schild, kein Wachposten. Nur ein Steg, der sich langsam zwischen dem Schilf verlor. Der Bootsführer - ein Mann mit wetterbrauner Haut und Händen wie Wurzelwerk - nickte ihr zu. "Ersten Besuch?" fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf. "Zweiten dann", sagte er und lächelte. "Der erste zählt nie richtig."

Die Sonne hatte den Nebel fast ganz vertrieben, aber in den Winkeln zwischen den Stelzenhäusern hielten sich noch einzelne Schleier. Das Licht spielte auf dem Wasser, lief an den feuchten Holzbohlen entlang, und jedes Mal, wenn die Wanderin über einen der schwimmenden Stege trat, fühlte es sich an, als würde der Fluss sie kurz tragen. Die Siedlung wirkte wach, aber noch ruhig. Holz knarzte in seinem eigenen Rhythmus. Die Fenster standen offen, durch einige drang Dampf, durch andere Stimmen - leise Gespräche, ein Lachen, das Klappern von Geschirr.

Sie hatte viele Orte gesehen. Zuviel Bewegung, zu wenig Bleiben. Aber heute... heute wollte sie einen schönen Tag haben.

Ein Junge kam ihr entgegen, balancierte auf einem schmalen Brett, das er mit einem langen Stab lenkte. Seine Füße waren nackt, seine Hose bis zu den Knien hochgekrempelt. "Guten Morgen," rief er fröhlich und winkte mit der freien Hand. "Schöner Tag zum Ankommen!" Dann stieß er sich ab und glitt weiter, während er ein Lied summte, das klang wie Wasser über Steine.

Die Luft roch nach Kräuterdampf, warmem Harz und dem feuchten Duft frischer Blätter. Aus einer offenen Küche wehte der Geruch von gegartem Wurzelgemüse und süßem Blatttee. Ein Windspiel schlug gegen ein Asthorn, das im Takt der leichten Strömung wippte. Zwei Kinder balancierten über eine Brücke aus verwobenen Ranken, die aussah, als sei sie erst in der Morgendämmerung gewachsen. Die Zweige glänzten noch feucht vom Tau. Das eine Kind - ein Mädchen mit strohblonden Zöpfen - beugte sich vor und flüsterte etwas in Richtung des Wassers. Eine alte Frau in einem Schaukelstuhl auf einer nahegelegenen Veranda lächelte ihnen zu. "Lasst die Fische euch nicht erschrecken," rief sie gutmütig.

Unter den Kindern floss das Wasser breit und gemächlich, mit einem feinen Schimmer, der sich über die Oberfläche legte wie hauchdünnes Glas. Ein Stein sprang mit einem kleinen Spritzer Licht hinein. Das andere Kind lachte hell auf. Zwischen den Stegen trieb eine Schale aus Bast, darin eine Blüte mit leuchtenden Adern, die bei jeder Bewegung des Wassers kurz aufglühte.

Sie mochte diesen Ort. Hier drängte nichts. Die Wege zwischen den Häusern waren Stege aus hellem Holz oder geflochtenem Schilf, verbunden durch schwebende Brücken, die sich über kleine Becken und ruhige Durchlässe spannten. Manche Brücken waren fest, andere bewegten sich sanft unter den Schritten. Es gab kaum Geräusche, die auf Eile deuteten. Eine Katze lag zusammengerollt auf einem Seil zwischen zwei Pfosten und ließ sich von der Morgensonne wärmen. Ihre Pfoten baumelten im Rhythmus der leichten Bewegung.

An einem Fenster lehnte eine Frau mittleren Alters und kämmte ihr langes, graues Haar. Sie summte dabei eine Melodie, die sich mit dem Plätschern des Wassers verwebte. Als sie die Wanderin bemerkte, hob sie kurz die Hand zum Gruß, ohne das Kämmen zu unterbrechen.

Hinter einem Stand entrollte ein Händler gerade ein langes Tuch, auf dem kleine Gefäße aus Bambus glänzten. Eine ältere Frau schüttete Wasser auf heiße Steine, aus denen sogleich der Duft von Gewürzrinde aufstieg. Ein kleiner Hund mit struppigem Fell schnüffelte an den Ständen entlang, wurde hier mit einem Klaps verscheucht, dort mit einem Leckerbissen bedacht. Sein Schwanz wedelte unermüdlich.

Noch rollten viele Händler ihre Decken aus, banden Schalen fest oder füllten mit bloßen Händen Kräuter in Gläser. Ein Mann mit rötlichem Bart arrangierte kleine Holzfiguren - geschnitzte Vögel, Fische, Blätter - auf einem Stück Samt. Jede Figur war anders, und er stellte sie so auf, dass sie miteinander zu sprechen schienen. Eine Frau in einem blauen Gewand sortierte getrocknete Beeren nach Farben, und das Muster, das dabei entstand, sah aus wie ein Regenbogen auf ihrem Tisch.

Es war das leise Aufwachen am Morgen, und bald würde alles voller Leben sein, wie wenn ein Fluss über Nacht wieder Fahrt aufnimmt.

Der Markt zog sich über mehrere Plattformen, verbunden durch Seilgeländer und flache Stege, die auf dem Wasser zu ruhen schienen. Händler hockten auf weichen Bastmatten oder standen hinter niedrigen Theken, die aus Rindenplatten bestanden. Auf großen Blättern lagen sorgfältig gestapelte Wurzeln, handgewickelte Salben, eingelegte Früchte in gläsernen Kugeln. Eine junge Frau mit Sommersprossen probierte gerade eine bernsteinfarbene Paste und verzog lächelnd das Gesicht. "Scharf," sagte sie zu ihrer Begleiterin. "Aber gut scharf."

Zwischen den Ständen bewegten sich Menschen gemächlich, viele mit Körben, einige barfuß, andere mit schweren Stiefeln, die leise über das Holz schliffen. Ein alter Mann mit einem Gehstock aus poliertem Wurzelholz blieb an jedem zweiten Stand stehen und unterhielt sich mit den Händlern, als wären sie alte Freunde. Vielleicht waren sie das auch. Über allem hing ein ruhiger, warmer Geruch: feuchte Erde, fermentierte Blüten, ein Hauch Rauch aus Kräuteröfen.

An einem etwas abseits stehenden Stand fiel ihr Blick auf einen flachen Stein, der von unten beheizt wurde – nicht durch Feuer, sondern durch eingelassene Wärmerillen aus dunklem Holz, in das sich ein schwacher Glanz gezeichnet hatte. Darauf ruhten mehrere Fladen, rund, mit dunkler, leicht aufgerissener Kruste. In der Oberfläche waren violette Blüten eingebettet, feine grüne Adern zogen sich durch den Teig wie kleine Flüsse. Der Duft war kräftig, moosig, mit einem Hauch Süße, der an Honig und wilde Beeren erinnerte.

Hinter dem Stand saß eine Frau mit wettergegerbtem Gesicht, in deren Haut sich die Sonne und der Fluss geschrieben hatten. Ihre Augen waren hell wie Morgentau, und sie betrachtete die Fladen, als hörten sie ihr zu. Als die Wanderin näher trat, sprach die Frau leise. „Silor'Thyn," sagte sie nur. Der Name klang wie eine alte Formel, wie etwas, das mehr bedeutete als nur eine Bezeichnung. Aber es war eine der beliebtesten Speisen in ganz Sylvara. Ein fladen aus geriebenen Wurzeln, Kräutern und oftmals waren Pilze mit eingebacken aber die Zutat die es besonders machte, waren die Blüten, die zusätzlich in den Teig eingeknetet wurden. Sie wuchsen oben in den Bergen und werden extra gezüchtet. Roh konsumiert bringen sie dich wieder in eine schöne Erinnerung von schönen orten die man besucht hatte. Gebacken in dem Fladen sind sie allerdings schwächer und geben dir das glückliche Gefühl zurück, welches du hattest als du an einem schönen Ort warst.

Sie antwortete nicht, nickte nur und zog zwei Münzen aus einem kleinen Beutel. Die eine war glatt, aus hellmetallener Legierung, die andere leicht durchsichtig. Die Frau nahm sie entgegen, prüfte sie kurz mit geübten Fingern und reichte ihr einen Fladen. Er war warm in der Hand und roch nach Wäldern, die nie ganz trocken werden.

Ein paar Schritte weiter fand sie einen Platz am Rand eines Stegs, ließ die Beine über das Wasser baumeln und biss ab. Der Teig war dicht, aber nicht schwer. Die Kräuter darin entfalteten erst erdige Tiefe, dann etwas Weiches, Florales. Ein Geschmack, der sich nicht aufdrängte, sondern blieb und sich langsam in alle Winkel des Mundes ausbreitete. Sie kaute langsam, schloss die Augen nur für einen Moment.

Noch während sie kaute, formte sich in ihrem Inneren etwas – nicht scharf umrissen, sondern warm und weit wie eine Erinnerung, die sich nicht in Worten, sondern in Gefühlen zeigt.

Und plötzlich war das Dorf um sie herum nicht nur ein Ort – es war ein Echo.

Der Fladen hatte mehr als nur Geschmack getragen. Er war mit einem Ort verwoben gewesen – vielleicht sogar mit vielen. Und jetzt, da er sich in ihr auflöste, tat es der Ort auch. Schilf im Wind, das sich bog und wieder aufrichtete. Bastboote, die sanft gegeneinander schlugen, ein Rhythmus wie ein langsamer Herzschlag. Die Wärme von Sand unter nackten Füßen, noch warm von der Sonne des Tages. Stimmen, die über Wasser trugen, lachend, rufend, singend.

Es war kein bloßes Zurückdenken. Es war, als hätte ihr Körper sich erinnert, bevor ihr Verstand folgen konnte. Muskeln, die wussten, wie es war, über schwankende Stege zu gehen. Haut, die sich an die Feuchtigkeit der Luft erinnerte. Lungen, die nach dem Geruch von Wasserpflanzen und fermentierenden Blüten verlangten.

Sie lächelte und spürte, wie sich etwas in ihrer Brust entspannte, das sie gar nicht bemerkt hatte.

Die Wärme des Fladens hielt noch an, als sie das letzte Stück aß. Eine Kräuterader blieb an ihrem Daumen kleben, dünn wie Tinte, und sie rieb sie am Saum ihrer Jacke ab, ohne hinzusehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie ein Händler auf einer der Nachbarplattformen kleine Holzscheiben aufeinanderstapelte, jede bemalt mit winzigen Zeichen. Zwei Mädchen standen daneben und hielten bunte Tücher hoch, in die sie offenbar Sprüche knüpften. Jedes Mal, wenn der Wind durch das Gewebe fuhr, klang es, als würde jemand flüstern - nur so laut, dass man die Worte knapp über dem Rauschen des Wassers hörte.

Ein kleiner Junge mit einem Käfig voller summender Käfer kam vorbei. "Glückskäfer," erklärte er ihr ernst. "Wenn man ihnen etwas wünscht und sie dann freilässt, erfüllt sich der Wunsch." Seine Augen leuchteten vor Überzeugung. Eine Frau, offenbar seine Mutter, folgte ihm mit einem nachsichtigen Lächeln. "Entschuldigung," sagte sie. "Er ist heute sehr... unternehmerisch." Der Junge strahlte sie an, als wäre das das größte Kompliment der Welt.

Sie erhob sich langsam, beinahe bedauernd. Die Stege federten leicht unter ihren Schritten, als sie sich wieder in Bewegung setzte. Das Dorf lebte nun deutlich wacher als noch vor einer halben Stunde. Zwei Männer rollten eine Plattform aus geflochtenem Bast über das Wasser, darauf ein Sammelsurium aus Kisten, Krügen und Stoffbahnen. Ein paar Kinder folgten ihnen schwimmend – nicht im Wasser, sondern auf kleinen, runden Schalen aus Holz, die sie mit Stangen stießen. Auf den Tellern lagen Früchte, Blüten, handgefertigte Werkzeuge. Die Szene war so alltäglich wie friedlich.

An einer Kreuzung zweier Stege spielte ein Mann auf einer Flöte aus Schilfrohr. Die Melodie war einfach, aber schön, und passte zu dem sanften Plätschern des Wassers. Ein paar Münzen lagen in einem Hut vor ihm, aber er schien nicht darauf zu achten. Seine Augen waren geschlossen, und er schaukelte leicht im Rhythmus der Musik.

In einer Ecke, nahe einer schaukelnden Plattform mit handgenähten Stoffen, standen zwei Händler im Gespräch. Einer rollte gerade ein Leinentuch aus, während der andere die Kisten neben ihm sortierte. Ihre Stimmen trugen über das Wasser.

„Hast du gehört? In Eldoria wollen sie den neuen Marktverband ablehnen", sagte der eine, ohne aufzublicken.

„Sylvara bleibt eben stur", antwortete der andere mit einem Grinsen. „Alles soll im Fluss wachsen, bloß nichts über Brücken bringen."

„Dabei wäre ein direkter Austausch mit Vaelarion gut fürs ganze Tal. Ihre Kristalle gegen unsere Kräuter - das wäre ein fairer Handel."

Der erste zuckte die Schultern. „Wenn sie sehen, wie wir hier leben – ruhig, friedlich, verbunden – werden sie's irgendwann verstehen. Ohne Hektik. Ohne Raubbau. Unser Weg funktioniert seit Generationen."

Ein kurzes Schweigen. Dann ein trockenes Lachen.

„Und falls nicht – mehr für uns. Außerdem haben wir Elythara direkt über uns und sogar verbunden durch den Fluss, also sollen sie ruhig weiter handeln mit allem, was lebt. Wir tauschen lieber, was wächst. Ich hoffe nur, ihre Gewissen sind besser verpackt als ihre Ware."

Beide lachten leise, als der Wind durch die Stoffbahnen fuhr und sie über den Köpfen zu tanzen begannen. Ein Stück roten Seidenstoffs löste sich und segelte über das Wasser, landete auf einer Seerose und wurde von einem Frosch neugierig beschnuppert.

Nur wenige Schritte weiter wurde ihr Blick von einem kleinen, fast überladenen Stand eingefangen. Getrocknete Kräuter, gewundene Rindenstücke und kleine Phiolen standen nebeneinander, sorgfältig auf Bastmatten ausgelegt. Der Händler – ein drahtiger Mann mit lehmfarbenem Schal und Händen, die nach Gewürzen rochen – hielt gerade einem älteren Paar eine winzige Probeschale hin. Das Paar diskutierte leise über die Wirkung verschiedener Tinkturen, und der Händler erklärte geduldig die Unterschiede.

Als er sie bemerkte, nickte er ihr zu. „Neu hier, ja? Probier mal das hier – gegen Erschöpfung auf langen Wegen." Er reichte ihr ein kleines, flaches Holzgefäß. Darin schwammen feine, bernsteinfarbene Streifen, die nach Rauch, Zitrus und einem Hauch Minze rochen. Es sah aus wie flüssiges Gold im Sonnenlicht.

Sie probierte. Es war warm, klar, und hinterließ einen kühlen Nachhall, der sich angenehm in der Kehle ausbreitete. „Nicht schlecht", murmelte sie und spürte, wie sich eine leichte Frische in ihren Gliedern ausbreitete.

„Verdanthollow mischt nicht für den Markt", sagte der Händler mit einem stolzen Lächeln. „Wir mischen für den Fluss. Für die Menschen, die auf ihm reisen und in ihm leben."

Sie lächelte zurück. Das war mehr als nur eine Geschäftsphilosophie - es war eine Art zu leben.

Später nahm sie sich zwei kleine Päckchen mit und eine Flasche des goldenen Tranks. Der Händler wickelte alles sorgfältig in Blätter ein und band es mit einer Schnur aus geflochtenem Gras zusammen.

Weiter hinten, fast am Rand der sichtbaren Siedlung, verjüngte sich der Flusslauf und teilte sich in mehrere schmale Kanäle. Zwischen ihnen lagen Gärten – nicht auf festem Grund, sondern in flachen Holzrahmen, die auf dem Wasser trieben. In ihnen wuchsen Kräuter, Sporenfarne, moosige Blattgewächse. Eine Frau in einem blassen, wasserfarbenen Gewand tauchte eine kleine Schale in eines der Becken und trank. Keine Eile, kein Zweifel in ihrer Bewegung. Ihre Haare waren silbergrau und zu einem lockeren Knoten gebunden, aus dem einzelne Strähnen herausfielen und im Wind tanzten.

Ein Kind - vielleicht ihr Enkel - saß neben ihr auf einem Kissen und fütterte kleine Fische mit Krümeln. Die Fische sprangen nach den Brocken, und das Kind kicherte jedes Mal. Die Frau lächelte und strich ihm über den Kopf.

Die Wanderin blieb kurz stehen und sah zu. Dann ging sie weiter, tiefer in das Dorf hinein, wo der Nebel nie ganz verschwand. Er lag in dünnen Lagen über dem Wasser, verwandelte alles in weiche Umrisse. Einige der Häuser waren höher gebaut, ihre Dächer mit rankenden Pflanzen überwachsen. Blüten in allen Farben hingen über die Dachränder - rot, gelb, tiefes Violett. Aus einer Öffnung stieg ein zarter Duft – schwerer als der vom Markt. Es war ein Gemisch aus getrocknetem Holz, feuchter Erde und etwas, das an feinen Rauch erinnerte. Vielleicht eine Heilerin?

Wenig später fand sie eine der schmaleren Verbindungen, die aus dem Dorf hinausführten. Kein Tor oder Schild, nur ein Steg, der sich zwischen zwei überhängenden Bäumen hindurchschlängelte. An einem der Äste hing ein Stück Stoff, wettergegerbt, mit einer Rune darauf, die aussah wie ein stilisierter Wassertropfen. Darunter hatten sich Moos und Algen gesammelt. Die Pflanzen wirkten gepflegt. Jemand hatte sie bewusst dort wachsen lassen, als lebendige Dekoration oder vielleicht als Schutz, niemand wusste es.

Sie hätte stehenbleiben können. Vielleicht sogar bleiben. Doch sie tat es nur einen Moment.

Sie atmete die feuchte Luft ein und sah sich ein letztes Mal um. Das Dorf lag still hinter ihr, das Wasser glänzte in der Sonne, und auf den Stegen bewegten sich Schatten – Menschen, Tiere, vielleicht beides. In einer Hütte am Rande flatterte ein Vorhang, der aussah wie Nebel, in Stoff gewebt. Die Windspiele dort klangen tiefer als die anderen, als würden sie eine andere Zeit anschlagen, einen anderen Rhythmus.

Eine Vogel kreiste über dem Wasser und rief melodisch, wie ein Abschiedsgruß. Irgendwo lachte ein Kind, und das Lachen vermischte sich mit dem Plätschern des Wassers zu einem Lied ohne Worte.

Dann ging sie weiter.

Der Steg unter ihren Füßen war schmaler geworden, die Bohlen dunkler, vom Wasser geglättet. Zu beiden Seiten ragten Wurzeln über das Flussufer, dick wie Äste, manche mit kleinen blassen Blüten besetzt, die sich im leichten Wind öffneten und wieder schlossen wie schlafende Augen. Libellen tanzten über dem Wasser, träge, als hätten auch sie keine Eile. Ihre Flügel schimmerten türkis und gold im Sonnenlicht. Der Nebel war hier dichter, ließ nur einzelne Sonnenstrahlen durch, die in schrägen Bahnen zwischen den Bäumen lagen wie goldene Vorhänge. Die Geräusche des Dorfes – Stimmen, Klirren, Lachen – waren längst zurückgeblieben, ersetzt durch das sanfte Rauschen des Wassers und das Flüstern der Blätter.

Zwischen zwei Biegungen glitt ein Boot vorbei, gelenkt von einem Kind mit einem langen Stab. Das Gefährt war kaum mehr als eine schwimmende Plattform, beladen mit Tonkrügen und Blätterkörben. Das Kind - ein Mädchen mit braunen Locken - sah sie nicht an. Es summte leise vor sich hin, eine Melodie, die sie nicht kannte, aber die trotzdem vertraut klang. Das Boot verschwand hinter einem schmalen Weidengürtel, und die Melodie verhallte langsam im Rauschen des Wassers.

Ein leichter Wind fuhr durch das Laub, brachte für einen Moment den Geruch von altem Harz und nassem Stein mit sich. Irgendwo in der Ferne sang ein Vogel - nur wenige Töne, aber so rein und klar, dass sie sich bis in die Knochen ausbreiteten.

Die Wanderin blieb stehen. Der Fluss lag ruhig, doch man konnte spüren, dass unter der Oberfläche etwas floss – nicht nur Wasser, sondern das Leben selbst. Ein Hauch des Geschmacks lag noch immer auf ihrer Zunge. Der Fladen, den sie vor kaum zwei Stunde gegessen hatte, hatte nicht einfach satt gemacht. Er hatte etwas geöffnet. Ein Ort war zurückgekehrt – nicht als Vision, nicht als Bild, sondern als Gefühl, das im Körper verankert war, in den Muskeln, in der Haut, im Atem.

Sie kannte diesen Mechanismus. Manche Speisen, manche Düfte, manche Orte trugen mehr als sich selbst. Sie waren Türen, Brücken, Erinnerungen in fester Form. Und manchmal, wenn man bereit war, öffneten sie sich und ließen einen kurz in eine andere Zeit, einen anderen Ort schlüpfen.

Aber was auch immer zurückgekommen war – es verlangte nichts. Es stellte keine Fragen, machte keine Vorwürfe, erwartete keine Antworten. Es war da, wie eine Berührung, die zu lange her war, um noch schmerzhaft zu sein, aber nah genug, um noch warm zu sein.

Sie ging weiter, bog ab, wo der Steg sich mit einem anderen verband. Ein Vogel schoss durch das Geäst, silbrig am Bauch, mit einem Ruf, der wie ein einziger Ton aus Glas klang. In der Ferne schimmerte das Licht auf einer weiteren Plattform – eine Art Grenzposten vielleicht, oder nur ein Sammelplatz für Reisende. Dort stand eine Frau mit einem langen Stab, auf dessen Spitze ein paar Flussfedern gebunden waren. Sie grüßte knapp, ließ die Wanderin passieren, ohne nach Namen oder Ziel zu fragen.

"Gute Reise," sagte sie nur, und ihre Stimme klang wie das Wasser selbst - ruhig, tief, voller Geschichten.

Kurz darauf endete der Steg. Der Übergang zum festen Boden war kaum zu spüren. Der Boden unter ihren Füßen war moosig, aber trocken. Kleine Steine knirschten unter den Stiefeln - ein neues Geräusch nach dem langen, weichen Gleiten über Holz und Wasser. Die Bäume standen weiter auseinander, das Licht fiel breiter. Der Nebel ließ nach, löste sich in einzelne Schleier auf, die zwischen den Stämmen tanzten. Weiter vorn öffnete sich der Wald, die Wipfel bogen sich zurück, als wollten sie Raum geben für das, was kam.

Sie sah sich nicht noch einmal um. Es war nicht notwendig. Verdanthollow würde bleiben, wo es war - am Fluss, im Nebel, in der Zeit zwischen Morgen und Tag. Und sie würde es mitnehmen, wo immer sie hinging.

Eine Weile folgte sie dem Pfad, den keine Karte kannte. Nur wenige Spuren waren zu erkennen – ein halb zertretener Halm, ein Abdruck im feuchten Boden, kaum mehr als ein Schatten. Sie ließ sich treiben, aber es war kein zielloses Wandern. Die Schritte hatten Richtung, auch wenn der Weg sie noch nicht preisgab.

Der Morgen ging in einen stillen Mittag über. Vögel sangen, aber nie laut. Das Sonnenlicht fiel durch das Blätterdach in weichen Tupfen auf den Weg. Schmetterlinge flatterten zwischen den Blumen - blaue, gelbe, einer mit Flügeln wie Buntglas. Einmal kam sie an einem kleinen Wasserlauf vorbei, so klar, dass man die Maserung der Steine auf dem Grund erkennen konnte. Ein Frosch sprang hinein, ließ nur ein paar Ringe auf der Oberfläche zurück, die sich langsam ausbreiteten und dann verschwanden.

Eine Biene summte vorbei, schwer beladen mit Pollen. Irgendwo duftete es nach wilden Rosen und Honig. Die Luft war warm, aber nicht drückend - perfekt für einen Tag wie diesen.

Als sie an einem halb verfallenen Torbogen aus Wurzelholz vorbeikam, hielt sie kurz inne. Das Holz war glattgewachsen, kein Werkzeug hatte es geformt. Die Wurzeln hatten sich von selbst zu diesem Bogen verflochten, vielleicht über Jahre oder Jahrzehnte. In der Biegung saß eine kleine Eidechse, leuchtend grün, die den Kopf leicht zur Seite neigte. Ihre Augen waren wie winzige Edelsteine, und sie schien die Wanderin zu mustern, als würde sie sie bewerten. Für einen Moment sahen sie sich an - die Frau und das kleine Reptil, beide Reisende auf ihre Art. Dann blinzelte die Eidechse langsam und verschwand zwischen den Wurzeln.

Sie würde nicht zurückkehren. Nicht hierher. Nicht bald. Aber sie würde diesen Tag mitnehmen, wie einen warmen Stein in der Tasche. Und wenn er einmal wieder in ihrer Hand lag – irgendwann, an einem anderen Ort, bei anderem Licht – würde sie sich erinnern. An den Geschmack des Fladens, an das Lachen der Kinder, an den alten Mann mit dem Moos im Bart. An die Art, wie das Wasser das Licht trug, und an die Stimmen, die über das Wasser trugen wie Lieder.

Vielleicht war das das ganze Geheimnis. Nicht das Festhalten, sondern das Mitnehmen. Nicht das Bleiben, sondern das Tragen von Momenten, die warm bleiben, auch wenn man längst weitergegangen ist. 

Chapter 9: Düstere Hoffnung - Flucht aus Kareth'Zal

Chapter Text

Datum: 11. Ignisaris (dritter Monat des Jahres, 350 n.K)
Ort: Kareth'Zal, östliches Grenzgebiet
Figuren: Kaelis Veydris, Mylaen

 

Kareth'Zal roch nach heißem Stein – und nach Blut, das getrocknet war, bevor es fließen durfte. Der Himmel, wenn man ihn überhaupt sah, war kein Versprechen, sondern eine Drohung: reglos, graublau, ein vernarbtes Auge über einem Ort, den selbst Karten mieden. Die Grube war kein Ort, an dem man lebte. Sie war eine Abwesenheit. Von Zeit. Von Atem. Von Bedeutung. Alles wurde dort genommen. Besonders die Dinge, von denen man geglaubt hatte, sie wären unsichtbar: Gedanken. Sehnsüchte. Selbstverachtung.

Mylaen hob den Quarzbrocken mit beiden Händen. Der Staub klebte an ihrer Haut wie eine zweite, tote Schicht. Ihre Finger zitterten nicht mehr. Sie hatten verlernt, zu bitten. Zu hoffen. Zu fluchen. Sie bewegten sich nur noch im Rhythmus des Zwangs. Zone Vier. Die „tiefe Kehle", so nannten sie alle diesen Abschnitt der Grube, weil man dort keine Schreie hörte. Der Schacht war zu tief, der Stein zu dicht. Nur die Stille kroch aus den Spalten. Und manchmal, sehr selten, der Geruch von etwas, das älter war als alles andere – etwas wie verbranntes Versprechen.

Die Sklaven der Zone Vier schliefen in Steinnischen oder unter Planen in den Nebengängen – nie sicher, eher geduldet wie Vieh. Niemand bewachte sie direkt; Flucht schien unmöglich. Mylaens Schlafplatz war eine Felsspalte, kaum groß genug für ihren ausgemergelten Körper. Die Aufseher hielten jene der „Tiefen Kehle" für zu wertlos, um Ressourcen für ordentliche Verwahrung zu verschwenden. Vergessene Arbeiter, von denen man erwartete, dass sie in der Dunkelheit sterben würden.

Um sie herum schufteten Körper. Menschen waren sie längst nicht mehr. Kinder mit verglasten Augen, Alte mit staubverkrusteten Wangen, gebrochene Rücken, die sich nicht mehr aufrichten konnten. Mylaen war einmal eine Stimme gewesen. Ihre Mutter hatte sie durch die Felder des Ewigen Hains getragen und Quen-Sprechgesang geflüstert, der nach Wind schmeckte. Jetzt war sie ein Takt. Heben. Trennen. Splittern.

Der Quarz, den sie abbauten, barg Restmagie. Erinnerung. Schmerz. Jeder Schlag gegen ihn hallte wie ein Echo in einem zu lange gebrochenen Knochen. In Kareth'Zal wurden diese Echos geerntet. Sie hörte ihn manchmal summen.

Am elften Tag des Ignisaris kam er. Kaelis Veydris.

Er trug keinen Titel, keine Ketten, kein Zeichen der alten Orden – einen graublauen Mantel mit intakten Säumen, als stammte er aus einer Welt, die sich nicht erinnern wollte. Die Wachen nannten ihn „den Grauen". Die Arbeiter mieden seinen Blick. Er war derjenige, der das Wasser trug.

Niemand wusste, weshalb ein so großer, muskelbepackter Mann lediglich Wasser trug, doch Gerüchte blühten. Mylaen hörte nicht zu – sie dachte ans Überleben. Mehr gab es nicht. An eine Zukunft zu denken war sinnlos.

Kaelis bewegte sich mit einer Art stiller Selbstverständlichkeit – aufrecht, aber nicht stolz, kontrolliert, aber nicht kalt. Sein Gesicht war schmal, von fernen Linien gezeichnet, die nicht von Alter stammten. Die grauen Augen unter der Kapuze schienen alles zu sehen, ohne zu suchen. Wenn er sprach – was selten geschah –, war es leise, bestimmt, wie ein Befehl, den die Luft selbst verstand.

Mylaen hatte ihn bemerkt, als er vor drei Tagen zum ersten Mal in Zone Vier erschienen war. Anders als andere Wasserträger betrachtete er die Arbeiter nicht als Werkzeuge. Sein Blick verweilte zu lange auf manchen Gesichtern, seine Bewegungen waren zu bedacht, zu präzise. Er beobachtete. Er wartete.

Sie hatte nicht gewusst, dass er auch sie beobachtete.

Beim ersten Mal stellte er die Schale neben ihr ab – nüchtern und ohne Nachhall. Beim zweiten Mal begegnete er ihrem Blick, musterte sie wie einen Stein vor der Prüfung zur Verarbeitung. Beim dritten Mal streiften sich ihre Finger. Kaelis zog seine sofort zurück, ohne Hast. Kein Zögern.

In Kareth'Zal bedeutete das mehr als jedes Wort.

Doch seine Augen hatten etwas verraten. Ein Flackern, kaum wahrnehmbar, wie das letzte Zucken einer sterbenden Flamme. In Kareth'Zal bedeutete das mehr als jedes Wort.

Sie träumte in jener Nacht von einem Baum. Schwarz. Verdreht. Wurzeln in Stein. Er bog sich nach oben, als wollte er dem Dasein entkommen. Kein Symbol. Keine Vision. Nur ein Schmerz, der wachsen wollte.

Am Morgen lag ein Tuch unter ihrer Decke. Darin: ein Dolch.

Er war blass, fast durchsichtig. Kein Metall, kein Stein, und doch schwer in der Hand. Schimmernd wie alter Nebel. Knochenquarz. Sie wusste es sofort, obwohl niemand ihr je davon erzählt hatte. Vielleicht erkennt man Dinge, die einen erkennen. Knochenquarz schnitt nicht durch Fleisch, sondern durch Knochen, als wären sie Wasser.

Mehr als eine Waffe. Der Quarz schimmerte mit einer Art stillem Puls, wie ein Herz, das zu schlagen vergessen hatte. Wer ihn bei sich trug, den sahen andere anders – nicht unsichtbar, aber unwichtig. Augen würden über sie hinweggleiten, Gedanken sie vergessen, noch bevor sie ganz erfasst waren. Der Dolch war kein Werkzeug der Gewalt, sondern ein Schleier. Ein Schutz.

Auf der Klinge: eine Gravur. Nai xor'mir.

Nicht „Freiheit". Nicht „Rettung". Nicht mehr Besitz.

Tränen hätte sie keine vergossen. Solche Luxusgüter konnte sie sich längst nicht mehr leisten.

Am nächsten Tag starb ein Junge neben ihr. Einfach zusammengebrochen. Die Aufseher zogen ihn fort, ohne zu schauen, als wäre er nur ein Eimer, der keinen Boden mehr hatte. In der Nacht nannte sie ihn Shael. Nicht, weil es sein Name war. Sondern weil es der einzige war, den sie kannte und behalten hatte. Ein Name, den sie einmal mit einem Freund geteilt hatte. Ein Gesicht, an das sie sich gewöhnt hatte. So würde sie auch diesen nicht vergessen.

Die Flucht begann nicht mit einem Plan, sondern mit einer Lücke. Die Lücke war kein Zufall. Drei Tage zuvor hatte Kaelis dem Hauptwächter der Nordsektion etwas ins Wasser gemischt – keinen gewöhnlichen Schlaftrunk, sondern Extrakt aus Krypta-Blumen-Wurzeln. Seine Zeit als Blutgesandter hatte gelehrt, dass Gift nicht töten musste. Der Wächter war nicht gestorben – er hatte vergessen, warum er bleiben sollte. Er war gegangen, als hätte er einen Ruf gehört, einen Kindheitsbefehl, wichtiger als seine Pflicht.

Krypta-Blumen wachsen nur in den untersten Schächten, dort, wo selbst Licht sich fürchtet. Ihr Extrakt kann Erinnerung überlagern – nicht auslöschen, aber... weichzeichnen. Kaelis wusste das. Und er wusste, wie viel man braucht, bevor das Ich bricht.

Ein Wachposten verschwand. Dann ein zweiter. Kaelis hatte dafür gesorgt, dass in den nördlichen Minen ein Stollen teilweise einstürzte. Kein tödlicher Einsturz – genug, um Aufmerksamkeit zu binden, Panik zu säen, Ressourcen umzuleiten. Die dritte Wache hatte er berührt, mit jener stillen Magie, die wenige spürten. Berührungsschmerz nannten es die alten Orden. Die Gabe, mit einem Fingerstreich Willen zu brechen – nicht durch Gewalt, sondern durch das Erwecken vergrabener Sehnsüchte. Worte brauchte es nicht – die Luft selbst trug den Wandel. Wie bei einem Sturm, der zu lange still war. Sie bewegte sich mit stiller Wachsamkeit.

Kaelis wartete bei den Lastschlitten. Stumm. Nicht wie jemand, der plante, sondern wie jemand, der bereits wusste, was geschehen würde. Er reichte ihr einen Mantel. Der Stoff war rau und fast zu leicht für die Kälte, aber sauber. Kein Wort begleitete die Geste.

Perfekt geplant. Der Stolleneinsturz hatte die meisten Aufseher in den nördlichen Abschnitt gelockt. Die wenigen bei Zone Vier wurden durch Berührungsschmerz-Magie oder Krypta-Blumen-Extrakt verwirrt. Im Chaos aus Staub und Panik hatten sie fünf Minuten, bevor jemand eine fehlende Sklavin bemerken würde – besonders eine aus der „Tiefen Kehle", wo Arbeiter kaum als Menschen zählten.

„Sie werden uns folgen", flüsterte Kaelis, seine Stimme kaum hörbar über den entfernten Rufen. „Nicht sofort. Aber sie werden kommen."

Mylaen nickte. Sie hatte sich nie vorgestellt zu fliehen – solche Gedanken waren gefährliche Luxusgüter in Kareth'Zal. Doch hier war sie, folgte diesem Fremden in eine Dunkelheit, die etwas anderes als den Tod versprach. Sie sah in seine eisgrauen Augen und fragte sich, warum er ihr half. Er war kein Freund, kein Verbündeter also hatte er keinen Grund ihr zu Helfen und sie hatte keinen Grund ihm zu vertrauen. Und doch waren sie beide dort.

Sie verließen Kareth'Zal durch einen alten Versorgungstunnel. Einen, von dem niemand wusste, ob er noch führte oder fiel. Die Wände waren eingeritzt. Nicht mit alten Runen – mit Nägeln. Fingern. Zähnen. Kaelis kannte den Tunnel nicht durch Zufall, er hatte nichts dem Zufall überlassen. Drei Monate lang hatte er nachts gearbeitet, Staub und Gestein abgetragen, mit der Geduld eines Mannes, der verstand, dass manche Dinge nicht erzwungen werden konnten. Der Tunnel war einst ein Entwässerungskanal gewesen – uralt, vergessen, auf keiner Karte verzeichnet. Doch Kaelis' Augen sahen anders. Sie sahen, was einst war, nicht was ist. Eine Gabe, die ihm als Blutgesandter gedient hatte und nun zum ersten Mal einem anderen Zweck diente.

„Du nutzt keine Zeichen", flüsterte sie.
„Ich nutze, was bleibt."

Seine Stimme trug jenes Gewicht, das in seinem Blick lag – stille Gewissheit, dass alles, was geschah, unvermeidlich war. Keine Erleichterung, keine Freude – Wissen, dass dieser Weg beschritten werden musste. Sie begegneten niemandem. Doch die Dunkelheit erinnerte sich. An andere. An frühere. An jene, die versucht hatten, durch dieselbe Gänge zu gehen und geblieben waren. Sie gingen weder schnell noch langsam – in Stille. Unter seinem Blick, der sich nicht drängte, aber nichts vergaß.

Am dritten Tag fanden sie einen leblosen Körper. Eine Wache, noch jung. Das Gesicht im Moos, als hätte ihn etwas sanft dort abgelegt. Kein Blut, keine Wunde – die Leere. Als hätte jemand das, was er war, ausgespült und nicht genug übrig gelassen, um ihn zu füllen. Kaelis stand einen Moment still. Nicht als ob er prüfte, sondern als würde er etwas vergleichen. Dann ging er weiter.

Mylaen folgte ihm.
„Warst du das?"
„Nein."

Mehr sagte er nicht. Die Art, wie er den Blick nicht abwandte, sagte mehr als jeder Eid.

Beim Lagerfeuer in jener Nacht, als der Wald in tiefer Stille lag, fragte sie nach dem wahren Grund seines Kommens nach Kareth'Zal.

Kaelis blickte lange in die Flammen. Das Feuer malte tanzende Schatten auf sein kantiges Gesicht, ließ die Narbe über seiner linken Augenbraue tiefer erscheinen. „Die Blutgesandten schickten mich, um einen Auftrag zu erfüllen. Ich sollte jemanden finden und töten."

Mylaens Herz setzte einen Schlag aus. „Mich?"

Er nickte langsam. Keine Entschuldigung in der Bewegung.

„Warum tust du es nicht?" „Ich weiß es nicht." Die Worte kamen langsam, als wäre jedes einzelne eine Frage in sich selbst. „Vielleicht, weil ich zu lange gesehen habe, wie Leben genommen wird. Vielleicht, weil ich in dir etwas erkannte, das zu schade ist, um verloren zu gehen."

Er hob den Blick von den Flammen. Seine Augen waren kalt und doch nicht leer – wie ein gefrorener See, unter dessen Oberfläche noch Leben existierte. „Oder ich beginne zu verstehen, dass nicht alles, was mir befohlen wird, richtig ist."

Sie schluckten beide die Bedeutung dieser Worte. Für einen Blutgesandten war Befehlsverweigerung gleichbedeutend mit dem Tod. Er hatte sich schon bei Auftragserhalt entschieden, sie nicht zu töten.

Sie schlugen sich durch das Dickicht hinter Kareth'Zals östlichem Rand – eine Narbe über das Land. Die Vegetation war kein Wald, eher ein Überbleibsel dessen, was der Krieg nicht niedergebrannt hatte. Ranken hingen schwer über steinernen Bögen, Bäume wuchsen schief, als hätten sie vergessen, was Oben bedeutete. Ein Ort ohne Lied. Selbst die Tiere schwiegen.

Der Pfad war ausgetreten, gebraucht. Irgendwer war hier gegangen. Irgendwann.

Die Nächte wurden kälter, je weiter sie sich von Kareth'Zal entfernten. Kaelis teilte seine Decke mit ihr – aus Notwendigkeit, nicht Zuneigung. Sein Körper strahlte Wärme aus, die im Kontrast zu seiner kühlen Art stand. Nachts, wenn der Schlaf ihm die Kontrolle nahm, murmelte er Namen. Orte. Befehle. Einmal schreckte er auf, eine Hand bereits am Griff seiner verborgenen Klinge, die Augen wild und fremd. Er entspannte sich erst, als er sie erkannte, als die Realität wieder Halt in ihm fand.

„Wen hast du verloren?"

Er schwieg so lange, dass sie glaubte, er würde nicht antworten.

„Meine Schwester. Sie wurde getötet, als ich noch jung war. Ich erfuhr erst vor Kurzem, dass meine eigene Truppe für ihren Tod verantwortlich war."

Mehr Worte, als er je am Stück zu ihr gesprochen hatte. In ihnen lag ein Echo von etwas, das tiefer ging als Schmerz – verzweifeltes Verstehen, dass die Welt Grausamkeiten ohne Grund hervorbrachte.

Sie rieb gedankenverloren an ihrer Stirn, wo das Zeichen vor langer Zeit eingebrannt worden war – ein Zeichen der Entehrung, der Besitzlosigkeit. Anders als bei wertvolleren Sklaven trug sie keine Bindungsrune. Die Aufseher von Kareth'Zal hatten die Arbeiter in Zone Vier nicht für wert befunden, magische Ressourcen für eine Bindung aufzuwenden. Sie waren vergessenes Eigentum, von dem man erwartete, dass sie arbeiteten, bis sie starben, nie für würdig erachtet, mit der Magie versehen zu werden, die ihre Flucht verhindern würde.

„Ist das der Grund, warum du mich ausgewählt hast? Weil ich keine Bindungsrune trage?"

Kaelis' Augen verengten sich leicht. „Ich habe dich gewählt, weil du noch etwas hast, das sie dir nicht nehmen konnten. Etwas, das es wert ist, gerettet zu werden."

Sie fragte nicht, was dieses Etwas war. Ein Teil von ihr hatte Angst, es zu erfahren.

Am siebten Tag erreichten sie den Rand des Blutflusses – benannt nach einer Schlacht deren Ausmaße den Fluss für mehrere Tage rot gefärbt hatten. Der Fluss glitt durch eine Senke, verborgen unter uralten Wurzelbögen, so breit, dass er ganze Höfe hätte tragen können. Sein Wasser war klar – nicht sauber, sondern durchsichtig wie altes Glas. Man sah, was darunter lag: Runenplatten, gebrochene Siegel, das Gerippe eines alten Übergangs.

Der Fluss war nicht tot. Er wartete.

Mylaen sank ans Ufer nieder. In ihrer offenen Handfläche lag der Dolch – nicht ergriffen, sondern einfach gegenwärtig, wie ein Gedanke, der sich nicht verdrängen ließ.

„Ich weiß nicht, wer ich bin. Ohne das."

Sie meinte mehr als Kareth'Zal. Die Felder des ewigen Hains, die in ihrer Erinnerung zu Staub zerfielen. Ihrer Mutter Stimme, längst zu einem Flüstern verblasst. Den Glauben an einen Platz in der Welt – einen, der ihr gehörte. Hoffnung hatte sie begraben, als sie noch ein Kind war. Nie geglaubt, hier zu stehen und an Morgen zu denken. Doch nun tat sie es, und sie fühlte sich wie ein Gefäß, das gleichzeitig überläuft und leer ist. Sie wollte schreien und weinen und weitergehen, alles zur selben Zeit, und wusste nicht, womit sie anfangen sollte.

Kaelis antwortete nicht sofort. Er stand hinter ihr, in den Schatten eines abgestorbenen Baumes. Seine Gestalt wirkte dort wie Teil des Waldes – weder fremd noch heimisch. Präsent.

„Dann finde es heraus." Er sprach, als wäre Finden keine Ziel, sondern eine Bewegung. Eine, die keine Eile kannte.

Sie blickte auf ihre Hände. Die Linien darin wirkten tiefer in diesem Licht. Schärfer. Wie eingeritzte Fragen, auf die sie keine Antworten mehr wollte, sondern dass sie verblassten.

Sie warteten, bis die Nacht kam, bevor sie den Fluss an einer geeigneten Stelle überquerten. Kaelis ging voran, fand den Weg durch die untiefen Stellen, als könnte er im Dunkeln sehen. Vielleicht konnte er das. Das Wasser schnitt kalt um ihre Knöchel, dann ihre Knie, schließlich bis zur Hüfte. Nicht die Tiefe war gefährlich, sondern die alten Steine unter der Oberfläche, die manchmal unter ihrem Gewicht nachgaben, manchmal aufleuchteten mit stillem, hungrigem Licht – zusammen mit der Strömung wollten sie nichts mehr als sie mit sich zu reißen. Die Kälte half nicht, doch sie erinnerte Mylaen daran, dass sie lebte. Wasser auf ihrer Haut zu spüren war nach so langer Zeit befreiend, selbst wenn diese Freiheit tödlich sein konnte.

Einmal glitt Mylaen aus, und Kaelis' Hand schoss vor, umschloss ihr Handgelenk mit einem Griff aus Eisen. Nicht grob. Nicht zärtlich. Nur sicher. Als er sie wieder auf die Füße zog, spürte sie die rauen Narben seiner Handfläche, Erinnerungen an Kämpfe, die er nicht vergessen konnte.

Später, im Grenzland zwischen den vergessenen Provinzen, begegneten sie einer Frau. Oder dem, was eine Frau gewesen war. Ihre Haut war von Wind und Salz gegerbt, ihre Augen trüb wie Aschespiegel, doch ihre Stimme roch nach Salbei und Pfefferblume.

Sie nahm Mylaens Hand, als wäre sie altvertraut. Kein Zwang, kein Zauber. „Vel'lor ka zar", hauchte sie. Mylaen verstand kein Wort. Doch die Intention war Positiv.

Später, als sie gingen, sagte Kaelis: „Kein Zauber."

Und sie nickte. Weil es stimmte. Und weil es reichte.

Sie schliefen in einer Höhle, deren Decke von Symbolen gezeichnet war – eingeritzt, eingebrannt, vielleicht mit Blut, vielleicht mit Hoffnung. Sie pulsierten nicht, aber sie hielten den Blick fest, wenn man zu lange hinsah.

„Meine Mutter sagte, ich solle nicht kämpfen, sondern erinnern. Dass Würde nicht laut sein muss, aber standhaft. Sie hatte unrecht."

Kaelis schwieg lange. Dann: „Du hast deine Stimme nicht verloren – aus Selbstschutz unterdrückt. Fange an, sie zu nutzen." Er sagte es wie jemand, der wusste, wie schwer es war zu tragen, was andere hinterlassen hatten.

Die Nacht war kalt geworden, und sie rückte näher an das kleine Feuer, das er entzündet hatte. Seine Bewegungen waren sparsam, präzise, als würde jede Geste einen Preis haben.

„Wie lange warst du einer von ihnen? Den Blutgesandten."

Er blickte nicht auf. „Zu lange."

„Warum hast du ihnen gedient?" Der Schatten eines bitteren Lächelns huschte über sein Gesicht. „Weil ich glaubte, dass ich nichts anderes sein konnte als ein Schwert."

Am zehnten Tag fanden sie Spuren. Zwei Männer, zielstrebig, bestimmt, keine Flagge, kein Orden. Mylaen sah zu Kaelis, und er nickte stumm. Nicht wie jemand, der Befehle gab, sondern wie jemand, der wusste, was zu tun war.

Sie kamen nicht wie Jäger – eher wie Männer, die glaubten, ein Recht auf Dinge zu haben.

Mylaen sah Kaelis an. Und sie nickte. Kein Befehl – Einverständnis.

Kaelis zog sich in die Schatten zurück, wurde fast unsichtbar trotz seiner massiven Gestalt. Es war nicht physisches Verstecken – etwas an ihm schien zu verblassen, als würde er mit den Dunkelheiten verschmelzen. Schattenmagie – die seltene Kunst, Wahrnehmung zu beugen.

Sie sah, wie sein Umriss unscharf wurde, verschwamm, kaum noch sichtbar blieb. Nicht Unsichtbarkeit – die Fähigkeit, die Wahrnehmung anderer zu beeinflussen. Eine Kunst, die wenige beherrschten.

Als der erste Mann nah genug herangekommen war, setzte sie sich in Bewegung. Nicht getrieben aber nur entschlossen, der Handlung den Ausgang zu nehmen. Sie griff nicht lautlos an, sondern gezielt. Der Knochenquarz-Dolch in ihrer Hand bewegte sich schnell, traf nicht genau, aber wo es schmerzte. Der Mann taumelte zurück, überrascht, verwirrt.

Der zweite hob instinktiv eine Hand – vielleicht Magie, vielleicht eine Waffe. Kaelis trat dazwischen. Er sprach nicht, berührte ihn nicht sichtbar, und doch geschah etwas. Die Augen des Mannes verloren den Fokus, sahen plötzlich durch Kaelis hindurch, zurück in etwas, das weit entfernt lag.

„Was hast du getan?", fragte Mylaen mit aufgerissenen Augen, als beide Männer schließlich wortlos umkehrten und im Wald verschwanden. „Ich habe ihn erinnert." „Woran?" „Daran, dass er woanders hingehört. Dass er hier nichts zu suchen hatte."

Es war mehr als ein Trick. Sie spürte es. Kaelis hatte in den Mann hineingesehen, hatte eine Wahrheit dort gefunden und sie wie ein Messer gedreht. Eine Fähigkeit, die er sicher oft genutzt hatte, um zu töten – und die er nun nutzte, um Leben zu schonen.

Mylaen betrachtete ihn aufmerksam. Diese Kraft war gefährlicher als jede rohe Gewalt, aber auch menschlicher. Sie fragte nicht weiter, weil sie wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde.

Am zwölften Tag erreichten sie Bonewatch. Es war kein Dorf, keine Festung, nicht einmal ein echter Ort. Nur ein Feld zerbrochener Säulen und halb offener Gräber, die nie jemand geschlossen hatte. In Kareth'Zal nannte man diesen Ort ‚die Kette im Wind' – denn hier ruhten Entscheidungen, Namenlose, deren Nachklänge längst hätten fortgetragen werden sollen. Bonewatch war ein Ort für jene, deren Magie zurückbiss. Hier ruhten Seher, deren Geist zu viel gesehen hatte. Gesandte, die zu tief griffen. Manche sagten, der Stein selbst habe ihre Namen ausgespien.

Sie standen auf einer Anhöhe. Unter ihnen: Splitter, Staub, uralte Stille.

„Warum hierher?", fragte sie mit ausgestreckten Armen und verwirrtem Blick. „Von allen Orten?!"

„Weil sie hier nicht suchen werden. Die Blutgesandten meiden diesen Ort. Zu viele von uns sind hier... geblieben."

Sie seufzte und verstand das Unausgesprochene. Zu viele waren hier gestorben. Auf Mission. Für den Orden. Für Befehle, die vielleicht ebenso wenig Sinn hatten wie der, sie zu töten.

Mylaen blieb stehen. „Ich weiß nicht, was ich mit all dem machen soll."

Kaelis antwortete leise. „Du musst nichts tun. Versuch nicht zurückzugehen."
„Ich dachte, Flucht ist rennen. Schreien und kämpfen."
„Das ist Flucht. Aber das hier... ist Weggehen."
Sie nickte. Zum ersten Mal war das Gewicht in ihrer Brust nicht leer, sondern offen.

Sie stiegen über die letzten Stufen. Der Stein unter ihren Füßen splitterte, als wolle er kein weiteres Gewicht mehr tragen.

Kaelis ging voran – nicht wie einer, der führt, sondern wie ein Schatten, der nie aus dem Blickfeld tritt.

An diesem Abend, als die Sonne unterging und die zerbrochenen Säulen lange Schatten über das Land warfen, sprach er mehr als in allen Tagen zuvor.

„In einem anderen Leben wäre ich dein Henker gewesen", sagte er. Es klang nicht wie eine Entschuldigung. Nur wie eine Feststellung. „Und nun?"

„Nun bin ich... nichts. Niemand. Und vielleicht zum ersten Mal frei."

Er sah zum Horizont, wo die letzten Sonnenstrahlen verblassten. „Die Blutgesandten werden einen anderen schicken. Sie vergessen nicht. Sie vergeben nicht." „Dann bleibe bei mir." Als Bitte und als Möglichkeit. Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich würde dich in größere Gefahr bringen. Mein Weg führt anderswo hin." Sie verstand. Nicht mit dem Kopf, aber mit dem Herzen. Er war ein Mann, der zu lange im Schatten gelebt hatte, um einfach ins Licht zu treten.

Mylaen trat auf eine flache Steinplatte. Vielleicht war es einst ein Sockel gewesen. Vielleicht ein Ort, an dem jemand gewartet hatte. Sie setzte sich. Der Dolch lag neben ihr.

Kaelis trat zu ihr. Er hob den Dolch auf – und reichte ihn zurück.

„Früher gab es viele davon. Jetzt nicht mehr. Behalte ihn. Du wirst wissen, wann er gebraucht wird."

Sie nahm ihn wieder. „Knochenquarz erinnert, was andere vergessen wollen."

Kaelis sah sie an. Ohne Urteil, ohne Trost. „Was habe ich vergessen?"

Sie sah ihm direkt in die Augen. „Dass du lebst und fühlst." Sie saßen eine Weile dort. In Stille. Und Bonewatch atmete unter ihnen – oder vielleicht waren es sie selbst. Endlich wieder atmend.

Als Mylaen aufstand, fühlte sich nichts leichter an. Aber richtiger.
„Was jetzt?"
„Jetzt gehst du weiter."
„Und du?"
„Ich bin nicht dein Ziel – ein Punkt auf deinem Weg." Er sagte es leise. Wie einen Satz, den er nicht zum ersten Mal sprach.

In dieser letzten Nacht blieb Kaelis wach, während sie schlief. Sie spürte seinen Blick auf sich – nicht begehrend, nicht besitzergreifend, sondern wachsam. Beschützend. Wie ein Mann, der Schaden angerichtet hatte und nun versuchte, wenigstens einen kleinen Teil davon wiedergutzumachen.

Im Morgengrauen packte er seine wenigen Habseligkeiten. Er hinterließ ihr Vorräte, eine grobe Karte und eine kleine Börse mit Münzen – genug, um einen Neuanfang zu wagen.

Sie wandte sich um und ging einige Schritte. Dann hielt sie inne und sah zurück. Kaelis war bereits fort. Keine Spur, kein Schatten, kein Laut – Wind. Und das Echo eines Satzes, das blieb wie eine neue Gravur unter der Haut:

„Ich bin ein Satz in deiner Geschichte."

Zum ersten Mal glaubte sie, dass sie den Rest schreiben durfte.

Eine Stimme, die nie ganz verschwunden war, sondern leiser geworden. Nie gelöscht, wartend und vielleicht bald wieder Laut und Klar.

Sie blickte zum Himmel, der nicht mehr drohte, sondern da war. Offen. Leer. Möglich. Der Dolch aus Knochenquarz an ihrer Seite schimmerte im frühen Licht – nicht mehr eine Waffe, sondern ein Versprechen. Nai xor'mir. Nicht mehr Besitz.

Sie ging los, Richtung Nord-Osten, wo die Sonne aufging und die Schatten kleiner wurden. Irgendwo dort draußen wartete ein Leben, das ihr gehörte. Ihr allein. Und vielleicht, eines Tages, würde sie jemandem helfen, so wie ihr geholfen worden war.

An diesem Tag würde sie den Namen Kaelis Veydris nicht vergessen haben. Nicht, weil er ein Held war – weil er gewählt hatte, etwas anderes zu sein als das, wozu er gemacht worden war.

Ein Schwert, das sich entschieden hatte, ein Schild zu sein.

 

Chapter 10: Feuer unter Knochen - Aufstand in Kareth'Zal

Chapter Text

Datum: 25. Thalmaris (fünfter Monat des Jahres und ca. 10 Wochen nach Mylaens Flucht)
Ort: Kareth'Zal, Zone 3
Charaktere: Liraen & Shael

 

Zone Drei hatte nie geschwiegen, doch in den Tagen nach dem elften Ignisaris atmete sie mit fremdem Rhythmus, während jeder Schrei länger widerhallte, jedes Werkzeug einen anderen Ton sang und der Stein plötzlich zu lauschen schien. Die Aschenwange - jener breite, schattenlose Abschnitt zwischen der Lichtzunge der oberen Minen und den giftgedämpften Kehlen darunter – war zwar rau wie eh und je, doch das Brummen im Gestein klang wie eine Frage, die endlich Beachtung forderte.

Liraen spürte es zuerst in der Matte, als ihre Haut keine Wärme mehr im Stoff fand, als hätte das Gewebe vergessen, was Körperwärme bedeutete. Die Liegeplätze in Zone Drei rotierten wie ein gieriger Atemzug – zweieinhalb Stunden hier, dann fort, dann wieder zurück, wenn die Zahlen es erlaubten. Niemand schlief lange, und wer es versuchte, wurde getreten oder markiert, doch in den Nächten zwischen den Schichten gab es manchmal Platz für zwei.

Sie und Saari hatten sich ein Stück Stoff geteilt. Kein Band, das Namen trug, aber ein Wissen um Grenzen, wo der andere aufhörte und wann man sich nicht bewegte, damit der Schlaf blieb. Manchmal, wenn die Welt für einen Augenblick vergaß zu pressen, lag dort auch Mylaen – die mit dem stummen Blick, die sich niemandem krümmte und ging, ohne Fragen zu stellen oder zu beantworten.

Jetzt war sie fort, und mit ihr etwas, dem Liraen kein Name einfiel. Die Matte war leer, obwohl sie belegt wurde – warm, aber ohne Leben. Über ihr prangte mit fettigem Steinmehl ein Zeichen: Δ-17. Unbesetzt. Der Aufdruck sagte nichts über die Verschwundene, nur dass ihr Platz wieder verfügbar war.

Die Arbeit zog weiter wie das Wasser in den oberen Stollen war unaufhaltsam, oft faulig, manchmal siedend heiß, während Kettenwechsel die Stunden bestimmten. Wer in den Rhythmus fiel, verlor seine Stimme, und wer sich entzog, wurde an Ort und Stelle „verbraucht". Liraen sprach wenig, denn Wörter waren anstrengend, und zu viele davon bedeuteten Kürzungen an anderer Stelle.

Seit dem Tag, an dem Mylaens Matte kalt blieb, beobachtete sie die Wände. Kein Fluchtversuch, keine Rebellion – nur ein Blick, der Fragen stellte, ohne Antworten zu erwarten. Der Stein antwortete zwar nicht, aber er veränderte sich.

In der dritten Schicht nach dem Schweigen von Zone Vier spürte Liraen es zum ersten Mal, als ihre Finger am Rand der Grubenwand ruhten, wo der Feinstaub vibrierte. Kein Gas – das hätte gerochen und gebissen werden können. Das hier war leiser, tiefer, wie der Abdruck, der sich nie ganz formte.

Die anderen nannten es Einbildung, aber viele flüsterten trotzdem in der Waschnische beim Rinnen des abgestandenen Wassers, dass Zone Vier verstummt sei, dass eine entkommen sei – die aus der Kehle, die mit der Stimme, die nie gesprochen hatte. Und ein Mann, weder Wächter noch Gefangener, der Wasser getragen hatte und nicht fragte. Niemand sprach offen darüber aber alle hatten es gehört.

Liraen sagte nichts, aber sie dachte an den Blick und daran, dass ihre eigene Stille seither schwerer lastete.

Am sechsten Vaelaris begann die Wand zu brechen, als Schacht 17, ein alter Seitenarm unter der Aschenwange, wegsackte – nicht völlig, nur genug, dass der Staub sich verzog und Licht einbrach, wo keines hingehörte. Die Schicht war gerade in der Ablöse, als es geschah und ein Junge, kaum alt genug für die Arbeit, beim Kehren über ein loses Fragment stolperte. Sein Werkzeug – ein Erzspaten mit abgegriffener Kante – prallte ab, rutschte und traf eine der Öllaternen.

Das Feuer war lautlos, aber gierig – kein Knall, nur ein Zischen, das sich in den Stoffbändern verlor und alles fraß, was in seinem Weg war, bevor flackerndes Licht, dann Wind, dann Rufe folgten.

Ein Aufseher brüllte und ein Peitscher trat vor, doch das Chaos antwortete nicht mit Gehorsam. Saari griff zuerst zu, ihre Bewegungen kamen aus purem Instinkt, als ihre Sonde das Knie des Mannes fand, der sie trat. Er fiel nicht sofort, aber er fiel, und als er fiel, trat jemand anderes nach, dann noch einer. Was als Reflex begann, wurde zu einem Muster.

Liraen stand da, die Hände offen, aber bereit – sie zitterte nicht, knickte nicht ein, aber sie bewegte sich nicht. Sie wusste, dass etwas begonnen hatte durch Notwendigkeit, nicht durch Planung.

Feuer griff nach dem Staub, eine zweite Laterne kippte, und Knochenquarz – von einem Arbeiter zwischen Zahn und Zahnfleisch versteckt – glimmte auf. Die Luft verzog sich, ein Funke wurde zu etwas, das sich nicht mehr löschen ließ.

Die Antwort kam nicht sofort, aber sie kam mit der Wucht eines Steinschlags. Zwei Stunden später war die Zone abgeriegelt von schwarzgestaffelten Wachen mit glatten Masken und der Ruhe von Maschinen. Die Peitschen zischten wie Zungenschläge eines Wesens, das nicht sprechen musste, um zu befehlen, während einer der Aufseher ein Infix trug – ein blass schimmerndes, segmentiertes Instrument, welches eher dirigiert als geführt wurde. Mit einer einzigen Geste ließ er es auffächern; er schnitt er durch die Luft, zeichnete ein Muster, der Impuls brannte sich in Haut und Verstand. Und diejenigen, die nicht vor Schmerzen fielen, wurden markiert.

Liraen wurde nicht markiert und stand, wo man stehen konnte, ohne zu verschwinden. Drei Arbeiter starben noch vor der Rückzählung, und Saari war unter ihnen. Ihre Hände, verbrannt, klebten an dem Griff ihrer Sonde, während ihr Blick – leer, aber nicht tot – auf der Matte ruhte, die einmal ihnen gehört hatte.

Liraen schlief in dieser Nacht nicht, obwohl ihr Körper sie durch Erschöpfung in die Liegeposition zwang, blieb sie wach, selbst wenn sich die Augen manchmal schlossen. Ihre Haut war bleich vom Staub, ihr Magen leer, aber in ihr brannte etwas, das kein Hunger war.

Sie dachte an Mylaen und wie sie einmal gesprochen hatte – nicht mit Worten, sondern mit einem Blick, der das Gesehene schon längst hinter sich gelassen hatte. Jetzt verstand Liraen, was das bedeutete: Gehen war eine Wahl, aber die Zurückgelassenen brannten für diese Wahl.

Am Tag danach war die Zone stiller als gewöhnlich, während die Verwaltung mit eiserner Härte reagierte. Arbeitsschichten wurden verdoppelt, Aufseher aus den Nachbarprovinzen eingeflogen, denn was als Einzelfall abgetan werden sollte, durfte keine Schule machen. Doch trotz verstärkter Bewachung fraß sich Unruhe durch die Stollen wie Säure durch Erz. Die Arbeit lief weiter, aber das Geräusch des Erzes, das in den Rutschen schliff, klang wie frisches Fleisch unter der Klinge, und die Luft schmeckte nach Asche – nicht vom längst erloschenen Feuer, sondern nach dem, was zurückblieb, wenn man etwas verbrannte, das nie benannt worden war.

Die Aufseher waren doppelt besetzt – zwei in jeder Kehle, vier an den Umläufen. Sie sprachen kaum, aber ihre Peitschen ruhten nicht mehr an den Hüften und hielten sie lose wie Jäger ihre Messer – bereit, aber stumm. Jeder, der nicht gehorchte, wurde bestraft, doch die Strafe war leicht im Vergleich zu dem, was sie ihnen antun konnten, wenn sie wollten.

Die Überlebenden wurden versetzt, Namen wurden getauscht wie knappe Mahlzeiten, und jeder neue Platz bedeutete: Du gehörst jetzt woanders hin. Saari war nicht mehr dort, niemand sprach ihren Namen, Liraen auch nicht, aber sie hörte, wie eine andere ihren Platz einnahm – eine Jüngere, die nach Blut und Angst roch.

Liraen sagte ihr nur: „Dreh dich mit dem Rücken von der Kälte weg." Es war genug, denn mehr hätte bedeutet, dass sie zu sehr fühlte.

Vier Tage nach dem Feuer wurden zehn zum Verhör abgeholt – still, ohne Zeremonie. Ihre Matten blieben leer, ohne Markierung. Einer kam zurück ohne Hände, ohne Blick. Er saß am Rand der Grube, den Rücken zum Stein, und wippte vor und zurück. Niemand fragte, was er gesehen hatte, niemand wollte wissen, wo seine Hände geblieben waren.

Am sechsten Tag spürte Liraen wieder, dass etwas nicht stimmte, doch diesmal lag es an den Menschen. Sie sah es in Shaels Gang, der immer gerade gewesen war, aber nun wie verbogenes Metall wirkte, in der Art, wie Rhem, der alte Hauer, mit der Spitze eines Werkzeugs Spiralen in den Staub schrieb, und in dem Jungen mit dem rasierten Hinterkopf, dessen Ketten viel zu locker saßen – Nachlässigkeit oder Absicht.

Die Risse kamen nicht im Gestein, sondern in der Ordnung. Ein alter Satz durchfuhr sie: Ordnung ist, was du nicht hinterfragst. Chaos beginnt im Zweifel. Sie wusste nicht mehr, wer ihn gesagt hatte – vielleicht sie selbst, vielleicht der Stein, es war auch egal.

Die Tage stolperten weiter, während die Schichteinteilung ungenauer wurde – drei statt zwei Stunden Ruhe, manchmal gar keine. Die Aufseher schrien mehr, trafen aber weniger, ihre Stimmen wurden hohl – laut, aber sinnlos.

Am achten Tag wurde ein neues Instrument eingeführt – ein Krallen-Ring, welcher die Strömung im Hals bündelte. . Ein stählernes Halsband mit einem Schraubmechanismus am Nacken, der eine gespannte Feder hielt. Vorne, direkt über dem Kehlkopf, saß eine Kralle – geschwungen wie die Klaue eines Drachen, aus schwarzem Metall. Beim ersten nutzen der Stimmbänder schnellte sie hervor, hakte sich unter der Kehle ein und riss sie in einem Ruck heraus. Das Halsband blieb. Die Stimme nicht. Nur eine gekrümmte Fleischmasse, zitternd an der klaffenden Spitze. Worte wurden damit nicht unterdrückt – sie wurden unmöglich gemacht. Nur drei in der Zone trugen ihn zuerst: Einer starb beim Anlegen, einer verstummte vollständig, einer begann im Schlaf zu singen, und am Morgen lag die Kralle mitsamt seiner Kehle neben ihm.

Die Matten rückten enger zusammen, keine Schicht mehr, in der man allein war. Selbst in der Ruhe musste man nebeneinander liegen, ohne sich zu bewegen, denn die Luft war zu dünn geworden – nicht zum Atmen, zum Schweigen.

Liraen begann, den Stein wieder zu hören – anders als früher, kein Flüstern, das sie in den Schacht zog, sondern ein Hämmern, dumpf und regelmäßig wie ein Herzschlag durch Erde. Von unten, nur nachts, nur wenn sie lag. Saari hätte es Halluzination genannt, Mylaen hätte geschwiegen, Liraen schwieg auch – aber sie hörte.

Sie begann, die Wände zu zählen – Steine, Muster, Risse. Keine Fluchtplanung, nur ein Rhythmus, etwas, das dem Körper sagte: Du existierst noch.

In der vierzehnten Schicht wurde der erste Peitscher tot aufgefunden – spektakulär war anders. Die aufgerissene Kehle erklärte keine Waffe. Man sagte, er sei gestürzt, seine Peitsche hätte sich verhakt, er hätte sich selbst gerichtet. Eine Lüge, aber niemand fragte. Die Zone wurde nicht gesperrt, das Wasser wurde für zwei Tage rationiert.

Liraen begann zu träumen von Licht – nicht dem über der Grube, sondern dem darunter. Von etwas, das nicht brannte, sondern glimmte wie Quarz unter Haut, wie etwas Lebendigem ohne Stimme. Sie wachte mit Eisengeschmack auf, obwohl sie kein Blut gerochen hatte.

Am Abend der dreiundzwanzigsten Schicht sprach sie zum ersten Mal seit Tagen zur Wand – ein einziges Wort, kein Name, kein Ruf, nur: „Jetzt."

Der Stein antwortete nicht, aber etwas in ihr wusste: Er hatte zugehört.

Nach der Schicht kam sie mit gebrochenem Daumen von der Grube zurück und sprach trotzdem nicht. Sie hatte ihn sich gequetscht, und durch Mangelernährung und jahrelange Arbeit waren ihre Knochen spröde geworden. Jemand hatte es gesehen, jemand nicht – das war in Kareth'Zal nie entscheidend. Die Schmerzen gaben keine Antworten, sie forderten nur Stille. Liraen biss nicht, weinte nicht, hielt nur inne, einen Moment zu lang, bis die Aufseherin mit dem krummen Helm etwas murmelte, das niemand verstand, und weiterging.

Der Daumen schwoll an und pochte im gleichen Rhythmus wie das Hämmern in der Tiefe, das seit Tagen unter ihrer Haut vibrierte – vielleicht Zufall, vielleicht auch nicht. Seit Mylaens Flucht glaubte Liraen nicht mehr an Zufall, denn der Stein hatte kleine Launen, merkte sich alles und sprach manchmal.

Shael berührte sie nachts – keine Geste, kein Griff, nur seine Fingerspitzen an ihrer Schulter, einen Atemzug lang, gerade genug, damit sie wusste, dass er es war. Früher hätte sie ihn geschlagen, jetzt war sie nur müde. Er sagte: „Du zählst auch, nicht wahr?" Sie verstand nicht sofort, dann doch. Sie nickte nicht, er wartete keine Antwort ab – es war genug.

Die Ketten wurden kürzer – nicht in der Länge, im Raum. Die Gangbetten waren nun gestaffelt, drei Matten übereinander, keine Luft dazwischen, während die Körper sich ineinander schoben wie Erz in der Rutsche, mit demselben stumpfen Gewicht. Keine Träume mehr, nur Bruchstücke, die wie Splitter im Schädel blieben – Farben, Lichter, Geräusche aus dem Inneren eines Brechers.

In der vierundzwanzigsten Schicht geschah es wieder – ein Riss in einem vorher stabilen Stollen. Fünf Tote, zwei vermisst. Einer tauchte später wieder auf ohne Beine, aber mit einem Lächeln – kein gutes Lächeln, als hätte er etwas verstanden, das zu groß war für Worte. Liraen begegnete ihm, als sie in Zone 2 Wasser holen musste. Seine Augen waren offen, aber leer, und als sie an ihm vorbeiging, flüsterte er: „Es kommt zurück." Sie blieb stehen, sah ihn nicht an. Er wiederholte es dreimal.

Seitdem hörte sie es auch tagsüber – nicht das Hämmern, sondern etwas anderes, etwas im Stein oder im Blut.

Der Schichtwechsel wurde unregelmäßig – drei Tagzyklen ohne Ruhe, dann vier mit, dann keiner. Einer der Neuen – schwarzes Zahnfleisch, aufgeschlitzte Ohrläppchen – wurde von einem Trupp Aufsehern abgeführt, weil er in der Ruhephase weitergearbeitet hatte. Aus Zwang oder aus Angst, niemand wusste es. Seine Ketten klirrten nicht, als er ging, und danach ritzten sich drei andere dieselben Zeichen in die Stirn, die sie in seinem Blut gesehen hatten.

Liraen schlief nicht mehr – ihr Körper fiel, ihr Geist stürzte, und dazwischen der Stein als Blick, als etwas, das sie sah, nicht aus der Tiefe, sondern aus sich selbst.

Shael sprach wieder – zwei Worte: „Zone vier." Liraen verstand. Dort hatte es begonnen, dort war Mylaens Flucht ausgebrochen. Niemand sprach den Namen, aber jeder dachte ihn. Der Aufstand hatte nicht gezählt, nur die Flucht. Was blieb, war das Echo – wie angehaltener Atem, wenn man nicht weiß, ob danach Luft kommt.

Am Morgen der achtundzwanzigsten Schicht fand sie Blut in der Versorgungsrinne – altes, schwarzes, geronnenes Blut, das nicht mehr floss, aber nicht trocken war. Etwas hatte es am Leben gehalten, etwas ohne Temperatur. Sie tauchte die Fingerspitze hinein und roch daran – nicht menschlich, aber auch nicht ganz fremd, wie die Spuren eines Wesens, das tief unter der Welt lebt, aber manchmal nach oben schimmert.

Die Zone begann zu flüstern – nicht mit Stimmen, sondern mit Blicken, mit Zeichen in der Haut, mit kleinen Bewegungen, die niemand befahl. Ein Eimer, der langsamer übergeben wurde, eine Kette, die nicht sofort gespannt wurde, ein Stein, der weitergegeben statt gehoben wurde.

Liraen war keine Anführerin – es gab keine. Nur jene, die zuerst spürten, wenn sich etwas veränderte, und dann handelten, weil das Schweigen sonst alles verschlang.

Sie begann zu sprechen – wenig, nie offen, aber an den Rändern, in den Gangbetten, beim Wasserrand. „Sie haben Angst." Oder: „Der Stein vergisst nicht." Oder: „Die Zone ist älter als der Befehl." Leise, nie zweimal am selben Ort.

Manche nickten, manche hörten weiter, einer weinte. Liraen wusste: Der Fluch saß tief, aber er war lösbar.

Die Stollen begannen sich zu verändern – nicht sichtbar, nicht plötzlich, aber jeder, der lange genug dort gearbeitet hatte, spürte es. Die Luft vibrierte stärker, der Staub legte sich schneller, Werkzeuge rosteten ohne Feuchtigkeit, und manchmal, wenn man zu lange in einen Schacht sah, spürte man ein Ziehen – wie einen fremden Muskel, der sich trotzdem bewegte.

In der zweiunddreißigsten Schicht fiel der obere Versorgungsarm aus – vier Stunden ohne Wasser. Niemand schrie und niemand forderte, sie wussten: Das war eine Probe, kein Defekt, ein Maßnehmen.

Dann kam der Aufseher, der nicht sprach – kein Zeichen, kein Name, nur eine Maske, glatt wie Erz, keine Augenöffnungen, nur Rillen, in denen Licht schimmerte, das nirgends herkam. Und ein Umhang, zu sauber für diesen Ort. Er ging die Reihen ab – langsam, prüfend, als wüsste er, dass niemand es wagte zu widersprechen. Als er vor Liraen stand, hielt er inne. Sie sah nichts, aber sie spürte, dass er sie sah – nicht durch die Maske.

Er sagte nichts, aber als er weiterging, war der Stein unter ihr kalt – nicht im Körper, im Blut.

Später hörte sie flüstern, er sei ein Blutgesandter der dritten Bindungsebene gewesen – das bedeutete: ein Spion oder ein Attentäter. Ob das Stimmte war unklar, für sie blieb er der Kalte, und sie wusste: Er hatte ihr Gesicht gesehen.

Am nächsten Tag verschwand Shael. Niemand sagte etwas, aber auf der Matte lag sein Haarband, an der Wand drei Kerben – keine Worte, keine Namen, nur drei Linien, eingeritzt dort, wo niemand hinsah. Liraen berührte sie und wusste, dass es begonnen hatte.

Die Nacht kam früh in jener Schicht, als hätte sich der Himmel selbst von Kareth'Zal abgewendet – keine Fackeln, kein Licht durch die Schächte, nur das matte Pulsieren der Warmlampen in den Hangbereichen, flackernd wie müder Atem. Es roch nach Ozon und Schlacke – ein Geruch, den man nur roch, bevor der Stein sich wehrte.

Niemand schlief in dieser Nacht – nicht aus Angst, aus Wachsamkeit, wie Jäger, die spüren, dass die Beute sich umdreht. Liraen lag da, die Knie angezogen, die Augen offen, und zählte das Flüstern – wie oft es kam, wie oft es verstummte und wann es in einer neuen Sprache zu sprechen begann. Einer, die zu Bewegungen gehörte – Wärme in den Gliedern, Brennen in der Kehle, Kälte in der Wirbelsäule.

Dann stand sie auf – nicht allein, fünf andere. Namenlos wie sie, Schatten unter Schatten, ohne Zeichen, ohne Ruf. Nur der Stein, der in ihren Füßen vibrierte wie ein zweites Herz, das ihnen sagte: „Jetzt."

Sie wussten, dass es nicht reichte – noch nicht. Aber es war der erste Schritt – keine Rebellion, kein Aufstand, nur ein Schritt gegen das Gewicht des Systems.

Sie zogen keine Waffen, trugen keine Worte. Sie standen.

Und irgendwo, tief in Zone Eins, erwachte etwas Altes – nicht der Kern, noch nicht, aber ein Auge, ein Blick und das Wissen: Der Schlaf war zu lang gewesen.

Fünf Körper, fünf Schatten, fünf Atemzüge in einer Dunkelheit ohne Ursprung und Ende, während die Matten unter ihnen leer, die Zone hinter ihnen schweigend und vor ihnen alles oder nichts lag. Liraen sah die anderen nicht an – sie musste es nicht, denn sie wusste, wer sie waren. Keine Anführer, keine Träumer, nur jene, die zu lange gelebt hatten, um noch zu glauben, dass es so weitergehen konnte.

Keine Pläne, keine Waffen, keine Namen, die Gewicht trugen – nur ihre Körper, gezeichnet von Jahren im Staub, ihre Hände, die wussten, wie man Stein berührt, ohne von ihm zerdrückt zu werden, und die Gewissheit, dass der nächste Schritt keine Frage des Überlebens mehr war.

Der Gang, in dem sie standen, war älter als die anderen. Zu tief für Tageslicht, zu weit für die Kontrolle der Aufseher, und doch nicht verlassen. Die Wände atmeten, der Boden war warm, und irgendwo dahinter – unter ihnen, über ihnen, in ihnen – lauerte etwas, das schon lange gewartet hatte.

Sie begannen zu gehen, während Liraen nur die Schritte hörte – kein Flüstern diesmal, kein Befehl, nur der eigene Atem wie ein Herzschlag in der Kehle. Der Gang war schmal, dann breit, dann wieder eng, als hätte er sich über die Jahre verändert und angepasst. Er wirkte nicht wie ein Ort, den Menschen gebaut hatten, eher wie etwas natürlich Gewachsenes.

An einer Stelle fanden sie alte Werkzeuge aus Knochen, versteinerte Überbleibsel eines Wesens, das einst unter der Zone geatmet hatte. Eine Grube, halb mit Quarzsand gefüllt, daneben ein Riss in der Wand, aus dem leises Singen drang. Einer der anderen – Rhes, der mit dem vernarbten Hals – blieb stehen, legte den Kopf schräg, während seine Lippen Worte formten, aber er sie nicht sprach. Er sah Liraen an, dann gingen sie weiter.

Tiefer. Die Luft wurde schwer und dicht. Jeder Schritt zog Fäden aus dem Körper, als müssten sie einen Preis bezahlen für das, was sie hier betraten. Liraens Narben brannten, das Mal an ihrem Rücken – die dünne Linie, die man ihr vor Jahren eingebrannt hatte, als sie sich geweigert hatte zu sprechen – begann zu pochen.

Sie wusste: Sie waren nicht die Ersten hier, und sie würden nicht die Letzten sein.

Der Gang führte sie in eine Kammer, zu groß, um natürlich zu sein, zu unregelmäßig für Menschenhand. Überall an den Wänden: Rillen, Spiralen, Muster, die keinen Sinn ergaben, aber zu etwas gehörten. In der Mitte: ein Stein. Kein Schrein, nur ein Stein, schwarz, glatt, vollkommen. Niemand berührte ihn.

Rhes trat näher, seine Hände zitterten und er Atmete Schwer. Als seine Finger über die Oberfläche glitten, zuckte der Raum wie ein Atemzug oder ein Puls. Die anderen wichen zurück, aber Liraen blieb, während etwas in ihr vibrierte und selbst wenn sie wollte, Ihr Körper wollte ihr nicht mehr gehorchen.

Der Stein öffnete sich, zog kleine und große tiefe Risse und fiel in sich zusammen. Er wurde weniger, und aus ihm trat ein Licht, ein Riss, durch den etwas anderes zu sehen war. Energie, gesammelt und über all die Zeiten gebündelt. Schmerz, Rufe, die nie ausgesprochen wurden, Ketten, die nie abfielen und Leben welche nie gesehen wurden. Liraen schloss die Augen und sah.

Sie sah Zone Vier, bevor sie brannte, sah Mylaen rennen, barfuß, die Haut aufgeschürft, das Gesicht blutverschmiert, wie sie jemanden mit einem Dolch verletzte und hinter ihr ein Schatten. Sie sah die anderen – jene, die geblieben waren, jene, die geschrien hatten, jene, die geschwiegen hatten. Und sie sah sich selbst auf der Matte, den Atem anhaltend, als draußen das Chaos tobte.

Sie verstand: Die Flucht war kein Verrat, sie ein Riss, durch den die Wahrheit sickerte.

Der Stein zog sich wieder zusammen in seine vollkommene Form zurück, als würden die Partikel ihren genauen platz wieder einnehmen. Rhes sank zu Boden, das Gesicht leer, einer der anderen – Talen, die mit den gebrochenen Händen – trat vor und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Dann richtete sie sich auf, ihr Blick war klar.

„Es ist bereit", sagte sie. Keiner fragte, was sie meinte.

Sie begannen zu sprechen und was in der Tiefe geboren wurde, stieg langsam hinauf.

In den folgenden Tagen begannen die Werkzeuge zu versagen – Hämmer zerbrachen, Fackeln flackerten ohne Wind, die Maschinen in Zone Drei standen plötzlich still ohne Befehl, ohne Defekt. Die Aufseher schrien, aber ihre Stimmen hallten in die Leere.

Die Ketten begannen sich zu lösen – nicht alle, nur manche. Niemand wusste, warum, aber die, denen es geschah, sprachen nicht. Sie schauten nur mit Augen, die etwas gesehen hatten, das tiefer ging als Schmerz.

Liraen wartete nicht mehr. Sie ging – nicht allein, nicht bewaffnet, aber mit Wissen und mit einem Blick, der den Tunnel selbst schneiden konnte. Die anderen folgten – nicht weil sie mussten, weil sie konnten.

Am zehnten Tag nach dem Stillstand trat der Kalte wieder auf. Seine Maske war anders, Risse durchzogen sie, Licht flackerte unstetig, und sein Gang war nicht mehr lautlos. Der Stein unter seinen Füßen widerstand ihm. Als er Liraen sah, blieb er stehen.

„Du bist nicht sie", sagte er, seine Stimme klang wie ein falsch, zu alt und aus einer Zeit, die nicht mehr in den Körper passte.

„Aber du bist auch nicht mehr du", antwortete sie.

Er hob die Hand, als wolle er etwas beschwören, aber der Stein antwortete nicht.

Dann brach die Zone – statt eines weiteren Einsturzes kam ein Erwachen. Die Wände atmeten wie Lungen nach langem Ersticken, der Boden vibrierte, und aus den Rissen trat kein Feuer, sondern Licht – eisenkalt, sehend. Und aus dem Licht: Schatten, Formen, Gestalten, die einst Menschen gewesen waren, nun aber Teil des Steins.

Sie griffen nicht an, noch nicht, sondern sangen ein Lied jenseits der Ohren – für Blut, für Knochen, für das Mark in den Knochen.

Die Aufseher flohen – nicht alle. Manche erstarrten, andere schrieen, manche lachten wie Irre, und einer kniete nieder und weinte wie ein Kind.

Liraen stand im Zentrum als Kern. Sie war kein Funke mehr, sondern das Herz des Risses selbst, das, was übrig blieb, wenn alles andere zu Staub zerfiel.

Sie hob die Hand. Der Stein schwieg. Dann atmete er weiter.

Die Luft in der Zone veränderte sich. Es war nicht Temperatur oder Geschmack, sondern ihre Qualität, als würde sie zum ersten Mal wirklich existieren. Liraen spürte, wie sich etwas in ihr entspannte, das sie nie als verkrampft wahrgenommen hatte, während um sie herum die anderen tiefer zu atmen begannen, als hätten sie jahrelang mit halben Lungen gelebt.

„Das Fundament wird brechen."

„Das Fundament ist bereits gebrochen", antwortete Liraen. „Wir räumen nur die Trümmer weg."

Der Kalte machte einen letzten Schritt zurück, während die Dunkelheit hinter seiner zerborstenen Maske sich zusammenzog wie eine heilende Wunde. Dann verschlang ihn die Schatten – etwas Älteres, das in den vergessenen Schächten unter Zone Vier lauerte. Sein Echo verhallte wie ein letzter, gebrochener Befehl, bevor die uralten Tiefen ihn für immer umschlossen.

Die Schatten um sie herum bewegten sich näher – nicht bedrohlich, wie Wasser, das endlich fließen darf. Liraen erkannte einige der Formen: Gesichter, die sie gekannt hatte, Hände, die einst neben ihr gearbeitet hatten, Augen, die geschlossen worden waren, bevor sie das Ende sehen konnten.

Saari war unter ihnen – ihre Finger nicht mehr verbrannt, ihre Augen nicht mehr leer. Sie lächelte – nicht das Lächeln, das Liraen gekannt hatte, müde und verschlossen, sondern ein neues, als hätte sie endlich verstanden, wofür sie gestorben war.

„Du hast es gewusst", sagte Liraen zu ihr. „Die ganze Zeit."

Saari nickte. „Aber wissen ist nicht dasselbe wie bereit sein."

Der Stein unter ihren Füßen begann zu singen, mit einem Rhythmus, der älter war als Kareth'Zal, älter als die Menschen, die es gebaut hatten. Die Maschinen in den oberen Zonen begannen zu versagen.

Liraen wandte sich zu den anderen um – den Lebenden. Rhes, der immer noch auf den Stein in der Kammer starrte, Talen, deren gebrochene Hände plötzlich gerade wirkten, die anderen, deren Namen sie nie erfahren hatte, aber deren Schmerz sie teilte.

„Was jetzt?", fragte einer von ihnen.

„Jetzt gehen wir nach oben", sagte Liraen. „Und wir nehmen alle mit."

Sie meinte nicht nur die Lebenden. Die Schatten nickten, das Lied des Steins wurde lauter, und aus den Tiefen der Zone, aus Schächten, die seit Jahren versiegelt waren, aus Kammern, die nie auf den Karten standen, kamen sie – die Vergessenen, die Verlorenen, die, die gestorben waren, ohne je zu leben.

Der Aufstieg begann, als Flut der Toten. Die Gänge füllten sich mit Bewegung, mit Licht, das keinen Schatten warf, mit Stimmen, die nicht sprachen, aber trotzdem gehört wurden. Die wenigen Aufseher, die noch da waren, sahen sie kommen und legten ihre Waffen nieder, es hatte keinen Sinn zu kämpfen, auch wenn einige es mit all ihren Fähigkeiten versuchten. Manche knieten, manche weinten. Alle wussten: Das hier war kein Kampf mehr. Das war ein Ende und ein Anfang.

Als sie Zone Zwei erreichten, war die Luft bereits anders – klarer. Die Arbeiter dort standen zwischen ihren Werkzeugen und sahen sie kommen. Manche schlossen sich an, andere blieben stehen und sahen nur zu, aber niemand versuchte sie aufzuhalten.

In Zone Eins war es still – nicht die Stille der Unterdrückung, die Stille des Wartens. Die Maschinen standen still, die Fackeln brannten nicht mehr. Nur das Licht, das von unten kam, erhellte die Wände.

Liraen blieb vor der großen Tür stehen – der Ausgang. Dahinter lag die Welt, die sie fast vergessen hatte: Himmel, Sterne, Wind, der nicht nach Staub und Verzweiflung schmeckte. Sie legte die Hand auf das Metall. Es war warm von der Sonne und der Hitze derjenigen, die sich im Inneren befanden, warm von Jahren unerfüllter Sehnsucht.

Die Tür öffnete sich. Sie schwang einfach auf, als hätte sie nur darauf gewartet, dass jemand richtig fragte. Fast schon enttäuschend undramatisch für diesen Moment.

Das Licht, das hereinflutete, war nicht das gleiche, das sie verlassen hatten – es war anders, älter, goldener. Und in ihm bewegten sich Gestalten: Menschen, die gekommen waren, um zu sehen, um zu verstehen, um zu helfen. Maylen war unter ihnen. Sie sah stärker aus, gesünder, ihre Schultern gerader, als hätte sie eine Last abgelegt, die sie Jahre getragen hatte. Ihre Augen waren die gleichen, aber sie trugen jetzt etwas, das sie vorher nicht gehabt hatten: Hoffnung und Leben. Und als sie Liraen sah, lächelte sie – ein Lächeln, das Narben und Tränen in sich trug und trotzdem leuchtete.

„Du hast es geschafft", sagte sie, und ihre Stimme brach bei den letzten Worten.

„Wir haben es geschafft", antwortete Liraen und drehte sich um, sah die anderen an – die Lebenden und die Schatten, die Vergessenen und die, die sich erinnert hatten. „Wir alle." Der Stein unter Kareth'Zal sang weiter, aber es war kein trauriges Lied mehr.

Und über allem, in der Luft, die endlich frei war, schwebte ein Wort – nicht gesprochen, nicht gerufen, einfach da: Freiheit.

Liraen trat ins Licht, hinter ihr folgten die anderen. Vor ihr lag eine Welt, die sie neu lernen musste, aber das war in Ordnung. Sie hatte Zeit, sie alle hatten Zeit. Und sie hatten einander.

Doch niemand jubelte.

Die Menschen im Lager bewegten sich nicht. Einige hielten Werkzeuge wie Waffen, andere kauerten sich in den Schatten zurück, als könnten sie dort verschwinden. Kinder versteckten sich hinter den Beinen ihrer Mütter, kleine Fäuste in zerschlissene Röcke gekrallt. Männer standen mit eingezogenen Schultern, als erwarteten sie den nächsten Befehl, den nächsten Schlag. Ihre Augen waren die von gehetzten Tieren, die eine Falle wittern.

Sie waren frei – aber das fühlte sich nicht so an. Noch nicht. Freiheit war ein Wort, das sie zu oft als Lüge gehört hatten.

Die Armee draußen hatte keine Waffen gezogen. Ihre Reihen wirkten ungeordnet, fast friedlich, doch sie trugen Uniformen. Farben. Symbole. Und für die, die ihr Leben in Ketten verbracht hatten, bedeuteten Uniformen nur eines: Kontrolle. Ein Flüstern ging durch die Reihen wie Wind durch dürres Gras. _Ist das eine Falle? Werden wir zurückgetrieben, wenn wir hinausgehen? Wie viele sind schon gestorben für diesen Traum?_

Liraen spürte es – das Zittern in den Bewegungen, das Schweigen wie eine zweite Haut. Dann sah sie, wie die Augen sich auf etwas hinter ihr richteten.

Maylen.

Sie trat vorsichtig vor, die Hände offen, unbewaffnet, ihr Gesicht von der Sonne halb geblendet. Aber ihr Blick war klar. Hart – nicht gegen die Menschen hier, sondern gegen alles, was ihnen angetan worden war. In ihrem Gang lag die Erinnerung an Ketten, aber auch die Entschlossenheit, sie nie wieder zu tragen.

„Viele von euch kennen mich", sagte sie mit rauer Stimme, die von Jahren des Schweigens gezeichnet war. „Ich habe mit euch gearbeitet, gegessen, gelitten. Ich bin geflohen und ich bin zurückgekommen. Ich wollte aufgeben, doch ich konnte euch nicht aufgeben."

Ein leises Raunen, kein Beifall oder Triumpf schreie. Aber einer der Jüngeren ließ seine geballte Faust sinken. Eine Frau begann zu weinen – leise, als fürchtete sie noch immer, gehört zu werden. Niemand hielt sie auf.

Dann trat Aeri'Vel Vael'Thir vor. Ihre Rüstung war schlicht, aber ihr Umhang trug das gebrochene Siegel Vaelarions – durchstoßen von einem goldenen Kreis: ein neues Zeichen, noch nicht überall bekannt.

Sie hob die Stimme, und jedes Wort klang wie ein Hammer auf Metall. „Euer Peiniger, der Mann, der euch besaß, ist tot."

Ein Zittern ging durch die Menge wie ein Erdbeben.

„Der König von Vaelarion fiel durch unser Schwert – meines Aeri'Vel Vael'Thir und das meines Bruders Aerion Vael'Thir. Wir werden das Reich neu ordnen. Und mit diesem Ort..." – sie deutete auf die offenen Tore, auf die dunklen Gänge und rauchenden Schornsteine – „...haben wir begonnen."

Sie atmete einmal tief durch, und ihre Stimme wurde lauter, durchdringender, als müsste sie jeden Winkel des Lagers erreichen. „Aber das ist nicht genug. Nicht für das, was euch angetan wurde. Nicht für die Jahre, die euch gestohlen wurden. Nicht für die Namen, die ihr vergessen musstet, und nicht für die Träume, die man euch genommen hat."

Ihre Fäuste ballten sich, und ihre Stimme bebte vor Zorn – nicht gegen sie, sondern für sie. „Ihr wart nie Sklaven. Ihr wart Menschen, die in Ketten gelegt wurden. Ihr wart nie Eigentum. Ihr wart Söhne und Töchter, Mütter und Väter, die ihrer Würde beraubt wurden. Und heute – heute bekommt ihr zurück, was euch immer gehört hat."

Sie ließ den blick langsam durch die menge streifen und sag so viele wie möglich einzeln in die Augen. „Ich erkläre nicht nur eure Freiheit. Ich erkläre euer Recht zu leben, wie ihr wollt. Euer Recht zu gehen, wohin ihr wollt. Euer Recht, euren eigenen Namen zu rufen, so laut ihr könnt. Euer Recht, zu weinen, zu lachen, zu lieben, zu träumen – alles, was man euch verwehrt hat."

Ihre Stimme wurde sanfter, aber kein bisschen weniger eindringlich. „Ihr schuldet niemandem Dankbarkeit für das, was euch gehört. Ihr schuldet niemandem Gehorsam für das, was euer Geburtsrecht ist. Und ihr schuldet niemandem Vergebung für das, was unverzeihlich ist."

Sie trat einen Schritt vor, und ihre Worte hallten von den Steinwänden wider. „Von diesem Tag an ist jeder, der Hand an euch legt, ein Verbrecher. Jeder, der euch zu Arbeit zwingt, die ihr nicht wollt, bricht das Gesetz. Jeder, der euch als weniger als Menschen behandelt, wird sich vor mir verantworten. Das schwöre ich euch bei meiner Krone, bei meinem Schwert, bei meinem Leben."

Tränen liefen über ihre Wangen, aber ihre Stimme blieb stark. „Und wenn ihr Angst habt – wenn die Freiheit zu groß erscheint, zu hell, zu fremd, dann ist das in Ordnung. Ihr müsst nicht heute hinausgehen. Ihr müsst nicht morgen entscheiden. Ihr habt Zeit. So viel Zeit, wie ihr braucht. Denn Zeit gehört euch. Euer Leben gehört euch. Eure Zukunft gehört euch."

Stille. Eine Stille, die schwerer war als alle Ketten, aber auch voller Möglichkeiten.

Dann fragte jemand, kaum hörbar: „Wirklich? Für wie lange?"

Maylen antwortete, bevor Aeri'Vel es konnte, und ihre Stimme trug die Gewissheit von jemandem, der den Kampf von innen kennt. „Solange wir leben. Und wenn wir fallen, dann werden andere folgen. Keine Kette wird je wieder ohne Widerstand geschmiedet."

Ein alter Mann fiel auf die Knie, weil seine Beine zitterten und ihn nicht mehr trugen. Ein Mädchen trat aus der Reihe, zog an Liraens Mantel mit Fingern, die zu klein waren für die Härte, die sie erlebt hatten. „Darf ich... rausgehen?"

Liraen kniete sich zu ihr, und zum ersten Mal seit Monaten spürte sie, wie ihr Herz sich weitete. „Ja", sagte sie.

Das Kind zögerte – und ging dann. Langsam. Schritt für Schritt durch das offene Tor. Draußen blinzelte sie ins Licht, und ihre getrockneten Tränen glitzerten wie Diamanten in der warmen Sonne.

Ein anderer folgte. Dann zwei. Dann Dutzende. Manche kehrten um, überwältigt von der Weite. Andere blieben im Tor stehen, als wollten sie beide Welten berühren.

Und irgendwo, weit hinten in Zone Drei, begann jemand zu singen. Es war kein Lied der Freude – sondern eines der Erinnerung. Ein Lied, das alle kannten, aber niemand mehr gewagt hatte zu singen. Ein Lied für die, die nicht mehr da waren, um diesen Tag zu sehen.

Die Armee trat zurück, ließ Platz, und ihre Bewegungen waren voller Respekt.

Aeri'Vel neigte den Kopf. Nicht als Königin, sondern als Mensch vor Menschen.

Maylen sah Liraen an, und dieses Mal sagte sie nichts. Sie musste es nicht. Draußen wartete eine Welt, die nicht verziehen hatte – aber vielleicht bereit war, zu beginnen.

Stunden später, als die ersten Feuer entzündet wurden und die Menschen langsam begannen, ihre Stimmen zu finden, beobachtete Aeri'Vel schweigend, wie immer mehr durch das Tor traten. Manche zögerlich, andere mit entschlossenen Schritten. Alle trugen sie die unsichtbaren Narben ihrer Gefangenschaft mit sich wie eine zweite Haut.

Sie wandte sich zu Maylen. „Du weißt, dass ich nicht bleiben kann."

Maylen nickte. Sie hatte es gewusst, bevor Aeri'Vel es ausgesprochen hatte. „Vaelarion braucht seine Königin."

„Noch nicht." Aeri'Vel schüttelte den Kopf, und in ihren Augen lag eine Müdigkeit, die tiefer ging als Erschöpfung. „Ich habe die Krönung aufgeschoben. Das Reich kann warten aber diese Menschen können es nicht." Sie legte eine Hand auf Maylens Schulter. „Aber sie brauchen jemanden, der versteht. Jemanden, dem sie vertrauen können."

Die Worte hingen zwischen ihnen, unausgesprochen aber verstanden.

„Ich biete dir einen offiziellen Platz an meiner Seite an", fuhr Aeri'Vel fort. „Als Beraterin für die Befreiung der Arbeitslager. Du kennst ihre Sprache, ihre Ängste, ihre Hoffnungen. Die Truppen werden auf dich hören und die Befreiten auch."

Maylen blickte zu den Menschen, die noch immer zögernd im Schatten der Tore standen. Einige von ihnen kannte sie beim Namen. Mit anderen hatte sie Brot geteilt, Schläge ertragen, in der Dunkelheit geweint.

„Es wird nicht einfach sein", sagte sie leise.

„Nichts Wichtiges ist einfach." Aeri'Vel's Stimme war warm, aber bestimmt. „Aber du musst es nicht allein machen. Nie wieder."

Maylen nickte langsam, und zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich nicht wie eine Überlebende, sondern wie jemand, der leben durfte. „Dann nehme ich an." sagte sie mit einem sanften lächeln.

Sie umarmten sich – nicht als Königin und Untertanin, sondern als Schwestern im Kampf.

Liraen hatte schweigend zugehört. Jetzt trat sie näher, ihr Blick ruhte auf Maylen mit einer Mischung aus Bewunderung und Verwirrung, die sie nicht verbergen konnte.

„Wie hast du das alles geschafft?" fragte sie schließlich. „Wie bist du... wie bist du nach allem, was passiert ist, noch so stark?"

Maylen lächelte – das erste echte Lächeln, das Liraen seit langem von ihr gesehen hatte. Es war müde, aber warm, und es trug die Spuren von allem, was sie überstanden hatte.

„Lass uns erst das Chaos hier aufräumen", sagte sie und deutete auf die Menge, die sich langsam formierte, auf die Soldaten, die Anweisungen brauchten, auf die Hunderte von Details, die noch zu klären waren. „Und dann setzen wir uns irgendwo hin, wo es ruhig ist, essen ausgiebig und sprechen. Wirklich sprechen. Ich schulde dir mehr als nur eine Antwort."

Liraen nickte und spürte, wie sich etwas in ihrer Brust löste – ein Knoten aus Angst und Sorge, der sich endlich zu entwirren begann. „Das würde ich gerne."

Um sie herum begann der erste Tag der Freiheit – chaotisch, unsicher, aber voller Möglichkeiten. Und sie würden ihn gemeinsam meistern, wie sie alles andere gemeistert hatten: Schritt für Schritt, mit blutigen Füßen und erhobenen Köpfen, bis die Freiheit nicht mehr nur ein Wort war, sondern ein Atem, der in ihren Lungen lebte.

 

Chapter 11: Feuer unter Knochen - Der Weg nach Arkanis

Chapter Text

Datum: 26. Thalmaris (fünfter Monat des Jahres und ca. 10 Wochen nach Mylaens Flucht)
Ort: Kareth'Zal
Charaktere: Maylen, Aeri'Vel, Luaris, Liraen

 

Die Ruinen von Kareth'Zal lagen wie die ausgebleichten Knochen eines längst gefallenen Giganten verstreut über das karge Land. Zwischen den halbzerfallenen Mauern, wo einst stolze Türme gen Himmel gereckt hatten, kauerten nun die Überlebenden um flackernde Feuer. Der Wind trug den Geschmack von Asche und zerbrochenen Träumen mit sich, während die Luft schwer von Rauch und dem leisen Murmeln erschöpfter Stimmen hing.

Maylen saß im Schatten einer eingestürzten Säule, deren Oberfläche noch immer die verblassten Runen längst vergangener Zeiten zeigte. Sie hatte ihren groben Mantel – ein Flickwerk aus Stoffresten, die sie auf ihrer Flucht gesammelt hatte – fest um sich geschlungen, die Knie eng an den Körper gezogen, als könnte sie sich so vor dem verbergen, was in ihrem Geist lauerte. Doch die Monster, vor denen sie sich fürchtete, waren keine Geschöpfe aus Albträumen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut.

Die Wärme des Feuers vor ihr schien ihre Haut nicht zu erreichen. Zu tief saß die Kälte in ihren Knochen, zu dunkel waren die Schatten, die in ihrem Geist umhergeisterten. Zehn Wochen. Zehn Wochen seit ihrer Flucht, und noch immer erwachte sie nachts mit dem Geschmack von Blut im Mund und dem Hall von Ketten in den Ohren.

Schritte näherten sich, aber nicht die schweren Stiefel der Wächter, die sie noch immer in ihren Träumen verfolgte, sondern das leise Scharren von Sandalen auf Stein. Maylen blickte auf und sah Luaris, wie er sich durch die Schatten bewegte. Seine dunkle Robe schimmerte im Feuerschein wie die Flügel eines Raben, und seine Augen – diese seltsam wissenden Augen – ruhten mit einer Sanftheit auf ihr, die sie nicht verdient zu haben glaubte.

Wortlos stellte er eine Holzschale neben ihr ab. Würzig, fremdartig, mit dem schweren Aroma von etwas, das lange geröstet wurde. Ihr Magen zog sich instinktiv zusammen.

„Kel'Nirra", sagte er leise, seine Stimme wie ein warmer Windhauch in der kalten Nacht. Als sie fragend aufsah, lächelte er schwermütig. „Es ist ein Gericht aus den Grenzlanden. Es schmeckt... bitter, mit einer Spur von Rauch. Aber es wird dich nähren, und das ist es, was du jetzt brauchst."

Maylen betrachtete die Schale Stirnrunzelnd. Auf einem einfachen Holzspieß steckten Stücke weißen Fleisches, deren Oberfläche goldbraun und knusprig war. Eine dicke, dunkelbraune Gewürzpaste klebte daran, durchsetzt mit getrockneten Kräutern, die wie kleine Smaragde glänzten. Vorsichtig nahm sie einen Bissen.

Die Bitterkeit erfüllte schlagartig ihren Mund aber nicht unangenehm. Dahinter entfaltete sich ein Teppich aus Aromen: geröstete Wurzeln, wildes Salz, das Echo von Rauch. Sie schloss die Augen und zwang sich, langsam zu kauen, obwohl ihr Magen protestierte. Monate und Jahre der Entbehrung hatten ihren Körper gelehrt, Nahrung zu fürchten. Einen geschrumpften Magen wieder zu dehnen war wie das Wiedererwecken eines fast erloschenen Feuers. Ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess.

„Langsam", murmelte Luaris verständnisvoll. „Ein Baum trägt nicht nach einem tag schon Früchte, und ein Körper heilt nicht an einem Tag."

Aeri'Vel beobachtete die Szene vom gegenüberliegenden Ende des Feuers. Die Kronprinzessin von Vaelarion saß auf einem einfachen Feldstein. Ihre Haltung war aufrecht, würdevoll, aber ohne jede Spur des Prunks, der ihr von Geburt an zustand. Die prachtvolle Seide, die Rüstung und das Gold ihrer Heimat hatte sie gegen einfache Reisekleidung aus robustem Leinen getauscht. Eine bewusste Entscheidung, die mehr über ihren Charakter verriet als alle Worte.

Ihre Goldenen Augen wanderten über die Gesichter der Menschen ringsum. Überlebende, alle von ihnen. Gezeichnet von Jahren der Unterdrückung, der Hoffnungslosigkeit, der Angst. Sie sah die Neugier in ihren Blicken, die Unsicherheit, die Sehnsucht nach Antworten. Viele warfen immer wieder verstohlen Blicke zu Maylen, als wäre sie ein Rätsel, das gelöst werden musste.

Aeri'Vel verstand ihre Verwirrung. Hier saß eine Frau, die aus einem Ort entkommen war, der offiziell nicht existierte. Eine Frau, die Geschichten erzählen konnte, die zu schrecklich waren, um wahr zu sein und dennoch waren sie es. Ihre bloße Anwesenheit war ein Angriff auf die sorgfältig konstruierte Realität, die das Königreich Vaelarion seinen Bürgern und der Welt präsentierte.

Die Königin, denn in diesem Moment war sie mehr Königin als je zuvor in ihrem Leben, zögerte einen Augenblick. Als sie sprach, war ihre Stimme leise, aber jedes Wort trug das Gewicht einer Krone:

„Maylen." Der Name hing in der Luft wie ein Gebet. „Viele hier fragen sich, was nach deiner Flucht geschehen ist. Ich weiß..." Sie schluckte schwer. „Ich weiß, wie schwer diese Erinnerungen wiegen. Wie sie an der Seele zerren, wie Ketten aus Schatten und Schmerz, die dich tief hinab in die Dunkelheit ziehen."

Sie wartete, bis Maylen aufsah, bevor sie fortfuhr: „Ich weiß, dass diese Situationen schwer sind, Maylen. Niemand außer dir entscheidet, ob du darüber sprechen willst. Aber wenn du bereit bist..." Ihre Stimme wurde fester. „Möchtest du ihnen erzählen, was du erlebt hast? Nicht meinetwegen. Für Liraen. Für all jene, die in den Minen und Lagern gelitten haben, während du da draußen für ihre Freiheit gekämpft hast."

Maylen schwieg lange. Das Feuer knisterte, die Funken tanzten gen Himmel wie winzige Seelen, die endlich frei waren. Als sie schließlich in die Gesichter ringsum blickte, in die Augen der Überlebenden, die zweifelten, ob ihre Freiheit wirklich Bestand haben würde, begann sie mit rauer Stimme zu sprechen.

„Die Sonne brannte gnadenlos auf das Grenzland, zwischen Vaelarion und Thal'Vareth herab, jede Bewegung war eine Qual. Ich erinnere mich an jede Einzelheit dieses Tages, als wäre er in meine Seele eingebrannt. Die Erde war hart und staubig, durchsetzt von Gestrüpp und niedrigen, knorrigen Büschen, die aussahen wie die Finger von Leichen. Ich taumelte vorwärts, meine Füße so blutig und wund, dass jeder Schritt einer zu viel war. Meine Lippen waren aufgerissen vor Durst, meine Zunge fühlte sich an wie Leder."

Das Lager war völlig still geworden. Selbst der Wind schien innezuhalten.

„Ich sah nicht mehr richtig. Alles verschwamm vor meinen Augen. Dann stolperte ich über einen unsichtbaren Stein und fiel. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Arme... sie gehorchten mir nicht mehr. Also blieb ich liegen und starrte auf das trockene Gras, wartete darauf, dass die Dunkelheit mich holte."

Maylen schloss die Augen, als würde sie sich gegen den Schmerz der Erinnerung wappnen.

„Aber dann... dann hörte ich sie. Hufe. Das Knarren eines Wagens. Mein Herz schlug so schnell, dass ich dachte, es würde explodieren. Panik stieg in mir auf wie eine schwarze Flut. Aber ich hatte keine Kraft mehr zu fliehen. Ich hatte keine Wahl, als dazuliegen und zu warten. Ich konnte nicht mehr Kämpfen. Das Knarren stoppte. Schwere Stiefel näherten sich – nicht die Stiefel der Wächter, sondern andere. Jemand kniete neben mir nieder, und eine Stimme erklang. Ruhig. Sanft. Fest."

Maylen blickte zu Luaris, der regungslos im Schatten stand.

„'Ich werde dir nicht wehtun', sagte er. Und etwas in seiner Stimme... ich glaubte ihm. Ich öffnete die Augen und sah in das Gesicht eines Mannes mit dunklen, klugen Augen. Es war ein Gesicht, das Geschichten erzählen konnte – von Leid und Heilung, von Verlusten und seltenen Siegen. Hinter ihm stand ein hölzerner Wagen, gezogen von zwei Pferden, die aussahen, als hätten sie schon viele Meilen hinter sich. Der Wagen war beladen mit Kräutern, deren Duft selbst in meinem halbtoten Zustand etwas Tröstliches hatte."

„'Kannst du trinken?', fragte er und hielt mir eine Flasche hin. Das Wasser war kalt und es brannte in meiner trockenen Kehle wie Feuer, aber es war das beste Feuer, das ich je gespürt hatte. 'Ich bin Luaris', sagte er. 'Ich reise nach Arkanis. Wenn du willst, kannst du mich begleiten.' Keine Fragen. Keine Vorwürfe. Nur ein Angebot. Ich nickte. Was blieb mir anderes übrig? Er hob mich hoch, als wäre ich ein verletztes Kind, und legte mich auf eine weiche Decke in seinem Wagen. Dann fuhr er los, ohne weitere Worte."

Maylen starrte in die Flammen, als würde sie dort die Bilder ihrer Vergangenheit sehen können.

„Die Tage verschwammen ineinander wie Farben in einem Regenbogen. Weite Ebenen und sanfte Hügel zogen an uns vorbei, aber der Horizont blieb immer gleich, kahl und unerbittlich. Luaris sprach kaum, aber er behandelte meine Wunden mit einer Sorgfalt, die ich nicht kannte. Kühle Umschläge aus Kräutern, die sauber und angenehm rochen. Salben, die den Schmerz linderten, nicht nur in meinem Körper, sondern auch in meiner Seele, aber diese haben nicht immer gut gerochen." Ein kleines lächeln ging durch die Menge. "Und nie – nicht einmal – fragte er nach meinem Namen oder meiner Geschichte."

„Am Abend des fünften Tages? vielleicht war es auch der sechste, saßen wir zum ersten Mal gemeinsam am Feuer. Die Flammen warfen lange Schatten auf das trockene Gras, und die Sterne begannen zu leuchten. Er reichte mir eine Schale mit warmer Suppe. Sie roch nach Wurzeln, Wildkräutern und Erde. Dann sah er mich an, und ich wusste, dass die Zeit des Schweigens vorbei war. 'Woher kommst du?', fragte er."

„Ich zögerte, ihr könnt euch natürlich denken warum. Dann sagte ich: 'Von einem Ort, der angeblich nicht existiert. Kareth'Zal.' Er erstarrte. Für einen Moment sah ich etwas in seinen Augen – tiefen Schmerz, Verständnis, Wut? Keine Ahnung, zu dieser Zeit hatte ich keine Möglichkeit einzuschätzen, ob ich wirklich sicher war. Aber er fragte nicht weiter."

Maylen hob den Kopf und blickte in die Runde der Zuhörer, bevor sie fortfuhr.

„Am zehnten Tag erreichten wir Arkanis. Die Hauptstadt von Thal'Vareth lag vor uns wie ein Traum aus Stein und Licht. Weiße Türme ragten in den Himmel, ihre Spitzen glänzten im Abendlicht wie Diamanten. Mächtige Mauern versprachen Schutz, und in den Straßen sah ich Menschen, die nicht aussahen, als trügen sie das Gewicht der Welt auf ihren Schultern. Es war Riesig! ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viel Angst ich hatte."

„Luaris brachte mich in ein einfaches Quartier und sorgte dafür, dass ich versorgt wurde. 'Ruhe dich aus', sagte er. 'Morgen wird alles anders sein.' Ich glaubte ihm nicht. Wie konnte ich? Aber in derselben Nacht, als ich endlich zu schlafen begann, verließ Luaris das Quartier. Ich hörte seine Schritte im Flur, leise und eilig. Wohin er ging, wusste ich nicht. Aber ich wusste, die ruhige Nacht war vorbei, denn ich konnte ihn aus dem kleinen Fenster aus sehen."

„Er eilte durch die stillen Straßen zu einem kleinen Garten nahe dem großen Gasthaus. Zwischen blühenden Sträuchern und duftenden Nachtblumen wartete jemand auf ihn. Eine Frau in einfacher Reisekleidung, aber ihre Haltung verriet, dass sie mehr war, als sie zu sein schien. Ihr wisst was ich meine, diese angeborene Selbstsicherheit, die man entweder hat oder eben nicht."

„Aber als Luaris zurück kehrte brachte er mich wortlos durch die dunklen Gassen. Keine Erklärungen, keine Vorbereitung. Nur das Gefühl, dass mein Schicksal sich in diesen Momenten entschied. Und dann stand ich vor ihr. Einer jungen Frau mit Goldenen Augen, die älter wirkten als ihr Gesicht. Langen Blonden Haaren, die in der Dunkelheit fast weiß schienen, zusammengebunden in einem geflochtenen Zopf. Sie musterte mich lange, und dann sprach sie mit einer Stimme, die weich war und gleichzeitig stark: 'Bitte, sprich. Sag mir, was du gesehen hast.'"

Maylen verstummte einen Moment, sammelte ihre Kräfte für das, was kommen würde.

„Und ich sprach. Ich erzählte von den kalten Nächten, von der gnadenlosen Arbeit, die Körper und Seelen zerbrach. Ich sprach von den Schreien, die niemand hören wollte, von Kindern ohne Hoffnung und Alten ohne Namen. Ich sprach von der Dunkelheit, die nicht nur um uns war, sondern auch in uns. Sie hörte schweigend zu, ihr Gesicht wurde bleicher mit jedem Wort. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, Tränen standen in ihren Augen. Als ich geendet hatte, als ich keine Worte mehr hatte, trat sie zu mir und legte ihre Hände auf meine Schultern und beugte sich an mein Ohr."

„'Ich schwöre dir', flüsterte sie mit zitternder Stimme, 'dieses Leid endet mit dir. Von heute an hat deine Stimme mehr Macht als alle Ketten, die je geschmiedet wurden.' Ich blickte sie an und spürte zum ersten Mal seit langer Zeit etwas wie Hoffnung. Aber ich wusste nichtmal wem ich mein Leben anvertraue. 'Wer bist du überhaupt?', fragte ich. 'Ich vertraue dir blind, weil ich keine andere Wahl habe. Entweder liege ich richtig und du wirst uns helfen, oder ich liege falsch und es endet hier.'"

„Sie erwiderte meinen Blick ruhig, trat einen Schritt zurück und sprach mit fester Stimme: 'Ich bin Aeri'Vel Vael'Thir, Kronprinzessin von Vaelarion und Tochter des Mannes, der für dein Leid verantwortlich ist. Aber genau deshalb bin ich auch diejenige, die es beenden kann und muss.' Sie zögerte einen Moment, dann fügte sie hinzu: 'Ich werde alles tun, um dein Vertrauen nicht zu enttäuschen. Nicht, weil du keine andere Wahl hast, sondern weil ich mich entschieden habe, die Richtige zu sein.'"

Maylen verstummte. Die Worte hingen in der Luft wie Rauch, der nicht verfliegen wollte. Ringsum herrschte eine Stille, die tiefer war als jede Nacht. Viele der Zuhörer hatten feuchte Augen, andere starre, verbitterte Gesichter. Aber alle verstanden jetzt, warum sie hier waren.

Liraen stand etwas abseits, ihre Haltung stolz und ungebrochen. In ihren Augen lag tiefes Verständnis und eine Dankbarkeit, die Worte nicht ausdrücken konnten. Aber darunter lag Wut, unendlich viel Wut.

Aeri'Vel erhob sich langsam, griff nach einem Kelch mit dunklem Wein und trat vor Maylen. Der Kelch war einfach, aus poliertem Holz geschnitzt, aber in diesem Moment wirkte er wie ein Schatz.

„Du bist nicht allein", sagte sie mit einer Stimme, die durch das ganze Lager zu hören war. „Dein Schmerz ist unser Schmerz. Dein Mut ist unser Mut. Heute endet unser Schweigen, und eine neue Zeit beginnt."

Maylen nahm den Kelch entgegen und sah in Aeri'Vels entschlossenes Gesicht. Dann erhob sie ihn gen Himmel, wo die Sterne wie Diamanten funkelten.

„Auf die, die wir verloren haben", flüsterte sie, und ihre Stimme trug weiter als jeder Schrei. „Und auf jene, die wir retten können."

Das Feuer brannte weiter, die Funken stiegen in den klaren Nachthimmel empor wie Gebete, die endlich Gehör finden würden. Niemand jubelte, aber erstmals seit langer Zeit lag nicht nur Hoffnung in der Stille zwischen ihnen, sondern auch Stärke.

Dies war nicht mehr die Stille der Unterdrückten, sondern die Ruhe vor einem Sturm, der alles verändern würde. Die Ruhe vor einem Neubeginn, der mit Blut und Tränen erkauft werden würde – aber auch mit der unerschütterlichen Gewissheit, dass die Wahrheit am Ende immer siegt.

Und in der Ferne, jenseits der Ruinen und der Schatten, begannen die ersten Vögel zu singen, als wüssten sie, dass ein neuer Tag dämmerte.

 

Chapter 12: Feuer unter Knochen - Heimkehr in ein vergiftetes Haus

Chapter Text

Datum: 26. Thalmaris (fünfter Monat des Jahres und ca. 10 Wochen nach Mylaens Flucht)
Ort: Kareth'Zal
Charaktere: Mira Neth'Quor, Luaris Velyn Elthar, Ivarion Thir'Vael, Aerion Vael'Thir, Aeri'Vel Vael'Thir

 

Niemand wollte schlafen, obwohl der Himmel bereits heller wurde. Der schwache Glanz des nahenden Morgens legte sich wie Tau auf die erschöpften Gesichter. Inmitten des halb errichteten Lagers flackerten die letzten Lagerfeuer. Der Duft von verkohltem Wurzelbrot und herzhafter Brühe hing noch in der Luft, vermischt mit Rauch, Metall und kleinen sprossen von Gras, ein seltsames Bild von Aufbruch inmitten von Trümmern.

„Und... was ist dann passiert?" Die Frage kam aus der Menge, zögernd aber mit jener kindlichen Dringlichkeit, die nicht ignoriert werden konnte.

Maylen hatte geendet. Ihre Geschichte lag nun offen wie eine Wunde, die begonnen hatte zu heilen – roh, schmerzhaft, aber endlich gesehen. Die Menschen lauschten nicht mehr nur mit den Ohren, sondern mit Körpern, die so lange nicht zuhören durften.

Aeri'Vel, die bis dahin überwiegend still geblieben war, stand langsam auf. Sie blickte in die Menge, dann zu Maylen. Die junge Frau nickte, kaum sichtbar, aber bestimmt. Aeri'Vel wusste, was das bedeutete: Jetzt bist du an der Reihe.

Sie trat ans Feuer. Ihre Schatten tanzten über die Zeltplanen, über Gesichter, über jede schmerzhafte Erinnerung. Als sie sprach, war ihre Stimme ruhig, zu ruhig. „Wir hatten drei Tage." Ein leises Murmeln ging durch die Gruppe. Liraen hob den Kopf. Luaris regte sich nicht. „Drei Tage, um das Reich in Brand zu setzen – ohne dass jemand Flammen sah."

Die Flammen des Lagerfeuers spiegelten sich auf Aeri'Vels Haut. Niemand sprach. Niemand rührte sich. „Ich wusste, dass es nicht reichen würde, ihn zu entmachten. Weder öffentlich noch ehrenvoll, geschweige denn symbolisch." Sie hielt inne. Die Worte kamen ihr schwerer als erwartet. „Denn er war nicht nur König. Er war das Zentrum eines Netzes aus Schuld, Loyalität und Furcht. Wenn wir einen Faden zogen, spannte sich das Netz nur fester. Wir mussten es zerreißen, alles auf einmal, sodass keine Wurzel zurückblieb."

Sie sah in die Gesichter der Menschen um das Feuer. Überlebende. Zeugen. Verbündete. Und solche, die es noch werden würden. „Also machten wir einen Plan. Keinen Angriff, keine Armee. Nur vier Menschen. Und eine fünfte, die reden konnte." Ein kaum sichtbares Nicken ging an Maylen. Dann wurde ihre Stimme leiser. „Doch es begann nicht mit uns. Sondern mit einer Rune."

„Mira saß tief unter der Akademie, dort wo nur Staub und vergessene Magie lebten. Ich fand sie über einem Pergament gekrümmt, das aussah, als hätte es Jahrhunderte in einer Versiegelung verbracht. Kein Ornament, kein Gold. Nur Linien. Fraktale, geschwungene Bänder, ein Kreis – unterbrochen. Unvollständig."

Aeri'Vel warf einen Blick ins Feuer, als würde sie dort die Erinnerung sehen. „'Diese Struktur ist älter als das Runengesetz selbst', sagte sie zu mir, ohne aufzusehen. 'Vielleicht sogar älter als Vaelarion.' Luaris stand neben ihr, er hatte die Projektion über dem Pergament betrachtet, als wäre sie ein Puzzle, das er lösen wollte. 'Eine Systembindung. Weder individuell noch familiär, sondern... kollektiv.'"

Sie atmete tief ein. Die Erinnerung war scharf und schmerzhaft präzise. „Ich fragte Mira, ob sie es könne. Ob sie brechen könne, was ihn stützte. Sie schob das Pergament zur Seite und zog eine zweite Schicht hervor. Darauf: Sieben Punkte, verbunden durch feine Linien. Runenverzweigungen. Knoten."

Aeri'Vel hob die Hand, als würde sie die Punkte in der Luft nachzeichnen. „'Diese Konfiguration ist das, was die Versiegelung in Kareth'Zal stabilisiert hat', erklärte sie mir. 'Und nicht nur dort. Es gibt mindestens ein Dutzend Lager mit identischer Signatur – von außen unsichtbar, aber auf energetischer Ebene eindeutig verknüpft.'"

Ein Murmeln ging durch die Menge. Jemand flüsterte: „Ein Dutzend..."

„Luaris begriff es sofort. 'Also kein lokales Netz, sondern ein Knoten im Fundament Ikarils.' Und Mira nickte. Ihre Stimme war rau von der plötzlichen freien Nutzung, als sie sagte: 'Diese Rune hier – das Herz. Wenn wir sie gleichzeitig mit den sieben Knotenpunkten in der Hauptstadt auslösen, entsteht ein Umkehrfeld. Bindungen lösen sich. Magische Verträge implodieren. Alles, was über die Runenarchitektur kontrolliert wurde, fällt.'"

Aeri'Vel schwieg einen Moment. Dann sagte sie leiser: „Ich fragte sie, was mit den Menschen geschehen würde, die damit verbunden waren. Sie sah mich an, und ich wusste, dass sie die Antwort kannte, bevor ich gefragt hatte."

Sie trank einen Schluck aus ihrem Becher, als würde sie Zeit gewinnen. „'Sie verlieren Macht. Das Leben nicht, aber Kontrolle. Besitz. Einfluss. Und jene, die an die Runen gebunden sind – über Schwüre, Siegel oder Erbverträge – sie werden... frei.' Das war das Wort, das sie benutzte. Frei."

Aeri'Vel wandte sich der Menge zu. „Luaris zeigte auf einen Punkt im Westen der Stadt. 'Das ist der untere Speicher der 7. Legion.' Mira nickte. 'Runenschlüssel für alle Versorgungslisten. Ein alter Knoten, der mit dem Versorgungssystem der östlichen Lager verbunden war.'"

Sie fuhr mit dem Finger durch die Luft, als würde sie eine Karte zeichnen. „'Und dieser hier?', fragte ich und zeigte auf den südlichsten Punkt. 'Archiv des Handelsrates. Dort liegen die Originalverträge für die Sklaventransporte, verschlüsselt über Goldanteile.' Sieben Punkte. Und ein Zentrum. Alles musste in einem Zeitfenster von acht Minuten geschehen. Andernfalls würde sich das Netz rekonstruieren. Dann würde es wissen, dass es angegriffen wurde und es würde sich zusammenziehen."

Aeri'Vels verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Die Erinnerung machte sie unruhig. „'Wenige wissen, wo die Punkte liegen', sagte Mira. 'Noch weniger wissen, wie sie funktionieren. Und nur ich kann die zentrale Rune aktivieren. Denn ich habe sie nachgebildet – mit dem Fragment aus Kareth'Zal.' Sie sah mich an. 'Wenn wir versagen, wird das Netz nicht nur stärker. Es wird spüren, wer es angegriffen hat.'"

Die Stille am Feuer war vollkommen. Nur das Knistern der Flammen und das leise Atmen der Zuhörer. „'Also braucht es uns alle', sagte ich. 'Zur gleichen Zeit. Am richtigen Ort. Und niemand darf wissen, dass es passiert.' Mira rollte das Pergament wieder ein. 'Dann sollten wir besser anfangen.'"

„Aber zuerst mussten wir die Menschen brechen, die das System stützten. Mit Gewalt wäre es zu laut gewesen. Also wählten wir die Wahrheit und die Lügen, die sie sich selbst erzählt hatten."

Aeri setzte sich wieder, lehnte sich nach vorn, als würde sie ein Geheimnis teilen. „Aerion ging zu Alrik Denar. Alrik war nie ein Monster. Nur ein Mann mit zu vielen Rechnungen und zu wenig Glauben. Ich erinnere mich an seine Hände – sauber, aber die Nägel immer zu kurz geschnitten. Wie jemand, der ständig wartet, dass etwas blutet."

Ein leises Lachen, bitter, aber nicht ohne Verständnis. „Aerion traf ihn in seinem privaten Archiv. Keine Wachen. Kein Protokoll. Nur das Licht der Lampe über dem Schreibtisch. Aerion legte ein versiegeltes Pergament auf das Holz. 'Das stammt aus den Transitkontrollen von Vareth'In. Es ist nicht vollständig aber es sollte reichen.'"

Aeri'Vel imitierte die Bewegung, als würde sie selbst ein Pergament öffnen. „Alrik öffnete es. Sein Blick wanderte über die Zeilen, und in seinem Gesicht arbeitete es, als ob jedes Wort ein Nerv wäre, den jemand freigelegt hatte. Der Name war da. Und die Unterschrift darunter – seine eigene."

Sie schüttelte den Kopf. „'Ich war jung', sagte er. Es war keine Entschuldigung, sondern eine Gewohnheit. Wie ein Husten. 'Du bist alt genug, um zu wissen, was man dir jetzt nehmen kann', antwortete Aerion."

Aeri'Vel schwieg einen Moment. „Die Stille zwischen ihnen war kein Waffenstillstand, sondern ein Messer, das auf der Tischkante lag, scharf und sichtbar. 'Was wollt ihr?', fragte Alrik. 'Zugang. Und Namen. Und dass du verschwindest.' 'Und wenn ich mich weigere?' Aerion sah ihn lange an. Dann sagte er nur: 'Dann wirst du trotzdem verschwinden.'"

Ein Schaudern ging durch die Menge. „Alrik nickte langsam. Er begriff, dass es keinen Stein mehr gab, unter dem er sich verstecken konnte – die Einsicht kam später. Als er die Liste auf einem frischen Pergament niederschrieb, zitterte seine Hand nur einmal, beim letzten Namen. Gorian Vel'Tyen."

„Niemand mochte über Gorian sprechen. Er war weder besonders grausam noch eindeutig fassbar, niemand wusste, was er überhaupt war. Ein Broker, ein Strippenzieher, ein Lächeln hinter einer Maske, die nie fiel. Seine Macht lag nicht in seinem Titel, sondern darin, dass er keine Fehler machte. Und nie Spuren hinterließ."

Aeri'Vel lächelte dünn. „Doch ich hatte Spuren gefunden. In den verschlossenen Archivkammern, tief unter dem Flottenarchiv. Aufzeichnungen – weder sortiert noch katalogisiert. Nur gestapelt, als hätte jemand gehofft, dass sie sich gegenseitig vernichten würden. Es waren keine Befehlsschreiben, sondern Runenübergaben. Lieferungen. Versiegelte Umleitungen. Und ein Name, der zu oft fiel, um Zufall zu sein. Vel'Tyen."

Sie hob die Hand. „Wir nahmen die Dokumente nicht mit. Wir ließen sie dort und schickten Kopien. An Gorian selbst? Nein – an jene, die unter seiner Struktur gelitten hatten. Ein Militärarchivar, dessen Schwester auf einem der Transporte war. Ein Flottenoffizier, dessen Tochter nie zurückkehrte. Ein Ratsschreiber, der wusste, dass sein Bruder eine Rechnung mit dem Goldenen Faden hatte, und nicht zurückgekehrt war."

Aeri'Vel nahm einen Schluck aus ihrem Becher. „Gorians Fall war leise. Seine Villa versiegelt, sein Konto eingefroren. Keine Wachen, kein öffentlicher Skandal. Nur die Art von Abwesenheit, die nicht hinterfragt wurde. Denn jeder wusste: Wer verschwand, tat es meist zu Recht."

Sie schüttelte den Kopf. „Doch es war nicht genug."

„Maris Kantar war keine Gegnerin. Zumindest nicht in dem Sinne, wie Gorian es war. Sie war ein Relikt. Jemand, der die Macht in Händen hielt und doch vergessen hatte, wofür sie sie einst wollte."

Aeri'Vel stand wieder auf, ging um das Feuer herum. „Ich ging zu ihr aber weder als Prinzessin noch als Tochter des Königs, sondern als jemand, der wusste, was in den alten Ratsprotokollen stand. Ich legte ihr das Pergament wortlos hin. Die Tinte war verblasst, aber lesbar. Drei Namen standen darunter. Zwei waren längst tot."

Sie blieb stehen, ihr Blick ruhte auf den Flammen. „Maris' Hand zitterte leicht, als sie das Dokument nahm. Ihre Finger fuhren über das Siegel am Rand – das alte, mit dem sie einst geschworen hatte, dass das Lager von Kareth'Zal nur vorübergehend sei. Sie sagte kein Wort."

Aeri'Vel atmete tief ein. „Als sie es verbrannte, roch es nicht nach Pergament. Es roch nach Schuld. Am nächsten Tag erschien sie im Rat in Dunkelgrau. Keine Erklärungen, kein Wort. Nur ein Zeichen. Und das Zeichen war genug. Nicht alle verstanden es, aber jene, die verstanden, begannen zu flüstern. Und Flüstern war in Vaelarion schon immer gefährlicher als ein Ruf zur Rebellion."

„Tarell Khandros war der letzte, der noch zögerte. Er war kein Feind, nur ein Vater, der die falsche Wahrheit geglaubt hatte."

Aeri'Vel setzte sich wieder, ihre Stimme wurde weicher. „Luaris ging zu ihm. Er brachte keine Beweise mit, sondern ein grün und lila geflochtenes Haarband. Und einen Bericht, in dem ein Name auftauchte, den man ihm nie genannt hatte. Kareth'Zal. Zone 6.

Sie schwieg einen Moment. „Tarell sagte nichts. Aber in seinem Blick veränderte sich etwas. Weder Zorn noch Trauer – etwas dazwischen, wie das erste Knacken in einem alten Eissee. Am Abend darauf sprach er im Rat. Er sprach nicht gegen den König, aber auch nicht für ihn. Er sprach von Verlust. Von Verschwinden. Und von den Dingen, die man sich selbst nicht vergibt."

Aeri'Vel hob den Blick. „Und alle, die zuhörten, wussten: Etwas war verrutscht. Leise, aber unumkehrbar. Vaelarion hatte viele Gesichter. Und an jenem Tag begannen einige von ihnen, sich abzuwenden. Doch es war immer noch nicht genug. Noch nicht. Denn mein Vater hatte Augen. Und Ohren. Und einen langen Atem. Und niemand wusste, wie tief er schon in den Schatten griff."

„Es war am dritten Tag, als ich spürte, dass er wusste. Nicht alles, aber genug um unser aller Leben auf Messers schneide zu stellen."

Aeri'Vel wandte sich der Menge zu, als würde sie jeden einzelnen ansehen. „Ich kann euch nicht erklären, wie es ist, wenn euer eigenes Blut euch verrät. Wenn die Bindung, die euch Leben gab, plötzlich zur Schlinge wird. Aber so war es."

Sie stand auf, ging wieder um das Feuer. „Mira fror. Weder wegen der Kälte noch wegen der Dunkelheit in der Kammer, die sie seit Tagen kaum verlassen hatte. Sie war nicht Teil seiner Linie – zumindest nicht wirklich. Aber alte Bindungen hinterlassen Spuren, und ich hatte mehr mit ihr geteilt, als Blut je binden konnte. Sie fror wegen des Drucks."

Aeri'Vel hielt inne. „Es war kein Schmerz, kein Schlag. Nur ein Moment – ein leises, magisches Tasten entlang des Rückenmarks, als würde eine unsichtbare Hand durch sie hindurchgreifen, nach etwas suchen, das nicht Ihr gehörte."

Sie legte die Hand auf die Brust. „Ich spürte es auch. Diesen Impuls. Diese... Verifikation. Er testete uns, ob wir noch seine Kinder waren, ob wir noch hörten, wenn er rief."

Aeri'Vel atmete tief ein. „Mira verließ die Kammer. Sie lief – nicht schnell, aber präzise. Und sie fand mich. 'Er weiß es', sagte sie. Ich nickte. Kein Erschrecken, kein Widerspruch. 'Hat er die Rune aktiviert?', fragte ich. 'Noch nicht vollständig. Aber er hat die Linie geprüft. Deine Linie. Und er weiß, dass du dich entzogen hast.'"

Sie schloss die Augen. „In diesem Moment wusste ich, dass es kein Zurück mehr gab. Dass die Bindung, die mich zur Prinzessin gemacht hatte, gebrochen war. und das nicht nur durch Magie, sondern durch Wahrheit. Durch die Erkenntnis, dass ich nicht mehr sein Kind war, sondern sein Gegner."

„'Dann haben wir keine Nacht mehr', sagte ich zu Mira. Sie hatte das letzte Pergament dabei – die finale Rune. 'Ich kann den Impuls jetzt vorbereiten. Aber wir müssen synchronisieren. Sofort.'"

Aeri'Vel wandte sich Luaris zu, der still am Feuer saß. „'Aerion?', fragte ich. 'Bereits unterwegs', sagte Luaris. Er war zu uns gestoßen, seine Robe leicht geöffnet, als hätte er den Weg gerannt. Aber sein Atem war ruhig. 'Er hat die Koordinaten überprüft, noch vor Morgengrauen. Die Außenposten sind bereit. Die Knoten können über Resonanz aktiviert werden – wenn Mira das Zentrum auslöst.'"

Sie nickte. „Dann wusste ich, dass alles schneller gehen würde als geplant. Kein weiterer Schritt, keine Verhandlungen mehr. 'Ist die Aktivierung sicher?', fragte ich Mira. Sie zögerte ein wenig. 'Nein. Nicht sicher aber unsere einzige Chance.'"

Aeri'Vel lächelte – das erste Mal seit sie zu erzählen begonnen hatte. „'Dann reicht das', sagte ich. Ich streckte die Hand aus. Mira legte das Pergament hinein."

Sie hob die Hand, als würde sie das Pergament noch immer halten. „'Und was ist mit ihm?', fragte Luaris. Ich blickte über die Balustrade, hinab auf die Stadt, in der bereits Lichter erwachten. 'Er hat einen Kreis gebaut, der nur auf ihn hört', sagte ich. 'Dann wird er auch durch seine Hand fallen.'"

„Wir teilten uns auf. Mira blieb in der Kammer – sie war der zentrale Knoten. Luaris nahm die Akademie-Siegel. Ich das Gericht und die Ratskammer. Aerion das Handelsarchiv. Vier Menschen gegen ein System, das Jahrhunderte gewachsen war."

Aeri'Vel setzte sich wieder, ihre Stimme wurde leiser. „Ich erinnere mich an den Moment, als ich das Gerichtsgebäude betrat. Die Wachen kannten mich, grüßten mich. Sie wussten nicht, dass ich gekommen war, um alles zu zerstören, was sie beschützten."

Sie betrachtete die Flammen. „Das Siegel lag in der obersten Kammer. Ein alter Kreis, in den Boden eingelassen. Jahrhunderte alt. Ich kniete mich davor nieder und legte die Hand darauf. Für einen Moment spürte ich... Widerstand. Als würde das Siegel wissen, was ich vorhatte. Als würde es sich wehren."

Aeri'Vel hob die Hand, als würde sie das Siegel noch immer berühren. „Dann aktivierte ich die Rune. Es war kein Licht oder dramatischer Knall. Nur ein leises Summen, das durch die Wände lief. Und plötzlich... war es still. Stiller als vorher. Als hätte die Stadt den Atem angehalten."

Sie sah auf. „Zur gleichen Zeit, in der ganzen Stadt, geschah dasselbe. Sieben Punkte, gleichzeitig aktiviert. Sieben Knoten, die sich lösten. Und in der Mitte, in Miras Kammer, brach das Zentrum zusammen."

„Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Stellt euch vor, ihr hört euer ganzes Leben lang ein Geräusch – so leise, dass ihr es nicht bemerkt. Und dann, plötzlich, ist es weg. Und in der Stille, die bleibt, hört ihr endlich... alles andere."

Aeri'Vel stand auf, ging wieder um das Feuer. „Die Bindungen lösten sich. Die magischen ebenso wie die politischen. Die Verträge, die Schwüre, die Loyalitäten. Alles, was das System zusammengehalten hatte, fiel in sich zusammen. Weder laut noch spektakulär, nur... endgültig."

Sie blieb stehen, wandte sich der Menge zu. „Und mein Vater? Er saß in seinem Turm und spürte, wie sein Reich starb. Die Wahrheit tötete es – die Erkenntnis, dass alles, was er gebaut hatte, auf Lügen gegründet war. Kein Krieg war nötig, keine Rebellion."

Aeri'Vel nahm einen letzten Schluck aus ihrem Becher. „Als die Sonne aufging, war Vaelarion noch dieselbe Stadt. Aber sie gehörte nicht mehr ihm. Sie gehörte niemandem. Und zum ersten Mal seit Jahrhunderten... gehörte sie allen."

Sie setzte sich wieder, lehnte sich zurück. „Das ist die Geschichte, wie wir ein Königreich von innen stürzten. Weder mit Schwertern noch mit Armeen. Sondern wegen der Erkenntnis, dass manche Ketten nur so stark sind, wie der Glaube an sie."

Das Feuer knisterte leise. Die Menschen um sie herum saßen still da, als würden sie noch immer versuchen, alles zu verstehen.

„Und was ist dann passiert?", fragte die Stimme aus der Menge wieder.

Aeri'Vel betrachtete das Feuer. Die Flammen tanzten, warfen Schatten, die wie Erinnerungen aussahen. „Dann", sagte sie leise, „haben wir eine Stadt zum Schweigen gebracht. Und einen König dazu, die Wahrheit zu sprechen."

Das Feuer brannte weiter. Die Menschen um sie herum begannen sich zu bewegen – nicht fort, sondern näher. Bis sie bereit war weiter zu sprechen.

 

Chapter 13: Feuer unter Knochen - Der Fall eines Königs

Chapter Text

Datum: 27. Thalmaris (fünfter Monat des Jahres und ca. 10 Wochen nach Mylaens Flucht)
Ort: Kareth'Zal
Charaktere: Mira Neth'Quor, Luaris Velyn Elthar, Ivarion Thir'Vael, Aerion Vael'Thir, Aeri'Vel Vael'Thir

 

Das Feuer knisterte leise in der Nacht von Kareth'Zal, während sich die Schatten der Befreiten wie dunkle Finger über den Boden streckten. Aeri'Vel bemerkte die Blicke – nicht die, die sie erwartet hatte, nicht jene voller Dankbarkeit für ihre Befreiung. Nein, diese Augen bargen etwas Schwereres: eine Mischung aus Verwirrung und jenem unterdrückten Misstrauen, das nur jene kennen, die zu oft enttäuscht worden sind.

Sie räusperte sich, eine Geste so alltäglich wie das Atmen, und winkte Luaris zu sich herüber. Seine Hände waren noch immer bandagiert, die Finger steif von den magischen Verbrennungen, die das Brechen der Runensiegel hinterlassen hatte. Mit der geübten Präzision einer Heilerin, die schon zu viele Wunden versorgt hatte, begann sie seine Verbände zu lösen. Das war vertrauter Boden, einfacher zu ertragen als die Blicke, die stumme Fragen stellten: Wie konntest du nichts gewusst haben? Wie konntest du so blind sein?

„Manche von euch kennen mich anders", begann sie, während sie Luaris' verbrannte Handflächen untersuchte. Die Haut war rot und rissig wie getrockneter Lehm, aber sie heilte gut. „Als Generalin der Nordlegionen. Als die Tochter des Königs, die seine Kriege führte, seine Befehle ausführte, seine Lügen glaubte." Sie hob den Blick, suchte die Gesichter in der Runde. „Und ihr fragt euch alle dasselbe: Wie konnte sie nichts von den Lagern wissen?"

Ein bitteres Lachen entfuhr ihr – Kein Lachen der Heiterkeit, sondern jenes harte, schneidende Geräusch, das entsteht, wenn man die eigene Naivität endlich begreift. Während sie eine frische Salbe auf Luaris' Wunden auftrug, fuhr sie fort: „Die Antwort ist ebenso einfach wie beschämend: Weil ich nicht hinsehen wollte. Weil ich geglaubt habe, was bequem zu glauben war. Weil ich dachte, eine gute Soldatin zu sein bedeute, Befehle zu befolgen, nicht sie zu hinterfragen. Wie töricht das klingt, nicht wahr?"

Eine Frau in der hinteren Reihe, ihre Augen waren leer wie ausgebrannte Kerzen, doch ihre Stimme schnitt durch die Nacht wie eine frisch geschärfte Klinge: „Du warst seine Tochter. Du hattest Macht. Du hättest wissen müssen."

Aeri'Vel nickte langsam, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Die Wahrheit war ein zweischneidiges Schwert, und sie würde sich nicht davor drücken, beide Seiten zu spüren. „Ja. Hätte ich. Und diese Schuld wird mich bis an mein Lebensende begleiten wie ein treuer, unerwünschter Schatten." Sie fixierte neue Verbände um Luaris' Hände, ihre Bewegungen präzise trotz des Zitterns in ihren Fingern. „Aber Schuld allein bringt niemanden zurück. Schuld allein befreit niemanden. Schuld ist ein Luxus, den sich nur die Lebenden leisten können. Also erzähle ich euch stattdessen, wie wir das System zerstörten. Von innen heraus. Wie wir das Unmögliche möglich machten."

Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, eine unbewusste Geste, die sie an ihre Mutter erinnerte, an eine Frau, die zu früh gestorben war, um zu sehen, was aus ihrem Mann geworden war.

„Ihr müsst verstehen – was wir getan haben, war kein glorreicher Heldenakt aus den alten Geschichten, die Barden in warmen Wirtshäusern zum Besten geben. Es war ein chirurgischer Eingriff in ein krankes Reich. Präzise, schmerzhaft und mit Komplikationen, die wir erst hinterher begriffen haben. Manches kann man nicht planen. Manches muss man einfach wagen."

Aeri'Vel war ausgelaugt. Nicht nur körperlich, sondern auf jener tieferen Ebene, die entsteht, wenn man zu lange gegen die eigene Vergangenheit gekämpft hat. Doch sie richtete sich auf, suchte wieder die Augen der Versammelten und holte tief Luft für den schwersten Teil ihrer Geschichte.

„Wir dachten, der schwierigste Schritt sei das Planen", sagte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern im Wind, doch jedes Wort trug weiter als ein Schrei. „Wir lagen falsch. Der Moment danach, der Moment der Wahrheit, schnitt uns das Herz aus dem Körper und zwang uns, weiterzumachen, obwohl nichts mehr in uns leben wollte."

Die Schatten am Lagerfeuer schienen zu lauschen, als wären sie selbst Zeugen dessen, was kommen würde. Die Nacht hielt den Atem an.

„Die Dunkelheit war noch nicht gewichen, als Mira das Zentrum aktivierte. Ihr müsst verstehen, es war kein dramatischer Zauber aus den Legenden, die man sich vor dem Kamin erzählt. Kein gewaltiger Donner, der die Berge erschüttert, kein gleißender Lichtstoß, der die Nacht zerreißt. Nur ein leises Summen, das durch die uralten Wände der Tiefkammer glitt wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. Ein Laut, den niemand benennen konnte, den aber jeder im tiefsten Kern seiner Seele spürte. Es war der Klang eines Reiches, das sich daran erinnerte zu sterben."

Sie hielt inne, starrte ins tanzende Feuer, als könnte sie darin die Vergangenheit sehen. Ihre Finger verkrampften sich unwillkürlich, und noch immer spürte sie das Echo jenes verhängnisvollen Moments in den Knochen brennen.

„'Acht Minuten', hatte Mira zuvor geflüstert, ihre Stimme dünn vor einer Anspannung, die ihre Worte zu zerbrechen drohte. Die Lippen waren weiß vor Furcht, die Hände bereits vom kommenden Opfer gezeichnet. 'Acht Minuten, in denen die Resonanzfrequenz stabil bleibt. Danach regeneriert sich das Netz von selbst, danach gibt es kein Zurück mehr.' Sie wusste bereits, was es sie kosten würde. Wir alle wussten es. Aber manchmal ist das Wissen um den Preis nicht genug, um einen aufzuhalten."

Aeri'Vel atmete tief ein, spürte die kalte Nachtluft in ihren Lungen brennen. Die Erinnerung war wie flüssiges Metall in ihrer Brust: heiß, schmerzhaft und unmöglich zu ignorieren.

„Draußen erwachte das Netz. Langsam, wie ein uraltes Raubtier, das aus jahrhundertelangem Schlaf erwacht, hungrig, verwirrt und tödlich. Die alten Knotenpunkte, die so lange wie schlafende Augen in der Dunkelheit geglüht hatten, begannen zu flackern. Die Luft um sie herum vibrierte mit einem metallischen Flimmern, das die Zähne schmerzen ließ. Ein Aufglühen, das kein Licht war, ein Widerhall der Macht selbst, die sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst wurde."

Ihre Stimme wurde fester, getragen von der bitteren Gewissheit dessen, was geschehen musste.

„Luaris erreichte die erste Sicherung am Nordrand der Akademie", begann sie, doch dann verstummte sie. Ihr Blick suchte ihn in der Runde: einen Mann, der zu viel gesehen und zu wenig gesagt hatte, aber immer an ihrer Seite war.

Luaris saß abseits von den anderen, die noch immer bandagierten Hände ruhend in seinem Schoß. Er sprach selten vor Fremden, seine Worte waren kostbarer als Gold und seltener als Ehrlichkeit unter Politikern. Aber jetzt hob er langsam den Kopf, und in seinen Augen lag eine Müdigkeit, die älter war als seine Jahre.

„Die Rune... sie kannte mich", sagte er leise, und doch trug seine Stimme durch die Stille wie ein Stein durch ruhiges Wasser. „Meinen Namen kannte sie nicht, mein Gesicht bedeutete ihr nichts. Aber meine Absicht erkannte sie sofort. Als ich das Gegensiegel auflegte, fühlte ich, wie etwas durch mich hindurchsah. Wie eiskalte Finger, die nach meinen tiefsten Gedanken griffen, sie durchsuchten, bewerteten. Die Rune stellte mir eine Frage ohne Worte: Bist du berechtigt, mich zu brechen? Hast du das Recht, ein System zu zerstören, das Jahrhunderte überdauert hat?"

Seine Stimme wurde rauer, brüchiger. „Mein ganzer Arm fühlte sich an, als löse er sich Schicht für Schicht auf. Körperlicher Schmerz wäre einfacher gewesen, ein sauberer Schnitt, ein gebrochener Knochen. Das hier war... als würden alle Lügen, die ich je erzählt hatte, auf einmal zu brennenden Kohlen in meinen Adern werden. Und die Rune fragte mich stumm, unerbittlich: Verdienst du diese Macht? Verdienst du das Recht zu zerstören?"

Er sah nicht auf, starrte nur ins hypnotische Flackern der Flammen. „Ich dachte an die Kinder in den Lagern. An ihre leeren Augen, an ihre zu dünnen Arme, an die Art, wie Maylen zusammenzuckte, als ich sie verarztete. Und ich antwortete der Rune das Einzige, was wahr war: Nein. Ich verdiene diese Macht nicht. Aber dann dachte ich an jene, die sie bereits hatten, und fügte hinzu: Aber sie verdienen sie noch weniger. Die Rune... sie akzeptierte diese Wahrheit. Mit einem Schmerz, der mir die Fingernägel aufriss und das Blut unter der Haut zum Kochen brachte."

Eine Stille breitete sich aus, schwer und bedeutungsvoll wie die Pause vor einem Gewitter. Dann nickte Aeri'Vel langsam. „Aber du hast es trotzdem getan."

Luaris lächelte – eine Grimasse aus Schmerz und etwas, das einmal Hoffnung gewesen sein mochte. „Weil du mich darum gebeten hast. Weil ich dir vertraute. Und weil ich nicht mehr tatenlos zusehen konnte, während Unschuldige litten für die Bequemlichkeit derer, die wegschauten."

Sie schwieg einen Moment, betrachtete das Blut, das noch immer unter seinen Verbänden durchsickerte, ein stiller Beweis für den Preis der Rebellion.

„Zur selben Zeit bewegte sich Aerion durch die Schatten der schlafenden Stadt zum Seitenzugang des Handelsarchivs. Die Wachen waren da, müde von der langen Schicht, aber noch wachsam genug, um gefährlich zu sein. Er glitt durch die Dunkelheit wie Wasser durch Risse im Stein, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Jeder Schritt war kalkuliert, jeder Atemzug kontrolliert, jeder Herzschlag zu laut in seinen eigenen Ohren. Dann, das Geräusch, das alle Verschwörer fürchten: Schritte. Schwere Stiefel auf Stein."

Ihre Stimme nahm den rauhen, misstrauischen Ton des Wächters an: „'Halt! Was machst du hier? Zeig dein Gesicht, oder ich rufe Verstärkung!'"

„Aerion zwang sich zur Ruhe, obwohl sein Puls raste wie ein aufgescheuchtes Pferd. 'Inventur', sagte er mit einer Stimme, die ruhiger klang, als er sich fühlte, und zeigte eine gefälschte Urkunde vor. Die Tinte war noch feucht vom Schweiß seiner Handfläche. 'Sonderauftrag der Transitbehörde. Vertraulich.'"

„Der Wächter runzelte die Stirn, trat näher. Seine Laterne warf tanzende Schatten auf Aerions verhülltes Gesicht. 'Um diese Zeit? Und seit wann trägt man Kapuze bei einer Inventur? Ich kenne dich nicht, und ich kenne jeden, der hier berechtigt ist.'"

Sie schüttelte den Kopf, spürte wieder die Anspannung jenes Moments, als hätte sie selbst dort in der Dunkelheit gestanden.

„Aerions Puls hämmerte so laut, dass er sicher war, der Wächter müsse es hören. Unter der Kapuze brach ihm der kalte Schweiß aus. Er zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, seine Stimme kontrolliert und gleichmäßig zu halten. 'Seit man nicht gesehen werden möchte. Du weißt, wie empfindlich manche Zahlen sind. Manche Namen auch. Manche Wahrheiten.' Er ließ eine bedeutungsvolle Pause entstehen. 'Soll ich dem Rat berichten, dass du neugierige Fragen gestellt hast?'"

„Der Wächter betrachtete ihn noch einen langen, prüfenden Moment, einen Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Dann ließ er die Hand sinken und seufzte mit der Müdigkeit eines Mannes, der zu viele Geheimnisse gesehen hatte. 'Mach schnell, und vergiss nicht: Ich habe dich nie gesehen. Verstanden?'"

„Ihr solltet wissen, offiziell waren wir in jener Nacht gar nicht in Vaelarion. Aerion befand sich laut königlicher Anordnung auf einer diplomatischen Mission in den westlichen Provinzen, verhandelte angeblich über Handelswege und Zölle. Ich war auf einer Inspektionsreise der nördlichen Akademien, prüfte die Loyalität der Magier und die Stärke der Verteidigungsrunen. Unser Vater hatte persönlich dafür gesorgt, dass unsere Abwesenheit in den offiziellen Dokumenten festgehalten war. Seine eigene pedantische Gründlichkeit wurde zu seinem Verhängnis."

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht wie Schatten bei Kerzenlicht.

„Das Spiel hatte sich gedreht: Genau diese sorgfältig konstruierte Abwesenheit gab uns jetzt die Möglichkeit, uns im Verborgenen zu bewegen. Niemand durfte wissen, dass wir überhaupt in der Stadt waren. Wir bewegten uns wie Schatten durch unser eigenes Reich, wie jene Verschwörer, die das System stürzen mussten, bevor es uns alle verschlang. Und verwandelten uns dadurch unwiderruflich in das, was wir ein Leben lang verachtet hatten."

„Vor Aerion lag das verzauberte Zugangstor zu den Runenlisten der Transitbehörde, verankert mit einem uralten Siegel, das theoretisch mit dem richtigen Blut und der richtigen Stimme zu überstimmen war. Er flüsterte den alten Namen, seine Stimme brüchig vor Anspannung: 'Sohn des Sturms.' Nichts geschah. Die Rune blieb stumm wie ein Grabstein. Er versuchte es wieder, lauter diesmal, mit mehr Verzweiflung in der Stimme: 'Lorin!' Die Rune vibrierte leicht, doch sie erkannte ihn nicht oder wollte ihn nicht erkennen. Zweifel kroch in seinen Geist wie Gift in eine offene Wunde. War er noch der Sohn eines Königs, der ihn bereits in Gedanken verstoßen hatte? Oder war er bereits etwas anderes geworden, ein Verräter, ein Vatermörder, ein Niemand?"

Aeri'Vels Stimme brach leicht, denn sie erinnerte sich noch zu gut an seine Verzweiflung in jenem Moment, an die Art, wie seine Schultern bebten, als er es ihr berichtete.

„'Lorin', wiederholte er ein drittes Mal, und diesmal legte er alles hinein, den brodelnden Zorn über Jahre der Lügen, die tiefe Trauer um einen Vater, der irgendwann aufgehört hatte zu existieren, die Jahre des Versteckens und Verstellens, die endlosen Nächte voller Alpträume. Die Rune bebte unter der rohen Emotionalität seiner Stimme. Sie kämpfte gegen die Anerkennung an, als würde sie ahnen, dass ihre Antwort ein Todesurteil bedeutete. Nicht nur für das System, sondern für alles, was sie zu beschützen geschaffen worden war. Dann, endlich, nach einer Ewigkeit des Wartens – erkannte sie ihn. Und zog sich mit einem Seufzer zurück, der wie die Resignation eines sterbenden Gottes klang."

Sie rieb sich die brennenden Augen, spürte die Tränen, die kommen wollten, aber noch nicht durften.

„Vier Minuten waren vergangen. In der Ratskammer war es still, aber diese Stille war nicht leer, sie war geladen wie die Luft vor einem Gewitter. Ich wusste, dass ich nicht allein sein würde. Zwei Gestalten standen an der Tür, Wachen, die schon zu lange Dinge gesehen hatten, die nicht sein sollten. Sie sahen mich kommen aus der Dunkelheit und traten beiseite. Nicht aus Furcht oder Verrat. Sondern weil auch sie verstanden hatten: Es war Zeit. Es war längst Zeit."

„Ich trat in den inneren Kreis, wo die Macht des Reiches in Stein und Metall gefroren lag. Meine Hand zögerte nur einen Herzschlag, bevor sie sich auf das erste Sigillum legte. Es war kalt, kälter als Eis, kälter als der Tod. Und alt. Älter als mein Leben, älter als die Lügen, mit denen ich aufgewachsen war, älter als die meisten Dynastien. Doch als meine Handfläche das verzauberte Metall berührte, durchströmte mich eine Erinnerung. Aber nicht meine eigene. Es war die Erinnerung der Rune selbst, ihr letztes Geschenk vor dem Sterben."

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, denn diese fremde Erinnerung schnitt tiefer als alles andere, was sie je erlebt hatte.

„Ein kleines Mädchen saß auf den Knien eines Mannes mit müden, aber noch warmen Augen. 'Eines Tages', sagte er, und seine Stimme war sanft und liebevoll wie ein Sommerregen, 'wirst du verstehen, warum Papa so viel arbeiten muss. Warum er manchmal nicht da sein kann.' Seine Hand strich über ihr Haar, zärtlich, schützend, voller einer Liebe, die real war. 'Alles, was ich tue, ist für dich. Für deine Zukunft. Für euch alle.'"

Sie schluckte hart, kämpfte gegen den Schmerz an, der ihre Stimme zu ersticken drohte.

„Das war er gewesen, einmal. Bevor die Macht ihn Stück für Stück gefressen hatte. Bevor er vergessen hatte, was 'für dich' wirklich bedeutete. Bevor aus Schutz Kontrolle wurde, aus Kontrolle Unterdrückung, aus Unterdrückung die Lager entstanden. Bevor er aufhörte, seine eigenen Kinder zu sehen und nur noch Werkzeuge erblickte."

Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, brüchig wie altes Pergament. „Drei Minuten. Ich drückte gegen das Sigillum, und es widerstand mir mit einer Kraft, die nicht von dieser Welt stammte. Es war, als würde ich gegen die gesammelte Geschichte des Reiches selbst ankämpfen: gegen jeden unrechtmäßigen Befehl, jeden grausamen Erlass, jedes Kind, das nie wieder nach Hause gekommen war. Meine Handfläche begann zu bluten, das Metall schnitt in meine Haut wie ein Messer. Dann – ein kaum hörbarer Riss im magischen Gefüge. Kein Geräusch, kein gleißendes Licht. Nur ein Ziehen, tief in der fundamentalen Struktur der Welt selbst. Als würde sich das Reich kurz nach links drehen und dabei etwas Wesentliches verlieren. Der zweite Knoten war gefallen."

Sie verstummte. Das Feuer knisterte wie die Stimmen toter Könige. Niemand wagte zu sprechen, niemand wagte zu atmen.

„In der Akademie begann das uralte System zu wanken wie ein Schiff im Sturm. Die Runen reagierten auf den Bruch wie ein Organismus, der zu sterben beginnt – panisch, verzweifelt, mit der blinden Wut des Todeskampfes. Resonanzlinien flackerten wie Kerzen im Wind. Die Kontrollkreise begannen zu singen, in Frequenzen, die nur jene hörten, die an das System gebunden waren. Und ganz Vaelarion hielt den Atem an."

„Der Thronsaal war erfüllt von einem Licht, das kein Licht war. Hell vom unterdrückten Dröhnen tausender Runenlinien, die unter dem kunstvollen Mosaikboden in panische Bewegung geraten waren. Ein summendes Zittern, als würde der Stein selbst flüstern: Etwas ist falsch. Etwas stirbt. Etwas geht für immer verloren."

Sie machte eine Pause, sammelte sich für den Teil, der ihr das Herz zu zerreißen drohte.

„Wegen dieser elementaren Lebendigkeit nannte man ihn den Sturmsaal, doch nun war er still, und diese Stille war nicht die der Ehrfurcht, sondern die der Verlassenheit. Der Wind hatte ihn längst verlassen, wie ein treuer Diener, der seinen Herrn nicht mehr erkennt. Unter Ivarions Herrschaft war dieser Ort eine Festung gewesen, eine Zwingburg aus Angst, Unterdrückung und absolutem Schweigen. Jetzt war er nur noch ein leerer Raum, der auf ein Ende wartete. Die magischen Adern im Boden glommen schwach wie schlafende Erinnerungen an vergangene Macht. Es war, als würde der Raum selbst abwarten, ob er noch einen Sturm zu befehlen hatte, noch einen König zu krönen. Aber Ivarion war längst kein Sturm mehr. Er war nur noch ein müder Mann, der zu spät begriffen hatte, was er geworden war."

Aeri'Vels Stimme wurde zu einem Flüstern, als die schwerste aller Erinnerungen kam, jene, die sie jeden Abend heimsuchte.

„Ivarion stand in der exakten Mitte des Saales, wo sich einst die Macht des Reiches konzentriert hatte. Die Robe war schlicht, ohne Prunk oder Zeremonie. Er trug kein Schwert, keine Krone, keine Insignien der Macht. Nur den Ring seiner Linie, jenen schlichten goldenen Reif, den ich einst getragen hatte, bevor ich ihn abgelegt und in die kalte Asche eines verlassenen Hofes geworfen hatte. Den Ring, der einmal für Schutz und Fürsorge gestanden hatte und zum Symbol der Unterdrückung verkommen war."

„Er wusste, dass wir kommen würden. Das war keine Überraschung in seinen Augen, keine Panik. Es war etwas viel Tragischeres – ein letzter, verzweifelter Versuch zu begreifen, wie alles so weit hatte kommen können. Und vielleicht, ganz vielleicht, der naive Wunsch, seine Kinder noch einmal zu sehen. Als das, was wir einmal gewesen waren, bevor die Politik uns alle vergiftet hatte. Das bilde ich mir zumindest ein. Das hoffe ich zumindest."

„Die Tür öffnete sich lautlos, wie alles in diesem verfluchten Palast. Aerion trat ein, schwarz gekleidet, aber ohne die Feierlichkeit einer Hinrichtung. Keine Rüstung, kein königliches Emblem, kein Zeichen der Macht. Nur ein junger Mann, der zu früh alt geworden war und dessen Augen Dinge gesehen hatten, die kein Sohn je sehen sollte."

„'Du allein', sagte Ivarion, und es war kein Urteil, keine Überraschung. Nur die müde Feststellung eines Mannes, der schon lange auf diesen Moment gewartet hatte."

„'Noch nicht', erwiderte Aerion, und seine Stimme war ruhiger, als ich sie je gehört hatte. Die Ruhe eines Mannes, der endlich Frieden mit einer unmöglichen Entscheidung geschlossen hat."

„Ein Blick traf zwischen ihnen auf, kurz, intensiv, wie zwei Spiegel, die sich gegenseitig bis in die Unendlichkeit reflektieren. In diesem Moment sahen sie sich wirklich, vielleicht zum ersten Mal seit Jahren."

„'Du bist klug gewesen', sagte unser Vater schließlich, und in seiner Stimme lag etwas, das beinahe wie Stolz klang. 'Still. Berechnend. Geduldig. Du hast zugehört, als alle anderen redeten. Du hast beobachtet, als alle anderen handelten. Genau wie ich es dich gelehrt habe. Genau wie ein König sein sollte.'"

„'Ich habe dir zugehört', erwiderte Aerion, und jedes Wort war scharf wie eine Klinge. 'Zu lange. Viel zu lange.'"

Aeri'Vel senkte den Kopf, spürte das erdrückende Gewicht dieser einfachen Worte.

„Ivarion senkte leicht den Kopf, und für einen Moment war er kein König mehr, nur ein Vater, der zu spät erkannte, was er verloren hatte. Eine Erinnerung stahl sich in seinen Geist, ungebeten und schmerzhaft: Aerion als kleiner Junge, wie er vor seinem Arbeitszimmer wartete. Stundenlang. Mit einem Buch in der Hand oder einem selbstgemalten Bild, etwas, das er seinem Vater zeigen wollte. Nur um einen Moment zu haben, einen einzigen kostbaren Moment der Aufmerksamkeit. Wann hatte er aufgehört zu warten? Wann hatte Ivarion aufgehört zu kommen? Wann war aus einem Vater ein König geworden und aus einem Sohn ein Fremder?"

„Dann betrat ich den Raum, und mein Gang war ruhig, aber schwer. Schwer vom Wissen, dass es kein Zurück gab, keine Vergebung, keine letzte Versöhnung. In meinen Händen: nichts. Kein Dolch, keine Waffe, keine Magie. Nur mich selbst und das untragbare Gewicht aller Entscheidungen, die uns bis zu diesem verfluchten Moment geführt hatten."

„Ivarion sah mich, und für einen Herzschlag war da etwas in seinen Augen, kein Erkennen seiner Tochter, kein väterlicher Blick. Aber vielleicht Verständnis. Die bittere Erkenntnis, dass er sich selbst in eine Ecke manövriert hatte, aus der es kein Entkommen gab, keine Gnade, keine zweite Chance."

„'Ihr seid gekommen', sagte er, und seine Stimme klang beinahe wehmütig. 'Beide. Zusammen. Wie in den alten Tagen, als ihr noch Kinder wart.' Seine Augen wurden glasig vor Erinnerungen. 'Erinnerst du dich noch, Aeri'Vel? Du und dein Bruder, ihr kamt immer zusammen zu mir, wenn ihr etwas angestellt hattet. Immer gemeinsam. Niemals allein.'"

„Niemand antwortete. Was hätten wir auch sagen sollen? Dass wir uns erinnerten? Dass diese Zeit tot war? Dass der Mann, der uns großgezogen hatte, schon lange nicht mehr existierte?"

Ihre Stimme zitterte, als die allerschwersten Erinnerungen kamen, jene, die sie jede Nacht verfolgten.

„Er streckte die Hand aus zu den Runen an den Wänden, versuchte sie zu erwecken, zu befehlen, zu kontrollieren, wie er es ein ganzes Leben lang getan hatte. Seine Finger bewegten sich in den uralten Mustern der Macht, seine Lippen formten stumm die Worte, die einst Berge versetzt und Armeen vernichtet hatten. Nichts geschah. Die Runen blieben stumm wie Grabsteine. Tot. Kalt. Als hätten sie ihn nie gekannt, als wäre er nie ihr Herr gewesen."

„Ein letztes Mal ballte Ivarion die Faust, und für einen winzigen Moment vibrierte der Boden unter unseren Füßen, wie unter drohendem Donner aus weiter Ferne. Hoffnung flackerte in seinen Augen auf wie eine Kerze im Wind. Das Mosaik über unseren Köpfen zuckte mit schwachem Licht, kein warmes Sonnenlicht mehr, sondern das kalte Flackern einer sterbenden Glühbirne. Seine Augen weiteten sich vor verzweifelter Hoffnung. Doch dann verpuffte es wieder. Der Sturm kam nicht. Nur ein schwacher Windhauch blieb, wie die Erinnerung an etwas, das einmal mächtig gewesen war. Der Thronsaal, einst sein Resonanzraum, die Quelle seiner gottgleichen Macht, schwieg wie ein leeres Grab."

„Verzweiflung ersetzte die Hoffnung in seinen Augen, nackt und roh wie eine offene Wunde. Er ballte beide Fäuste, versuchte ein allerletztes Mal, die Macht der Runen zu erzwingen, doch sie entglitten ihm wie Wasser durch zitternde Finger, wie Sand im Sturm. Er fühlte, wie die Welt um ihn herum verstummte, wie sie ihn vergaß. Wie er selbst zu nichts wurde."

„'Was habt ihr getan?', flüsterte er, und da war kein Zorn mehr in seiner Stimme, nur das blanke Entsetzen eines Mannes, der zu spät begreift, dass seine Welt bereits untergegangen ist. Kein König mehr, nur noch ein sterblicher Mann, der plötzlich seine eigene Endlichkeit spürte. Seine Stimme brach wie dürres Holz. Keine Antwort kam von uns. Was hätten wir auch sagen können? Hinter ihm flackerte der zentrale Kontrollknoten ein letztes Mal schwach auf. Er drehte sich um, eine jähe Bewegung voller letzter Hoffnung, und sah die nackte Wahrheit. Die Rune war gebrochen. Zerstört durch präzise Abstimmung, durch das Wissen um ihre Schwächen. Die Runen erkannten kein Blut mehr, keine Stimme, keine Autorität, nur noch die mathematischen Muster, die wir durchbrochen hatten. Und das Muster seiner Macht war für immer verschwunden."

Sie hielt inne, sammelte sich. Dieser Teil der Geschichte fühlte sich an wie das Zerreißen einer alten Wunde.

„Was einst absolute Ordnung gewesen war, war nun absolute Stille. Und in dieser Stille lag eine Art von Freiheit, die er nie hatte verstehen wollen – chaotisch, unberechenbar, menschlich. Die Resonanzfrequenz war gebrochen. Sein eigenes Blut antwortete ihm nicht mehr, erkannte ihn nicht mehr als seinen Herrn an. Langsam, wie ein alter Mann, der plötzlich das Gewicht seiner Jahre spürt, drehte er sich zurück zu uns. Sein Blick wanderte von Aerion zu mir, suchend, prüfend, verstehend. Er begriff endlich, was wir getan hatten. Und vielleicht auch, warum."

„'Ich hätte euch besser vorbereitet', zischte er, und nun war da wieder etwas von der alten Kälte in seiner Stimme, von jener erbarmungslosen Härte, die ihn zum König gemacht hatte. 'Ich hätte euch früher gelehrt, was Macht wirklich bedeutet: die kindischen Träume von Freiheit und Gerechtigkeit gegen das nackte Überleben einzutauschen. Man lernt zu herrschen, indem man andere bricht, bevor sie einen selbst brechen können. Das ist das Gesetz der Welt. Ihr wart meine Kinder, ja, doch ihr wart auch meine Waffen. Und Waffen fragt man nicht, ob sie kämpfen wollen. Man schärft sie, bis sie perfekt schneiden.'"

„Seine Augen funkelten mit einem Feuer, das nicht mehr magisch war, sondern rein menschlich, der letzte Zorn eines Mannes, der sieht, wie sein Lebenswerk zu Asche wird."

„'Du hast uns Ketten gegeben', sagte ich, und mein Blick war so kalt wie der Winter in den Bergen. Es war jene Art von Kälte, die man nur entwickelt, wenn man zu lange auf jemanden gewartet hat, der niemals kam. 'Goldene Ketten, schöne Ketten, Ketten aus Liebe und Pflicht, aber trotzdem Ketten. Und du hast uns gelehrt, wie man sie trägt, ohne sie zu spüren. Wie man lächelt, während sie in die Haut schneiden, wie man gehorcht, während die Seele schreit. Aber wir haben sie gespürt, jeden verdammten Tag. Und wir haben gesehen, was du getan hast.'"

Ihre Stimme wurde lauter, füllte sich mit all dem aufgestauten Schmerz und Zorn der Jahre, mit jeder verdrängten Wahrheit, jedem ignorierten Schrei, jeder weggeschauten Ungerechtigkeit.

„'Die Lager, Vater. Die nächtlichen Deportationen. Die verschwundenen Familien, die offiziell nie existiert hatten. Die Kinder, die nie zurückkehrten aus deinen „Umerziehungsanstalten". Die Listen mit Namen, die einfach gelöscht wurden, als hätten diese Menschen nie gelebt, nie gelacht, nie geweint.' Tränen liefen über mein Gesicht, heiß und salzig wie Blut. 'Du sprichst von Überleben, aber du hast vergessen, wofür man überlebt. Du nanntest es Ordnung, aber es war Stillstand, der Stillstand des Todes. Du nanntest es Schutz, aber es war ein Gefängnis, das sich über das ganze Reich erstreckte. Und wir konnten nicht mehr wegschauen, als wir sahen, was aus den Kindern in den Lagern wurde. Als wir die Überlebenden sprechen hörten. Als wir begriffen, dass deine gottgegebene Ordnung auf einem Fundament aus Knochen und Tränen gebaut war.'"

„Einen Herzschlag lang stand er bewegungslos da, und ich sah etwas in seinen Augen flackern. Verständnis vielleicht, oder Reue. Dann blitzte seine Hand hervor wie eine Schlange, griff nach Aerions Handgelenk und riss ihn herum mit einer Kraft, die ich ihm nicht mehr zugetraut hätte. Seine Augen loderten wieder, gefüllt mit kaltem Zorn statt mit Verzweiflung. 'Glaubst du wirklich, du bist bereit, König zu sein?', zischte er und drückte zu, bis Aerion vor Schmerz zusammenzuckte und der Dolch beinahe aus seinen Fingern glitt. 'Glaubst du, du kannst besser regieren als ich? Ohne die harten Entscheidungen zu treffen? Ohne das Blut an deinen Händen, das jeder Herrscher tragen muss? Du bist naiv, mein Sohn. Die Welt wird dich zermalmen.'"

„Doch ich reagierte instinktiv, ohne nachzudenken. Meine Hand schoss vor, griff nach Ivarions Arm und zwang ihn mit Kraft zurück. Adrenalin gab mir eine Stärke. 'Wir sind nicht du', sagte ich leise, aber mit einer Härte, die Stahl beschämt hätte. 'Wir sind nicht deine Kopien, nicht deine Erben, nicht deine Werkzeuge. Wir sind etwas anderes. Etwas Besseres. Und genau deshalb werden wir gewinnen, wo du versagt hast.'"

„Ivarion kämpfte gegen meinen Griff an, seine Muskeln spannten sich wie gespannte Bögen. Doch die Runen hatten ihn verlassen, und mit ihnen die übermenschliche Kraft, die ihn so lange unbesiegbar gemacht hatte. Keine Magie, keine versteckten Fallen, keine göttliche Macht, nur seine eigene, sterbliche Kraft gegen die unerschütterliche Entschlossenheit seiner Kinder. Als er das begriff, als die volle Bedeutung seiner Niederlage zu ihm durchdrang, erschlafften seine Muskeln langsam, und er trat zurück."

Sie starrte ins Feuer, und ihre Hände zitterten vor der Intensität der Erinnerung.

„Aerion schwieg lange, und in diesem Schweigen lag mehr Gewicht als in tausend Worten. Dann trat er vor, langsam, bedächtig, wie ein Mann, der zum Galgen geht. Der Dolch in seiner Hand war alt, schlichtes Eisen, ohne Verzierungen oder magische Verstärkungen. Es war die gleiche Klinge, die einst im Gürtel eines einfachen Stadtläufers von Kareth'Zal gehangen hatte, eines Mannes, der für Gerechtigkeit gekämpft hatte, als Gerechtigkeit noch einen Namen und ein Gesicht gehabt hatte. Eine Erinnerung an einfachere Zeiten, als richtig und falsch noch klar zu unterscheiden gewesen waren."

„'Warum jetzt?', fragte der König, und zum ersten Mal seit Jahren hörte ich echte Verwirrung in seiner Stimme. Die Verwirrung eines Mannes, der die Welt um sich herum nicht mehr versteht. 'Nach all der Zeit, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben – warum jetzt?'"

„Aerion senkte den Blick, starrte auf die Klinge in seiner Hand, als könnte er dort die Antworten finden, die seine Seele suchte. 'Weil wir zu lange gehofft haben, dass du von selbst aufhörst. Weil wir dachten, du würdest eines Tages aufwachen und sehen, was aus deinem geliebten Reich geworden ist. Was aus dir geworden ist. Aber du hast nie aufgehört, nie innegehalten, nie zurückgeblickt. Und die Menschen in den Lagern... sie hatten nicht die Zeit zu warten, bis du dich auf dein Gewissen besinnst. Sie starben, während wir hofften.'"

„'Aber warum jetzt?', wiederholte Ivarion, und diesmal klang seine Stimme beinahe flehend, wie ein verlorenes Kind, das nach Hause will."

„'Weil wir endlich hingesehen haben', antwortete ich, und meine Stimme war rau vor ungeweinten Tränen. 'Weil wir die Lager besucht haben, obwohl du es uns verboten hattest. Weil wir die Listen gesehen haben, die echten Listen, nicht die geschönten Versionen, die du dem Rat vorgelegt hast. Weil wir mit den Überlebenden gesprochen haben, ihre Geschichten gehört haben, ihre Narben gesehen haben. Und weil du nie aufgehört hast, wegzusehen, auch als wir dir die Wahrheit vor die Füße legten.'"

„'Es ging schon lange nicht mehr um uns', sagte Aerion leise, fast traurig, wie ein Mann, der ein geliebtes Haustier einschläfern lassen muss. 'Ich habe so lange gehofft, dass es anders endet. Ich wollte, dass du uns endlich siehst, unsere Gesichter statt unserer Titel, unsere Sorgen statt unserer Pflichten, unsere Menschlichkeit statt unserer Nützlichkeit. Aber du hast nie aufgehört, König zu sein. Selbst wenn wir Hilfe brauchten, warst du König. Selbst wenn wir dich liebten, warst du König. Selbst wenn wir um dich weinten, warst du König. Und als König hast du Entscheidungen getroffen, die ich nicht mehr mittragen konnte, ohne meine Seele zu verlieren.'"

„Ich trat neben ihn, spürte seine Wärme, seine Anspannung, seine Entschlossenheit. Meine Hand ruhte offen und leer an meiner Seite, wie damals, vor so vielen Jahren, als ich ihm die Krone hatte zurückreichen wollen und er sie nicht genommen hatte. Doch in meinem Herzen kämpfte ein letzter, verzweifelter Zweifel. Hatte ich ihn je wirklich geliebt? Den Mann hinter dem König? Eine Szene blitzte durch meine Erinnerung: Ich war gestolpert im Rosengarten, hatte mir den Knöchel verletzt, das Blut sickerte durch den zerrissenen Stoff. Er war der Erste, der bei mir war, hatte mich vorsichtig auf seine starken Arme genommen, seine Stimme war sanft und besorgt gewesen. Damals hatte ich sein Herz schlagen gespürt, warm und stark und menschlich. Wann hatte ich aufgehört, es schlagen zu hören? Wann war der Herzschlag vom Lärm der Macht übertönt worden?"

Tränen liefen über ihr Gesicht, heiß und unaufhaltsam wie ein Frühjahrshochwasser.

„'Du bist nicht gefallen', sagte ich schließlich, und jedes Wort kostete mich ein Stück meiner Seele. 'Du bist stehengeblieben, während die Welt um dich herum weiterging, sich veränderte, wuchs. Während die Menschen litten und starben und hofften. Während die Kinder aufwuchsen und alterten und vergaßen, wie Lachen klang. Du bist stehengeblieben und hast die Zeit angehalten, als wäre das Reich dein persönliches Spielzeug, das nur dir gehört und nur nach deinen Regeln funktionieren darf.'"

„Ivarion sah mich an, lange, intensiv, prüfend. Seine Augen suchten in meinem tränenfeuchten Gesicht nach etwas, nach irgendetwas. Vielleicht nach der kleinen Tochter, die er einmal gekannt hatte, die auf seinem Schoß gesessen und ihm beim Regieren zugesehen hatte. Die ihm vertraut hatte, ihn geliebt hatte, ihn für den besten Mann der Welt gehalten hatte. Dann schloss er langsam die Augen, und in dieser einfachen Geste lag mehr Würde, als ich ihm in Jahren zugetraut hätte."

„Er sprach kein letztes Wort. Stellte keine letzte Frage. Rechtfertigte sich nicht, flehte nicht um Gnade, verfluchte uns nicht. Er wartete nur. Und in seinem Warten lag eine Art von stiller Akzeptanz, die mich mehr überraschte als jeder Ausbruch von Zorn oder Verzweiflung."

Die Stille um das Lagerfeuer war so vollständig, dass man das Blut in den Adern rauschen hören konnte. Jeder Atemzug schmerzte, jeder Herzschlag war zu laut.

„Aerion hob die Klinge. Sie wog nichts, ein paar Unzen Eisen und Stahl. Und doch fühlte sie sich an wie das Gewicht der Welt. Seine Hand zitterte, nicht vor Furcht, sondern vor der Erinnerung an einen Mann, der ihm einmal Geschichten vorgelesen hatte aus alten Büchern mit vergilbten Seiten. Der seine Alpträume vertrieben hatte mit sanften Liedern und warmen Umarmungen. Der ein liebender Vater gewesen war, bevor er ein unerbittlicher König wurde. Der ihm beigebracht hatte, dass Macht bedeutet, andere zu beschützen, nicht sie zu beherrschen. Wann war das eigentlich vorbei gewesen? Wann hatte sich die Liebe in Kontrolle verwandelt, der Schutz in Unterdrückung?"

„Aerion zögerte einen letzten Herzschlag lang. Für diesen einen, kostbaren Moment sah er wieder den müden Mann vor sich, der abends zu spät nach Hause gekommen war und trotzdem immer Zeit für eine Gutenachtgeschichte gefunden hatte. Den Mann, der ihn auf den Schultern getragen hatte durch die Gärten des Palastes, der ihm die Namen der Sterne beigebracht hatte, der versprochen hatte, immer da zu sein."

„Dann dachte er an die Lager. An die Kinder mit den leeren Augen, die nie wieder Geschichten hören würden. An die Familien, die in fensterlosen Zügen verschleppt worden waren. An die Listen mit gestrichenen Namen. An die Zukunft, die nie kommen würde, solange dieser Mann, dieser König, dieser Tyrann, weiterlebte. An all jene, die in dunklen Kellern verschwanden und deren Schreie niemand hören wollte."

Aeri'Vels Stimme wurde fester. Sie konnte kaum noch sprechen, jedes Wort war ein Kampf gegen die Tränen, aber es war notwendig.

„Und stieß zu. Schnell, präzise, ohne zu zögern. Kein dramatischer Laut, kein heroisches Aufbäumen, kein letzter Fluch. Nur ein kurzer, scharfer Ruck, und dann absolute Stille. Der König, unser Vater, sackte langsam in sich zusammen, beinahe würdevoll, als hätte er es verdient, diesen einen letzten Moment zu haben, in dem niemand mehr etwas von ihm wollte, niemand mehr seine Aufmerksamkeit beanspruchte, niemand mehr seine Entscheidungen brauchte. Als wäre es eine Erlösung von einer Last, die zu schwer geworden war, um sie weiter zu tragen."

„Aerion hielt die blutige Klinge noch fest umschlossen, starrte darauf, als könnte er nicht glauben, was er getan hatte. Seine Finger waren starr vor Schock, seine Augen leer wie ausgebrannte Fenster. Erst als ich sie ihm vorsichtig aus der Hand nahm, schien er wieder zu sich zu kommen."

„'Er war unser Vater', sagte ich, weil es gesagt werden musste."

„'Nein', flüsterte Aerion. 'Er war unser König. Unser Vater ist schon vor Jahren gestorben.'"

Sie wischte sich die Tränen ab, kämpfte gegen das Zittern an, das ihre Brust zu zerreißen drohte.

„Als wir den Sturmsaal verließen, langsam, schweigend, wie Trauernde nach einer Beerdigung, fanden wir Mira im Kontrollzentrum. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Haut fast durchsichtig wie altes Pergament. Sie hatte den zentralen Knoten gehalten, eine Aufgabe, die beinahe ihr Leben gefordert hatte, die sie bis an den Rand des Todes gebracht hatte. Ihre Hände zitterten unkontrollierbar, an ihren Fingerspitzen klebte getrocknetes Blut, und in ihren Augen lag ein Ausdruck, den ich nie vergessen werde: die Leere, die bleibt, wenn man alles gegeben hat und kaum noch weiß, ob genug von einem selbst übrig ist, um weiterzumachen. Aber sie hatte durchgehalten bis zum bitteren Ende, getragen von der unerschütterlichen Überzeugung, dass Freiheit ihren Preis hatte. Und sie war bereit gewesen, ihn zu zahlen, koste es, was es wolle."

Ihre Stimme wurde sanfter, getragen von einer anderen Art des Staunens über das Wunder, das folgte.

„Das Ende begann in den tiefsten Ringen unter der Stadt. Dort, wo seit Jahrhunderten kaum Tageslicht hingedrungen war, wo uralte Runen jahrzehntelang geglüht hatten wie wachsame Augen, die niemals schliefen. Die Siegel begannen zu flackern wie Kerzen im Wind. Dann, ein leises Knistern, kaum hörbar, gefolgt von einem ersten, hauchzarten Riss im magischen Gefüge. Und überall, wo das Netz noch geglaubt hatte, Macht festzuhalten, in Ketten und Verträgen, in Siegeln und Schwüren, löste es sich auf wie Morgennebel im ersten Sonnenstrahl."

„In den Lagern rutschten magische Versiegelungen aus vernarbten Hautfugen wie alte Krusten von heilenden Wunden. Die verfluchten Halsringe der Gebundenen zerplatzten wie sprödes Glas mit einem Ton, den niemand kannte, den aber jeder sofort verstand: dem kristallklaren Klang der Freiheit. Doch viele wussten nichts damit anzufangen, sie standen da wie Schauspieler, die ihren Text vergessen haben. Einige weinten vor Überforderung. Andere liefen ziellos umher, verwirrt und verängstigt wie Tiere, die zu lange in Käfigen gelebt hatten. Sie hatten so lange in Ketten existiert, dass sie vergessen hatten, wie man ohne sie geht, wie man ohne Befehle denkt, wie man ohne Erlaubnis träumt. Manche kauerten sich in Ecken zusammen und warteten darauf, dass jemand, irgendjemand, ihnen sagte, was sie als nächstes tun sollten."

„In den Amtsstuben und Archiven der Macht begannen Tintenlinien sich selbst zu löschen, als wären sie nie geschrieben worden. Jahrhundertealte Verträge zerfielen zu grauer Asche. Bindungssiegel platzten wie Seifenblasen und hinterließen nur leere Luft. Und jene, die das alles kontrolliert hatten, die Beamten und Funktionäre, die Räte und Richter, spürten plötzlich eine furchtbare, befreiende Wahrheit: Sie waren allein. Machtlos. Endlich, endlich wieder menschlich."

„Ein Goldwechsler in der Händlerstraße brach mitten beim Zählen seiner Münzen zusammen, als ihm die Hälfte seiner magisch garantierten Einkünfte buchstäblich zu Staub zerfiel zwischen den Fingern. Ein Ratsarchivar rannte panisch durch die leeren Gänge seines Amtsgebäudes, schrie Befehle in die Stille, die niemand mehr befolgte, nur um mit wachsendem Entsetzen zu begreifen, warum seine Worte plötzlich kraftlos geworden waren, warum seine Stimme nur noch Luft war, die niemanden mehr beeindruckte."

„In den Straßen von Vaelarion brachen Kämpfe aus – nicht organisiert, sondern wild und chaotisch wie ein Naturereignis. Die Stadtwachen versuchten verzweifelt, eine Kontrolle aufrechtzuerhalten, die nicht mehr existierte, doch ihre Befehle waren wertlos geworden, ihre glänzenden Rangabzeichen bedeuteten weniger als der Dreck unter ihren Stiefeln. Manche warfen ihre Waffen fort und liefen davon, andere griffen selbst zur rohen Gewalt, weil es das Einzige war, was ihnen in dieser neuen, anarchischen Welt noch geblieben war. Alte Rechnungen wurden beglichen, nicht mit Gold oder Worten, sondern mit Blut und Tränen. Freiheit, erkannten wir, war nie friedlich gewesen, sie war chaotisch, gefährlich und kostbar zugleich."

„Vaelarion veränderte sich mit einem Flüstern, das durch Mauern sickerte und keiner Hand mehr gehorchte. Die Stadt erwachte wie ein Riese, der zu lange geschlafen hatte – mit der beunruhigenden Stille nach einem verheerenden Sturm und dem ohrenbetäubenden Lärm nach einem Erdbeben. Und während sich diese neue Welt um uns herum formte, gingen drei erschöpfte Menschen hinaus in den Morgen. Durch verlassene Seitengänge, durch still gewordene Straßen, durch eine Dämmerung, die anders roch als alle zuvor. Nach Metall und Staub, nach verbrannter Magie und verschüttetem Blut. Und nach etwas völlig Neuem, etwas, das vielleicht einmal Zukunft heißen könnte."

„Als Aerion Stunden später die Türen des Sturmsaals erneut durchschritt, diesmal allein, ohne Kapuze, ohne den blutigen Dolch, ohne die Last des Königsmordes, war der Raum nicht mehr derselbe. Goldenes Licht fiel durch die entstaubten Fenster wie ein Segen. Die Luft bewegte sich frei, trug den Duft von Rosen und Hoffnung herein. Kein drohender Donner mehr, kein vernichtender Blitz, nur die friedliche Stille nach einem reinigenden Sturm. Und in dieser Stille: endlich Platz zum Atmen, Raum zum Träumen, Freiheit zum Leben."

„Der Sturm war nicht gebrochen worden. Nein, er war freigegeben worden. Befreit von der Kontrolle eines sterblichen Mannes, der vergessen hatte, dass Naturgewalten nicht besessen werden können, nur respektiert."

„Der König war tot, seine Ketten für immer zerbrochen. Doch das Reich wankte noch immer wie ein Schiff ohne Anker, und wer ein altes System stürzt, muss sich dem stellen, was darunter liegt, dem Chaos, der Angst, der Verantwortung. Aerion und ich würden Vaelarion nicht nur neu führen müssen, wir würden es neu denken müssen, neu träumen, neu erschaffen. Und nicht alle würden dabei zusehen wollen. Nicht alle würden diese neue Freiheit verstehen oder schätzen. Manche würden sich nach den alten Ketten zurücksehnen, nach der brutalen Einfachheit der Diktatur."

Aeri'Vel schloss die Augen und holte tief Luft. Sie hatte ihre Geschichte erzählt, ohne es wirklich gewollt zu haben, die Worte waren aus ihr herausgeflossen wie Wasser aus einer gebrochenen Schleuse. Und doch war jedes Wort notwendig gewesen, jeder Satz wie ein Stein ins stille Wasser: Die Wellen breiteten sich aus in langen, unsichtbaren Kreisen, die nun andere erreichen und berühren würden.

Niemand am Feuer bewegte sich. Die Flammen warfen tanzende Schatten auf Gesichter, die gezeichnet waren von dem, was sie gehört hatten und von der Wahrheit über Macht und Verlust, über Liebe und Verrat, über den schrecklichen Preis der Freiheit.

Maylen sah sie an mit etwas viel Tieferem als bloßer Neugier. In ihren Augen lag Verstehen, Mitgefühl und etwas, das wie Bewunderung aussah.

„Die Freiheit", sagte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch in der nächtlichen Stille, „war und ist nicht das Ende der Geschichte."

„Nein", erwiderte Aeri'Vel und spürte, wie sich etwas Schweres und Dunkles in ihrer Brust löste. „Sie war nur der Anfang. Der schwerste Teil kam danach und wird auch noch kommen. Denn Freiheit ist nicht nur das Fehlen von Ketten – sie ist die beängstigende, wunderbare Verantwortung, zu entscheiden, was man mit leeren Händen anfängt. In welche Richtung man sich wendet, wenn alle Wege offen sind. Wie man eine Welt aufbaut, wenn die alte in Schutt und Asche liegt."

Sie senkte den Blick und starrte in die glühenden Kohlen des sterbenden Feuers. „Ich habe meine Geschichte erzählt, damit sie nicht mit mir stirbt. Damit sie jemand weiterträgt, mit Zorn vielleicht, oder mit Hoffnung, oder mit der stillen Entschlossenheit, die nötig ist, wenn man erkennt, dass auch die eigene Welt Ketten trägt, die zerbrochen werden müssen."

Sie hob wieder den Kopf und sah in die Gesichter um das Feuer. „Beides ist richtig. Beides ist notwendig. Beides ist wahr."

Als das letzte Glimmen des Feuers in der Asche verlosch, war da keine alte Ordnung mehr, kein starres System, keine absolute Macht. Nur Menschen. Verletzte, hoffende, träumende Menschen. Und die unendlichen Möglichkeiten dessen, was sie daraus machen konnten.

Die Sonne ging über ihnen allen auf, langsam, majestätisch und unaufhaltsam. Sie begrüßte einen goldenen Morgen, der voller Versprechen war, voller Gefahren, voller Leben. Einen Morgen, der ihnen allein gehörte.

 

Chapter 14: Die Oase

Chapter Text

Datum: 14. Feymaris (345 n.K)
Ort: Geheime schwebende Insel im Grenzgebiet zwischen Elythara & Vaelarion
Charaktere: Aeri'Vel Vael'Thir und Luaris Velyn'Elthar

 

Hoch über den Wolken, wo die Luft dünn und kristallklar war, schwebte ein Geheimnis zwischen Himmel und Erde. Die kleine Insel, kaum größer als ein Dorf, trieb lautlos durch die endlose Bläue des Äthers, ein vergessenes Geschenk Elytharas an Vaelarion, versteckt vor den Augen der Welt in den Höhen, wo nur Adler und Windgeister zu fliegen wagten. Selbst die Kartographen der großen Archive wussten nichts von ihrer Existenz, denn sie war nicht nur verborgen, sondern auch vor jeder Suche geschützt durch Zauber, die älter waren als die Königreiche selbst.

Die Sonne, bereits tief am Horizont stehend, tauchte die schwimmende Erde in warmes, goldenes Licht. Ihre Strahlen brachen sich in den Wassertropfen des Velir-Thaan, einem schmalen Fluss, der auf unmögliche Weise durch die Insel mäanderte – gespeist von einer Quelle, die niemand je gefunden hatte, fließend in Kreisläufen, die der Logik spotteten. Das Wasser schien aus dem Nichts zu entspringen, zwischen den Wurzeln der uralten Bäume hervorzuquellen, um sich dann wieder in die Luft zu verflüchtigen, bevor es den Rand der Insel erreichen konnte. Es war kühles, klares Wasser, das nach Regen und wilden Kräutern schmeckte, und wenn man sehr genau hinhörte, konnte man in seinem Plätschern die Echos alter Lieder vernehmen.

Die Insel selbst war ein Wunder der Natur, oder der Magie, niemand wusste es genau. Ihre Oberfläche war bedeckt mit dem weichsten Gras, das Aeri'Vel je unter ihren nackten Füßen gespürt hatte, durchzogen von silbernen Adern, wo winzige Kristalle im Erdreich funkelten. Am Rand der Insel wuchsen Lysbair-Bäume, deren Blätter in der Höhenluft ein ständiges, beruhigendes Rauschen von sich gaben, wie ferne Meeresbrisen, die Geschichten aus anderen Welten erzählten. Zwischen ihren Stämmen rankten sich Mondblüten empor, deren schneeweiße Kelche sich nur bei Sonnenuntergang öffneten und einen Duft verströmten, der an Jasmin und ferne Träume erinnerte.

Der Ozean unter ihnen erstreckte sich endlos in alle Richtungen, ein lebendiges Gemälde aus Türkis und Saphir, durchzogen von weißen Schaumkronen, die wie tanzende Geister über die Wellen hüpften. So hoch oben wirkten selbst die größten Wellen wie sanfte Falten in einem seidenen Tuch, und das Rauschen des Meeres erreichte sie nur als fernes, beruhigendes Summen, ein Wiegenlied, das die Insel in ewigem Frieden hielt.

Zwischen den Lysbair-Bäumen und einem kleinen Hain aus Pfirsichbäumen, deren Früchte süßer schmeckten als alles, was in den Gärten der Paläste wuchs, stand eine Hütte, so verträumt, als wäre sie aus den Seiten eines Märchenbuchs entsprungen. Ihre Wände aus verwittertem Zedernholz erzählten Geschichten von Jahrhunderten sanfter Winde und warmer Sonnenaufgänge. Das Holz war silbergrau geworden von der Zeit und der Höhenluft, weich und geschmeidig unter den Händen, als wäre es mehr Stoff als Baumaterial.

Das Dach, liebevoll aus Schilfrohr und weichem Gras gewoben, war zu einem lebendigen Teppich geworden – Moos glitzerte darauf wie gefallenes Himmelslicht, während Pollenblumen in der Abendbrise ihre süßen Düfte verströmten. Kleine Vögel hatten in den Dachbalken ihre Nester gebaut – winzige, bunte Geschöpfe, die wie fliegende Juwelen aussahen und Lieder zwitscherten, die das Herz zum Tanzen brachten.

Die Fenster, winzig und aus milchigem Kristallglas, warfen Regenbogenreflexe auf die Wiese davor, wo Schmetterlingsorchideen in allen Farben des Sonnenuntergangs blühten – von zartem Rosa bis zu tiefem Violett, von leuchtendem Gold bis zu sanftem Aquamarin. Hier, so weit entfernt von den Intrigen der Höfe und dem Lärm der Städte, schien die Zeit selbst sanfter zu fließen, als würde sie sich an der Schönheit dieses Ortes berauschen und nicht den Mut fassen, weiterzugehen.

Eine kleine Veranda umschloss die Hütte, getragen von schlanken Säulen aus poliertem Driftholz, das das Meer einst an unbekannte Strände gespült hatte. Dort standen zwei bequeme Stühle aus geflochtenem Weidenholz, zwischen denen ein kleiner Tisch mit einer Vase voller wilder Blumen stand. Laternen aus buntem Glas hingen von der Decke der Veranda, bereit, die Nacht in warmes, farbiges Licht zu tauchen.

Doch an diesem Abend brannten die Laternen noch nicht. Die Sonne spendete noch genug Licht, um die Welt in goldenes Feuer zu tauchen, und im Inneren der Hütte flackerte kein gewöhnliches Feuer. Stattdessen schwebte eine Glaskugel unter den Balken, in der goldene Funken wie gefangene Sterne tanzten, ein Geschenk aus den Werkstätten Elytharas, wo Licht noch geformt werden konnte wie warmes Wachs. Die Kugel war etwa so groß wie ein Kinderkopf, vollkommen rund und durchsichtig wie ein Kristall, und die Funken darin bewegten sich in Mustern, die an Galaxien erinnerten oder an die Bewegung von Fischschwärmen in tiefen Gewässern.

Der Innenraum der Hütte war nicht groß – zwei Räume, mehr nicht – aber er atmete Gemütlichkeit und Wärme aus jeder Ritze. Der Boden war aus breiten Holzplanken, die unter den Füßen leicht nachgaben und ein zufriedenes Knarren von sich gaben, als würden sie sich freuen, bewohnt zu werden. Überall lagen weiche Teppiche aus vaelarionischer Wolle, in den Farben des Sonnenuntergangs gewebt – tiefes Rot, warmes Orange, sanftes Rosa und goldenes Gelb.

Auf einem Meer aus weichen Kissen und Decken, gewebt aus Spinnenseide und durchzogen mit Fäden, die in der Dunkelheit schimmerten, lagen zwei Gestalten eng aneinander geschmiegt. Die Kissen waren in allen erdenklichen Größen und Formen da: runde, eckige, längliche, manche groß genug, um sich darauf auszustrecken, andere klein genug, um als Kopfstütze zu dienen. Sie waren bezogen mit Stoffen aus aller Welt, Seide aus Elythara, Samt aus den Bergen Vaelarions, Leinen aus den Ebenen des fernen Ignirion. Manche schimmerten wie Fischschuppen, andere fühlten sich an wie Moos oder wie die Innenseite einer Blüte.

Die Decken waren nicht weniger luxuriös, warme Wolldecken für kühle Nächte, leichte Seidendecken für warme Tage, und eine besondere Decke aus dem Fell von Himmelsluchsen, die so weich war, dass sie sich anfühlte wie eine Wolke, die Form angenommen hatte. Diese Decke war ihr Lieblingsstück – nicht nur wegen ihrer unvergleichlichen Weichheit, sondern weil sie in der Dunkelheit schwach leuchtete, als wäre sie aus dem Fell von Tieren gewebt, die zwischen den Sternen gelebt hatten.

Die Welt jenseits ihrer kleinen schwebenden Oase existierte nicht. Es gab nur die Wärme ihrer Haut, das sanfte Auf und Ab ihrer Atemzüge und das Gefühl, dass die Zeit für sie stehengeblieben war.

Aeri'Vel lag mit dem Kopf an seiner Schulter, ihr goldenes Haar wie flüssiges Sonnenlicht über seine Brust gebreitet. Jede einzelne Strähne schien ein eigenes Leben zu führen, glitzerte und tanzte im Licht der schwebenden Lampe, als wäre es aus gesponnenen Strahlen der Morgensonne gewebt. Ihre Finger zeichneten träge Muster auf seine Haut, jede Berührung eine stumme Liebeserklärung. Mal die Form einer Blume, mal verschlungene Linien, die wie alte Runen aussahen, mal einfach nur sanfte Kreise, die seine Nerven zum Summen brachten.

Sie trug ein Kleid aus hauchzarter elytharischer Seide, so dünn und fließend, dass es eher wie ein zweites Hautgefühl wirkte als wie richtige Kleidung. Die Farbe war schwer zu beschreiben, sie wechselte je nach Licht zwischen tiefem Blau und zartem Grün, mit silbernen Fäden durchzogen, die wie gefrorene Tränen schimmerten. Das Kleid hatte lange, weite Ärmel, die über ihre Arme flossen wie Wasser, und einen Ausschnitt, der ihre Schultern entblößte und die sanfte Linie ihres Halses betonte.

Er trug nur eine einfache Hose aus weichem Leinen, seine Brust nackt, seine Haut warm und gebräunt von der Höhensonne. Kleine Narben erzählten stumme Geschichten – eine lange, dünne Linie über seiner Rippe von einem Duell in seiner Jugend, ein sternförmiges Mal an der Schulter von einem Pfeil, der sein Ziel nur knapp verfehlt hatte, winzige weiße Punkte an den Händen von der Arbeit mit scharfen Klingen auf dem Schlachtfeld, um zu retten, was noch zu retten war. Aber in diesem Moment waren sie keine Erinnerungen an Schmerz oder Gefahr, sie waren Teil seiner Geschichte, Teil dessen, was ihn zu dem Mann gemacht hatte, den sie liebte.

Die Luft um sie herum duftete nach den Lavendelkeksen, die auf einem kleinen Teller lagen, nach dem süßen Tauwein in ihren halbvollen Gläsern und nach dem warmen, salzigen Hauch des fernen Meeres, der durch die offenen Fenster wehte. Aber da waren noch andere Düfte. Der süße Duft der Mondblüten, das frische Aroma des unmöglichen Flusses, der Duft von Zedernholz und alten Büchern, und darunter, ganz zart, ihr eigener Duft, eine Mischung aus Lavendel und wildem Honig, die ihn jedes Mal aufs Neue berauschte.

„Stell dir vor", murmelte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Windhauch, „wir hätten keine Namen. Keine Vergangenheit. Keine Zukunft, die uns erwartet." Ihre Stimme war wie warmer Honig, der über seine Haut floss, mit einem Hauch von elytharischem Akzent, der bestimmte Silben dehnte und andere verschluckte, als würde sie eine Melodie sprechen statt Worte. Es war eine Stimme, die für Liebeslieder und Geheimnisse gemacht war, für Flüstern in der Dunkelheit und Lachen in der Morgensonne.

Luaris ließ seine Hand durch ihr Haar gleiten, wobei einzelne Strähnen zwischen seinen Fingern hindurchglitten wie gefangenes Licht. Seine Hände waren größer als ihre, mit langen, geschickten Fingern, die sowohl ein Skalpell führen als auch eine Blume pflücken konnten, ohne sie zu verletzen. An seinem Ringfinger trug er einen schmalen Ring aus Thal'Varethischem Silber, durchzogen mit blauen Adern – ein Familienerbstück, das schon sein Großvater getragen hatte.

„Wie meinst du das?", fragte er, und seine Stimme war tief und warm, mit einem rauen Unterton, der von zu wenig Schlaf herrührte. Aber wenn er mit ihr sprach, wurde sie weicher, fast zärtlich, als würde er eine seltene Blume mit Worten streicheln.

Sie hob den Kopf und blickte ihn an, ihre Augen groß und leuchtend im warmen Schein der schwebenden Lampe. Ihre Augen waren das Erste gewesen, was ihm an ihr aufgefallen war, Golden, wie die morgentliche sonne über dem Meer. Wenn sie lächelte, wurden kleine Fältchen an den Augenwinkeln sichtbar, nicht die Linien des Alters, sondern die Spuren von tausend glücklichen Momenten.

„Dass wir nur... wir sind", sagte sie und strich eine verirrte Locke aus seinem Gesicht. „Vel und Lou. Zwei Seelen auf einer Insel am Ende der Welt, die niemandem gehört als uns." Die Namen klangen fremd in ihren Mündern, so einfach, so gewöhnlich im Vergleich zu den pompösen Titeln, die sie in der Außenwelt trugen. Aber genau das war es, was sie daran liebte. Vel und Lou. Kürzer konnte man Seelen nicht benennen, intimer konnte man nicht miteinander sein.

Er schwieg eine Weile und lauschte dem leisen Plätschern des unmöglichen Flusses draußen, dem fernen Rauschen der Wellen und dem sanften Seufzen des Windes in den Lysbair-Bäumen. Die Insel bewegte sich kaum merklich in den Höhenwinden, eine sanfte Schaukelbewegung, die sie beide entspannte wie das Wiegen einer liebevollen Hand.

Von draußen drangen weitere Geräusche herein – das Zwitschern der winzigen Vögel, die in den Dachbalken nisteten, das leise Summen der Bienen, die von Blüte zu Blüte flogen, das gelegentliche Plätschern des Flusses, wenn er über einen größeren Stein sprang. Es waren die Geräusche eines Ortes, der vollkommen im Frieden mit sich selbst war, eines Ortes, der nie Krieg oder Hass oder Verzweiflung gekannt hatte.

„Nur Vel und Lou", wiederholte er schließlich, seine Stimme warm vor Zärtlichkeit. „Auf unserer geheimen Insel, wo die Gesetze der Welt nicht gelten."

Sie lächelte – das erste echte Lächeln seit Monaten – und er spürte, wie sein Herz einen kleinen Sprung machte. Ihr Lächeln war wie Sonnenschein nach einem langen Winter, wie der erste warme Tag nach einem harten Frost. Es verwandelte ihr ganzes Gesicht, ließ ihre Augen strahlen und kleine Grübchen in ihren Wangen erscheinen.

Sie griff nach der Tonkaraffe mit dem Tauwein. Die Karaffe war ein Kunstwerk für sich, handgetöpfert von einem Meister aus Vaelarion, mit einem schlanken Hals und einem bauchigen Körper, verziert mit spiralförmigen Mustern, die im Lampenlicht wie kleine Wirbel aussahen. Der Wein darin schimmerte perlmuttfarben im Lampenlicht, durchzogen von winzigen Bläschen, die wie gefangene Träume aufstiegen. Es war ein besonderer Wein, hergestellt aus Trauben, die nur in den höchsten Gipfeln Vaelarions wuchsen, wo der Schnee das ganze Jahr über lag und die Luft so dünn war, dass gewöhnliche Menschen kaum atmen konnten.

Die Gläser waren nicht weniger kunstvoll – mundgeblasen aus elytharischem Kristall, so dünn, dass sie fast durchsichtig waren, mit langen, eleganten Stielen und Kelchen, die perfekt in die Hand passten. Wenn man sie aneinander stieß, gaben sie einen Ton von sich, der lange in der Luft hallte wie ein Windspiel. Sie schenkte beide Gläser nach, wobei der Wein leise gluckernd aus der Karaffe floss und einen Duft verströmte, der an Bergblumen und frischen Schnee erinnerte. Dann reichte sie ihm eines der Gläser.

„Auf das Vergessen", sagte er und hob sein Glas. Das Kristall war kühl in seiner Hand, aber der Wein darin funkelte warm im Lampenlicht.

„Auf das Erinnern", erwiderte sie, ihre Augen fest auf die seinen gerichtet. „Daran, wer wir wirklich sind, wenn niemand zusieht."

Ihre Gläser berührten sich mit einem kristallenen Klingen, das durch die stille Luft hallte wie ein Versprechen. Der Ton war rein und hell, schwebte noch lange zwischen ihnen, nachdem sie die Gläser wieder gesenkt hatten, als wollte er ihre Worte in die Ewigkeit tragen.

Der Wein war süß und prickelnd, mit einem Hauch von Honig und wilden Beeren, und er wärmte sie von innen, löste die letzten Verspannungen aus ihren Schultern. Es war ein Wein, der für besondere Momente gemacht war, für Augenblicke, die im Gedächtnis bleiben sollten wie Juwelen in einer Schatzkammer. Er prickelte auf der Zunge und hinterließ einen Nachgeschmack, der an Sommer und Freiheit erinnerte.

Aeri'Vel nahm einen der Lavendelkekse vom Teller, leicht verbrannt an den Rändern, weil sie beim Backen nicht sonderlich geschickt war, und brach ihn entzwei. Die Kekse waren ihr gemeinsames Werk gewesen, ein chaotischer Nachmittag voller Mehlstaub und Gelächter. Sie hatte darauf bestanden, dass Kochen eine Kunst sei, nicht eine Wissenschaft, und hatte seine peniblen Messungen und genauen Zeitangaben mit einer Handvoll zusätzlicher Zutaten sabotiert.

„Erinnerst du dich noch", kicherte sie, während Krümel auf seine Brust rieselten, „wie du versucht hast, mir eines deiner Rezepte bei zu bringen?" Ihr Lachen war wie Silberglocken, die im Wind tanzten, hell und fröhlich und ansteckend. Es war ein Lachen, das Zimmer erhellen und Herzen zum Schmelzen bringen konnte, ein Lachen, das ihm jedes Mal aufs Neue zeigte, warum er sie liebte.

„Und du hast gesagt, Rezepte seien für Leute ohne Fantasie", lachte er und strich eine verirrte Strähne aus ihrem Gesicht. Seine Finger verweilten einen Moment an ihrer Wange, spürten die Wärme ihrer Haut, die Weichheit wie Rosenblätter.

„Habe ich doch recht behalten. Diese hier schmecken viel besser als die langweiligen perfekten Kekse."

Sie hatte recht. Die Kekse waren vielleicht nicht perfekt – manche zu süß, andere zu trocken, alle ein wenig schief geraten – aber sie schmeckten nach Liebe und Lachen, nach einem Nachmittag voller Küsse zwischen den Backgängen und Mehlschlachten, die in Umarmungen endeten.

Sie kuschelte sich wieder an ihn, ihr warmer Atem kitzelte an seinem Hals. Die Insel schaukelte sanft in den Höhenwinden, eine Bewegung so zart, dass sie sie nur spürten, wenn sie ganz still lagen. Es war wie das Wiegen einer liebevollen Hand, die sie in den Schlaf singen wollte, oder wie das sanfte Schaukeln eines Bootes auf einem stillen See.

Das Licht der schwebenden Lampe begann allmählich zu dimmen, als spürte sie, dass die Nacht nahte. Die goldenen Funken darin bewegten sich langsamer, träger, ihre Bahnen wurden zu sanften Spiralen statt zu wilden Tänzen. Draußen begannen die ersten Mondblüten aufzugehen, ihre weißen Kelche öffneten sich wie kleine Monde, und ihr süßer Duft drang durch die offenen Fenster.

„Wenn die Welt unter uns brennt", flüsterte er in ihr Haar, wobei seine Lippen ihre Kopfhaut berührten, „möchte ich, dass unser Lachen das Einzige ist, was bis hier oben dringt."

Seine Stimme war kaum mehr als ein Hauch, aber sie hörte jeden einzelnen Ton, spürte die Vibration seiner Worte durch seinen Brustkorb. Es war ein Gedanke, der sie beide manchmal heimsuchte, die Vorstellung, dass die Welt, die sie unten gelassen hatten, in Flammen aufgehen könnte, während sie hier oben in ihrem Paradies lagen. Aber in diesem Moment schien selbst diese Angst weit entfernt, gedämpft durch die Magie dieses Ortes.

Ihre Hand fand seinen Herzschlag, legte sich flach auf seine Brust und spürte das stetige Pochen des Lebens darunter. Sein Herz schlug stark und regelmäßig, ein beruhigender Rhythmus, der sich mit ihrem eigenen synchronisierte, bis sie nicht mehr sagen konnte, welcher Herzschlag ihrer war und welcher seiner.

„Und ich will, dass mein letzter Gedanke das Gefühl ist, hier bei dir zu sein."

Ihre Worte waren wie Federn, die durch die Luft schwebten, so leicht und doch so bedeutungsschwer. Sie schloss die Augen und ließ sich ganz in das Gefühl sinken, das Gefühl seiner Wärme, seiner Nähe, der absoluten Sicherheit in seinen Armen.

Die Worte hingen zwischen ihnen wie goldene Fäden, zu kostbar, um sie zu brechen. Stattdessen schmiegte sie sich noch enger an ihn, ihre Stirn an seinem Hals, ihre Beine verschlungen mit seinen, als wollten sie zu einem Wesen verschmelzen. Seine Haut roch nach Zedernholz und Meeresluft, nach warmer Sonne und nach etwas Undefinierbarem, das nur ihm gehörte, ein Duft, den sie unter tausend anderen erkannt hätte.

Sie lagen so eine Weile, lauschten ihren Atemzügen und dem fernen Rauschen des Meeres. Die Welt schrumpfte auf diesen Moment zusammen, auf die Wärme ihrer verschlungenen Körper, auf das sanfte Leuchten der Lampe, auf den Duft der Mondblüten und das leise Plätschern des unmöglichen Flusses.

Später, als die Sonne endgültig hinter den Wolken verschwunden war und die ersten Sterne über ihrer schwebenden Welt zu funkeln begannen, begann sie, Zeichen auf seine Haut zu malen. Es war ein Ritual, das sich zwischen ihnen entwickelt hatte. Eine stumme Sprache aus Berührungen, die nur sie beide verstanden.

Ihre Fingerspitzen glitten über seine Brust, zeichneten Bögen und Kreise, Linien und Runen, die nur sie beide verstanden. Ihre Berührung war federleicht, aber jede Bewegung brannte sich in sein Gedächtnis ein wie eine glühende Kohle. Sie begann an seinem Schlüsselbein, ließ ihre Finger über seine Schulter wandern, hinunter zu seinem Herzen, wo sie innehielt und kleine Kreise malte, die sich spiralförmig nach außen bewegten.

Unter ihrer Berührung begann ein sanftes, bläuliches Licht zu glimmen, schwach wie Mondschein auf Wasser, aber deutlich sichtbar in der dämmrigen Hütte. Es war ein Phänomen, das sie beide noch immer faszinierte, auch nach all den Malen, die sie es erlebt hatten. Das Licht schien aus seiner Haut selbst zu kommen, als wäre es schon immer da gewesen und würde nur auf ihre Berührung warten, um sich zu zeigen.

Eine Rune formte sich unter ihren Fingern, elegant geschwungen, pulsierend im Rhythmus seines Herzschlags. Sie war wunderschön in ihrer Einfachheit – drei ineinander verschlungene Kreise, verbunden durch geschwungene Linien, die wie Ranken aussahen oder wie die Bahnen von Sternen am Nachthimmel.

„Was bedeutet das?", fragte er leise, hypnotisiert von dem Leuchten auf seiner Haut. Er kannte die Rune, hatte sie schon oft gesehen, aber er wollte ihre Stimme hören, wollte die Worte aus ihrem Mund.

„Zuhause", hauchte sie gegen seine Haut, ihre Lippen so nah, dass er ihren Atem spüren konnte. „Es erscheint nur bei Seelen, die füreinander bestimmt sind. Bei Menschen, die sich gefunden haben, obwohl sie nie gesucht haben."

Die Rune pulsierte stärker, wurde heller, als würde sie auf ihre Worte reagieren. Es war ein warmes Licht, das keine Schatten warf, sondern alles um sich herum in einen sanften Schein tauchte. Luaris spürte eine seltsame Wärme von der Stelle ausgehen, nicht unangenehm, sondern beruhigend, wie eine innere Sonne.

Er schluckte schwer, seine Kehle plötzlich eng. Die Einfachheit ihrer Worte stand in starkem Gegensatz zu der Tiefe ihrer Bedeutung. Zuhause – nicht ein Ort, sondern ein Gefühl. Nicht vier Wände, sondern zwei Herzen, die im gleichen Rhythmus schlugen.

„Und du... du meinst das ernst?", fragte er, obwohl er die Antwort in ihren Augen lesen konnte.

Statt zu antworten, legte sie ihre Hand über die leuchtende Rune. Das Licht wurde wärmer, heller, als würde es auf ihre Berührung reagieren. Ihre Hand passte perfekt über das Zeichen, als wäre es für sie gemacht worden.

„Diese Insel", flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar, „ist unser wahres Zuhause. Nicht die Paläste oder Städte da unten. Hier. Bei dir."

Ihre Worte trugen das Gewicht der Wahrheit, eine Wahrheit, die tiefer ging als alle Gesetze und Traditionen. Sie hatte recht, hier oben, zwischen Himmel und Sternen, waren sie nicht die Hüterin der Grenzen, Kronprinzessin, Kommandantin und der Heiler der großen Häuser. Sie waren nur Vel und Lou, zwei Menschen, die sich in einer verrückten Welt gefunden hatten und beschlossen hatten, dass sie zusammengehörten.

Er verschränkte seine Finger mit ihren, hielt ihre Hand über seinem Herzen. Ihre Finger passten perfekt zwischen seine, als wären sie Puzzleteile desselben Bildes. Ihre Hände waren rauer als ihre, gezeichnet von der Arbeit mit Schwert und Schild, aber er liebte diese Rauheit, die Geschichten, die seine Narben erzählten.

In seinen Augen spiegelte sich das Leuchten der Rune, aber auch etwas Tieferes, eine Liebe so rein und stark, dass sie die ganze schwebende Insel hätte tragen können. Es war eine Liebe, die keine Worte brauchte, die sich in Blicken und Berührungen ausdrückte, in gemeinsamen Atemzügen und synchronen Herzschlägen.

Sie lagen so, während die Nacht vollends hereinbrach. Die Sterne kamen hervor, einer nach dem anderen, bis der Himmel aussah wie ein schwarzer Samtvorhang, bestickt mit Diamanten. Der Mond stieg über den Horizont, eine silberne Scheibe, die ihr Licht auf die Insel warf und alles in einen märchenhaften Schein tauchte.

Draußen begannen die nachtaktiven Wesen der Insel zu erwachen. Die Mondblüten öffneten sich vollständig und verströmten ihren betörenden Duft, während winzige Glühwürmchen zwischen den Lysbair-Bäumen zu tanzen begannen wie lebende Sterne. Die Nachtkristallgrillen begannen ihr Konzert – ein sanftes Zirpen, das sich wie Musik anhörte, komponiert von der Natur selbst.

Der unmögliche Fluss schien in der Dunkelheit heller zu leuchten, als würde das Mondlicht seine magischen Eigenschaften verstärken. Das Wasser glitzerte silbern zwischen den Bäumen hindurch, und wenn man genau hinhörte, konnte man tatsächlich die Echos alter Lieder vernehmen. Melodien aus einer Zeit, als die Welt noch jung war und die Magie so selbstverständlich wie das Atmen.

„Hörst du das?", flüsterte Aeri'Vel und hob leicht den Kopf von seiner Brust.

Luaris lauschte angestrengt. Da war etwas, eine Melodie, so fern und zart, dass er nicht sicher war, ob er sie wirklich hörte oder nur träumte. Sie schien aus dem Fluss selbst zu kommen, aus dem Wasser, das seine unmöglichen Kreise zog.

„Die alten Lieder", murmelte er ehrfürchtig. „Ich dachte, das wären nur Legenden."

„Hier ist vieles real, was anderswo nur Legende ist", sagte sie und legte ihr Ohr wieder an seine Brust. „Deshalb liebe ich diesen Ort so sehr. Hier können wir träumen, ohne verrückt zu sein."

Die Melodie wurde deutlicher, eine wehmütige, aber wunderschöne Weise, die von vergangenen Zeiten erzählte, von Liebenden, die durch die Jahrhunderte getrennt waren, von Hoffnungen, die nie sterben, und von Träumen, die irgendwann wahr werden. Es war ein Lied, das das Herz zum Weinen und gleichzeitig zum Jubeln brachte.

Aeri'Vel begann leise mitzusummen, ihre Stimme verschmolz mit der fernen Melodie des Wassers. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, nicht ausgebildet wie die der Hofsängerinnen, aber rein und klar wie Bergquellwasser. Wenn sie sang, vergaß Luaris manchmal zu atmen, so gebannt war er von dem Klang.

Er schloss die Augen und ließ sich von ihrer Stimme und der Magie des Moments tragen. Die Rune auf seiner Brust pulsierte im Rhythmus ihrer Melodie, ein sanftes Leuchten, das durch seine geschlossenen Lider hindurchschimmerte.

Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Sie lagen da und sprachen über alles und nichts, über die Farbe der Mondblüten, über die Form der Wolken, die unter ihnen vorbeizogen, über die Geschichten, die die Sterne erzählten. Sie teilten Erinnerungen aus ihrer Kindheit, Träume von der Zukunft, und lachten über die kleinen Eigenarten des anderen.

 

Chapter 15: Wie Ikaril atmet

Chapter Text

Datum: Elytharis (Neunter Monat des Jahres, 324 n.K., das Genaue Datum ist unbekannt)
Ort: Sylvara, Ignirion, Thal'Vareth
Charaktere: Sylwen Qen'Mara, Ignis Rath'Mor & Ormaris Thal'Quor

 

Die Morgensonne brach sich wie flüssiges Gold an den Tautropfen des dichten Blätterdachs und legte einen glitzernden Schleier über den Pfad zum Waldtempel. Sylwen ging barfuß, so wie es in Sylvara Brauch war, wenn man den ersten Unterricht des Tages besuchte. Ihre Füße kannten jeden Wurzelbogen, jeden weichen Moosteppich. Der Boden vibrierte sanft unter ihr, ein leiser Herzschlag tief in der Erde.

Mit sechs Jahren war Sylwen klein für ihr Alter, ihre hellbraune Haut glomm wie warmer Bernstein im Sonnenlicht. Dunkle, unbändige Wellen fielen über ihre Schultern, und ihre Augen - ein klares Grün mit goldenem Schimmer - spiegelten jedes Blatt, jeden Funken Leben um sie herum. Das Grübchen an ihrer linken Wange kam selten zur Ruhe.

Der Waldtempel lag in einer kreisrunden Lichtung, umgeben von uralten Eichen mit Stämmen so breit, dass drei Erwachsene sie nicht hätten umfassen können. Leuchtende Pilze wuchsen zwischen ihnen, ihr bläuliches Glimmen selbst am Tag sichtbar. Der Tempel selbst war kein Steinbau, sondern ineinander gewachsene Bäume formten mit Ästen und Ranken ein lebendiges Dach, durch das nur sanftes, gefiltertes Licht fiel.

Im Inneren warteten bereits die anderen Kinder. Elrae, ein Junge mit zerzaustem goldblondem Haar und ruhelosen Füßen. Maerin, ernst und aufmerksam, ihre dunklen Zöpfe makellos geflochten. Die jüngere Sioha spielte mit einer Blüte, ohne aufzublicken. Sylwen setzte sich zu ihnen auf den weichen Moosboden, die Hände ruhig auf den Knien.

Meisterin Tharelle trat aus dem Schatten einer Eiche. Die hochgewachsene Elfenfrau sprach mit einer Stimme wie Windgeräusche, ihre Augen trugen das tiefe Blau eines Sommerabends. Ihr grün-braunes Gewand wirkte wie ein Teil des Waldes, das silberdurchzogene Haar verriet Jahrhunderte, die sie mühelos getragen schien.

„Heute lernen wir, was der Kreislauf wirklich bedeutet - und warum er euch betrifft, egal wie jung ihr seid." Sie stellte einen kleinen, flachen Korb auf den Boden und hob die Hand. Aus dem Moos wuchs eine weiße Blume, als hätte sie nur auf diesen Ruf gewartet. „Diese Blume ist Teil eines großen Ganzen. Sie atmet, was ihr ausatmet - ihr atmet, was sie ausatmet. Euer Leben hängt an ihrem, ihres an eurem."

Sylwen sah, wie die Blume ihren Kelch öffnete, als würde sie ihr zuzwinkern. Ein feiner, warmer Faden aus Licht floss zwischen ihr und der Pflanze hin und her. Das war normal. So vertraut wie Atmen.

„Wer von euch kann fühlen, wie diese Blume mit dem Boden, dem Wasser und euch verbunden ist?"

Einige Hände hoben sich, doch in den Gesichtern ihrer Mitschüler sah Sylwen nur leere Blicke. Elrae verzog das Gesicht. „Ich seh nur 'ne Blume."

„Ich auch", murmelte Sioha. „Die riecht schön."

Sylwen blinzelte verwirrt. „Spürt ihr nicht, wie sie euch antwortet? Wie sie euch kennt?"

Die Kinder starrten sie an, als hätte sie etwas sehr Seltsames gesagt. Tharelle jedoch lächelte wissend. „Manche von euch werden mehr fühlen als andere. Das ist gut so. Eure Verbindung ist wie ein Samen - sie wächst, wenn ihr sie nährt."

Aus ihrem Korb holte die Lehrerin einen kleinen, glatten Stein, der in der Luft wie ein Hitzeschleier flimmerte, fast durchsichtig. „Dies ist ein unsichtbarer Stein aus den Tiefen Ikarils. Selbst wenn ihr ihn nicht sehen könnt, ist er Teil des Kreislaufs. Er speichert Geschichten, Stimmen, Erinnerungen - und Energie. Jede Berührung verändert ihn. Jeder Gedanke hinterlässt eine Spur."

Die Kinder gaben den Stein reihum. Elrae zuckte mit den Schultern. „Fühlt sich kalt an."

Sioha kicherte. „Ich spür gar nichts."

Als Sylwen den Stein berührte, öffnete sich ein stiller Raum in ihr. Fernes Summen erreichte sie, wie Blätter im Wind, und für einen Augenblick glaubte sie, den Herzschlag des Waldes zu hören. Sie hielt den Atem an, um länger zu lauschen.

„Es gibt eine Gefahr", sagte Tharelle ernst. „Wenn zu viel Energie in euch strömt - mehr als ihr halten könnt - kann sie euch zu früh zurück in den Kreislauf ziehen. Überladung ist selten, aber sie ist real. Darum müsst ihr lernen, die Ströme zu lenken."

Während die anderen fasziniert oder ängstlich flüsterten, saß Sylwen still da und strich über den unsichtbaren Stein. Sie dachte an die Blume, an die Lichtfäden, an das Summen in ihren Händen. Vielleicht war es normal, so zu fühlen. Bis heute hatte sie es nie hinterfragt. Aber jetzt wusste sie: Nicht alle hörten, nicht alle sahen. Das machte sie... anders.

Als die Stunde fast zu ende war und die Kinder langsam unruhig wurden, blieb Sylwen sitzen, den Stein noch in der Hand. Tharelle legte sanft die Finger auf ihre Schulter. „Bewahr es wie ein Geschenk und lerne, es zu tragen."

Tharelle wartete, bis die letzten Gespräche verklungen waren, dann setzte sie sich im Schneidersitz zu den Kindern. „Ihr habt gespürt, dass nicht jeder dasselbe fühlt. Das liegt daran, dass der Kreislauf in jedem von euch anders klingt."

Sie zog einen kleinen Lederbeutel hervor und schüttete verschiedene Samenkörner auf das Moos: rund, länglich, winzig, hart, weich. „Seht ihr diese Samen? Sie alle stammen aus derselben Wiese, trinken dasselbe Wasser, spüren denselben Wind. Und doch..." Sie nahm zwei in die Hand. "...werden diese zu Bäumen, jene zu Blumen. Manche tragen Früchte, andere Dornen."

„So ist es auch mit eurer Energie. Eure Persönlichkeit, eure Erfahrungen, der Ort eurer Geburt, sogar die Jahreszeit - all das formt, wie die Magie in euch Gestalt annimmt." Ihre Augen blickten ernst, aber voller Wärme in die Runde. „Darum wird es nie zwei Magier geben, die vollkommen gleich sind. Selbst bei ähnlichen Kräften werden sie anders fühlen, anders handeln - und anderes in der Welt hinterlassen."

Elrae hob die Hand. „Wenn zwei dieselbe Magie haben, können sie dann nicht dasselbe?"

Tharelle lächelte. „Zwei Musiker können dasselbe Instrument spielen - doch einer wählt ein Lied der Freude, der andere eines der Trauer. Die Magie ist das Instrument. Ihr seid die Musik."

Sylwen betrachtete die Samen vor sich. Für sie war der Vergleich mehr als ein schönes Bild - sie spürte beinahe die leisen Schwingungen der einzelnen Kerne, winzige Stimmen mit unterschiedlichem Klang. Manche warm, manche scharf, manche kaum hörbar.

„Manchmal kann sich die Energie in euch auch verändern - wenn ihr etwas erlebt, das euch selbst verändert. Große Freude kann eure Magie heller machen, tiefer verbinden. Ein schwerer Verlust kann sie dämpfen oder in eine neue Richtung lenken. Aber das geschieht selten und hat seinen Preis."

Selbst Elrae hatte aufgehört, mit dem Moos zu spielen.

„Vergesst nie: Jede Gabe, egal wie klein sie euch erscheint, ist Teil des großen Ganzen. Ohne den Flügelschlag des kleinen Vogels fehlt dem Sturm sein Anfang. Ohne das Flüstern des Blattes fehlt dem Wald sein Lied."

Sylwen ließ den unsichtbaren Stein aus ihren Händen gleiten. Sie begriff, dass ihre eigene „Melodie" vielleicht leiser war als ein Sturm - und doch Teil davon. Zum ersten Mal fragte sie sich, was für ein Lied sie einmal spielen würde.

 

Zur gleichen Zeit glühten die goldenen Zinnen von Ignirion unter der hochstehenden Sonne, die Mauern der Stadt strahlten im warmen Rot des Gesteins. Zwischen engen Gassen wehte der Duft von frisch gebackenem Fladenbrot und starken Gewürzen, in den offenen Höfen summten Händlerstimmen wie Bienen im Sommer.

Die Luft roch nach warmer Asche und süßem Brot aus Lehmöfen, deren Feuer direkt aus dem Erdbauch kam. Über den Dächern stieg leichter Rauch auf, unter den Straßen zogen sich schmale Lavakanäle wie leuchtende Adern. Wenn die Hitze auf kalten Stein traf, spritzten winzige Funkenregen auf - Kinder hielten dann die Hände darüber, als könnten sie die Wärme fangen.

Die dünnen Lavaadern pulsierten im Rhythmus des Erdbodens, als hätte die Stadt selbst einen Herzschlag. Ihr Licht tanzte an den dunklen Hauswänden und malte sanfte Reflexe auf bronzene Türbeschläge.

Ignis sprang über einen der schmalen Lavakanäle auf seinem Schulweg. Mit vier Jahren sprang er, als hätte er das Doppelte an Jahren und keinen Funken Furcht, und landete mit einem Grinsen, das bereits nach Ärger roch. „Ich hab's geschafft!" - auch wenn kein Erwachsener da war, um es zu hören. Seine Mutter hätte ihn ermahnt, er solle die Lava nicht „necken". Aber Ignis fand: Wer in einer Stadt voller Feuer lebt, sollte auch mit ihm spielen.

Die Schule lag in einem Innenhof aus schwarzem Basalt, umgeben von flimmernden Mauern. Im Zentrum stand ein kreisrunder Pavillon, dessen Dach aus goldenen Schindeln wie eine Flamme geformt war. Hier warteten bereits andere Kinder, barfuß oder in dünnen Sandalen.

Der Unterrichtshof war rund und offen, von einer niedrigen Mauer aus geschwärztem Stein eingefasst. In der Mitte stand das Sammelbecken: ein ringförmiger Kanal, in dem Lava so ruhig floss, dass ihre Oberfläche wie poliertes Kupfer wirkte. Darüber flimmerte die Luft und brachte Gesichter zum Tanzen.

Am Rand wartete Meister Halvar. Heute war er besonders gut gelaunt - das hieß, er strahlte beinahe so sehr wie die Lava hinter ihm. Ein breitschultriger Mann mit Armen wie Schmiedehämmer und einem Bart, in dem immer ein paar Funken hängenzubleiben schienen. Groß - nicht einfach lang, sondern wie ein Baum, der breit und tief wurzelt. Die Muskeln an seinen Armen spannten sich selbst in Ruhe, jede Bewegung hatte Gewicht. Sein schwarzer Bart war von silbrigen Strähnen durchzogen, die sich in Zöpfen teilten mit kleinen Bronzeringen an den Enden. Seine dunklen Augen funkelten warm, die tiefe Stimme brummte wie ein Amboss unter Hammerschlägen.

„Also, meine kleinen Flammen", rief er und stellte einen dicken, rußgeschwärzten Stab bereit, „wir lernen heute die Monate - und wehe, jemand vergisst den Monat des Großen Feuers!"

Ein paar Kinder kicherten. Sie setzten sich auf bunte Kissen im Halbkreis um ihn herum.

Ignis saß mit verschränkten Beinen auf einem gelben Kissen, die Hände im Schoß - zumindest für drei Sekunden, bevor er anfing, mit den Fingern auf seine Knie zu trommeln. Seine dunkelroten Haare glommen wie Kohlen, in den bernsteinfarbenen Augen glomm ungeduldige Energie, als könne er jeden Moment aufspringen.

Halvar zog mit seinem Stab einen Kreis in die Asche. „Heute lernt ihr den Lauf unseres Jahres. Nicht wie ein Lied zum Aufsagen, sondern wie einen Weg zum Gehen."

Er teilte den Kreis in dreizehn Segmente. „Ikarils Jahr hat 13 Monate, jeder genau 28 Tage. Das sind 364 Tage. Alle fünf Jahre gibt es einen Leertag - einen Tag außerhalb aller Monate. An diesem Tag arbeitet niemand. Man feiert, man vergibt, man erinnert sich."

Er tippte auf das erste Segment. „Wer kann mir den ersten Monat nennen?"

„Lunaris!" riefen mehrere Kinder gleichzeitig.

„Richtig. Und was feiern wir in Lunaris?"

„Das Erneuerungsfest!" platzte Ignis heraus. „Mit dem großen Fackelzug und den Tänzern, und am Ende gibt's Honigbrot, und-"

„Und wir heben uns das Honigbrot für später auf", unterbrach Halvar lachend. „Sonst vergisst du die Hälfte der Monate. Außerdem rufen wir nicht rein."

„Also: Lunaris - Neuanfang, Wiederkehr. Der Monat, in dem wir das Ewige Feuer erneuern. Feymaris - Wachstum, der erste Schub des Jahres. Ignisaris - unser Monat. Der Monat des Feuers. Prüfungen, Bindungen, Opfer."

Sie arbeiteten sich durch die Monate, und bei jedem Fest von Ignirion wurde Halvars Stimme lebendiger.

„Und im Monat Ignisaris?"

„Das Flammenopfer!" riefen die Kinder wie aus einem Mund.

Halvar nickte, seine Augen glänzten. „Am 7. Ignisaris beginnt das Flammenopfer. Ein Fest, das mehr ist als Tanz und Mahl. Wir geben etwas von uns zurück an die Glut - Zeit, Arbeit, ein Stück unseres Schaffens. Die Schmiede arbeiten Tag und Nacht. Die Krieger messen sich in Wettkämpfen: Kraft, Geschick, Ausdauer. Kinder führen Schaukämpfe auf, spielen die großen Schlachten unserer Geschichte nach. Die Straßen sind voller Gesang, der Rauch der Opferfeuer trägt die Namen derer, die wir ehren, hoch in den Himmel. Das Feuer nimmt, und das Feuer gibt."

Er deutete auf ein kleines, eingeritztes Symbol in der Asche. „Jeder, ob Kind oder Greis, stellt sich seiner Prüfung und trägt etwas bei. Das Feuer vergisst nicht."

Ignis' Herz pochte schneller. In seinem Kopf malte er sich aus, wie er selbst eines Tages vor der Menge stehen würde, mit einem selbstgeschmiedeten Messer in der Hand, das Licht der Lava in der Klinge gefangen.

„Am 14. Ignisaris folgt das Schmiedefest, auch Flammenprüfung genannt. Dort zeigen wir, was wir geschaffen haben. Was bricht, wird neu geschmiedet. Was hält, wird geehrt. Es ist ein Tag der Wahrheit - kein Werkzeug, keine Klinge darf mehr sein, als sie vorgibt."

Er ging weiter um den Kreis. „Vaelaris - Reisen und Handel. Thalmaris - Ordnung und Wende. Sylvaris - Monat der Flüsse, des Waldes, der Erntevorbereitung. Veydris - Rauch, Geheimnisse, Studien im Verborgenen. Kaelmaris - Wettstreit und Schärfung, wie das Schleifen einer Klinge. Elytharis - Monat der Geschichten, oft ohne Ende. Noctaris - Rituale und Prüfungen im Dunkeln. Ormathis - Übergänge und Abschiede. Lutharis - Ernte und Abrechnung. Zypharis - Abschluss und Vorhersage."

Die Kinder wiederholten die Namen, bis es wie ein gleichmäßiger Trommelschlag klang.

Fremde Feste erwähnte Halvar nur kurz. Das „Fest des Erblühens" in Sylvara bekam wenige Worte, der „Tag der Gezeiten" aus Veydris wurde fast übergangen. Aber beim Marschtag der Schmiede leuchteten seine Augen: „Alle Werkstätten öffnen ihre Tore, die Schmiede zeigen, was sie im Jahr geschaffen haben - Schwerter, Helme, Skulpturen, alles aus Feuer geboren."

Eine ältere Frau brachte Tabletts mit dampfenden Tonbechern herein. Gewürztee, dunkel und duftend nach Zimt, Kardamom und einem Hauch Chili. Jeder nahm einen Becher. Ignis trank in einem Zug, verzog kurz das Gesicht, als ihm die Schärfe in die Nase stieg, hustete, lachte und trank trotzdem weiter.

Halvar zog in die Kreismitte einen kleinen Punkt. „Das hier seid ihr. Der, der zählt, steht im Jahr, nicht außerhalb. Er sieht, wie die Monate um ihn kreisen. Manche glatt, manche scharf. In Ignirion haben wir gelernt, auf allen zu stehen."

Ignis hob die Hand. „Und der Leertag?"

Halvar lächelte. „Ein Tag ohne Monat. Ein Tag, an dem wir die Glut ruhen lassen. Man vergibt alte Schulden, schwört neue Eide. Manche sagen, wer den Leertag vergisst, wird vom nächsten eingeholt."

Ignis' Augen blitzten. „Dann werde ich ihn nie verpassen."

Zum Stundenende ließen Halvar alle Kinder die Monate im Chor aufsagen, und bei jedem Fest von Ignirion stampften sie mit den Füßen auf den Basaltboden, bis es wie ferner Trommelschlag durch den Hof hallte.

„Denkt daran", sagte Halvar schließlich, „der Kalender gehört allen Völkern. Aber vergesst nie: Wir halten die Flamme am Leben. Ohne sie gäbe es keine Wärme - und kein Licht."

Ignis grinste. Er wusste zwar nicht, ob das stimmte. Aber er wusste, dass er an allen Festen vorne dabei sein wollte - egal, ob er die Monate in der richtigen Reihenfolge sagen konnte.

In diesem Raum gab es keine Schritte. Kein Dämmern, kein Vergehen. Nur das leise, klare Dasein leuchtender Linien in der Luft - Striche und Bögen, zart wie Atem, scharf wie Klingen, mit Abständen wichtiger als das Gezeichnete selbst. Die Rune vor ihm war fast geschlossen. Veythra - Verbindung. Kein Wort, sondern ein Bauplan: vier Lastenpunkte, zwei Entlastungen, ein Winkel, der entweder rettete oder riss.

 

Ormaris wartete. Geduld war hier kein Charakterzug, sie war Maß. Er bewegte die Hand nicht, bis das Unmerkliche in der Stille sich ausrichtete: ein nachlassender Druck, ein ansetzender Zug - wie wenn eine Tür plötzlich in ihrem Scharnier stimmt. Dann setzte er den letzten Bogen. Keine Geste. Nur ein Hauch von Bewegung, kaum mehr als ein Gedanke, der die Finger erreichte.

Etwas schloss sich. Kein Lichtstoß, kein Donner. Ein inneres Klicken, im Körper gespürt, nicht im Ohr. Die Linien fielen in ihren Platz wie Steine, die ihren Fluss gefunden hatten. Und mit dem Schließen der Form löste sich der Raum.

Er verschwand nicht. Er war einfach nicht mehr da. Die Kanten der Welt kippten, die absolute Stille bekam Risse, durch die Geräusche sich hineindrängten - erst tastend, dann sicher: Schritte auf Stein, Stoff an Stoff, das metallische Klingen eines Hakens an einer Kette. Luft strömte herein - nicht die abgekühlte, gereinigte des Studierzimmers, sondern ein Draußen: Regen an Metall, ein Hauch von Teer, von nassem Holz; irgendwo eine Lampe mit altem Öl.

Ormaris stand aufrecht in der großen Eingangshalle der Akademie von Thal'Vareth.

Er hatte sie anders verlassen. Die Säulen hatten einst zarteren Schaft gehabt, die Kapitelle weniger Laub, mehr Knoten. Jetzt trugen sie eine zusätzliche Binde - ein Band aus steinernen Zeichen, die er nicht kannte. Jüngere Inschriften, saubere Hand, fremde Schulen. Die Wände waren heller, als sei der Ruß vergangener Jahre abgewaschen, die hohen Fenster ließen kühleres Licht herein. Unter der Decke schwebten Runenlaternen an dünnen Drähten, deren Licht gleichmäßig pulsierte - ein Takt, der früher unüblich gewesen war.

Ein Mädchen sah ihn zuerst. Ihr Mantel war an den Schultern mit einem Muster bestickt, das den alten Werkstätten fremd war; die Fäden glänzten feucht. Ihre Schreibrolle glitt aus der Hand und rollte auf den Mosaikboden, der in der Mitte ein Wappen trug - einst bekannt, nun mit einem feinen, neuen Zusatz: ein kleiner Kreis neben dem alten, als hätte man eine Entscheidung nachgetragen.

„...Meister?" Es war kein Ruf. Sie legte das Wort vor sich auf den Boden, um zu prüfen, ob es tragen konnte.

Mehr Gesichter drehten sich zu ihm. Ein Mann mit grauem Bart und mutwillig strengem Mund, dessen Augenwinkel verrieten, dass das Strenge Gewohnheit war, nicht Wesen. Zwei Jungen in der Attika mit Tintenflecken an den Fingerkuppen, die gleichzeitig die Köpfe neigten, als müssten sie aus zwei Blickwinkeln prüfen, ob er wirklich da war. Eine Archivarin mit Schlüsseln am Gürtel wie leisem Regen. Gespannte Stille.

„Ormaris." Diesmal war es ein Name, der den Raum füllte. Es flog durch die Halle wie ein Tier, das eine Tür findet: Ormaris. Ormaris. Das Gemurmel riss an den Rändern auf. Ein Bote lief bereits, die Hand an der Mauer, als wolle er schneller werden, indem er die Welt festhielt.

Ormaris hob die Hand nicht. Er stand da und spürte, wie der Boden anders trug - fester, dichter; die Mörtel waren härter geworden in der Zeit, die er nicht gezählt hatte. Er betrachtete die Gesichter und entdeckte in ihnen den Moment, in dem Verstand und Gefühl sich gegenseitig überholen. Viele blickten ihn an, als stünde ein Bild vor ihnen, aus einer Chronik geschnitten und in die Gegenwart gehalten.

„Wie lange...?" Er war es, der fragte. Die Worte fühlten sich an, als hätte er sie lange nicht gebraucht, und doch waren sie sauber. Keine großen Erwartungen, nur eine Zahl, eine Richtung.

Keiner antwortete. Ein älterer Mann, dessen Robe am Saum mit Wellen gestickt war, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und betrachtete seine Hand, als würden die Falten seiner Haut ausreichen, um Geschichte zu messen.

„Lange." Die Archivarin sprach schließlich, ihre Stimme zart, aber verlässlich. „Für uns... sehr lange." Sie neigte den Kopf - kein Unterwerfungszeichen, eher ein Ausgleich, als wolle sie dem Moment passende Form geben. „Niemand weiß es genau. Es wurden Bücher geschrieben, die euch nachsagten, und Bücher, die euch strichen." Ein feines, kurzes Lächeln. „Die guten haben euch behalten. Und im Lehrplan seid ihr auch vertreten."

Ormaris nickte. Lange - das reichte. Sein Körper fühlte sich an, als habe er eben erst gesessen. Er wusste, dass er anders aussah, als man von jemandem erwartete, der in Geschichten gelegt worden war. Ein Gesicht um die dreißig, vielleicht jünger, wenn das Licht sanft fiel. Die Haut glatt, doch nicht leer von Zeit; die Augen dunkel, mit einer Müdigkeit, die nicht von Nächten kam, sondern von Maß.

„Ihr seid... nicht älter." Das Mädchen bückte sich vorsichtig nach ihrer Rolle, als könnte eine zu schnelle Bewegung den Mann vor ihr aus dem Weltgleichgewicht schieben. „Oder kaum."

„Kaum." Er bestätigte es ohne Geheimnis, ohne Stolz. „Manchmal steht etwas still, damit etwas anderes gedeihen kann." Er sagte es mehr zu sich, prüfend, ob der Satz sich wahrheitsgemäß anfühlte.

„Der Rat..." Der graubärtige Dozent hob mechanisch zwei Finger, als beschwöre er Ordnung. „Der Rat muss-" Er verstummte, weil eine Gruppe bereits die Treppe herabkam: drei, vier Gestalten in Roben schlichter als frühere Räte, aber mit sauberer, neuer Symbolik an den Rändern. Keine goldenen Kordeln, sondern feine, dunkle Fäden mit eingenähten Zeichen - modern, ohne zu vergessen.

Der vorderste war klein, drahtig, mit einem Blick, der Dinge zählte statt Menschen. Er blieb in angemessener Entfernung stehen. „Wenn dies ein Irrtum ist, verzeiht uns. Wenn es keiner ist... willkommen zurück." Die Höflichkeit hielt, weil die Sprache sie hielt; der Rest schwankte.

„Ich will niemandem die Ordnung nehmen." Ormaris legte die Hände aneinander - nicht zum Gruß, eher, um sie irgendwo zu lassen. Die Finger erinnerten Bewegungen, die hier nicht gemacht werden sollten: Schließen, Öffnen, Korrigieren. „Ich bin wieder zurück. Mehr nicht."

Ein Murmeln ging durch die Halle wie Wind, der unter Türen findet. Gerücht war zu Gegenwart geworden; an der Haut der Stadt würde es Schrauben lösen. Zwei Jungen drängten sich vor. Der eine hatte das freche Gesicht derer, die später oft erwischt und oft gebraucht werden. „Meister", presste er halb stolpernd heraus, „ist es wahr, dass ihr... dass ihr Runen fühlt? Nicht lest?"

Der Ratsherr warf ihm einen Blick zu, der später sagte. Der Junge senkte den Kopf - ein wenig. Ormaris sah ihn an, und in der Art, wie er den Blick hielt, lag etwas, das man Kindern selten gab: ernst genommen werden ohne Prüfung.

„Ich weiß, wann etwas stimmt. Nicht immer warum. Das Warum finde ich nachher."

„Ist das... die lebendige Sprache?" Die Archivarin sprach leise. Das Wort hing einen Moment in der Luft, als müsse es erst wieder Platz finden. „Ich habe... Verweise gesehen. Gerade lang genug, um zu merken, dass sie herausgeschnitten wurden."

„Nicht Sprache im Sinn von Sätzen." Ormaris suchte nach etwas Greifbarem, das ohne Schwindel erklärte. Er deutete auf eine der hängenden Runenlaternen. „Stellt euch vor: Der Kreislauf ist Druck. Leben, Bewegung, Wärme, Kälte - alles. Eine Rune ist ein Ventil, das ihr in eine Leitung setzt. Je nachdem, wie ihr die Rillen schneidet, öffnet oder drosselt ihr den Fluss. Ein wenig zu weit - und es saugt euch mit. Ein wenig zu wenig - und nichts bewegt sich. Die meisten lernen Jahrzehnte lang, den Griff zu halten, ohne dass die Leitung reißt. Ich spüre, wann der Druck stimmt."

Der Junge mit dem frechen Gesicht atmete hörbar aus. „Das ist... das Beste, was ich je gehört habe." Der Ratsherr hob erneut zwei Finger, diesmal aus Gewohnheit. „Bitte, keine Demonstrationen in der Halle."

„Keine." Ormaris' Hand blieb ruhig, obwohl die Finger zuckten, als wollten sie einem unsichtbaren Muster folgen. Er merkte, wie sich in der Halle zwei Dinge ausbreiteten, die selten gut zusammengehen: Begeisterung und Angst.

Er ließ den Blick wandern. Dort, wo früher die Liste der Zugelassenen in schweren Holzrahmen gehangen hatte, war jetzt eine Wand aus dunkelgrauem Stein, in die Namen eingelassen waren, die man bei Bedarf mit einem Haken lösen konnte. Flexibilität statt Pracht. Die Treppe zur Ostgalerie war verbreitert worden; der alte Knoten am Absatz - die Stelle, an der man sich die Zehen stieß - war geglättet. An einem Seitentor stand eine Wache in einer Rüstung, die nicht klirrte; die Platten lagen enger, die Gurte waren neuer Schnitt. Zeit hatte nicht nur vergangen, sie hatte gelernt.

„Wir haben Fragen." Die Archivarin sprach wie ein Angebot, keine Forderung. „Nicht alle heute. Nicht alle laut. Aber-" „Nicht heute." Der Ratsherr schnitt sanft ein. Es war keine Ablehnung, sondern Schutz. „Lasst ihm... Luft."

Ormaris nickte dankbar. Erst in diesem Moment spürte er, dass sein Körper den Übergang nachholte: eine leichte Schwäche in den Knien, wie nach zu langem Sitzen; ein Durst nach klarer Luft statt nach Wasser. „Ich will einen Hof sehen. Irgendeinen. Ich will den Himmel sehen."

„Der Nordhof." Das Mädchen, das als erste gesprochen hatte, bot es mit leisem Eifer an, der, richtig geführt, einmal tragen würde. „Dort ist es ruhig, die Blumen blühen gerade und... dort ist das Wandgemälde."

„Dann gehen wir." Der Ratsherr nickte, und die Menge teilte sich in Ehrfurcht und praktischer Klugheit.

Sie traten hinaus. Der Gang war kühler, als er ihn in Erinnerung hatte; jemand hatte gelernt, wo man Öffnungen setzen musste, damit Luft strömt ohne Zug zu sein. An einer Nische stand eine Figur, einst aus hellem Stein, nun an einigen Stellen geschwärzt von den Berührungen zahlreicher Schüler, die sie für Glück berührten. Darunter ein kleiner, neuer Satz in kleiner Hand graviert: Wir ändern das, was wir verstehen.

Im Nordhof blieb Ormaris stehen. Der Himmel war klar, ein hartes Blau. Die Mauer zeigte die alten Mosaike: Szenen aus Lehrzeiten, Prüfungen, ein Meister, der einem Schüler die Hand an den Griff legt und loslässt. Jemand hatte später unter die Szenen kleine, unscheinbare Markierungen gesetzt - keine Korrekturen, Ergänzungen. Eine Sprache, die gelernt hatte, dass sie nicht fertig ist.

„Ich war ein Gerücht." Ormaris sagte es sachlich, ohne Bitterkeit. „Das ist in Ordnung. Gerüchte halten warm, wenn Wirklichkeit fehlt."

Das Mädchen stand neben ihm in respektvollem, neugierigem Abstand. „Und jetzt?"

„Jetzt bin ich müde und hungrig auf Dinge ohne Linien." Ein kleiner Versuch eines Lächelns. Es passte, sogar für ihn, und dennoch war die Bewegung nach so langer Zeit ungewohnt und neu.

„Ihr seht jünger aus, als unsere Geschichten." Der graubärtige Dozent, der ihnen gefolgt war, murmelte es nicht wie einen Vorwurf, eher wie das Eingeständnis, dass Bilder selten gut altern. „Und doch seid ihr anders, was zu erwarten war."

„Man trägt, was man gebaut hat." Ormaris legte die Hand flach auf den Stein der Mauer. Er war warm von der Sonne, aber tiefer darin spürte er ein anderes Wärmegefühl, das er kannte. Der Kreislauf zog hier nicht stark, nur als Ahnung, die reichte, um sicher zu stehen.

Nach einer Weile fügte er hinzu: „Ich werde nicht sofort lehren. Nicht, weil ich Geheimnisse halten will, sondern weil ich erst hören muss, wie eure Zeit spricht. Sonst erkläre ich euch eine Tür, die es nicht mehr gibt."

Die Archivarin nickte, sichtlich erleichtert über eine Grenze, die nicht trennte, sondern ordnete. „Dann beginnen wir damit, euch zu zeigen, was wir geändert haben." „Und was ihr behalten habt."

Sie gingen am Rand des Hofes entlang. Ein Wind strich durch die Galerien und roch nach Holz und Kalk, irgendwo schlug eine Glocke - nicht wie früher, ein tieferer Ton, länger gezogen. Ormaris blieb einmal kurz stehen, als prüfe er, ob seine Schritte Geräusche machten, die zur Halle passten. Taten sie.

Hinter ihnen auf der Schwelle blieb das Flüstern zurück. Er ist zurück. Er ist wirklich da. Er sieht nicht alt aus. Wie lange...? Was weiß er? Worte wie Insekten, die einen neuen Geruch erkunden - vorsichtig, aufgeregt, zu zahlreich, um sie einzeln zu fangen.

Ormaris hörte sie und ließ sie stehen, wo sie waren. Er würde Zeit brauchen, um zu verstehen, was aus dem geworden war, was er kannte. Sie würden Zeit brauchen, um zu verstehen, was er nicht mehr erklären konnte, ohne einen Fehler zu machen.

Vor der nördlichen Mauer blieb er ein zweites Mal stehen. Eine der kleinen, neuen Markierungen im Fries zeigte ein Ventil - schlicht eingeritzt, kaum sichtbar, wenn man nicht wusste, wonach man suchte. Jemand hier verstand wenigstens das Bild. Es genügte.

„Gut." Er sagte es mehr zu sich. „Dann fangen wir an - mit Fragen."

Der Ratsherr atmete hörbar aus, als wäre eine unsichtbare Probe bestanden. Das Mädchen grinste, als hätte es eine List erfunden. Die Archivarin legte die Finger an den Schlüsselbund - nicht zum Klingen, als Takt für das, was kam.

Und die Akademie, die ihn als Gerücht bewahrt hatte, begann, ihn als Gegenwart zu tragen. Ohne Zauberfunken. Ohne Posaunen. Nur mit Stein, Luft und der Gewissheit, dass etwas, das sehr lange gefehlt hatte, wieder im Jahr stand - statt daneben oder außerhalb.

Chapter 16: Die Jagd beginnt

Notes:

one day later because depression got me again <3

Chapter Text

Datum: 24. Lutharis (343 n.K) 
Ort: kleines Dorf an der Küste am Rande Veydris
Figuren: Nyxar Vey'Taal

 

Das Schiff ächzte bei jedem Wellenschlag, als wollte es mit jedem Knarren klarmachen, dass es lieber auf einem warmen Stapel Holz als auf offener See gelegen hätte. Der mittelgroße Frachter wirkte unscheinbar genug für jemanden, der es vorzog, in den Schatten zu arbeiten: weder zu auffällig noch zu armselig. Die gespannten Segel blähten sich träge im Wind, während das salzgebeizte Holz der Planken unter den wettergegerbten Füßen der Matrosen knarrte. An Bord fand sich kein einziger Windmagier, keine glitzernden Runen im Mast – nur das ehrliche Handwerk aus Holz, Tauwerk und menschlichem Schweiß.

Nyxar stand am Bug, den kapuzenbedeckten Mantel fest um ihre schlanke Gestalt geschlungen. Ihre dunkelvioletten Augen mit den goldenen Reflexen glitten über das endlose Meer, während der Wind schwarze Haarsträhnen aus ihrer Kapuze löste und sie um ihr ovales Gesicht wehen ließ. Hinter ihr, fern im Norden, lag Vaelarion – dort tobten die Stürme, als wäre das Meer selbst eine lebendige Waffe, die jeden Fremden vertreiben wollte. Wellen türmten sich dort zu haushohen Monstern auf, getrieben von Wind, der scharf wie geschliffene Klingen schnitt. Viele Schiffe verschwanden in diesen Gewässern spurlos, und jene wenigen, die zurückkehrten, schwiegen lieber über das, was sie in jenen dunklen Wassern erblickt hatten.

Hier, in den Gewässern näher zu Veydris, herrschte trügerische Ruhe. Die Oberfläche glitzerte wie poliertes Silber und verhüllte die Gefahren, die in der Tiefe lauerten. Nyxar wusste es besser als die meisten. Die Alten flüsterten von Kreaturen, die tief unter der See schliefen – Wesen größer als ganze Stadtviertel, mit Augen, die alles Licht verschlangen, und Mäulern voller Zähne, die Schiffe wie Nussschalen zermalmen konnten. Sie hatte nie eine dieser Kreaturen gesehen, und ehrlich gesagt hegte sie auch keinerlei Verlangen danach.

Sie atmete die salzige Luft tief ein, die nach Rost und fernen Stürmen schmeckte. Für die anderen Passagiere war dies lediglich eine Überfahrt. Für sie bedeutete es eine Rückkehr.

Ihre schlanken Finger glitten unbewusst über den kleinen Stein in ihrer Manteltasche. Ein Flüsterstein – unscheinbar und grau wie ein gewöhnlicher Kiesel. Doch sobald ihre Haut ihn berührte, spürte sie das vertraute Vibrieren, ein leises Summen, das tiefer reichte als jeder hörbare Laut. Der Stein war ihre Verbindung zu den Flüsternden und zu dem Mann, der sie in diese Schattenwelt eingeführt hatte.

Sie dachte an den Auftrag, den sie soeben beendet hatte – den dritten seit ihrem offiziellen Eintritt in den Kreis der Flüsternden. Informationen sammeln, Veränderungen im Netz des Kreislaufs prüfen. Für die meisten Menschen ein unmöglicher Auftrag: Wie prüft man etwas, das unsichtbar ist? Doch Nyxar sah ihn. Spürte ihn. Der Kreislauf war für sie kein vager Mythos oder diffuses Gefühl, sondern so greifbar wie die Planken unter ihren Füßen. Und er war niemals still. Er veränderte sich beständig, für andere unmerklich, für sie wie eine Flamme, die im Wind flackerte.

Diesmal hatte er sich erneut verschoben. Kein großer Riss, kein Sturm, der die Welt zerreißen würde – aber die unsichtbaren Fäden waren neu geknüpft worden, und allein das genügte, um die Flüsternden unruhig zu machen.

Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Alles verändert sich. Ein Spruch, der ebenso gut ihr Lebensmotto hätte sein können.

Der Hafen von Veydris empfing sie mit der gewohnten Mischung aus offenen Armen und blank gezogenen Messern.

Schon von weitem ragten die schwarzen Masten wie eine Armee aus Speeren gegen den grauen Himmel. Der Hafen bildete ein verwirrendes Labyrinth aus schwankenden Holzstegen, verwinkelten Gassen und schiefen Lagerhäusern, die einander den kostbaren Platz streitig machten. Ein schwerer Cocktail aus Salz, Fisch, Öl und menschlichem Schweiß hing in der Luft, so dicht, dass er selbst den kräftigen Seewind zu ersticken schien. Händler brüllten ihre Preise heraus, als könnten sie den Markt durch schiere Lautstärke beherrschen. Flinke Kinder huschten zwischen den Erwachsenen hindurch, kleine Schatten mit noch flinker Fingern. Und dazwischen bewegten sich Gestalten mit tief gezogenen Kapuzen, deren halb verborgene Gesichter wachsame Augen verbargen.

Veydris war ein Schmelztiegel der besonderen Art. Hier flossen alle Ströme zusammen – das Strahlende und das Finstere, das Kostbare und das Verdorbene. Wer hier überlebte, lernte schnell, dass jedes Ding zwei Seiten besaß. Ein Lachen konnte eine Drohung verbergen, ein freundschaftlicher Händedruck den Beginn eines Verrats bedeuten. Dennoch pulsierte hier das Leben, ungezähmt und gefährlich, aber lebendig.

Nyxar schob sich mit geschmeidigen Bewegungen durch die Menge, ihr Mantel verhüllte sie ausreichend, um keine ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen. Sie kannte die Wege, kannte die Blicke, denen man besser auswich. Schließlich stand sie vor einer unscheinbaren Werkstatt – laut Schild die Behausung eines Steinmetzen.

Sie klopfte zweimal kurz, dann einmal lang. Die Tür schwang auf, und ein breitschultriger Mann mit grauem Bart musterte sie prüfend. Steinstaub bedeckte sein Gesicht wie eine zweite Haut, doch seine Augen wirkten zu wachsam für einen gewöhnlichen Handwerker.

„Lieferung?" Seine Stimme klang rau wie Schmirgelpapier.

„Eine Wagenladung, wie vereinbart." Nyxar deutete auf den Karren hinter sich. Zwischen gewöhnlichen Steinbrocken lagen die Flüstersteine verborgen – unscheinbar und doch voller geheimer Resonanz.

Er zog einen der Steine heraus und wog ihn nachdenklich in seiner großen Hand. „Ignirion zahlt gut für Erz. Vielleicht sogar zu gut."

Der Code. Nyxar erwiderte ohne zu zögern: „Manchmal ist ein Stein mehr wert als ein Goldstück."

Sein Blick traf ihren für den Bruchteil einer Sekunde – ein kurzes Aufblitzen von Anerkennung und Verständnis. Dann nickte er knapp und übernahm den Wagen, während sie ihm das gefälschte Lieferschreiben reichte. Die Tarnung war perfekt. Niemand würde je fragen, warum ausgerechnet dieser Steinmetz so häufig nach Ignirion lieferte.

Der Heimweg führte über vertrautes Kopfsteinpflaster, das vom jüngsten Regen noch feucht glänzte. Die Häuser drängten sich dicht aneinander, als fürchteten sie den beißenden Wind vom Meer. Über allem lag jenes eigentümliche Gefühl, das Veydris so einzigartig machte: ein fragiles Gleichgewicht zwischen Hoffnung und ständiger Gefahr.

Noch bevor sie die Schwelle ihres Elternhauses erreichte, wusste Nyxar, dass sie erwartet wurde.

Nyxar spürte sie schon, bevor sie die Schwelle übertrat. Zwei vertraute Funken im Kreislauf, so vertraut wie der eigene Atem. Ihre Präsenz war wie ein warmer Strom, der sich um sie legte – daheim.

Val'Zerin war der Erste, der sich zeigte. Lautlos glitt er aus dem Schatten neben dem Türrahmen, sein geschmeidiger, katzenhafter Körper größer als jeder Luchs. Das silbergraue Fell schimmerte im schwachen Licht, überzogen von dunklen Rosettenmustern, die sich bei jeder Bewegung zu verändern schienen. Seine Flügel – glatte, dunkle Flächen statt Gefieder – breiteten sich kurz aus, bevor er ein melodisches Gurren von sich gab. Fast wie ein Kommentar, halb Freude, halb Vorwurf: Wo warst du so lange?

Nira'thayen blieb im Schatten, wie es ihre Art war. Schlanker als Val, drahtiger gebaut, ihr Gang fließender. Ihr dunkleres Fell wies scharfe, klingenähnliche Muster auf, die sie beinahe unsichtbar machten. Ihre bernsteinfarbenen Augen schimmerten kalt und wachsam – schmaler als Vals, tief und klar wie das Licht einer Klinge im Sonnenschein. Sie sprach selten, und wenn doch, dann durch Bewegungen, die klarer waren als jede gesprochene Sprache.

Zum ersten Mal seit Tagen umspielte ein echtes Lächeln Nyxars Lippen. „Ja, ich bin wieder da. Und nein, diesmal bringe ich keinen Fisch mit. Ihr müsst euch mit dem begnügen, was Mutter gekocht hat."

Val gurrte lauter, als wollte er protestieren, und drückte seinen Kopf fest gegen ihre Hand. Nira blinzelte nur einmal – für sie war das Thema erledigt – und ließ sich leise neben ihr nieder.

Schattenflügel, Nachtflügel, flüsterten die Geschichten der Menschen. Dämonen, sagten die einen. Für Nyxar waren sie nichts von alledem. Sie waren Familie. Und während sie hier stand, mit Val dem Silberklang und Nira der Klinge im Schatten, wusste sie: egal wie viele Schatten draußen lauerten – hier war sie zuhause.

Die Begrüßung bedeutete mehr als bloße Routine. Es war ein Heimkommen, ein Schließen des Kreises. Hier, mit ihnen beiden, fühlte sie sich vollständig.

Drinnen hing der Duft von frischem Brot und längst erkalteter Kohle in der Luft. Obwohl die Schmiede ihrer Mutter schon seit Jahren still stand, hatte sich der charakteristische Geruch von Eisen unwiderruflich in die Wände eingebrannt. Auf dem schlichten Holztisch lag ein Laib Brot bereit, daneben ein Messer – eine einfache Geste, die für Nyxar mehr Wert besaß als alles Gold in ganz Ikaril.

Sie setzte sich und zog den Flüsterstein hervor. Der silberne Ring an ihrem Finger pulsierte schwach, als sie ihre Hand darauf legte. Kein Schreiben war nötig, kein Pergament. Nur ein gezielter Impuls. Der Stein vibrierte leicht, und sie spürte, wie sich der Tunnel öffnete. Ihr Vorgesetzter hatte die Verbindung bereits vorbereitet – wie eine Ader im Kreislauf selbst. Alles, was sie gesammelt hatte, wartete bereit. Mit dem Impuls floss es hindurch, verschwand aus ihren Händen und wurde vom Netz der Flüsternden aufgenommen.

Es war vollbracht.

Nyxar lehnte sich zurück und schloss ihre dunkelvioletten Augen. Val hatte sich zu einer grauen Kugel zusammengerollt, während Nira weiterhin wachte, den Blick stets zur Tür gerichtet. Für einen kostbaren Moment glaubte Nyxar, sie wäre in Sicherheit.

Bis es klopfte.

Das Klopfen ertönte ein zweites Mal – tiefer, schwerer. Das war kein verirrter Besucher, kein neugieriger Nachbar, kein zufälliger Irrläufer. Es war das Klopfen von jemandem, der wusste, dass hinter dieser Tür ein Herzschlag wartete, den er zum Schweigen bringen wollte.

Val reagierte als Erster. Sein sanftes Begrüßungsgeräusch brach abrupt ab und verwandelte sich in ein tiefes, kehliges Fauchen. Seine Flügel klappten ruckartig auf und warfen bedrohliche Schatten an die Wände. Nira bewegte sich nicht, doch ihr schlanker Körper spannte sich wie ein Bogen kurz vor dem Abschuss. Ihre Augen zeigten keine Neugier mehr. Sie waren zu Waffen geworden.

Nyxar erstarrte. Der Kreislauf flackerte in ihr, als hätte sich ein schwarzer Faden in das vertraute Netz geschoben. Das war kein Besuch. Das war ein Angriff.

„Val. Nira." Ihre Stimme klang leise, beinahe überflüssig. Die beiden Nachtflügel wussten längst, was bevorstand.

Das dritte Klopfen blieb aus. Stattdessen zersplitterte die Tür mit einem Lauten Krachen und in einem Hagel aus Holzsplittern und verbogenem Metall. Männer stürmten hinein – lautlos trotz des Chaos, jeder Schritt präzise kalkuliert. Dunkle Tücher verhüllten ihre Gesichter, ihre Augen wirkten kalt wie polierter Stahl. Attentäter. Keine gewöhnlichen Straßenmörder – Profis.

Nyxars Herz raste, doch sie wich keinen Schritt zurück. Die Welt um sie schien gedämpft zu werden, jedes Geräusch verschluckt – nur die kontrollierten Atemzüge der Angreifer drangen durch, und das donnernde Pochen in ihrem eigenen Kopf.

„Nyxar!"

Die verzweifelte Stimme kam aus dem Hinterhof. Sie wirbelte herum und erstarrte in blankem Entsetzen.

Am Boden lag ihr Vater. Sein Blut hatte den grauen Steinboden schwarz verfärbt, der leblose Körper lag in unnatürlicher Verrenkung, das einst vertraute Gesicht blutverschmiert und verzerrt. Daneben kniete ihre Mutter, eine Hand am Schwertgriff, die andere gegen die klaffende Wunde in ihrer Seite gepresst. Blut tropfte zwischen ihren Fingern hindurch, aber ihre Augen brannten vor unvermindeter Kampfeslust.

Nyxars Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Der Schock traf sie wie eine Faust in den Magen, die ihr die Luft raubte. Doch für einen Zusammenbruch blieb keine Zeit.

„Renn, Nyxar!" Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich beinahe.

Rennen. Fliehen. Sich retten. Alles, was die Mutter wollte, war, dass wenigstens ihre Tochter überlebte.

Doch Nyxar rührte sich nicht vom Fleck. Ihre Hand umschloss bereits den Griff ihres Dolches, die dunkelvioletten Augen fixierten die Eindringlinge. „Vergiss es. Ich bin nicht heimgekommen, um davonzulaufen."

Ein Angreifer wagte den ersten Schritt, und Val stürzte sich auf ihn wie ein grauer Blitz. Seine Flügel peitschten durch die Luft, so schnell, dass man nur das Aufblitzen von Zähnen sah und das dumpfe Krachen eines Körpers gegen die Wand hörte. Blut spritzte, ein erstickter Schrei brach ab.

Nira glitt lautlos durch den Raum – ein Schatten, der plötzlich tödliche Substanz annahm. Sie sprang einem der Männer an die Kehle und riss ihn zu Boden. Ihr wildes Fauchen hallte durch das Haus, uralt und furchterregend.

Nyxar war bereits in Bewegung. Der Dolch lag perfekt ausbalanciert in ihrer Hand, als wäre er eine natürliche Verlängerung ihres Arms. Sie duckte sich unter dem Hieb eines Schwertes hinweg und stieß zu – spürte den Widerstand von Leder, dann von weichem Fleisch darunter. Warmes Blut rann über ihre schlanken Finger.

Ihre Mutter kämpfte an ihrer Seite, obwohl jeder Schlag ihr sichtlich Kraft raubte. Doch ihre Technik blieb unerbittlich präzise. Zwei Angreifer hielten respektvollen Abstand und wagten es nicht, ihr zu nahe zu kommen.

„Sie wollen dich!" keuchte die Mutter heiser. „Du bist ihr eigentliches Ziel!". Einer der Angreifer schleuderte ihre Mutter mit einer Druckwelle durch den Raum.

Nyxar wich zurück, parierte einen wuchtigen Hieb und trat hart zu. Ihr Herz hämmerte wie Donner gegen ihre Rippen. Natürlich wollten sie sie. Natürlich. Irgendwo da draußen wusste jemand, dass sie mehr war als nur die Tochter eines Schmieds. Sie war eine Informantin der Flüsternden.

„Dann sollen sie sich anstrengen oder das bekommen, was sie verdienen."

Ihre Stimme klang leise, aber sie schnitt wie eine scharfe Klinge durch die angespannte Luft.

Ein weiterer Attentäter fiel unter Niras lautlosem Ansturm. Val war überall gleichzeitig – er sprang, kratzte und biss, ein Wirbel aus grauem Fell und schwarzen Schwingen.

Doch trotz des scheinbaren Chaos bewegten sich die Gegner keineswegs planlos. Sie agierten wie ein gut geöltes Netz, jeder Schritt perfekt abgestimmt. Jemand hatte sie ausgebildet. Jemand hatte sie geschickt.

Einer der Männer – breiter gebaut, mit einer häßlichen Narbe quer über der Stirn – kam direkt auf Nyxar zu. Er schlug mit der übermenschlichen Wucht eines Schmiedehammers zu. Nyxar parierte, doch der Schlag trieb ihr die Luft aus den Lungen und schleuderte sie rückwärts. Sie spürte den kalten Stein der Wand in ihrem Rücken.

„Für Vaelarion," zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, doch sie brannten sich in ihren Kopf ein. Für Vaelarion. War es die Wahrheit? Eine geschickte Lüge? Ein Köder? Oder stimmte es tatsächlich, und der Orden wollte sie tot sehen?

Nyxar antwortete nicht mit Worten. Sie stieß zu – ein sauberer Stich, direkt zwischen die Rippen. Der Mann keuchte auf, Blut quoll zwischen seinen Lippen hervor, und er sank zu Boden.

Doch es waren noch immer zu viele.

Die Mutter stützte sich auf ein Knie, das Schwert noch immer kampfbereit in der Hand, doch das Blut floss schneller aus ihrer Wunde. Nyxar wollte zu ihr eilen, doch Val sprang dazwischen und schlug einen Attentäter zurück, der ihr im Rücken den Dolch zwischen die Schulterblätter rammen wollte.

„Ich sagte, renn!" keuchte die Mutter verzweifelt.

Nyxars Kiefer mahlten aufeinander. „Und ich sagte: Nein!"

Die Wut brach aus ihr hervor – heiß und schwarz zugleich, wie geschmolzenes Eisen. Sie wirbelte herum, ihr Dolch nun durch ihre Energie leicht verlängert, blitzte auf und schnitt durch Fleisch, wieder und wieder. Sie war keine ausgebildete Meisterin, keine geborene Kriegerin wie ihre Mutter – aber sie kämpfte mit wilder Entschlossenheit, schneller und zäher, getrieben von einer Kraft, die ihre Angreifer unterschätzt hatten.

Einer nach dem anderen fiel. Val und Nira kämpften wie Gespenster – unaufhaltsam und grausam, trotz der Verletzungen, die sie sich dabei zugezogen hatten. Der letzte Mann stolperte rückwärts, Blut sickerte aus mehreren Wunden. Seine Augen hinter der Maske blieben kalt – ohne Schrecken, ohne Reue.

„Ihr könnt den Kreislauf nicht..." begann er. Dann brach sein Satz ab, als Nira ihm mit einem einzigen Hieb die Kehle aufriss.

Stille kehrte ein.

Nyxar keuchte schwer, ihr Herz raste immer noch wie wild. Sie blickte sich um. Blut. Holzsplitter. Leichen. Das Haus, das eben noch ihre Heimat gewesen war, glich nun einem Schlachtfeld.

Ihr Vater lag unverändert da, sein Blut längst erkaltet. Ihre Mutter lebte noch – aber schwach, blass, das Gesicht von Schmerz gezeichnet.

„Sieh mich an," flüsterte die Mutter mit brüchiger Stimme. „Du... musst stark bleiben."

Nyxar eilte zu ihr, kniete neben ihr nieder und legte ihre Hand auf die Wunde, als könne sie allein durch Berührung das Leben zurückhalten. „Du stirbst mir nicht auch noch weg."

Die Mutter lachte trocken und hustete dabei Blut. „Dann beeil dich."

Nyxar griff hastig in ihre Seitentasche. Ihre Finger zitterten, doch sie wusste genau, wonach sie suchte. Ein kleines Glasfläschchen mit einer Flüssigkeit so dunkelrot wie frisches Herzblut, verschlossen mit einem simplen Kork. Die Tinktur.

Sie hatte sie auf dem Markt einer Hafenstadt in Vaelarion erstanden – ein uraltes Rezept, teuer erkauft und riskant in der Anwendung und Illegal in den meisten Teilen Ikarils. Ursprünglich hatte sie sie für ihren Vater gedacht, für seine Hüfte, die ihn in den letzten Jahren so oft nachts wach gehalten hatte. Sie hatte gehofft, ihm damit wenigstens einige ruhige Nächte schenken zu können.

Doch nun war er tot. Und ihre Mutter verblutete in ihren Armen.

„Halt still." Ihre Stimme klang fester, als sie sich fühlte. Sie brach das Siegel – der Geruch war beißend und metallisch, durchzogen von unbekannten Kräutern. Vorsichtig flößte sie ihrer Mutter die Tinktur ein und stützte dabei behutsam ihren Kopf.

Zunächst geschah nichts. Dann spannte sich der Körper der Mutter, als würde unsichtbares Feuer durch ihre Adern jagen. Die Haut unter Nyxars Händen wurde fieberheiß, Schweiß trat auf die blasse Stirn.

„Atme," flüsterte Nyxar eindringlich, „einfach nur atme."

Die Wunde begann sich schneller zu schließen, das Blutgerinsel formte sich mit beinahe übermenschlicher Geschwindigkeit. Die Farbe kehrte in die Lippen ihrer Mutter zurück, die eben noch grau wie Asche gewesen waren.

Doch Nyxar wusste nur zu gut: Die Wirkung war vorübergehend. Ein letztes Aufbäumen gegen den Tod, keine wahre Rettung. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Mehr würde die Tinktur nicht gewähren. Aber es musste reichen.

Die Mutter atmete keuchend, aber kraftvoller. Ihre Augen suchten Nyxars Blick. „Woher...?"

„Ein Geschenk," antwortete Nyxar knapp. Und in ihrem Inneren brannte der bittere Gedanke: Für ihn gekauft. Für dich gebraucht.

Die Toten wurden noch in derselben Nacht hinausgeschafft, einer nach dem anderen. Nyxar schleppte sie mit zitternden Händen hinaus, ihre Mutter half trotz ihrer Schwäche, bleich aber unbeugsam. Und unbelehrbar.

Sie verbrannten die Attentäter im Morgengrauen. Die Flammen leckten gierig an den Körpern, Funken stiegen wie böse Geister in den dämmrigen Himmel. Veydris konnte vieles dulden – aber verwesende Leichen von Attentätern gehörten nicht dazu. Feuer bedeutete Reinigung. Feuer war eine Warnung.

Nyxar stand vor dem Scheiterhaufen, ihre dunkelvioletten Augen fest auf die Gestalten gerichtet, die sie soeben getötet hatte. Früher oder später würde sie es erfahren, wer sie geschickt hatte. Vaelarion? Die Blutgesandten? Oder jemand völlig anderes, verborgen im undurchdringlichen Netz aus Schatten und Intrigen?

Doch eines wusste sie mit Gewissheit: Das war kein Zufall gewesen. Jemand wollte sie. Und dieser Jemand hatte bereits Blut gefordert.

Val und Nira standen links und rechts von ihr, regungslos, doch ihre Augen glühten im Schein des Feuers. Wächter. Schatten. Familie.

Die meisten Menschen nannten sie einfach „Schattenflügel" – ein Name, geboren aus Furcht und alten Legenden. In alten Märchen wurden sie als Todesboten beschrieben, doch das war nur ein Bruchteil der Wahrheit. Heute waren sie geliebte Gefährten vertreten in ganz Ikaril.

Drei Linien durchzogen ihre Art: die wilden Lichtschwingen, jung und unerfahren; die geheimnisvollen Zwischenflügel, von denen man sagte, sie könnten wunder vollbringen und heilen; und die Nachtflügel – größer, weiser, wendiger, leiser. Und vor allem: treu.

Val und Nira waren Nachtflügel. Ihr Fell glänzte wie dunkler Stahl, durchzogen von Mustern, die sich mit jedem Atemzug bewegten. Ihre gefalteten Schwingen wirkten wie Nacht, die Gestalt angenommen hatte. In ihren silbernen Augen lag mal Sanftheit, mal die Schärfe von Zähnen und Klauen.

Es hieß, Nachtflügel bänden sich nur einmal im Leben – an einen Menschen, an ein Herz. Starb dieser, starben auch sie: entweder an gebrochenem Willen oder im Zorn, der keine Ruhe ließ. Zwei an sich zu binden galt als unmöglich.

Und doch standen hier Val und Nira. Val – laut, neugierig, seine Stimme wie helles Klingen in Nyxars Geist. Nira – still, wachsam, eine geborene Jägerin. Wo Val sprach, schwieg Nira. Wo Nira zuschlug, war Val da, um ihre Beute zu feiern.

Nyxar hatte sie nicht gezähmt – niemand konnte einen Schattenflügel zähmen. Sie hatten sie gewählt. Lange bevor sie einander sahen, hatte sie ihre Nähe gespürt: zwei Funken im Kreislauf, die warteten. Als sie sich fanden, war es kein Zufall, sondern Schicksal. Dies redete sie sich zumindest ein.

Im Feuerschein waren sie das, was sie waren: nicht Haustiere oder Waffen, sondern Gefährten. Zwei Seelen, die ihre eigene trugen, als wäre sie schon immer ein Teil von ihnen gewesen.

Am folgenden Morgen begruben sie ihren Vater. Kein großes Ritual, keine Schar von Trauernden – nur sie beide und die Nachtflügel, die stumm am Rand wachten. Veydris war nicht die Stadt für prunkvolle Denkmäler, und die Flüsternden nicht das Volk für Aufsehen erregende Zeremonien. Der Körper wurde in Leinentücher gehüllt und unter aufgeschichteten Steinen gebettet, damit der Kreislauf ihn aufnehmen konnte.

Nyxar kniete am Grab, ihre schlanken Finger krallten sich in die Erde, bis der Schmutz unter ihre Nägel schnitt. Der Wind von der Küste trug den Geschmack von Salz und Eisen heran, und sie lauschte dem leisen Knacken der Steine, die sie behutsam aufeianderschichtete, um ihn zu schützen. Ein ärmliches Grab, gemessen an dem, was er ihr bedeutet hatte.

Ihre Mutter stand daneben, schwer auf einen Stock gestützt. Die Wunde war durch die Tinktur halb verheilt, aber keineswegs vergessen. Ihre Augen wirkten müde, doch nicht gebrochen.

„Sie werden wiederkommen," sagte sie nach langer Stille. Ihre Stimme klang heiser, beinahe verloren im Wind.

Nyxar hob den Kopf, ihre Stirn war voller Schmutz, Tränen hatten sich mit Erde vermischt. „Warum?" fragte sie mit rauer Stimme. „Was wollen sie von mir?"

Ihre Mutter schwieg einen langen Moment, als müsste sie die richtigen Worte erst suchen. Dann atmete sie tief aus. „Ich weiß es nicht genau. Aber... es gibt etwas, das du wissen musst. Etwas, was wir dir nie gesagt haben. Ich wollte warten. Wollte, dass du erwachsen wirst, dass du stark bist. Doch nach dieser Nacht... vielleicht gibt es kein Später mehr."

Nyxars Herz begann schneller zu schlagen. „Was meinst du?"

Die Mutter setzte sich schwerfällig neben sie und legte eine zitternde Hand auf den aufgeschichteten Steinhügel. „Als wir dich fanden, warst du kein gewöhnliches Kind. Wir erzählten dir, es sei ein Ritual der Flüsternden gewesen, das dich gezeichnet hatte. Aber das war eine Lüge. Die Narben an deinen Unterarmen... sie waren bereits da."

Nyxar starrte sie ungläubig an. „Bereits da?"

Die Mutter nickte langsam. „Du lagst im Wald. Weder verlassen noch ausgesetzt. Du lagst dort, als hätte die Erde dich selbst geboren. Der Kreislauf hatte dich hervorgebracht wie einen Samen, der im falschen Boden Wurzeln schlägt. Wir wussten nicht warum. Wir wussten nur, dass du da warst. Dein Vater sagte, so etwas habe er noch nie gesehen – und er wusste mehr als die meisten."

Nyxars Gedanken überschlugen sich wild. Alles, was sie geglaubt hatte – das Ritual, die Erklärungen – bröckelte wie morscher Stein. „Vater wusste mehr?"

„Ja." Die Stimme der Mutter drohte zu brechen. „Er hatte Theorien. Zu viele. Aber ich... ich wollte es nicht wissen. Ich wollte dich nicht als Rätsel sehen, weder als Werkzeug noch als Gefahr. Für mich warst du einfach nur meine Tochter. Mehr brauchte ich nicht. Und das war genug."

Ein bitteres Lächeln umspielte ihre rissigen Lippen. „Vielleicht war das naiv. Vielleicht auch nicht. Aber all die Jahre, in denen wir lachten, in denen wir wirklich lebten, waren mir wichtiger als jede Prophezeiung. Ich wollte, dass du frei bist. Nicht gefangen in dem, was andere in dir zu sehen glauben."

Nyxar spürte, wie sich ihr Hals zusammenzog. Wut, Trauer, Verwirrung – alles drängte gleichzeitig auf sie ein wie eine brechende Welle. „Also... bin ich ein Fehler? Oder...?"

„Nein," unterbrach die Mutter scharf und kraftvoll. „Du bist kein Fehler. Du bist ein Teil des Ganzen, wie wir alle. Vielleicht... ein besonderer Teil. Vielleicht ist es genau das, was sie fürchten. Oder begehren."

Ihre Worte hingen schwer in der salzigen Luft.

Nyxar blickte auf die Steine, die ihren Vater bedeckten. Die Welt, wie sie sie kannte, war in sich zusammengebrochen. Doch unter dem brennenden Schmerz regte sich etwas anderes: ein glühender, unerschütterlicher Wille.

Die feinen Runennarben an ihren Unterarmen begannen im schwachen Morgenlicht zu schimmern, als hätten ihre Emotionen sie zum Leben erweckt. Der silberne Ring an ihrem Finger pulsierte stärker – ein Echo ihrer eigenen wild schlagenden Pulse.

„Dann... werden sie wiederkommen," sagte sie leise, während sie eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich, die der Wind gelöst hatte.

Die Mutter nickte grimm. „Ja. Aber diesmal werden wir vorbereitet sein."

Nyxars schlanke Finger ballten sich zur Faust, die Nägel schnitten in ihre Handflächen. Sie spürte Val und Nira dicht bei sich, wie zwei treue Schatten, die sie niemals verlassen würden. Ihre durchdringenden, dunkelvioletten Augen mit den goldenen Reflexen verhärteten sich zu Kristall.

„Dann sollen sie kommen," flüsterte sie – diesmal war es kein Trotz, kein blinder Zorn. Es war ein Schwur, geformt aus Stahl und Schatten, besiegelt mit dem Blut ihres Vaters.

Der Wind vom Meer trug ihren Schwur davon, während die aufgehende Sonne die violetten Stickereien ihres Mantels zum Leuchten brachte. In der Ferne kreischten Möwen, doch Nyxar hörte darin bereits das Echo kommender Schlachten.

Sie stand auf, ihre geschmeidigen Bewegungen verrieten die Anspannung eines Raubtiers kurz vor dem Sprung. Ihre kantigen Wangenknochen warfen scharfe Schatten, ihr ovales Gesicht wirkte wie aus Marmor gemeißelt. Wer immer sie haben wollte, würde dafür bezahlen, mit Zins und Zinseszins.

 

Chapter 17: Die Maske, die zu früh sprach

Notes:

Ich würde mich riesig über einen kommentar oder like von dir freuen ^^

Chapter Text

Datum: 28. Veydris (344 n.K)
Ort: Lutharion
Figuren: zwei Maskenschnitzer und ihr Sohn

 

Der Holzspan kringelte sich von der Klinge wie ein verschämtes Geständnis. Meister Corin verfolgte seine kleine Flucht mit Augen, die längst aufgehört hatten, sich über irgendetwas zu wundern, außer vielleicht über die Sturheit von Holz, das sich weigerte, so zu werden, wie er es sich vorstellte. Die Klinge tanzte durch das warme Holz, und wer draußen vor den milchigen Werkstattfenstern vorüberschlenderte, hätte nur einen grauhaarigen Handwerker bei seiner täglichen Arbeit gesehen. Wer jedoch drinnen verweilte, der spürte es sofort: Hier unterhielten sich zwei alte Bekannte.

„Na, willst du heute kooperieren, oder soll ich dich wieder zur Vernunft hobeln?" murmelte Corin der entstehenden Maske zu, als erwarte er tatsächlich eine trotzige Antwort. Nach vierzig Jahren des Schnitzens war er sich nicht mehr ganz sicher, ob er sich das nur einbildete oder ob das Holz wirklich manchmal zurücksprach. Seine Frau Meisterin Selya, nannte es eine charmante Verrücktheit. Er selbst nannte es einfach: Beruf.

Lutharion schwebte in einer Decke aus Nebel, die sich träge um die Stadt rollte wie eine zufriedene Katze. Die schwebende Stadt atmete im Rhythmus des Windes, und der Nebel bewegte sich mit – ehrfürchtig, als wüsste er, dass er etwas Besonderes umhüllte. Die Maskenschnitzer-Werkstatt hing am äußeren Ring der Stadt wie ein trotziges Vogelnest: drei gemütliche Räume, ein niedriger Speicher mit schiefen Balken, und ein Holzsteg, der kühn ins Nichts ragte. Messingglöckchen baumelten an den Kanten und klirrten bei jedem Windzug melodisch vor sich hin, damit jeder Besucher wusste: Hier wird gearbeitet, hier wird gelebt, und Störungen sind nur nach dem Anklopfen erwünscht.

Der Duft der Werkstatt war eine Symphonie aus warmem Holz, glänzenden Ölen und einem Hauch von salziger Nebelluft. Jede Wand war mit Regalen gesäumt, die ein stilles Publikum aus hunderten von Gesichtern trugen – manche grinsten frech, andere blickten nachdenklich, wieder andere schienen im Begriff zu sein, ein Geheimnis zu verraten. Einige zeigten Gebrauchsspuren von vergangenen Festivitäten: feine Kratzer von Ketten, Farbspuren von regenfeuchten Umzügen, den matten Schimmer vieler berührender Hände. Die meisten jedoch warteten geduldig. Und wer in Lutharion wartete, der hatte gelernt, dass Geduld eine Kunstform war.

Corin richtete sich zu seiner vollen, wenn auch bescheidenen Größe auf und hob die Schnitzklinge wie einen Zauberstab. Er war breit gebaut wie ein alter Eichenstamm, mit Händen, in denen jede Narbe und jeder Kallus eine eigene Geschichte über widerspenstiges Holz erzählen könnte. Die Klinge ruhte in seiner Handfläche wie eine Verlängerung seiner Gedanken. Ein tiefer Atemzug, dann führte er den nächsten Schnitt aus. Das Holz seufzte leise unter dem Stahl und gab einen hauchdünnen Span frei, der sich elegant kräuselte, bevor er auf die Werkbank schwebte – hell wie Mondschein, leicht wie ein Versprechen. Corin pustete sanft über die frische Schnittstelle, und man hätte schwören können, dass die Oberfläche unter seinem Atem zu leben begann.

„Nicht zu dominant werden", mahnte Selya, ohne von ihrem eigenen Werk aufzublicken. Sie stand am gusseisernen Ofen und träufelte goldenes Öl aus einem bauchigen Krug in eine flache Tonschale, während ihre freie Hand kreisende Bewegungen über der Flüssigkeit vollführte. Der Duft verwandelte sich in Schichten: zuerst herbes Harz, dann etwas Bitteres wie zerriebene Rinde, schließlich die warme Süße eines Baumes, der Jahrhunderte hatte wachsen dürfen. „Sie soll lachen können, ohne dass ihre Wangen dabei reißen."

„Unsere Masken reißen grundsätzlich nicht", brummte Corin mit einem verschmitzten Grinsen. „Unsere lachen sogar dann noch, wenn ihnen niemand einen Grund dafür gibt."

„Das", erwiderte Selya trocken, „liegt vermutlich daran, dass sie deinen Humor haben."

Ihr Sohn Taren hockte auf seinem gewohnten Beobachtungsposten am Fenster, einen Fuß gegen die Werkbank gestemmt, die Hände ungewöhnlich untätig im Schoß. Heute durfte er nicht mithelfen – zu riskant, wenn das Gesicht bereits so weit gediehen war, dass ein ungeschickter Schnitt das Werk von Wochen ruinieren könnte. Das wusste er, akzeptierte es sogar. Dennoch folgten seine Finger jeder Bewegung seines Vaters, zuckten mit, wenn die Klinge eine Kurve schnitt, spannten sich an, wenn ein Span sich löste. Der Junge war mit dem Kratzen von Stahl auf Holz aufgewachsen, mit dem Klang feuchter Tücher auf frisch geölten Oberflächen, mit dem konzentrierten Atem seiner Eltern, der zwischen den Werkzeugen hing wie ein unsichtbarer Taktstock.

Selya stellte die Ölschale behutsam ab und griff nach einem Leinentuch, schmal wie eine Zunge und weich wie Seide. Sie führte es über die hölzerne Stirn der Maske. „Komm schon, atme für uns", flüsterte sie – keine Anweisung, eher eine liebevolle Bitte. Und Corin atmete mit: kurz auf die Schnitzfläche hauchen, die Klinge neu ansetzen, Druck ausüben, nachlassen, ziehen. Jede Geste folgte der nächsten in einem Rhythmus, der sich stetig wandelte. Es war wie Töpfern auf Holz, nur dass sich nicht die Scheibe drehte, sondern die Zeit selbst.

In Lutharion galten diese Masken als ehrwürdiges Handwerk und lukrativen Handel, aber in dieser speziellen Werkstatt waren sie etwas Drittes. Die beiden Meister nannten es niemals Magie – sie fluchten, wenn das Öl zu kalt geriet, murrten über zu trockenes Holz, lachten über Nasen, die zu frech gerieten. Doch mit jedem Klingenstrich floss mehr in die Maske als bloße Form. Die beiden wussten instinktiv, wo das Holz nach Luft dürstete. Sie legten ihre Lebenswärme hinein, Strich um Strich, Atemzug um Atemzug, bis zwischen Faser und Luft etwas zu erwachen begann. Keine mystischen Runen, keine geheimen Symbole, keine komplizierte Alchemie. Alles geschah mit den einfachsten Mitteln: Hand, Atem, und der Geduld von Menschen, die gelernt hatten, dass die besten Dinge Zeit brauchten um ihre Energie gezielt und bewusst einzusetzen.

„Die Schattenkarawane kommt heute aber nicht, oder?" fragte Taren vorsichtig. Seine Stimme war gedämpft – man sprach leise, wenn ein Gesicht kurz davor stand, lebendig zu werden. Manche Masken lauschten bereits, bevor man ihnen Ohren schnitzte.

„Heute nicht", bestätigte Corin und blies einen weiteren Span von der Wangenlinie. „Die Nebel stehen quer zu den Strömungen. Du weißt, was das bedeutet."

„Enge Durchfahrten", sagte Selya und nickte wissend. „Und wer durch enge Durchfahrten hastet, der stürzt tiefer als geplant."

Die Schattenkarawane war Lutharions einzige zuverlässige Verbindung zur Welt da unten. Die schwebende Stadt lag schließlich dort, wo man weder zu Fuß hinwanderte noch mit Karren hinrollte. Lutharion schwebte – durch uralte Magie, die niemand mehr völlig verstand oder zu reparieren wagte. Manche Bewohner behaupteten, die Stadt wäre Göttlich geschützt und schon schwebend gewesen bevor der Kreislauf brach und Ikaril neu ordnete. Andere schworen darauf, dass eine riesige Strömung aus reiner Magie sie trug, gespeist von Kräften, die so alt waren wie die der Kreislauf selbst. Die Lutharier nickten höflich zu allen Theorien und hielten sich an bewährte Regeln: Wenn die Randglocken zweimal kurz und einmal lang läuteten, wartete man. Wenn grünes Licht die Anlegestellen erleuchtete, durfte man laden – niemals bei Blauem. Und wer die Karawane zu überholen wagte, gleichgültig wie sicher sein Schritt auch erschien, der kam niemals mehr zurück.

Die Ölschalen standen nach Farben und Düften geordnet wie Soldaten in Reih und Glied. Die Poliertücher hingen über ihrem Rahmen und waren durch jahrelangen Gebrauch fast durchsichtig geworden. Selya nahm das feinste unter ihnen und polierte die hölzernen Wangen der Maske, bis ein sanfter Schimmer entstand – kein aufdringlicher Glanz, der Eitelkeit verriet, sondern ein stilles Leuchten, das nur sichtbar wurde, wenn man genau hinblickte.

„Sie soll leichtfüßig wirken", sagte Selya und betrachtete ihr Werk prüfend. „Leicht genug zum Tanzen."

„Leichtfüßigkeit ist riskant", murmelte Corin und setzte einen besonders delikaten Schnitt um den Mundwinkel. „Zu leicht, und die Leute nehmen sie zu ernst."

„Dann geben wir ihr eben Humor mit auf den Weg." Selya führte ihren Polierstrich über die Mundpartie – links etwas tiefer, rechts etwas schärfer – und sobald das Tuch sich hob, schien die Maske zu lächeln. Nur ein Hauch, ein Schatten eines Lächelns. Aber Taren lachte spontan auf.

„Sie kann ja schon grinsen!"

„Sie möchte es", korrigierte Selya und tupfte noch einmal nach. „Die Feste in Kael'Zara schätzen solche Gesichter. Wenn die Musik zu laut wird und der Wein zu dünn ist, können nur noch die richtigen Masken den Abend retten."

„Und was ist mit den Händlern aus Ignirion?" fragte Taren neugierig. „Den Typen mit den knallroten Bändern?"

„Die wollen prahlen", brummte Corin und rollte mit den Augen. „Denen verpasst du breite Zähne und vergoldete Ränder. Aber das hier—" Er hob die Maske ins Licht, sodass die Schatten ihr Gesicht modellierten, „—ist für Leute, die lieber zuhören als brüllen."

Lutharion besaß keine prunkvollen Türme oder trotzigen Zinnen, die sich wichtigtuerisch gen Himmel reckten. Die Stadt wirkte, als sei sie durch einen glücklichen Zufall entstanden und dann einfach in der Luft vergessen worden. Holzstege aus dichtem Holz kreuzten sich über schwindelerregenden Abgründen, Plätze hingen wie steinerne Schalen zwischen Häusern auf Stelzen, und Brücken schwangen sich dorthin, wo niemand sie erwartet hätte. Die ungeschriebenen Gesetze der Stadt lauteten: Betritt nie allein einen ungetesteten Steg. Warte, bis zwei andere ihn sicher überquert haben. Niemand hatte je aufgeschrieben, warum – jeder wusste es einfach. Es war diese Art natürlich gewachsener Ordnung, die die Stadt zusammenhielt, ganz ohne Herrscher oder Dekrete. Gerüchte sprachen von einem Ältestenrat, der irgendwo in den nebeligen Höhen tagte und Gesichter sammelte, bis er glaubte, die wahre Seele der Stadt zu kennen. Aber die Maskenschnitzer zuckten nur mit den Schultern, wenn jemand danach fragte. „Falls es sie gibt", sagten sie dann, „sollen sie gefälligst auch mithelfen den Nebel zu stabilisieren und uns den Goldenen Faden vom Leib halten. Dann erfahren sie vielleicht, wer wir wirklich sind."

Corin legte seine Klinge beiseite. Der letzte Schnitt hatte die Innenkante des Augenlids befreit, und die Maske schien nun zu blinzeln, selbst während sie reglos auf der Werkbank lag. Er strich mit der flachen Hand über die Oberfläche – sanft, als glättete er einem Kind die Haare aus der Stirn.

„So", sagte er zufrieden. „Jetzt ist es deine Aufgabe, mein Sohn."

„Nicht zu hastig", warnte Selya, aber ihre Hände reichten bereits nach der Ölschale, deren Inhalt zwischen Bernstein und dunklem Tee schimmerte. „Nur die Ränder behandeln. Stirn, Wangen, Mundwinkel. Aber nicht die Nase berühren – die muss atmen können."

„Die Nase ist zu groß", bemerkte Sie beiläufig und lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Siehst du eine Nase?" fragte Corin gespielt empört. „Ich sehe den künftigen Mittelpunkt des nächsten großen Festes."

„Wenn diese Nase der Mittelpunkt eines Festes wird, hoffe ich inständig, dass wir Zuschauer bleiben dürfen und nicht mitmachen müssen."

„Das Fest oder die Nase?"

Ein verschmitztes Lächeln huschte über Selyas Gesicht. „Beides, fürchte ich."

Taren hielt unwillkürlich den Atem an, obwohl er wusste, dass das bei der Erweckung einer Maske kontraproduktiv war. Corin platzierte die Maske behutsam auf der „Hörnischen", einem runden Holzständer mit drei eleganten Beinen – ihrer Bühne für den wichtigsten Moment. Selya betupfte die hölzerne Stirn mit drei kreisenden Bewegungen, als löse sie sanft einen Knoten. Corin legte beide Hände neben die Wangen, ohne sie zu berühren, und atmete ruhig aus. Einmal. Noch einmal. Das Öl zog dort ein, wo es hingehörte – nach eigenen, mysteriösen Regeln. Man lernte mit der Zeit, die Vorlieben des Holzes zu respektieren. Und dieses Holz liebte Wärme.

Die Maske bewegte ihre Mundwinkel so deutlich, dass Taren einen Schritt näher trat. Dann neigte Selya die Ölschale um Haaresbreite und ließ einen einzigen, goldenen Tropfen am Mundrand entlanggleiten. „Nicht trinken", flüsterte sie mit einem Augenzwinkern. „Nur probieren."

Der Tropfen haftete an der Oberfläche, suchte eine Rinne, fand keine, blieb stehen. Der Mundwinkel hob sich minimal, und ein Geräusch – kaum wahrnehmbar – lief durch die Werkstatt. Kein Wort, eher ein warmer Hauch, etwas wie ein unterdrücktes Kichern, dass es sich nicht zurückhalten konnte.

„Sie akzeptiert uns", stellte Corin zufrieden fest. „Nimm sie hoch, Taren."

Der Junge trat ehrfürchtig vor und hob die Maske mit beiden Händen. Das Gewicht war perfekt ausbalanciert – spürbar präsent, aber niemals belastend, als halte er eine warme, vertraute Hand. „Darf ich sie anprobieren?"

„Selbstverständlich", grinste sein Vater. „Aber nur, wenn du bereit bist, drei Tage lang ununterbrochen so geschwätzig zu sein wie dein Cousin."

„Welcher Cousin denn?"

„Völlig egal welcher. Die sind alle gleich."

Taren lachte herzlich und setzte sich das Gesicht auf. Die Lederbänder schlangen sich wie von Zauberhand um seinen Kopf und fanden die perfekten Stellen, um zu sitzen – fest genug für Sicherheit, locker genug für Komfort. Einen Moment lang spürte er nur seine eigene Körperwärme – dann glitt etwas Kühles wie Nachtwind über seine Haut, und die Welt rückte um eine Handbreit nach links. Seine Atmung klang anders, tiefer. Als er die Lippen bewegte, reagierte die Maske mit, und wenn er die Augenbrauen hob, lachten fremde Muskeln in seiner Stirn mit.

„Sag etwas", forderte Selya ihn auf.

„Was denn?" fragte Taren – und die Stimme, die aus der Maske drang, war heller als seine eigene, mit einem leichten Echo, als stünde er in einem Theatersaal statt in einer gemütlichen Werkstatt.

„Ausgezeichnet", nickte Corin anerkennend. „Sie hat definitiv Humor."

„Ich möchte noch—"

„Runter damit." Selya löste geschickt die Bänder. „Sie hat genug von dir gekostet. Die möchte jetzt auf ein richtiges Fest."

Taren gab die Maske widerstrebend zurück, aber seine Augen leuchteten vor Stolz. Es gab Tage, an denen man nur Holz bearbeitete und hobelte. Und es gab Tage wie diesen, an denen man etwas aus dem Holz befreite, das schon immer darauf gewartet hatte, gesehen zu werden.

Draußen teilten sich die Nebel wie Theatervorhänge und schlossen sich wieder, als betteten sie die Stadt neu, damit sie nicht zur Seite kippte. Vom Nordsteg her drangen Stimmen herüber – Händler der Schattenkarawane, die ihre Preise lautstark verkündeten, damit die ganze Stadt wusste, was Sache war, bevor sie wieder weg waren. In Lutharion handelte man mehr mit Gesten und Blicken als mit klingenden Münzen. Was hier wirklich zählte, war der Ruf. Wer schlecht lieferte, dem trugen die Brücken beim nächsten Mal etwas weniger weit. Wer aber zuverlässig und ehrlich arbeitete, der fand irgendwann den Weg zu den Kreisen, wo die wichtigen Entscheidungen fielen – auch wenn das niemand offiziell zugab.

Selya stellte die fertige Maske auf den Fensterständer, das Gesicht nach Westen gerichtet. „Sie soll sehen, dass der Tag hell ist", erklärte sie. „Und lernen, dass man das nie für selbstverständlich hält."

Corin wischte die Werkbank gründlich ab, sammelte die feinen Holzspäne in eine kleine Schale und stellte sie neben den Ofen. „Damit das Haus weiß, womit es heute genährt wurde."

„Kommt die Karawane denn morgen?" fragte Taren hoffnungsvoll.

„Wenn die Glocken zweimal kurz und einmal lang läuten", antwortete Selya. „Vorher beeilt sich hier niemand."

„Und falls die Händler aus Sylvara wieder ihre Sonderbestellungen aufgeben?"

„Die bestellen grundsätzlich immer", brummte Corin und rieb sich nachdenklich das Kinn. „Die lassen ihre Kinder schon mit Masken sprechen, bevor sie ihren eigenen Namen schreiben können. Glauben, das macht sie ehrlicher." Er grinste verschmitzt. „Manchmal funktioniert das sogar."

Der Abend senkte sich über die Stadt wie ein vorsichtiges Experiment. Die Werkstatt schloss nie wirklich – sie zog nur den Vorhang halb vor das Fenster, sodass das Licht von draußen die wartenden Gesichter liebkosen konnte. Taren setzte Wasser für Tee auf, Selya holte frisches Brot aus der Küche, und Corin setzte sich auf seinen gewohnten Platz beim Fenster – den kleinen Schemel, von dem aus er alles sehen konnte, was sich seiner Kontrolle entzog: die Strömungen im Nebel, die Möwen, die unter der Stadt ihre Kreise zogen, das stumme Winken der Wachen an den Rändern, wenn sie glaubten, niemand sähe hin.

„Hörst du das?" fragte Taren plötzlich und hob lauschend den Kopf.

„Das sind nicht die Glocken", stellte Selya fest.

„Nein", flüsterte er. „Nicht die Glocken. Sie."

Sie. Die Maske am Fenster. Ihre Mundwinkel hatten sich unmerklich gehoben – dieselbe Geste wie zuvor, doch diesmal hing etwas im Raum, als hätte jemand an einer unsichtbaren Saite gezupft.

Ein Geräusch. Leiser als Flüstern. Es kam nicht aus dem Raum – es entstand direkt im Kopf, knapp hinter dem Ohr, dort, wo man sich an besonders lebhafte Träume erinnert. Ein Wort, das keines sein wollte.

„Später", sagte Corin entschieden und stand auf, als müsse er einen ungebetenen Gedanken zur Tür komplimentieren. „Frische Gesichter plappern gern am ersten Abend. Morgen werden sie ruhiger. Dann wollen sie getragen und bewundert werden. Heute sollen sie nur lernen, dass wir sie sehen und schätzen."

Sie aßen schweigend – Brot mit würzigem Käse, dazu die golden-süße Köstlichkeit eines eingekochten Sirups, der aus der Rinde jener eigentümlichen Bäume gewonnen wurde, die am Stadtrand wuchsen und dem Wind so lange lauschten, bis der Wind ihnen Geschmack verlieh. Dazu gab es noch einen dicken Eintopf, der dampfend in einer Schüssel stand. Sie waren Menschen, die ihre Worte dort einsetzten, wo sie wirklich gebraucht wurden. In der Werkstatt war das selten nötig.

Als Taren die Essschalen spülte, hörte er es wieder. Diesmal war es unverkennbar eine Stimme – hell, jung, übermütig, und genau deswegen gefährlich. Er trat zum Fenster. Die Maske blickte über seinen Kopf hinweg ins graue Nichts, als verfolge sie eine Parade, die nur sie sehen konnte.

„Habt ihr schon gehört?" plapperte die Maske in einer melodiösen, neckischen Stimme. „Die Bäume wollen heute Abend tanzen! Aber pssst – das ist ein uralter Witz. Die Bäume tanzen immer, wenn niemand hinschaut."

Taren starrte sie mit offenem Mund an. „Hast du gerade—"

Hell, fröhlich, beunruhigend: „Na, das war ja eine Geburt! Endlich fertig, endlich lebendig. Und niemand bedankt sich. Wie typisch für euch Menschen."

Corin fuhr herum wie ein Blitz. Selya erstarrte mitten in der Bewegung. Taren grinste verblüfft.

„Vielleicht", fuhr die Maske in demselben verspielten Ton fort, „solltet ihr besser schlafen gehen. Morgen kommt jemand zu Besuch. Jemand, der schon einmal hier war. Oder vielleicht auch nicht – man verliert so leicht das Zeitgefühl, wenn man... nun ja, tot ist."

Ein silbernes Kichern. Leichtherzig. Kindisch. Und dennoch irgendwie frostig.

„Ach, macht euch keine Sorgen. Ich rede größtenteils Unsinn. Meistens jedenfalls."

„Ich war niemals fort", plapperte die Maske munter weiter, „aber ich komme zurück. Das ist das Amüsante an Rückkehr – man muss erst einmal gehen, nicht wahr? Übrigens, wisst ihr, dass Kronen immer zu groß für die Köpfe sind, die sie tragen sollen? Deshalb rollen sie so herrlich leicht davon. Übt schon mal das Auffangen, ihr Lieben, übt fleißig—"

„Genug." Corins Stimme war ruhig, aber unerschütterlich. Er trat zwischen die Maske und das Fenster. Es war keine Drohung in seinem Ton – eher etwas wie: Du bist hier nicht allein.

„Ich möchte nur spielen", kicherte die Maske unschuldig. „Spielen, singen, erinnern. Erinnern an das, was noch kommen wird. Ein Sturm mit Händen, eine singende Grube, ein Thron ohne Sitzenden und ein Zuhause, das von oben fällt, obwohl es doch oben bleiben möchte. Ich bin da, ich war schon immer da. Und ich komme zurück."

Selya hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Nur ihre Knöchel waren weiß geworden, wo sie den Tischrand umklammerte. Dann ließ sie los. Taren sah den Blick, mit dem sie die Situation einschätzte – wie viel sie hörte und wie wenig sie preisgeben wollte.

„Es reicht", wiederholte Corin bestimmt. Diesmal griff er nach dem Leinentuch, mit dem er zuvor die Werkbank gereinigt hatte, faltete es sorgfältig und strich damit sanft über die hölzernen Wangen der Maske. Er nahm ihr nicht im wörtlichen Sinne das Wort aus dem Mund – aber der Raum wurde still, so still, als hätte jemand die ganze Werkstatt in eine schützende Hand gelegt.

Taren rang um Fassung. „Sie hat—sie hat wirklich—"

„Ja", sagte Selya schlicht. „Und auch wieder nein."

„War das—"

„Worte finden manchmal ihren Weg zu uns", erklärte Corin sachlich. „Gelegentlich durch die falsche Kehle. Manche Masken sprechen tatsächlich. Die meisten summen bloß vor sich hin. Einige erzählen dreiste Lügen. Und selten – sehr selten – verwechseln sie Vergangenheit mit Zukunft. Das macht sie weder zu Prophetinnen noch zu Orakeln. Das macht sie zu... schwierigen Hausgästen."

„Schwierigen Hausgästen?"

„Von der Sorte, die bleibt, wenn die Musik längst verstummt ist."

Taren blickte zwischen seinen Eltern hin und her, suchte in ihren Gesichtern eine Erklärung für das, was er empfand. Es war keine reine Angst – oder doch, vielleicht schon. Aber auch Neugier. Und unter der Neugier lag die Ahnung einer Gefahr.

„Wir bringen sie in die Kammer", entschied Selya.

Taren blinzelte verwirrt. „In die Kammer?"

„Es gibt nicht viele", sagte Corin, als entschuldigte er sich für ein peinliches Familiengeheimnis. Er hob die Maske behutsam vom Ständer und hielt sie, wie man einen schlafenden Menschen trägt. „Nur die, die zu früh sprechen, zu tief lächeln oder ihre Nasen zu eitel tragen. Missraten heißt nicht minderwertig. Missraten heißt..." Er suchte nach dem passenden Wort, fand keins, schnaubte. „Zu viel auf einmal, würde ich sagen. Vielleicht sind sie auch zu nah am Kreislauf."

Die Kammer lag hinter der Werkstatt, abgetrennt durch eine schwere Luke, der den Nebelgeruch draußen und den Ölduft drinnen hielt. Man gelangte danach durch eine niedrige Tür hinein, die jeden Besucher zur Bescheidenheit zwang, und fand sich in einem Raum wieder, in dem die Zeit anderen Regeln zu folgen schien. Wenige Regale, bewusst mit Abstand zueinander aufgestellt. Drei Masken, jede auf ihrem eigenen Ständer. Eine hatte ihre Augen eigenmächtig verschoben, nachdem sie zum ersten Mal getragen worden war – weg von Corins ursprünglicher Platzierung zu einer Position, von der aus sie besser sehen konnte, allerdings wurde der Träger heimgesucht von Visionen. Eine andere hatte ihren Mund zu einem stummen "O" geformt und weigerte sich seither, etwas anderes zu tun außer zu schreien. Die dritte lächelte unaufhörlich, ganz gleich, wie ernst der Anlass war. Sie war von sämtlichen Festen verbannt worden, nachdem sie eine Trauerfeier in eine Farce verwandelt hatte. Seither lächelte sie einsam vor sich hin.

Corin stellte die neue Maske auf einen vierten, bisher leeren Ständer. Einen Herzschlag lang glaubte Taren, sie würde sofort sprechen. Aber sie schwieg. Sie blickte nur nach Westen, dorthin, wo die Nebel heller wurden, wenn die Karawane nahte.

„Wir werden euch reparieren", sagte Taren, weil er diese Gewissheit brauchte.

„Wir werden es versuchen", antwortete Selya. „Und vielleicht wird sie nie ganz ruhig. Das muss man dann eben akzeptieren. Auch in Lutharion gibt es Gesichter, die mehr sagen, als gut für sie ist."

Taren nickte langsam. „Was meinte sie denn mit all dem?"

„Nichts, was du verstehen musst, um deine Arbeit gut zu machen", sagte Corin und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter – fest genug für Trost, sanft genug für Verständnis. „Alles, was du begreifen wirst, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Bis dahin: Hör auf den Atem des Holzes. Nicht auf die Geschichten, die es erzählt."

Draußen echoten Schritte auf den Holzstegen. Ein Nachbar steckte den Kopf durch die Werkstatttür, duckte sich geschickt unter dem Messingglöckchen hindurch, um nicht als Wind durchzugehen. „Habt ihr schon gehört? Morgen kommt vielleicht die Karawane. Wenn die Glocken—" Er verstummte, bemerkte die angespannte Stille, musterte die drei Gesichter. „Ah", sagte er verstehend. „Ein Gesicht zu viel. Oder zu früh?"

„Definitiv zu früh", bestätigte Selya.

Der Nachbar tippte sich respektvoll an die Stirn – halb Gruß, halb Anerkennung – und verschwand wieder. In Lutharion wusste man instinktiv, wann Fragen mehr schaden als helfen würden.

Später, als das Licht sich tief über die Stadt senkte und die Werkbank zu einem Land aus Schatten geworden war, während die Glöckchen am Steg nur noch gelegentlich erklangen, begannen sie mit dem Verpacken. Kisten aus weichem Lindenholz, innen mit geschmeidigem Leder ausgekleidet, damit nichts verkratzte oder beschädigt werden konnte. Jede Maske erhielt ihre eigene gepolsterte Tasche, als wäre sie ein Paar kostbarer, empfindlicher Hände. Auf die Deckel kamen diskrete Markierungen – keine Geheimnisse, nur praktische Hinweise: Nordsteg, Südplatz, für die Händler, die wussten, welche Gesichter zu welchen Kunden passten. Einmal monatlich ging ein Sortiment nach Sylvara – hellere Farbtöne, zartere Linien für die dortigen Liebhaber subtiler Eleganz. Ein anderes wanderte nach Ignirion – mutige Formen, ausdrucksstarke Münder für Menschen, die schon vom bloßen Anblick des Weins zu schwärmen begannen. Seltener ging eine Lieferung nach Veydris – Masken für Leute, die weniger sagten und dafür umso länger schwiegen.

„Falls sie morgen tatsächlich kommen, brauchen sie das Frühlingsset für den Osten", überlegte Selya, während sie die letzte Kiste verschloss. „Da unten regnet es seit Tagen, wie man hört. Die Menschen dort sollen lachen dürfen."

„Sie sollen nur daran erinnert werden, dass Lachen überhaupt noch möglich ist", ergänzte Corin, und es klang, als zitierte er eine Weisheit, die er irgendwo aufgeschnappt und für wertvoll befunden hatte.

Taren trug die verpackten Kisten in den Vorraum und stapelte sie ordentlich neben der Tür, wo der Nebel sie würde sehen können. Er hatte die Gewohnheit entwickelt, jeder Kiste etwas zuzuflüstern, bevor er sie absetzte – keine echten Worte, nur warmer Atem durch die Zähne. Seine Eltern erwähnten es nie. Jeder hatte seine kleinen Rituale, und solange sie niemanden störten, gehörten sie zum Leben dazu.

Als der Abend endlich über die Stadt fiel – langsam wie ein Zögern vor einem wichtigen Geständnis – setzte sich Taren noch einmal neben die Tür. Val, die Lichtschwinge vom Nachbarsteg, strich an seinem Bein entlang und ließ sich vor ihm nieder, als wüsste sie, dass man manchmal an Türen sitzen musste, um zu hören, was draußen unausgesprochen blieb. Taren dachte an die Stimme der Maske – an die hellen, scharfen Worte, die so fröhlich geklungen hatten, dass man erst im Nachhall merkte, wie kalt sie eigentlich gewesen waren. „Ich komme zurück", hatte sie gesagt. Wie konnte jemand zurückkehren, der nie fortgewesen war? Und warum sprach eine brandneue Maske, die noch nie getragen worden war, als wäre sie mit zehn Festen vertrauter als alle anderen Gesichter im Regal?

„Am besten gar nicht darüber nachdenken", murmelte er und wusste, dass er sich selbst belog, während er gedankenverloren zwischen den Flügeln von Val streichelte.

„Falls wir sie nicht reparieren können", sagte er später, als sie das Licht löschten und das Haus sich eine bequemere Position in den Luftströmungen suchte, „dann behalten wir sie eben. In der Kammer. Für..."

„Für später", vollendete Selya.

In der Nacht, während der Nebel die Werkstatt wie ein Kokon umhüllte und die Glöckchen am Steg fast reglos hingen, stand die Maske stumm in ihrer Kammer. Taren lag hellwach in seinem Bett und lauschte auf ein Geräusch, das er sich gleichzeitig wünschte und fürchtete. Als er schließlich etwas hörte, war es kein Geräusch im eigentlichen Sinne – eher ein Gefühl, das sich an seine Gedanken schmiegte. Dann, ganz sachte, wieder diese helle, übermütige Stimme, die in ein Flüstern gedrängt schien und dadurch noch eindringlicher wurde.

„Nicht traurig sein", kicherte die Maske leise, „nicht traurig, nicht ängstlich. Er war niemals fort, wisst ihr. Er war nur... fehl am Platz. Kronen rollen so wunderbar leicht. Bringt Netze mit, wenn ihr könnt. Und falls die Stadt jemals fällt – sie wird nach oben fallen, habt ihr das gewusst? Nein? Ihr werdet es sehen. Ich komme zurück, ich komme zurück, ich—"

Taren war auf den Füßen, bevor er die Decke weggeschlagen hatte. Er stand im Türrahmen der Kammer, die Hand an der Kante gepresst, als müsste er sich daran festklammern, um nicht in etwas hineinzufallen, das sich mit Worten nicht beschreiben ließ. Corin war ihm lautlos gefolgt – nur die vertraute Hand auf der Schulter verriet seine Anwesenheit.

„Nicht heute Nacht", sagte er bestimmt und wiederholte die Geste vom Abend: das Leinentuch, die hölzerne Wange, der Mundrand, die einkehrende Stille. Die Maske verstummte augenblicklich. Taren spürte, wie sich die Spannung im Raum löste, und atmete tief durch, als wäre er gerade eine weite Strecke gerannt.

Am nächsten Morgen weckte die Stadt mit ihren Glocken auf. Zweimal kurz, einmal lang – das vertraute Signal. Die Schattenkarawane würde die Anlegestellen erreichen, falls Nebel und Wind zusammenarbeiteten. Aus den verwinkelten Gassen kamen die Träger, jeder mit seinem unverwechselbaren Schritt, den die Stadt an seinem Klang erkannte. Sie klopften nicht an Türen, sondern ließen die Messingglöckchen klingen, und wer antwortete, hatte etwas zu versenden.

Selya prüfte akribisch die Lederbänder, Corin kontrollierte die Metallverschlüsse, Taren überprüfte jeden einzelnen Knoten. Nichts durfte verrutschen, nichts durfte sich lösen. Wenn eine Maske zu Schaden kam, fiel mehr als nur Holz – es fiel der Ruf. Und der Ruf war das Fundament, auf dem Lutharion seine Existenz aufbaute.

„Diese nicht", sagte Corin entschieden, als Tarens Blick unwillkürlich zur Kammer wanderte.

„Nein", bestätigte Selya. „Nicht für den Markt, nicht für Feste. Nicht, bevor sie gelernt hat, zu warten, bis man sie nach ihrer Meinung fragt."

Taren nickte verständnisvoll. Trotzdem trat er noch einmal vor die Luke. Drinnen herrschte helles Licht, obwohl die Lichter winzig waren. Die Maske sah ihn nicht an – ihr Blick war weiterhin westwärts gerichtet. Er holte tief Luft.

„Falls du wirklich zurückkommst", flüsterte er so leise, dass er die Worte kaum selbst hörte, „dann komm in einer Nacht, in der niemand Wache hält. Und erzähl es erst, wenn jemand bereit ist, dir zuzuhören."

Er wusste nicht, an wen er diese Worte richtete. An eine Stimme im Holz? An das Material selbst? An das Etwas, das über Lutharion schwebte, wenn niemand hinsah? Vielleicht an alle. Vielleicht an niemanden. Er zog die Tür zu, schloss sie aber nicht ab. In Lutharion verschloss man selten etwas. Man wusste, wer in der Nähe war – und wenn man es nicht wusste, hatte man sowieso zu wenige Glöckchen an der Tür hängen.

Die Träger kamen pünktlich und nahmen die Kisten entgegen, als wären es alte Bekannte, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatten. Einer von ihnen, ein Mann mit einem schmalen Stirnband aus geflochtenem Leder, verneigte sich höflich. „Nordsteg. Zwei Tage bis Sylvara, falls die Durchfahrten offen bleiben."

„Ignirion bekommt die ausdrucksstarken", instruierte Selya. „Sagt ihnen, sie sollen nicht singen, wenn sie bereits trinken. Oder umgekehrt – aber auf keinen Fall beides gleichzeitig."

Der Mann grinste wissend und verschwand. Corin sah ihm nach und rieb dann fast unmerklich die Finger aneinander, als streifte er unsichtbare Holzspäne ab. „Falls jemand fragt, wer wir sind", murmelte er, „soll er gefälligst durch den Nebel gehen, um es herauszufinden."

„Und wenn niemand fragt?" wollte Taren wissen.

„Dann fragen die Gesichter", antwortete Selya mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Sie standen am Steg und blickten der Karawane nach, bis sie im Nebel verschwand. Der Nebel schloss sich dahinter wie die Seite eines gewaltigen Buches. Die Randglocken gaben ihr Abschiedssignal: zweimal kurz, einmal lang. Taren dachte an die Stimme, die in Scherze gekleidet von Stürmen und Gruben, von Kronen und Stürzen gesprochen hatte, und spürte, wie die Werkstatt hinter ihm zur Ruhe kam.

„Wir werden sie reparieren", sagte er zum vierten Mal.

„Wir werden es versuchen", wiederholte Corin geduldig. „Manchmal genügt das. Und falls nicht..." Er blickte hinab in die Tiefe, wo die Nebel an den unsichtbaren Verankerungen der Stadt zerrten. „Dann hat sie wenigstens heute erfahren, dass jemand bei ihr bleibt, auch wenn sie zu viel redet."

Selya legte Taren den Arm um die Schultern. „Geh arbeiten", sagte sie, und es klang wie: Bleib heil und ganz. „Die Welt braucht Gesichter, die lachen können, ohne dabei zu verletzen."

Er nickte und wandte sich zur Werkstatt. In der Tür drehte er sich noch einmal um. Für einen Augenblick glaubte er, einen Schatten am Rand der Luke zu erkennen – eine Bewegung, die nicht seine eigene war. Vielleicht war es nur der Nebel, der eine Abkürzung durch die Fenster nahm. Vielleicht war es etwas anderes. Lutharion lebte von Dingen, die man sah, ohne sie beweisen zu wollen.

In der Kammer unter der Luke stand die Maske und blickte westwärts. Sie lächelte nicht. Sie sprach nicht. Aber wer sehr genau hinhörte, hätte vielleicht ein leises Kichern vernommen, so harmlos klingend, dass man leicht darüber hinweghören konnte. Es war die Art von Kichern, die man auf Märkten hörte, wenn ein Händler einen alten Trick vorführte und alle so taten, als hätten sie ihn noch nie gesehen.

„Ich war niemals fort", hätte die Stimme gesagt, wenn man sie gelassen hätte. „Und ich komme zurück."

Aber niemand ließ sie. Nicht heute. Heute nahm Lutharion seine eigenen Regeln ernst und tat das, wofür es in den unteren Landen gerühmt wurde: Es hielt stand. Es hielt Ruhe, es hielt Frieden, es hielt zusammen – ohne Herrscher, ohne Dekrete, mit Glöckchen, die die Zeit ansagten, und Gesichtern, die wussten, was man ihnen anvertrauen durfte.

Im Regal der Werkstatt standen die fertigen Masken dicht nebeneinander, als hielten sie Kriegsrat. Eine trug einen schiefen Fleck an der linken Wange, den man nur bei gelöschtem Licht erkennen konnte. Eine andere konnte die Stirn runzeln, ohne die Mundwinkel zu bewegen – perfekt für Verhandlungen, bei denen niemand als Verlierer dastehen wollte, aber trotzdem alle ihren Preis zahlten. Eine dritte – die neue, die so leicht war, dass man sie beinahe hätte vergessen können – wartete in der Kammer auf ihre Zeit.

Am Abend holte Corin das besondere Tuch, das er benutzte, wenn er nichts reparieren, sondern einfach nur anwesend sein wollte. Er ging durch die Luke runter in die Kammer, ohne zu schleichen, setzte sich auf den Schemel, der dort für Väter, für Handwerker, für Menschen bereitstand, die bereit waren auszuhalten. Er sagte nichts. Er atmete nur. Seine Hände ruhten entspannt auf den Knien. Er blickte die Maske nicht direkt an – er schaute in den Raum zwischen ihnen. Nach einer Weile wurde dieser Raum warm.

„Heute nicht", sagte er schließlich und erhob sich wieder. „Morgen vielleicht. Oder in einem Jahr. Oder niemals." Die Maske lächelte sehr sanft. Es war kein Lächeln, das bedeutete: Ich habe recht. Es bedeutete: Ich werde warten, bis ihr bereit seid.

Draußen am Stadtrand teilten sich die Nebel. Jemand sang – kein Festlied, nur einen Rhythmus, den er brauchte, um den Heimweg zu finden. Die Glöckchen antworteten: zweimal kurz, einmal lang. Die Stadt antwortete mit ihrem eigenen, stummen Puls. Und irgendwo im westlichen Grau fand die Schattenkarawane ihren Weg zurück – beladen mit Kisten voller Gesichter.

Irgendwann, in einer anderen Geschichte, würde jemand verstehen, was sie in jener Nacht gesagt hatte. Aber nicht heute. Heute war Arbeit angesagt. Und Arbeit hielt Lutharion in der Luft schwebend, mehr brauchte es nicht.

 

Chapter 18: Schwingen im Nebel

Notes:

⚠️ Content Warning / Triggerwarnung:

Diese Geschichte enthält sensible Themen wie Tierquälerei, grafische Gewalt, Folter, Blut/Gore, systematische Ausbeutung.

Nicht geeignet für unter 16 Jahren. Bitte lese nur weiter, wenn du dich emotional sicher fühlst.

Chapter Text

Datum: 12. Vaelaris (348 n.K)
Ort: Veydris - Whisper's End
Figuren: Kaelira Zar'Vorr & Nyxar Vey'Taal

 

Der Nebel von Veydris kroch wie ein hungriger Geist durch jeden Winkel der Stadt, suchte sich seinen Weg durch Steinritzen und menschliche Schwächen gleichermaßen. Kaelira Zar'Vorr wusste das, seit sie zum ersten Mal einen Fuß in diese gottverdammte Stadt gesetzt hatte. Veydris wollte dich nackt sehen – nicht nur den Körper, auch die Seele. Die Stadt Whisper's End nord-westlich von Veydris sprach eine Sprache aus Schatten und Flüstern, und wer nicht zuhörte, endete mit aufgeschlitzter Kehle in einer Gasse.

Die massige Kriegerin stand am Rand des unteren Marktes, wo Moral ebenso billig war wie verfaultes Fleisch. Ihre dunkelbraunen Augen mit den rötlichen Reflexen musterten die Menge, während ihre rechte Hand unbewusst das zerfranste Band um ihr Handgelenk berührte – eine Gewohnheit, die sie nie ablegen konnte. Die Luft hier schmeckte nach ranzigem Öl, geronnenem Blut und dem süßlich-bitteren Rauch brennender Träume. Händler verkauften Versprechen aus einem Tuch und einem Lächeln, während ihre Kunden bereit standen zu fliehen, sobald ein Dolch schneller sprach als Münzen.

Kaelira war nicht zum Handeln hier. Sie jagte die Wahrheit – eine gefährlichere Beute als jeder Mann mit einem Schwert. Vor zwei Wochen hatte sie von „Heilflächen" gehört, schimmernde Artefakte in den Villen der Reichen, die Knochen mendeten und Krankheiten wie Staub wegfegten. Die Wohlhabenden nannten es Segen der Götter. Doch Kaelira hatte das warme, goldene Leuchten erkannt, das diese Gegenstände ausstrahlten – es war das Licht von Federn, nicht von Zauberrunen. Schwingen-Federn. Und das bedeutete Folter.

Der Gestank traf sie wie eine Faust in den Magen, bevor sie die ersten Käfige sah. Eisen, vom ewigen Nebel zerfressen, aber darunter lag etwas Widerlicheres: der Geruch nach verbrannter Unschuld, nach Schmerz, der so tief saß, dass er die Luft selbst infizierte. Ihre Narben auf der Brust begannen zu kribbeln – eine alte Warnung ihres Körpers vor dem, was kommen würde.

Sie folgte drei Männern mit Holzkisten, die sich zu sehr anstrengten, gewöhnlich zu wirken. In Veydris bemühte sich niemand um Normalität, es sei denn, er hatte etwas Furchtbares zu verbergen. Die Gasse, in die sie verschwanden, war zu schmal für Zufall – jemand hatte sie so gebaut, um Beute in die Falle zu locken.

Kaelira setzte ihren schweren Stiefel auf das glitschige Pflaster. Die Welt explodierte.

Ein Seil biß in ihre Kehle wie die Zähne eines Raubtieres, während ein Knüppel ihre Rippen traf und ihr den Atem raubte. Zwei Schatten lösten sich von den Wänden – zu koordiniert, um Zufall zu sein. Sie hatte in eine verdammte Falle getappt.

Ihre Ausbildung übernahm. Kaelira riß die Schulter nach hinten, spürte, wie das Seil in ihr Fleisch schnitt, aber der Griff lockerte sich. Sie trat nach hinten aus, ihr Stiefel krachte in Knochen, und ein Schrei zerriss die Luft. Ihr Schwert sang, als sie es zog, die vertraute Kälte des Stahls beruhigte ihre Nerven.

Aber drei gegen eine, und die Gasse war kaum breit genug für ihre Schultern. Ein zweiter Schlag traf ihren Rücken, trieb ihr die Luft aus den Lungen wie Wasser aus einem zerschlagenen Krug. Das metallische Klicken von Ketten ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

"Du hast dich verlaufen, Kriegerin." Die Stimme des Anführers klang, als hätte er zu lange in stehendem Wasser gelegen. "In Veydris kauft man Ehre wie Brot – und du hast keine Münzen."

Kaelira spuckte Blut und lächelte düster. "Dann nehme ich mir, was ich brauche." Ihr Knie bohrte sich in sein Geschlecht, und sein Schrei hallte von den Wänden wider wie der Gesang gebrochener Knochen.

Sie hätte sich freikämpfen können. Vielleicht. Aber nicht ohne Wunden, die sie später bereuen würde. Nicht ohne Fehler.

Dann veränderte sich die Luft. Der Nebel, normalerweise träge wie ein fetter Hund, wurde plötzlich aufmerksam. Ein Ton vibrierte darin – leise, unnatürlich, wie das Summen einer Saite, die von unsichtbaren Fingern gezupft wurde. Die Männer erstarrten, ihre Griffe wurden schwächer, als hätte die Stadt selbst beschlossen, dass sie zu viel Lärm machten.

"Ich stelle eine einfache Frage." Die Stimme kam aus der Dunkelheit, ruhig wie stilles Wasser, aber mit einer Schärfe, die Knochen schneiden konnte. "Ihr antwortet wahrheitsgemäß. Oder ihr sterbt qualvoll. Sind wir uns einig?"

Eine Frau trat aus dem Nebel, und Kaeliras Atem stockte trotz der Gefahr. Schlank wie eine Klinge, mit einem ovalen Gesicht und hohen Wangenknochen, die Schatten warfen wie kleine Klippen. Ihre dunkelvioletten Augen mit den goldenen Akzenten leuchteten im schwachen Licht, hypnotisch und gefährlich zugleich. Rabenschwarzes Haar fiel in komplizierten Zöpfen über ihre Schultern, durchsetzt mit violetten Strähnen, die im Nebel zu tanzen schienen. Nyxar Vey'Taal.

Die Angreifer warfen sich Blicke zu wie Tiere, die plötzlich merkten, dass sie selbst zur Beute geworden waren. Einer wollte protestieren, doch seine Kehle schloss sich, als würde die Luft selbst seine Lügen ersticken. Der zweite keuchte, Panik färbte seine Worte: "Was... was willst du wissen?"

Nyxars Kopf neigte sich leicht, ein räuberisches Lächeln umspielte ihre Lippen. Die feinen Runennarben an ihren Unterarmen begannen zu schimmern. "Zahlen. Orte. Namen der Käufer. Beginnt jetzt."

"Zwei... zwei Dutzend, vielleicht mehr. Tagschwingen und Zwielichtschwingen. Wir haben sie in den südlichen Schluchten, hinter den alten Runenwällen versteckt." Die Worte sprudelten aus ihm heraus wie Blut aus einer frischen Wunde.

"Die Käufer?"

"Goldener Faden! Und... Teile der Karawane. Nicht alle, nur... nur manche transportieren für uns." Er zitterte jetzt, als würde jedes Wort ihn innerlich verbrennen.

Nyxars violette Augen wurden zu schmalen Schlitzen. "Natürlich. Die ehrbaren Kaufleute." Ihr silberner Ring pulsierte schwach, synchron mit ihrem Herzschlag.

Der dritte Mann fand endlich seine Stimme: "Sie lügt! Die Flüsternden lügen immer! Sie kann uns nicht—"

Nyxar schnippte mit zwei Fingern, eine beiläufige Bewegung. Sein Schrei brach ab wie ein Faden, der reißt. Er sank auf die Knie, rang nach Atem, während unsichtbare Hände seine Lungen zusammendrückten.

"Genug der Philosophie." Ihre Stimme war jetzt reiner Stahl. "Ihr habt mir gegeben, was ich wollte. Geht."

Die Männer stolperten davon, taumelten in den Nebel wie Betrunkene. Drei Schritte, vier – dann das nasse Geräusch von Stahl, der Fleisch durchbohrt. Keine Schreie, nur das dumpfe Aufschlagen von Körpern auf Stein. Aus den Schatten lösten sich Gestalten mit blutigen Dolchen – Nyxars Leute, lautlos wie der Tod selbst.

Kaelira beobachtete Nyxar, suchte in ihrem Gesicht nach Regung. Nichts. Ihre Miene war ruhig wie ein zugefrorener See.

"Du hättest sie laufen lassen können," sagte Kaelira leise.

"Nein." Nyxars Stimme war fest wie Fels. "Sie hätten bis morgen neue Käfige gefüllt. Geschwüre schneidet man bis zur Wurzel heraus."

Die Stille zwischen ihnen war schwer wie Blei. Nur das Tropfen von Wasser irgendwo in den Steinfugen erinnerte daran, dass die Zeit nicht stehengeblieben war. Kaelira spürte, wie sich das zerfranste Band um ihr Handgelenk in ihre Haut drückte – eine Erinnerung an einen Kameraden, der zu spät erkannt hatte, dass Gnade manchmal Schwäche war.

Schließlich hob sie das Kinn. "Warum?"

Nyxar musterte sie lange, als würde sie abwägen, ob eine ehrliche Antwort das Risiko wert war. Die goldenen Reflexe in ihren Augen tanzten im schwachen Licht. "Weil sie eine Barriere errichtet hatten. Eine magische Mauer, die jeden Schrei im Kreislauf blockierte. Kein Echo, keine Spur, nichts. Als hätte jemand ein schwarzes Tuch über die Seelen der Gequälten geworfen." Sie atmete scharf aus, ihre Nasenflügel bebten vor unterdrückter Wut. "Aber Gier macht dumm. Sie haben zu viel auf einmal genommen, zu schnell. Und dann brach ihre Mauer unter dem Gewicht der Schreie zusammen. Jetzt höre ich sie alle – jeden einzelnen Schmerzensschrei, jede abgerissene Feder."

Ein kalter Klumpen bildete sich in Kaeliras Brust. "Die Schwingen."

"Tagschwingen. Zwielichtschwingen. Babys darunter, deren Flügel noch nicht ausgewachsen sind." Nyxars Stimme verlor jeden Spott, wurde zu gehärtetem Eisen. "Wenn du wirklich dem Kodex folgst, wie man munkelt, dann frag dich: Was ist Ehre wert, wenn du dabei zusehst, wie Unschuldige sterben, während du deine Hände sauber hältst?"

Kaelira schwieg. Der Nebel drängte zwischen sie, feucht und klebrig wie schlechtes Gewissen. Ihre braunen Augen verrieten nichts von dem Sturm in ihrer Brust.

Nyxar zuckte leicht mit der Schulter, eine Geste der Gleichgültigkeit. "Wenn du nicht mitkommen willst, verschwinde. Aber dann tu uns beiden einen Gefallen: Rede nie wieder von Ehre, als wüsstest du, was das Wort bedeutet."

Sie drehte sich um, ihr langer Mantel mit den violetten Stickereien wirbelte auf. Kaelira stand noch einen Herzschlag lang da, eine Hand am Griff ihres Schwertes, die andere zur Faust geballt. Dann setzte sie den ersten Schritt und folgte.

Der Nebel wurde dichter, je tiefer sie in die Schluchten von Veydris vordrangen. Die Luft schmeckte nach Verzweiflung und altem Blut, nach Menschen, die nie wieder Sonnenlicht sehen würden. Kaeliras Rüstung knarrte leise bei jedem Schritt, das vertraute Gewicht ein schwacher Trost. Nyxar bewegte sich neben ihr wie eine Raubkatze, jede Bewegung fließend und berechnet, als würde sie einer unsichtbaren Spur folgen.

"Hörst du sie?" fragte Nyxar nach einer Weile.

Kaelira lauschte. Nur das Tropfen irgendwo in der Ferne, das Knarren morschen Holzes. "Nein."

"Natürlich nicht." Nyxars Lachen war bitter wie verbrannter Wein. "Die äußerliche Barriere steht noch"

"Welche Art Barriere?"

"Eine Webung, die nicht nur die Augen täuscht, sondern den Kreislauf selbst zum Schweigen bringt." Nyxar blieb stehen, ihre schlanken Finger tasteten in der Luft, als könnte sie unsichtbare Fäden spüren. Die Runennarben an ihren Unterarmen pulsierten schwach. "Deshalb konnte ich sie wochenlang nicht aufspüren. Aber jetzt..." Ihre Augen flackerten, als bräche Licht von innen hervor. "Jetzt tragen sie ihren eigenen Lärm nach draußen. Zu gierig, zu laut geworden."

Kaelira starrte in die scheinbare Leere vor ihnen. Nur Nebel, Stein und das erdrückende Gewicht der Stille. Doch Nyxars ganze Haltung sprach von Spannung, als stünde sie vor einer unsichtbaren Mauer aus Schmerz.

"Wie durchbrechen wir sie?"

"Nicht wir. Ich." Nyxar trat vor, hob ihre Hände. Die Finger zitterten, aber nicht vor Schwäche – vor kaum gebändigter Kraft. Der Kreislauf rauschte durch sie wie ein unsichtbarer Sturm. "Die Runen verschlingen jede Energie, die man ihnen gibt. Also gebe ich ihnen mehr, als sie verdauen können."

Kaelira spannte die Schultern, ihre Hand fand den Griff ihres Schwertes. "Und wenn sie dich dabei zerreißen?"

Nyxars schiefes Lächeln war voller dunkler Verheißungen. "Dann wirst du mich hinterher vermutlich hassen."

Sie legte die Handflächen gegen den scheinbar leeren Fels.

Was folgte, war kein Licht – es war ein Riss in der Realität selbst. Ein Ton, so tief, dass er Kaeliras Knochen zum Vibrieren brachte, als hätte die Erde einen uralten Schrei verschluckt und endlich wieder ausgespien. Nyxars schlanker Körper spannte sich, ihr Rücken krümmte sich unter einer Last, die kein Sterblicher tragen sollte. Der Kreislauf strömte durch sie in Wellen, zu mächtig für menschliche Adern. Ihr Atem wurde zu einem kehligen Knurren, fast tierisch.

Kaelira spürte, wie die Luft um sie tanzte, wie ihre eigenen Muskeln sich anspannten, als würde Nyxars Sturm auch durch ihre Seele fegen. Die Metallplatte an ihrem rechten Knie begann zu schmerzen – eine Erinnerung an alte Schlachten.

Die Runen barsten. Erst eine Linie aus blauweißem Feuer, dann zehn, dann hundert. Das Licht wurde grell genug, um die Augen zu blenden, dann schwarz wie ein Grab, dann... nichts.

Der Vorhang fiel.

Dahinter lag ein Hof des Grauens. Käfige, aufeinandergestapelt wie Särge, Eisenstangen dick wie Männerarme, verschlossen mit Runen, die in das Metall selbst eingebrannt waren. Darin: Tagschwingen mit verstümmelten Flügeln, deren goldene Federn in blutigen Fetzen hingen. Zwielichtschwingen, deren stolze Silhouetten zu gebrochenen Schatten zusammengesunken waren. Ihre Augen – einst hell wie Sterne – starrten leer ins Nichts, als hätte man ihre Seelen herausgeschnitten.

Auf Tischen davor: Artefakte, die mit dem Leid der Gefangenen getränkt waren, glimmend wie in Stein gefangene Schreie. Männer in teuren Gewändern lachten, während sie Federn mit chirurgischer Präzision von noch lebenden Körpern lösten. Einer führte sein Messer wie einen Malerpinsel, als wäre Folter eine Kunst.

"Hurensöhne," zischte Nyxar, und ihre Stimme war mehr Klinge als Laut.

Vier Männer tummelten sich dort. Händler, keine Krieger – weiche Körper, die nie einen ehrlichen Kampf gekannt hatten. Zwei schabten Federn wie Haut von einer Frucht, einer schwang sein Messer mit der Beiläufigkeit eines Kochs, der vierte zählte Blutgeld.

Kaelira bewegte sich zuerst. Ihr Schwert teilte die Luft mit einem Singen, das in Knochen endete. Ein Kopf rollte vom Hals, Arterienblut spritzte über den Tisch wie roter Regen. Die Münzen tanzten durch die Luft, klirrten auf Stein. Der Mann brach zusammen, röchelnd, seine Hände krallten sich in seine zerfetzte Kehle.

Nyxar folgte, aber nicht mit Stahl. Der Nebel selbst wurde zur Waffe, schwer wie geschmolzenes Blei, das sich in die Lungen senkte. Einer der Männer stolperte, seine Finger kratzten an der eigenen Kehle, während unsichtbare Hände sie zudrückten. Ein anderer schrie, ein hoher, tierischer Laut, bevor er auf die Knie fiel, als würden glühende Nadeln durch seine Nerven stoßen.

"Spürt, was ihr ihnen angetan habt!" Nyxars Stimme hallte von Wänden wider, die zu weit entfernt waren. Ihre Augen brannten wie violette Feuer. "Jede abgetrennte Feder, jede gebrochene Schwinge – spürt es, bis es euch von innen zerfrisst!"

Kaelira stieß ihr Schwert in die Rippen des zweiten Mannes, spürte, wie die Klingen zwischen den Knochen hindurchglitt. Rippen brachen wie morsches Holz, und er fiel mit einem nassen Gurgeln. Der letzte versuchte zu fliehen, doch der Nebel zerrte an seinen Beinen wie tausend Hände. Nyxar trat näher, ihre schlanke Gestalt wirkte plötzlich riesenhaft. "Ihr schreit leiser als sie es getan haben."

Der Mann wand sich, Schaum vor den Lippen, Blut aus Nase und Ohren. Dann verstummte auch er, fiel zusammen wie eine Marionette mit durchgeschnittenen Fäden.

Stille senkte sich herab wie ein Leichentuch.

Nur die Käfige atmeten noch. Ein dünnes Winseln kam von einer jungen Tagschwinge, deren Flügelknochen in grotesken Winkeln abstanden. Federn klebten an getrocknetem Blut, die Haut darunter war aufgeplatzt wie überreife Frucht.

Kaelira kniete nieder, das Schwert noch in der blutigen Hand. Die Kreatur hob mühsam den Kopf, und in ihren Augen erkannte sie etwas, das schlimmer war als Schmerz – Hoffnungslosigkeit. "Wie viele sind hier?"

"Zu viele." Nyxar presste ihre Stirn gegen das Metall des nächsten Käfigs. Ihre Lippen bebten, als müsste sie jeden Atemzug der Schwingen teilen. "Viel zu viele für uns zwei."

"Wir können sie nicht alle auf einmal befreien," sagte Kaelira mit der Härte jahrelanger Erfahrung. "Sie würden sterben, bevor sie den ersten Himmel sehen."

Nyxars Kopf schnellte herum, ihre Augen brannten vor Wut. "Sag das nochmal. Laut. Schau ihr dabei ins Gesicht."

Kaelira wich nicht zurück. Ihre braunen Augen begegneten den violetten ohne zu blinzeln. "Willst du sie heute verlieren, oder ihnen eine echte Chance geben?"

Ein Moment zerschnitt die Luft zwischen ihnen wie eine Klinge. Kaeliras Blick: kalt, klar, unerschütterlich wie Fels. Nyxars: Feuer und Galle, Schuld und rasender Zorn. Schließlich wandte sich die Flüsterin ab, ihre Zöpfe peitschten durch die Luft. "Runenschlösser. Ich überlaste sie, du brichst sie auf."

"Was kostet es dich?"

"Was nötig ist." Ihre Stimme war rau wie Schmirgelpapier.

Nyxar legte ihre schlanken Hände an das erste Gitter. Die eingravierten Runen flammten auf, gierig, saugten Kraft wie dürstende Vampire. Ihr Körper verkrampfte sich, als würde man ihr jeden einzelnen Nerv umdrehen. Schweiß brach aus ihren Poren, ihre Lippen wurden weiß.

"Jetzt," keuchte sie durch zusammengebissene Zähne.

Kaelira schlug zu. Ihr Schwert krachte gegen das Schloss, Funken stoben, Metall kreischte. Das Schloss zerbarst, und der Käfig schwang auf. Die kleine Tagschwinge taumelte heraus, fiel fast sofort, kauerte sich an die kalte Wand. Ihre Augen waren riesig vor Angst und einer Hoffnung, die zu schmerzen schien.

Nyxar kniete sofort neben ihr, legte vorsichtig ihre Stirn an den gefiederten Kopf. Sie flüsterte Worte in einer Sprache, die Kaelira nicht kannte – alt, melodisch, tröstend. Die Schwinge atmete schwer, aber das Zittern ließ nach.

"Das genügt," flüsterte Nyxar heiser. "Das ist Grund genug zu kämpfen."

Kaelira sagte nichts. Sie wandte sich dem nächsten Käfig zu.

So kämpften sie weiter. Käfig um Käfig. Jede Befreiung ein kleiner Krieg. Nyxar opferte Stücke ihrer selbst, um die gierigen Runen zu sättigen, während Kaelira Schlösser zertrümmerte, die sich wehrten wie lebende Dinge. Ihre Hände begannen zu bluten, wo das widerspenstige Metall sie aufgerissen hatte. Nyxar sank mit jedem Käfig tiefer in sich zusammen, ihr Atem wurde unregelmäßig, ihre Bewegungen unsicherer.

Die Luft begann zu vibrieren. Kaelira spürte, wie die Runen in der gesamten Schlucht auf Nyxars Kraftverschwendung reagierten, als hätte sie etwas Uraltes geweckt, das nicht für sterbliche Berührung bestimmt war. Ihre Haut kribbelte, ihre Zähne schmerzten, als wollte die Realität selbst sie verschlingen.

"Genug!" Kaelira packte Nyxar am Arm, ihre gepanzerten Finger umschlossen das schlanke Handgelenk. "Noch einen Käfig, und du zerbrichst."

Nyxars Augen flackerten zu ihr auf, zu hell, zu wild. Die goldenen Reflexe tanzten wie Flammen. "Sie schreien! Verstehst du das nicht? Sie reißen mir den Schädel auseinander mit ihren Schreien!"

"Ich höre nur dich," knurrte Kaelira. "Und ich brauche dich am Leben."

"Dann halt den Mund und lass mich arbeiten." Nyxar riss sich los, ihre Handflächen fanden den nächsten Käfig. Ihre Finger zitterten, Blut sickerte unter den Nägeln hervor, wo das Metall sie aufgeschnitten hatte. Der Kreislauf dröhnte jetzt nicht mehr fern, sondern unmittelbar über ihnen, als stünde ein unsichtbarer Wasserfall kurz vor dem Zusammenbruch.

Kaelira schlug zu. Das Schloss barst. Eine weitere kleine Tagschwinge – kaum mehr als ein Baby – stolperte heraus, piepste heiser, als hätte man ihr die Stimmbänder zerschnitten. Sie suchte sofort Schutz unter den Flügeln einer größeren Zwielichtschwinge, die trotz ihrer eigenen Verletzungen den Kopf schützend senkte.

Nyxar sank auf die Knie, ihre Hände noch an den glühenden Runen. Ihre Augen rollten zurück, zeigten das Weiße, als kämpfte eine fremde Macht in ihr um Kontrolle. Kaelira warf sich neben sie, packte ihre Schultern. "Hörst du mich? Komm zurück!"

"Bin schon zurück," keuchte Nyxar, doch ihre Stimme klang verzerrt, als würde sie gleichzeitig aus großer Entfernung und direkt aus ihrem Mund kommen. "Bin schon drinnen. Aber ich halte durch. Muss durchhalten."

Und sie hielt durch. Käfig um verdammten Käfig. Kaeliras Schläge wurden zu einem tödlichen Rhythmus, jeder Hieb präzise, brutal, ohne Gnade für das Metall, das zwischen ihr und der Freiheit stand. Manche Schwingen krochen heraus und brachen sofort zusammen, andere versuchten zu fliegen aber konnten nicht mehr als kriechen. Federn – golden, silbern, regenbogenfarben – klebten an allem, getränkt mit dem Preis der Befreiung.

Am Ende lagen alle Käfige offen. Die Schwingen – gebrochen, blutend, aber frei – drängten sich an die Felswände, die Schwächeren suchten Schutz unter den Flügeln der Stärkeren. Die Luft vibrierte von ihrem kollektiven Summen, einem Chor aus Schmerz und vorsichtiger, zerbrechlicher Hoffnung.

Nyxar kippte nach vorne. Nur Kaeliras gepanzerter Arm hielt sie aufrecht. Ihre Haut war leichenbleich, ihr schlanker Körper zitterte, als bestände sie nur noch aus Nerven und roher Magie.

"Du müsstest tot sein," sagte Kaelira mit heiserer Stimme.

"Bin ich nicht." Nyxars Flüstern war brüchig wie altes Pergament, aber ein Funken Trotz glomm noch darin. "Noch nicht. Aber wenn wir das Hauptgehege nicht zerstören, hängen sie morgen alle wieder in neuen Käfigen."

Kaelira blickte auf die befreiten Schwingen. Ihre Kodex-Schwüre brannten in ihrem Schädel wie eingeritzte Runen: Die Schwachen schützen. Die Schuldigen richten. Den Kreislauf ehren. Sie atmete scharf aus, ihre Hand schloss sich fester um Nyxars Schulter.

"Dann gehen wir weiter."

Nyxars Lachen war kurz und rau, fast wahnsinnig. "Du wirst mich hassen, wenn du siehst, wie viel Kraft ich dafür brauche."

"Dann hasse ich dich morgen," erwiderte Kaelira. Ihr Blick war hart wie Eisen. "Heute kämpfen wir."

Die tiefste Schlucht war anders. Hier gab es keinen Nebel, der über den Boden kroch, kein Tropfen von unsichtbaren Wasserquellen. Es war, als hätte jemand die Welt angehalten und vergessen, sie wieder in Gang zu setzen. Nur die Runen an den Wänden lebten noch, zogen blaue Linien wie Adern über den schwarzen Fels. Der Geruch nach Eisen und Blut war so dicht, dass er sich wie Hände um die Kehle legte.

"Das ist es." Nyxars Stimme war kaum mehr als ein Hauch, aber der Kreislauf vibrierte in jedem Wort. Ihre violetten Augen waren dunkler geworden, die Pupillen zu schmalen Punkten verengt, als blickte sie in Dimensionen, die für menschliche Sinne nicht bestimmt waren. "Hier halten sie das Herz des Grauens."

Das Hauptgehege lag vor ihnen wie ein Alptraum aus Stein und Stahl. Eine Ebene, umschlossen von Mauern, die zu hoch waren, um natürlich zu sein. Reihen von Käfigen, größer als die vorherigen, gefüllt mit Wesen, die zu kostbar für schnelle Schlachtung waren. Tagschwingen, deren Federn in blutigen Fetzen hingen, deren Augen milchig von Schmerz waren. Zwielichtschwingen, gefesselt mit Runenseilen, ihre stolzen Flügel verknotet, als sollten sie nie wieder den Wind spüren.

Aber das waren nicht die einzigen Gefangenen.

Zwischen den gewöhnlichen Käfigen standen Zellen aus schwarzem Eisen, deren Stäbe dicker waren als Kaeliras Oberschenkel. Darin: Schattenschwingen. Nur drei an der Zahl, doch jeder von ihnen war so gewaltig, dass selbst verletzt ihre pure Anwesenheit die Luft zum Vibrieren brachte. Ihre Flügel waren wie lebende Stürme, selbst gefesselt wirkten sie wie gefangene Unwetter. Einer stieß gegen die Stangen, und das Kreischen von Metall unter unmöglichem Druck ließ Kaeliras Knochen erzittern. Sein Schrei war kein Tierlaut – es war der Klang einer zerbrechenden Welt.

Nyxar stand wie erstarrt, ihre schlanken Finger zitterten. Tränen liefen über ihre hohen Wangenknochen, hinterließen silberne Spuren auf ihrer bleichen Haut. "Sie... sie haben sogar sie genommen." Ihre Stimme brach, wurde zu einem Knurren, das tief aus ihrer Brust kam.

Kaelira legte ihr die Hand auf die Schulter. "Dann beenden wir es."

Mit Nyxars letzter Kraft barsten auch diese Runenschlösser. Aber die Schattenschwingen brachen nicht dankbar aus ihren Käfigen – sie zerrissen sie. Metall kreischte und splitterte wie morsches Holz unter ihren Klauen. Ihre Schreie waren Donner, der den Nebel spaltete und die Felsen beben ließ. Einer breitete seine Flügel aus, halb zerfetzt, aber immer noch so gewaltig, dass sie den halben Himmel zu verschlucken schienen. Er blickte auf die Toten am Boden, als wollte er sich jedes Gesicht einprägen für eine spätere Abrechnung. Dann sprangen sie auf, schwer, taumelnd, aber frei.

Bevor sie das Gehege endgültig verlassen konnten, stießen sie tiefer in den Komplex auf etwas, das Kaeliras Blut gefrieren ließ. Nicht mehr nur Käfige für einzelne Schwingen, sondern eine ganze Halle – so groß wie eine Kathedrale – voller industrieller Folter. Dutzende von Tischen, auf denen sich chirurgische Instrumente in ordentlichen Reihen aufbauten. Bottiche mit einer durchscheinenden Flüssigkeit, in der abgetrennte Federn schwammen wie ertrunkene Schmetterlinge. Und an den Wänden: Regale voller Artefakte, jedes einzelne getränkt mit dem Leid der Schwingen.

Männer in teuren Roben und Lederhandschuhen arbeiteten mit der Präzision von Uhrmachern. Goldener Faden – das erkannte Kaelira an den gestickten Symbolen auf ihren Gewändern. Und daneben, in den rot-goldenen Farben, die ihr das Herz zusammenzogen: Mitglieder der Karawane. Verräter an allem, wofür ihre Organisation einst gestanden hatte.

Nyxar erstarrte neben ihr. Ihre Augen weiteten sich, die goldenen Reflexe explodierten zu kleinen Sonnen. "Mein Gott," flüsterte sie, ihre Stimme brach. "Es ist noch schlimmer, als ich dachte."

Ein älterer Mann in Karawanen-Farben hielt eine kleine Tagschwinge fest, während ein anderer ihr systematisch Federn ausriß. Nicht schnell, nicht aus Wut – mit der gleichen Sorgfalt, mit der ein Sammler Schmetterlinge aufspießt. Das kleine Wesen wimmerte mit einer Stimme, die zu menschlich klang.

Kaelira sah rot.

Ihr Schwert sang durch die Luft, bevor ihr bewusster Verstand einsetzen konnte. Die Klinge durchschnitt den Hals des Folterknechts so sauber, dass sein Kopf einen ganzen Herzschlag lang auf seinen Schultern sitzen blieb, bevor er herabrollte. Arterielles Blut spritzte über die sterilen Instrumente, färbte sie mit einer ehrlicheren Farbe.

"Bastarde!" Nyxars Schrei war halb menschlich, halb etwas Älteres, Wilderes. Der Kreislauf explodierte durch sie, ungezügelt, gefährlich. Männer stolperten, ihre Hände krallten sich an die Kehlen, als würden unsichtbare Finger sie erwürgen. Einer fiel auf die Knie, Schaum vor dem Mund, seine Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war.

Kaelira kämpfte mit der kalten Präzision ihrer Ausbildung. Ihr Schwert fand Herzen, Kehlen, alles Lebenswichtige. Knochen brachen unter ihren gepanzerten Fäusten wie trockenes Holz. Jeder Schlag war gemessen, tödlich, ohne Verschwendung.

Nyxar dagegen war reiner Zorn. Der Nebel selbst wurde zur Waffe, schnitt Windpfeifen durch die Luft, zerquetschte Rippen wie Eierschalen. Ihr langes schwarzes Haar mit den violetten Strähnen peitschte um sie wie lebende Schatten. "Fühlt, was ihr ihnen angetan habt!" schrie sie, ihre schlanke Gestalt schien zu wachsen, zu einer Rachegöttin zu werden. "Jeder Schnitt, jeder Schmerz – spürt ihn tausendfach verstärkt!"

Ein Mann in goldenen Roben versuchte zu fliehen, rutschte in seinem eigenen Schweiß aus. Kaelira packte ihn am Kragen, hob ihn hoch wie einen Sack Getreide. Ihre braunen Augen mit den rötlichen Reflexen brannten vor Verachtung. "Du verkaufst Heilung, die auf Folter aufbaut?"

"Es... es ist nur Handel!" stammelte er. "Geschäft! Wir retten Leben!"

"Falsches Leben." Kaeliras Faust krachte in seine Rippen, ein nasses Knacken war die Antwort. "Leben, das auf Leid aufbaut, ist Diebstahl."

Sie ließ ihn fallen, trat auf seine Hand, bis die Knochen splitterten. Sein Schrei hallte von den Wänden wider, vermischte sich mit dem Summen der sterbenden Runen.

Nyxar trat zu dem letzten Überlebenden, einem jungen Mann, der sich in einer Ecke zusammengekauert hatte. Ihre violetten Augen leuchteten wie Sterne, und der Silberring an ihrem Finger pulsierte im Rhythmus seines rasenden Herzschlags. "Du hast zwei Optionen," sagte sie mit einer Stimme wie Seide über Stahl. "Reden oder sterben. Wähle schnell."

"Varenthos!" Das Wort sprudelte aus ihm heraus wie Blut aus einer Wunde. "Varenthos organisiert alles! Er hat Kontakte in allen großen Häusern, sogar in der Regierung! Die Heilartefakte... sie gehen an die Reichsten, die Mächtigsten! Ohne Fragen, ohne Skrupel!"

"Wo finden wir ihn?"

"Er... er hat ein Anwesen außerhalb der Stadt. Aber er ist gut beschützt, hat Magier, Söldner, sogar..." Er schluckte schwer. "Sogar einige wenige Karawanen-Verräter als Leibwächter."

Nyxars Lächeln war kalt genug, um Blut gefrieren zu lassen. "Danke."

Sie schnippte mit den Fingern. Der Mann fiel zur Seite, Augen leer, als hätte jemand ein Licht ausgeblasen.

Kaelira wischte ihre Klinge an seinem Gewand ab. "Villa Schattenmeer."

"Kennst du sie?"

"Vom Hörensagen. Varenthos ist kein kleiner Fisch." Kaelira schob das Schwert zurück in die Scheide, ihre Bewegungen waren mechanisch, aber ihre Augen brannten vor kaum unterdrückter Wut. "Er beliefert die Hälfte des Adels mit 'Heilmitteln'. Hat Immunität durch Bestechung und Erpressung."

"Hatte," korrigierte Nyxar. Ihre Runennarben glimmten noch nach, und ihre schlanken Finger zuckten, als würde der Kreislauf noch durch sie hindurchfließen. "Immunität hilft nicht gegen das, was ich mit ihm vorhabe."

Und als der Kampf vorüber war, standen nur noch Kaelira, Nyxar und die Überlebenden. Blut hatte den Stein in ein glitschiges Schlachtfeld verwandelt, dampfte im ewigen Nebel von Veydris. Nyxars Truppe materialisierte aus den Schatten, ihre Dolche noch rot, und half dabei, die verletzten Kreaturen zu versorgen. Verwundete Tagschwingen wurden gestützt, zitternde Zwielichtschwingen beruhigt, die Jüngsten an die Stärkeren gedrängt. Die Schattenschwingen hielten sich am Rand, zu wild und stolz für jede Berührung, aber auch sie blieben – nicht länger Gefangene, sondern Wächter über ihre kleineren Geschwister.

Kaelira wusch ihre Klinge im Regenwasser, das sich in einer Steinmulde gesammelt hatte. Ihre braunen Augen folgten den Wesen, die sich trotz gebrochener Knochen und zerrissener Haut in Bewegung setzten, zurück zu einem Himmel, der ihnen zu lange verwehrt geblieben war. Das zerfranste Band um ihr Handgelenk war dunkel von Blut – nicht ihrem eigenen.

Nyxar saß erschöpft gegen eine Felswand gelehnt, ihre schlanken Finger voller Blut, die violetten Augen halb geschlossen. Die Runennarben an ihren Unterarmen glühten noch schwach nach, wie Kohlen in einem fast erloschenen Feuer. Doch als Kaelira sich neben sie setzte, verzog sich ihr Mund zu einem schiefen Lächeln. "Sie leben. Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte."

"Für heute," stimmte Kaelira zu.

Schweigen legte sich über sie. Nur das Flügelschlagen, das sich langsam entfernte, das schwächer werdende Summen der nun toten Runen. Dann sprach Kaelira, ihre Stimme leise, aber mit einer Härte, die Stein spalten konnte. "Varenthos. Der Name bleibt."

Nyxars Augen öffneten sich vollständig. Die goldenen Reflexe tanzten wie kleine Flammen, aber dahinter lauerte etwas Kälteres. "Wir werden ihn kriegen."

"Und wenn wir ihn haben?"

Nyxars Lächeln war müde, aber in ihren violetten Augen brannte ein Feuer, das keine Erschöpfung löschen konnte. "Dann stirbt er so langsam, dass er Zeit hat, über jede einzelne Feder nachzudenken, die er geraubt hat."

Kaelira nickte, straffte ihre massigen Schultern, als wäre der Kodex selbst zu einer schwereren Last geworden. Das Ritual-Narben auf ihrer Brust kribbelten – ein Zeichen, dass ihr Schwur sie zu neuem Blutvergießen rief. "Dann gehen wir jagen."

Kaelira blickte zu Nyxar hinüber. Die Flüsterin war bleicher als zuvor, ihre violetten Augen dunkler, aber in ihrer Haltung lag eine Entschlossenheit, die Berge versetzen konnte.

"Und du Bist wirklich bereit für das, was kommt?" fragte Kaelira.

Nyxars Lächeln war scharf wie eine Klinge. "Ich war bereit, bevor wir angefangen haben. Die Frage ist: Bist du bereit zu sehen, was Gerechtigkeit wirklich bedeutet, wenn alle Masken fallen?"

Kaelira berührte das zerfranste Band um ihr Handgelenk, spürte das Gewicht ihrer Kodex-Schwüre in der Brust. "Führe an, Flüsterin. Ich folge."

Und so verschwanden sie in der Nacht von Veydris, zwei Jägerinnen auf der Fährte eines Monsters, das zu lange im Schatten des Reichtums geschlüpft war. Der Name Varenthos würde bald mehr bedeuten als nur Macht und Einfluss.

Er würde für Tod stehen.

 

Chapter 19: Die ersten Wellen

Chapter Text

Datum: 1. Sylvaris (350 n.K)
Ort: Verdanthollow
Figuren: Sylwen Qen'Mara

 

Verdanthollow erwachte schön an diesem Morgen, was in dieser Gegend bedeutete, dass der Fluss seine Launen noch nicht gezeigt hatte. Nebel wickelte sich um die Stelzenhäuser wie ein zu großer Schal um magere Schultern, und unter den Stegen döste das Wasser mit der gespielten Harmlosigkeit einer gut gefütterten Katze. Eine Lüge, die hier jeder kannte, aber niemand widersprach – höfliche Nachbarn schweigen über die Eigenarten des anderen.

Weiden neigten ihre Köpfe über die Böschungen und tauschten im Wind Klatsch aus: alte Geschichten, die längst jeder auswendig kannte und trotzdem immer wieder hören wollte, weil manche Wahrheiten ihre Schärfe nur durch Wiederholung behalten.

Normalerweise wäre dies der erste Tag des Sylvaris geworden – ein Fest voller Lichter auf dem Wasser und Stimmen, die vor Hoffnung überschäumten. Man feierte Neubeginn und das hartnäckige Zurückdrängen des Winters. Stattdessen hing kein Gesang in der Luft, und anstelle von Festschmuck trugen die Stege Verwundete. Der Fluss nahm heute keine Opfergaben entgegen, dafür umso mehr Kranke mit fiebrigen Augen. Der Feiertag war durch die Unruhen in ganz Ikaril in sein bösartiges Spiegelbild verwandelt worden.

Sylwen stand am Rand einer schwimmenden Brücke und übte die hohe Kunst von Verdanthollow: zusehen, ohne erwischt zu werden. Ihre Schultern brannten noch vom nächtlichen Marsch. Tau hing in ihren Haarspitzen wie winzige, wertlose Diamanten. Das Messer am Gürtel hatte mehr Erde als Blut gesehen – eine Tatsache, die Sylwen zu bewahren hoffte. Die Samen in ihrem Beutel klapperten vertraut, ein Klang, der sie an ruhigere Zeiten erinnerte.

Was hinter ihr lag, behielt sie für sich. In Verdanthollow stellte man wenig Fragen, solange man die ungeschriebenen Regeln verstand – eine davon lautete: Fremde mit schmutzigen Stiefeln und sauberen Klingen verdienen dieselbe Höflichkeit wie das Wetter.

„Zuerst die Schuhe waschen." Ein Fischer sprach, ohne sie anzusehen, seine Stimme rau wie Schleifpapier, aber ohne Feindseligkeit. Seine Hände reparierten ein Netz mit der mechanischen Geduld eines Mannes, der den Fluss schon wütend gesehen hatte und keine Lust auf eine Wiederholung verspürte. „Kaltes Becken da vorn. Er nimmt keinen Dreck an, bevor er entscheidet, was er sonst noch nimmt."

Sylwen folgte seinem Blick, kniete nieder und streifte ihrer Stiefel und die nassen Wickel ab. Haut kam zum Vorschein, aufgescheuert vom langen Marsch. Sie wusch zuerst das Leder und danach sich selbst: das Wasser über die nackten Fußrücken, über Salz und Staub. Das Kältebrennen fuhr ihr bis in die Knöchel – ein gutes Brennen, das sagte: Du bist angekommen, jetzt reiß dich zusammen.

„Er wählt", hatte man ihr unterwegs erklärt, „Heilung für den einen, Vergessen für den anderen. Manchmal eine Last. Gelegentlich sogar den Namen." In den Dörfern stromaufwärts nannte man das Aberglauben. In Verdanthollow nannte man es Dienstag.

Der Steg zum Hain der Weiden quoll über vor Menschen: Verwundete mit fiebrig glänzender Haut, deren Augen zu groß für ihre Gesichter geworden waren; Kinder, deren Tränenvorrat bereits aufgebraucht schien; Männer mit verdächtig glatten Gesichtern, als hätten ihre Sorgenfalten beschlossen, heute Pause zu machen. Seile knarrten unter ungewohnter Last, Körbe wechselten hastiger als üblich die Hände, und aus den Geisterhäusern – niedrige, fensterlose Bauten am Ufer, die für jene errichtet worden waren, die fehlten, und für die Erinnerungen, die zu schwer zum Tragen geworden waren – trugen Frauen Schalen herbei: Kräuter, die nach Hoffnung rochen, Salz, das nach Tränen schmeckte, und Schlick aus einer Bucht, die nur die Flusswächter kannten.

„Überfüllt", brummte der Fischer und würdigte sie diesmal eines prüfenden Blickes – die Art Blick, mit dem man Fremde mustert, um herauszufinden, ob sie ins Wasser springen oder am Rand stehen bleiben, wenn es ernst wird. „Seit Tagen strömen sie herbei. Moorleute mit grüner Haut, Feldverbrannte mit rauchigen Stimmen, ein Trupp Soldknechte mit zu wenig Glück und zu viel Stolz." Er schnaubte verächtlich, als wäre Stolz eine Krankheit, die man sich durch schlechte Gesellschaft einfing. „Die Weiden hören geduldig zu, die Geisterhäuser halten es tapfer aus. Aber der Fluss..." Seine Hand beschrieb eine Geste, die irgendwo zwischen Respekt und Warnung schwebte – wie ein Gruß an einen schlafenden Wolf. „Der Fluss lässt sich so wenig antreiben wie ein Gewitter. Wer ihn drängt, wird nass. Gründlich nass."

„Die Flusswächter?" fragte Sylwen mit gespielter Beiläufigkeit, als würde sie nach dem Wetter fragen.

„Im Hain. Die Älteste sitzt schon seit Sonnenaufgang mit den Fingern im Moos. Das bedeutet: Heute bitten wir, statt zu befehlen." Seine Stirn runzelte sich wie ein alter Lappen. „Hoffentlich kapieren das auch die Leute."

Sylwen nickte und wanderte durch das Dorf. Die Atmosphäre erinnerte sie an das Gefühl vor einem Sturm – diese gespannte Ruhe, wenn selbst die Luft den Atem anhielt. An der Anlegestelle wurden Laternen präpariert, weniger für die Nacht als für den Handel mit dem Fluss. Ein Licht gegen eine Heilung. Manchmal zog er Fieber aus einem Körper wie Rauch aus nassem Holz, ließ das Licht heller brennen und den Menschen leichter werden. Gelegentlich erlosch die Flamme, und der Mensch vergaß einen Namen, der ihm lieb gewesen war – Vater, Mutter, das Mädchen von nebenan. Man lernte, damit zu leben, oder man zog weg. Die meisten blieben.

Einen Namen vergessen, dachte Sylwen und berührte unbewusst das Messer an ihrer Seite. Wäre das so schlimm?

„Warum baut ihr die Geisterhäuser so nah ans Wasser?" fragte Sylwen später, als sie neben einer Frau kniete, die Schlick in eine Schale knetete, als formte sie Brot für besonders wählerische Gäste.

„Weil sie tragen, was wir loslassen müssen", antwortete die Frau, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Ihre Finger bewegten sich mit der Sicherheit einer Chirurgin. „Erinnerung wiegt schwer, besonders die schlechte. Wenn die Weiden voll sind, nehmen die Häuser den Rest auf. Und wenn es zu viel wird..." Sie zuckte mit den Schultern. „Eines sinkt. Das ist kein Unglück, das ist Bestimmung." Ihre Augen musterten Sylwen kurz – ein schneller, messerscharfer Blick, der zu prüfen schien, ob die Worte Wurzeln schlagen oder wie Wasser davonrutschten. „Heute wird man ihnen viel geben."

In den Gassen klebte eine Unruhe, die sich zwar leise verhielt, aber wie Honig an allem haftete, was sie berührte. Sylwen bemerkte die Vorzeichen: Kinder, die stiller waren, als die Natur es vorgesehen hatte; Männer, die Seile doppelt banden, ohne dass es jemand angeordnet hätte; Alte, die sich dicht unter die Weiden drängten und die Luft prüften, als ließe sich schlechtes Wetter riechen.

Von der Brücke her drang gedämpfter Streit herüber – Stimmen, die gegeneinander stießen wie Holzklötzchen in einer Schüssel.

„Kein Kreis heute", sagte eine Stimme, endgültig wie ein zuschlagender Sargdeckel. „Der Fluss duldet keine Forderungen. Besonders keine lauten."

„Und wenn wir warten, zerreißt uns die Geduld wie nasses Papier", widersprach eine Jüngere mit brennnesselverkratzten Händen. „Seit drei Tagen schöpfen wir löffelweise, und nichts rührt sich. Ein Kreis, eine vereinte Stimme – dann muss er uns hören."

Sylwen erkannte die Älteste der Flusswächter schon von weitem: Haare wie graues Gras, das selbst den härtesten Winter überlebt hatte, Finger, die vom Moos grün schimmerten, Nägel, die schwarz vom Ufer waren. In ihren Augen lag ein Humor, der nur noch selten Gesellschaft bekam – die Art Lächeln, das Leute zeigen, wenn sie zu viel gesehen haben und trotzdem weitermachen.

„Er spürt euch immer", sagte sie mit der Gelassenheit einer Lehrerin, die denselben Fehler zum hundertsten Mal korrigiert. „Die Frage ist nur, ob er auch antworten möchte. Wer schreit, bekommt selten eine gute Antwort – meistens gar keine."

„Warten können wir uns aber auch nicht leisten", mischte sich ein Mann ein, dessen Hände voller Risse waren – eindeutig die falsche Art von Rissen für ehrliche Arbeit. Flucht hinterließ andere Spuren als Handwerk. „Die Fieber werden schlimmer, die Kinder verlieren das Morgen. Was ist uns lieber: um eine Gunst zu bitten, die vielleicht kommt, oder um die Gunst zu kämpfen, die kommen muss?"

Die Älteste lachte trocken – ein Geräusch wie knisternde Blätter. „Mit dem Fluss kämpft man so wenig wie mit dem Wetter oder mit seinem eigenen Schatten. Man erinnert ihn höflichst daran, wer man ist. Mehr nicht, weniger nicht."

Sylwen blieb am Rand der Diskussion, lauschte und atmete den Duft des Hains: Wasser, das nach Geheimnissen schmeckte, verrottetes Holz, das nach Zeit roch, und die süße Müdigkeit feuchter Erde, die nach allem schmeckte, was jemals darauf gefallen war. In der Luft lag jene besondere Spannung, die man in Städten „Politik" nannte und hier „lebensnotwendigen Rat".

Einige der Jüngeren trieben die Sache bereits voran – verteilten Tücher und Laternen wie Waffen vor der Schlacht. Sie bildeten schon Kreise, obwohl noch nicht entschieden war, ob Kreise heute erlaubt sein würden.

So beginnen Katastrophen, dachte Sylwen. Mit zu vielen guten Absichten zur selben Zeit.

Ein Junge kam angelaufen – barfuß, mit Knien voller Schlamm, als hätte er versucht, den Morast zu umarmen – und blieb vor der Ältesten stehen wie vor einem besonders einschüchternden Baum.

„Der Trupp vom Moor ist angekommen", keuchte er, während er versuchte, gleichzeitig zu atmen und zu sprechen. „Acht liegen flach. Zwei haben..." Er suchte nach einem Erwachsenenwort, das die Situation angemessen beschrieb, ohne sie zu beschönigen. „Sie erkennen ihre eigenen Mütter nicht mehr."

Die Älteste schloss kurz die Augen, als zählte sie bis zehn in einer Sprache, die nur sie kannte und die vermutlich hauptsächlich aus Flüchen bestand. „Bringt sie an den Rand der Kreise. Die Mitte ist heute zu gefährlich. Und ihr..." Sie blickte in die Runde, und viele nickten, bevor sie überhaupt gesprochen hatte – ein Zeichen, dass manche Lektionen tief genug saßen. „Ihr spart mit dem Licht. Wer ein Licht setzt, wartet. Wer zwei setzt, hat eins gestohlen."

Eine alte Regel, die niemand mochte: Jedes Licht war eine Anfrage beim Fluss. Zu viele Lichter wurden zu Forderungen – und Wasser, das sich gedrängt fühlte, wurde wehrhaft wie jedes andere Wesen unter Druck. Die Flusswächter behielten solche Weisheiten normalerweise für sich, aber sie erwähnten sie auch nur ungern – man liebt Regeln, bis sie teuer werden.

Sylwen half ohne Aufforderung: Tragegurte zurichten, wacklige Pfähle nachziehen, Seile verstärken. Ihre Hände kannten diese Bewegungen. Jeder hatte schon einmal ein Dorf auf ein Unglück vorbereitet.

Unweit des Hains stand ein Geisterhaus mit frischen Rissen im Lehm – feine Linien, die wie Adern unter der Haut pulsierenden. Als sie die Hand auf die Wand legte, strahlte eine Wärme heraus, die definitiv nichts mit Sonnenschein zu tun hatte. Mehr wie Fieber, nur ohne den kranken Geruch.

Speicherte Erinnerung tatsächlich Hitze? Oder war das nur eine Geschichte für Kinder, die sich vor der Dunkelheit fürchteten? In Verdanthollow verschwammen solche Grenzen großzügig, und niemand hatte Eile, sie zu klären – manche Wahrheiten waren nützlicher, wenn sie ein wenig unscharf blieben.

„Du stammst nicht von hier", bemerkte eine Stimme an ihrer Seite – freundlich wie ein gut geschliffenes Messer, höflich, aber bereit zu schneiden. Eine Frau, vielleicht in ihrem vierten Jahrzehnt, die Sehnen am Unterarm gespannt wie Bogensaiten, der Blick wachsam wie bei jemandem, der schon zu oft überrascht worden war. „Aber du weißt, wo du hingreifen musst."

„Ich weiß vor allem, wo ich nicht hingreifen sollte", erwiderte Sylwen mit einem Blick auf den Fluss. „Das reicht fürs Erste."

„Ausgezeichnet." Die Frau nickte anerkennend Richtung Hain. „Heute Abend wird es voll werden. Die Leute glauben, viele Stimmen würden den Fluss beeindrucken." Sie lachte leise – ein Geräusch wie Wasser über Kieselsteine. „Er lässt sich durchaus beeindrucken, nur anders, als sie hoffen."

Sie zögerte, als müsste sie ein Wort auf der Zunge abwägen, bevor sie es aussprach. „Wenn zu viel auf einmal kommt, kann es gefährlich werden. Manche nennen es Segen, wenn die Grenzen dünner werden. Die Tha..." Sie brach ab, als hätte sie sich die Zunge verbrannt. „Andere kommen dann. Leute, die den Weg zurück noch nicht gefunden haben. Sie wittern es von weitem."

Sylwen nickte verstehend. „Dann sorgt dafür, dass weniger auf einmal kommt."

„Sag das den Müttern." Ein schiefes Lächeln, das mehr Verzweiflung als Humor enthielt. „Sag das den Männern, die Schmerz wie eine Währung zur Schau stellen."

Die Sonne hing bereits tief, als sie die Laternen aufs Wasser setzten. Keine Prozession – das wäre der Ältesten zu theatralisch gewesen. Nur Hände, die Bretter mit flackernden Lichtern über die Wasseroberfläche glitten ließen wie schüchterne Gebete. Die Flammen flackerten einmal kurz, als prüften sie die Nachbarschaft und die Windverhältnisse, bevor sie sich häuslich einrichteten.

Der Hain atmete die Wärme ein wie ein zufriedenes Tier. Der Fluss blieb, was er schon immer war: dunkel, ruhig, schwer von Geheimnissen.

„Wir erinnern ihn daran", murmelte die Älteste am Wasserrand, die Finger wieder tief ins Moos vergraben, als könnte sie durch die Erde hindurch mit etwas Größerem sprechen. „Wir erzählen ihm, wer wir waren, bevor wir uns selbst verloren. Das mag er – ehrliche Geschichten über ehrliche Leute." Sie lächelte Sylwen zu mit dem Lächeln einer Frau, die wusste, dass die Fremde mehr Geheimnisse hütete, als sie preisgab. „Und wir sagen ihm auf gar keinen Fall, was er zu tun hat."

Die Kreise bildeten sich trotz aller Verbote – zunächst klein und mit respektvollem Abstand, wie Gäste auf einer Beerdigung, die sich nicht sicher sind, wie nah sie dem Sarg kommen dürfen. Die Jüngeren stellten sich hinter die Älteren, als könnten sie deren Worte festhalten, damit diese nicht wie erschrecktes Geflügel davonflatterten. Die Verwundeten wurden in konzentrischen Ringen angeordnet wie Jahresringe in einem uralten Stamm – die Schwersten innen, wo die Hilfe am dichtesten war.

Ein Wind strich über das Wasser und brachte Gerüche von weiter stromaufwärts mit: Moor, das nach alten Geheimnissen roch, nasse Asche, die nach verbrannten Hoffnungen schmeckte, und einen Hauch von Harz, süß und klebrig wie unausgesprochene Versprechen.

Das Dorf verstummte auf eine Art, die lauter war als jedes Geschrei – die Art Stille, die vor Wendepunkten liegt. Sylwen stellte ihre Füße dicht an den Rand des Wassers, nahe genug, um zu helfen, weit genug weg, um nicht zu stören. Sie kannte diese Sorte Stille, die nicht plump vor Kriegen lag, sondern gefährlich gut vor dem Moment, wenn etwas so intensiv erinnert wird, dass es antworten muss.

Ihre Hände formten unbewusst die Geste, mit der sie unruhiges Wurzelwerk beruhigte: sanfter Druck, aber kein Zwang. Zeigen, dass man da war, ohne zu verlangen.

„Wir beginnen", sagte die Älteste leise, aber ihre Stimme trug weiter als manche Schreie. „Einer nach dem anderen. Kein Chor. Kein Theater."

Die erste Stimme erhob sich allein über dem Wasser und erzählte nichts Welterschütterndes: den Namen eines Vaters, der unter den Weiden Schatten gespendet hatte, wenn die Sonne zu hart auf die Schultern brannte. Die Worte fielen ins Wasser wie Steine – schwer genug, um zu sinken, rund genug, um keine Wellen zu schlagen.

Die zweite Stimme sprach von Händen, die Netze so lange repariert hatten, bis die Finger von selbst wussten, wann genug genug war. Von einer Art Weisheit, die man nur durch jahrelange Wiederholung lernte.

Die dritte lachte kurz auf – manchmal war Lachen die mutigste Antwort auf das Leben – und erzählte von einem Hund, der viel zu gut schwamm und deshalb oft nass nach Hause kam, aber niemals allein.

Das waren die richtigen Proportionen für einen Anfang. Der Fluss bevorzugte kleine Geschichten vor großen Tragödien – mit letzteren hatte er schlechte Erfahrungen gemacht, und Wasser vergisst langsamer als Menschen.

Die Lichter nickten zustimmend auf ihren schwimmenden Brettern, als hätten sie jedes Wort verstanden. Die Luft wurde kühler, aber auf die erfrischende Art, die nach Regen schmeckt. Der Wasserspiegel im Becken spannte sich glatter als zuvor, als hielte er sich an seiner eigenen Oberfläche fest und lausche.

Ein Kind am Rand hörte auf zu zittern. Ein Mann fand plötzlich wieder die Worte, die ihm tagelang die Zunge verweigert hatte. Und in den Weiden raschelte es leise, als zählten sie mit – eins, zwei, drei Geschichten, alle am richtigen Platz.

Vielleicht, dachte Sylwen und spürte, wie sich ihre Schultern entspannten, vielleicht wird heute alles gut.

Dann bewegten sich zu viele gleichzeitig.

Nicht, weil die Älteste es erlaubt hätte – ihre warnende Hand war deutlich genug gewesen. Sondern weil Angst schneller war als Weisheit, und verzweifelte Menschen selten gute Zuhörer sind. Drei, vier, fünf Stimmen legten sich übereinander wie schlecht gestapelte Teller, eine sechste schob sich dazwischen, eine siebte drängte sich vor.

Später würde niemand sagen können, wer angefangen hatte. Vielleicht war es nur ein Atemzug zur falschen Zeit, ein Wort, das zu früh gerutscht war. Aber die Kreise drängten enger zusammen, ein Fuß trat zu nah ans Wasser, eine Laterne kippte gefährlich.

Zwei Hände griffen danach, fingen sie auf, stellten sie wieder hin – und stellten sicherheitshalber noch eine dazu. Diese gut gemeinte Sicherheit war genau das, was der Fluss am wenigsten schätzte.

Die Luft wurde dünn. Sylwen spürte, wie das Wasser unter der Oberfläche schwerer zu atmen begann, als hielte es einen Hustenanfall zurück, den es nicht unterdrücken konnte. Die Weiden reagierten als erste – ließen Blätter fallen, ohne dass Wind dafür verantwortlich war.

Aus einem der Geisterhäuser kam ein dumpfes Knacken – nicht böswillig, nur überfüllt, wie ein Magen, der zu viel auf einmal geschluckt hat.

„Nicht noch mehr", flüsterte die Älteste, leise und zu spät. „Bitte nicht..."

Die Luft hielt den Atem an, als die Stimmen durcheinandergerieten wie erschrecktes Geflügel. Der Wasserspiegel im Hain spannte sich, bis er nicht mehr glänzte, sondern hart wirkte wie geschliffenes Glas, das jeden Moment zerspringen würde. Sylwen erkannte die Zeichen aus anderen Dörfern, anderen Ritualen, die schiefgegangen waren: Das war kein gutes Härten – das war Überlastung. Und sie wurde immer schlimmer in vielen Teilen Ikarils.

Der Fluss war überfordert, und alles Überforderte suchte sich ein Ventil.

Die Weiden reagierten zuerst. Ihre Blätter rieselten herab wie grüner Schnee, und wer nahe genug saß, hörte in den fallenden Blattadern das Wispern längst verstorbener Stimmen: Ein Vater, der seine Tochter vor dem Eis warnte; eine Mutter, die von einer Geburt erzählte, die wehgetan und trotzdem gesegnet hatte; Lachen und Schluchzen und ungebetene Stimmen, die sich ins Heute drängten wie unerwünschte Gäste auf einer Hochzeit.

Erinnerungen, die hier nichts zu suchen hatten, strömten wie dichter Rauch zwischen die Menschen – zu viel, zu schnell, zu ungefiltert.

Ein Geisterhaus am Rand stöhnte, als wäre es lebendig geworden und hätte Bauchschmerzen. Die Lehmmauern rissen auf wie überdehnte Haut, ein Balken knickte mit einem Geräusch wie brechende Knochen, und aus dem Inneren quoll Hitze – kein Feuer, sondern pure, konzentrierte Energie, so dicht gepackt, dass sie die Haut versengte.

„Zurück vom Wasser!" rief die Älteste, doch ihre Stimme verlor sich in dem Gemurmel, das längst kein Gebet mehr war, sondern etwas Anderes, etwas Hungriges.

Und dann bewegte sich einer der Kranken.

Ein Mann, den sie ans Wasser gebracht hatten, weil er seit Tagen stumm gewesen war. Sein Kopf drehte sich zu langsam, als würde er durch Honig schwimmen. Sein Mund stand offen wie ein schwarzes Loch, die Augen wurden hohl – nicht schwarz, sondern leer, als blickte man in einen ausgetrockneten Brunnen.

Er atmete tief ein, und Sylwen konnte sehen, wie die Erinnerung, die eben noch aus den Weiden geströmt war, in ihn hineingezogen wurde wie Rauch in einen Schornstein.

Tha'Lorr – Seelenfresser nannten die meisten solche Verwandlungen. Menschen, die zu nah am Fluss gebetet hatten, bis ihre eigene Essenz zerriss. Sie trugen noch menschliche Gesichter, aber ihre Augen waren nur noch Hunger. Sie rissen keine Glieder ab, sie zerbissen kein Fleisch – sie griffen nach dem, was einen Menschen innerlich zusammenhielt: Namen, Erinnerungen, das kostbare Gefühl, jemand Bestimmtes zu sein.

Wer sie berührte, verlor mehr als Blut.

Die Frau neben ihm stieß einen Laut aus – halb Name, halb verzweifelte Bitte – doch ihre Stimme brach ab wie ein Seil unter zu viel Gewicht. Ihre Hände krümmten sich, als verlöre sie etwas Unsichtbares, aber Lebenswichtiges – die Art Verlust, die keine Wunde hinterlässt, aber trotzdem tödlich ist.

Der Mann hob seine Hand – keine Hand mehr, sondern etwas, das rankte, zog, griff nach Dingen, die nicht körperlich waren. Nach dem Teil von Menschen, der sie zu Menschen machte.

„Tha'Lorr!" Die Älteste spie das Wort aus wie vergifteten Wein. „Nicht hinsehen! Nicht..."

Zu spät. Drei weitere Körper folgten dem Beispiel, als wäre die Verwandlung ansteckend wie Gähnen. Haut wurde zu gespannten Sehnen, Stimmen zu einem hauchenden Flüstern, das direkt ins Ohr kroch und dort blieb wie ein Parasit: „Name. Sag mir deinen Namen."

_Das kann nicht passieren_, dachte Sylwen und spürte, wie ihre sorgsam aufgebaute Ruhe zerbrach wie dünnes Eis. _Ich bin gerade erst angekommen. Ich wollte nur..._

Die Kreaturen krochen über die Stege – langsam aber unaufhaltsam, zogen Essenz aus jeder Berührung. Menschen zuckten zusammen, vergaßen für einen Herzschlag, wie die Person neben ihnen hieß. Ein Kind griff nach der falschen Hand – und die Hand gehörte bereits niemandem mehr.

Sylwen reagierte, bevor ihr Verstand die Situation erfasst hatte. Ihre Magie flammte auf, Ranken sprangen aus den Pfählen wie grüne Blitze, glitten zwischen die Verwandelten und die noch Lebenden. Die Pflanzen zogen, schoben, trennten – eine lebende Barriere aus Dornen und Entschlossenheit.

„Nein", knurrte sie, als ein Tha'Lorr die Stirn an ihre Schulter legen wollte und hauchte: „Sprich deinen Namen. Gib ihn mir."

„Nicht am Wasser, du Idiot", zischte sie zurück. Die Ranken wickelten sich um sein Bein, rissen ihn in den Schlamm. Das Wasser gluckste zufrieden, als kostete es ihn wie eine Süßigkeit.

Dann kam das Zweite.

Ein Laut, der eigentlich kein Ton war – vibrierend, als schlüge jemand eine nicht existierende Saite an. Über dem Hain öffnete sich die Luft wie eine Wunde. Kein Licht trat heraus – das Gegenteil von Licht. Ein feiner Riss, sauber wie ein Messerschnitt, schwarz wie die Leere zwischen den Sternen.

Ein Zyr'quin – Leerenwanderer nannten die Alten sie. Wesen aus der Zwischenwelt, die keine Haut, keine Stimme, nur endlosen Hunger besaßen. Sie verschlangen Magie wie Motten das Licht fraßen, aber unendlich effizienter. Kein Stahl, keine Klinge konnte sie berühren – sie existierten zwischen den Momenten, in den Pausen zwischen den Atemzügen. Sie sahen keine Menschen, nur Energieströme, und alles, was leuchtete oder summte oder nach Magie roch, wurde zur Mahlzeit.

„Nicht bewegen", flüsterte jemand panisch, obwohl jeder wusste, dass Bewegung und Stillstand für diese Wesen gleich sichtbar waren. Es war die Art sinnloser Warnung, die Menschen aussprechen, wenn sie sich hilflos fühlen – besser irgendetwas sagen als gar nichts.

Der Riss glitt vorwärts wie ein Messer, das einen Stoff auf seine Qualität prüfte. Er berührte eine Laterne – und die Laterne war einfach fort. Nicht zerbrochen, nicht erloschen: verschwunden, als hätte sie niemals existiert. Er strich über den Arm eines Mannes – und die Haut reflektierte nichts mehr, wurde zu einer grauen Leere, die wehtat anzusehen.

Der Mann schrie nicht. Er fiel um, als hätte die Welt vergessen, dass er existierte.

Ein zweiter Riss vibrierte auf, dann ein dritter. Die Luft wurde dünner, atemloser. Zu viele Stimmen hatten zu viel Magie in die Luft geschwitzt, und die Zyr'quin kamen wie Fliegen zum Honig – dort, wo Magie unkontrolliert floss. Und durch das wachsende Ungleichgewicht in Ikaril, tauchten sie immer häufiger auf.

Und dann kam der Geruch von Blut und das war zusammen mit der Überladung ein gefundenes Fressen.

Nein, nein, NEIN, dachte Sylwen verzweifelt.

Vom Waldrand her ertönte ein Laut, der definitiv nicht zum friedlichen Flussidyll gehörte: das Knacken zerbrechender Äste und das Stampfen schwerer Pfoten auf weichem Boden. Dann Augen wie glühende Kohlen, zu groß und zu hungrig für ein normales Tier.

Die erste Rav'kar sprang über den Steg – viel zu groß, viel zu schnell, ihr Körper eine lebende Ansammlung von Muskeln, Zähnen und ungezügelter Wut. Blutbestien nannten manche sie, andere verwendeten weniger höfliche Namen. Sie landete auf dem Holz mit einem Geräusch wie brechende Knochen, und das Holz war für solche Gewalt nicht gebaut worden.

Bretter zersprangen wie Zahnstocher, ein Seil riss mit einem Peitschenknall, und ein Mann verschwand im Wasser. Statt seines Aufschreis stieg eine rote Wolke auf.

Rav'kar – ihre Nasen witterten den kleinsten Tropfen Blut aus einer Meile Entfernung, ihre Körper bestanden aus nichts als Muskeln, Sehnen und Raserei. Haut so dick wie Baumrinde, Zähne wie Fleischkeile, Klauen, die Stahl zerreißen konnten. Sie stürzten sich nicht auf Beute – sie rissen sie nieder, zerfetzten sie, bis kein Laut mehr übrigblieb außer ihrem eigenen zufriedenen Knurren.

Nur Schwarzes oder göttliches Feuer konnte sie verlässlich töten, und selbst dann starb oft mehr als nur das Tier.

Das Chaos brach nicht plötzlich herein wie ein Sturm – es kam wie ein Damm, der schon lange gebröckelt hatte und nun endgültig nachgab. Tha'Lorr krochen heran und flüsterten nach Namen, ihre Stimmen wie kalter Atem im Nacken. Zyr'quin schwebten durch den Nebel und ließen Dinge aus der Welt verschwinden. Rav'kar zerrissen alles, was sich bewegte, und manches, was sich nicht bewegte.

Menschen schrieen, doch viele konnten keine Worte mehr formen – die Tha'Lorr hatten ihnen bereits die Sprache gestohlen, Buchstabe für Buchstabe.

Ich wollte nur Ruhe, dachte Sylwen, während sie sich bewegte, weil Stillstand den Tod bedeutete. Sie zog den Bogen, ließ Pfeile fliegen. Sie wusste, dass normale Pfeile keine Rav'kar töteten, aber sie konnten sie verwirren, ärgern, von wichtigeren Zielen ablenken. Ein Pfeil in die Wange einer Rav'kar – keine Wunde, nur ein Stich wie ein Mückenbiss, aber genug, um das Tier für einen kostbaren Moment zu irritieren.

Ein Schrei hinter ihr – dünn und verzweifelt. Ein Kind, nass bis zum Kinn, klammerte sich an ein sinkendes Brett, das langsam sank. Sylwen sprang ins seichte Wasser, das kälter war als erwartet, packte die kleine Gestalt und zog sie auf eine schwimmende Matte.

„Kein Wort", zischte sie dem Kind ins Ohr. „Nicht am Wasser. Verstanden?"

Das Kind nickte heftig, die Augen so weit aufgerissen, dass man das Weiße sehen konnte.

Eine zweite Rav'kar stürmte heran, die Zähne bereits rot vom Blut eines Mannes, der eben noch ein Lied für seine kranke Tochter angestimmt hatte. Die Bestie bewegte sich wie flüssige Gewalt, jeder Muskel koordiniert auf das eine Ziel: töten.

Zyr'quin glitten durch den Nebel und schnitten Lichter aus der Realität wie ein Schneider Stoff. Ein Wanderpriester hob eine kleine Silberkette, murmelte Gebete in eine Richtung, die keine geometrische Entsprechung hatte. Der Riss hielt inne – einen Atemzug lang –, bog dann ab, als hätte er sich gelangweilt, und fraß drei Kerzen mit einem Geräusch, das man nicht hörte, sondern in den Knochen spürte.

Tha'Lorr zogen Essenz aus jedem Hautkontakt. Eine junge Mutter wurde leer auf eine Art, die keine Wunde hinterlässt, aber trotzdem tödlicher ist als jedes Messer. Ihre kleine Tochter hielt ihre Hand fest und fragte mit der grausamen Unschuld der Kinder: "Mama?"

Die Frau wollte antworten – ihre Lippen bewegten sich – aber da war nichts mehr, was hätte sprechen können.

Sylwen band der Kleinen hastig ein blaues Stoffband ums Handgelenk – einen kleinen Schutz, mehr Symbol als Substanz. „Nicht lösen. Nicht hinschauen. Nur atmen und zählen."

Wie beim letzten Mal, dachte sie bitter. Und beim Mal davor. Immer dasselbe.

Eine Rav'kar schlug nach Sylwen mit Klauen wie Fleischermessern. Sie spürte den Luftzug, als das Maul haarscharf an ihrer Wange vorbeisauste – so nah, dass sie den fauligen Atem des Tieres riechen konnte, nach altem Blut und verrottenden Fleisch. Sie riss an einem Seil, ein Pfahl krachte um, und die Bestie bekam eine Ladung gesplittertes Holz statt zartes Fleisch zu schmecken.

Das Opfergabenboot trieb hilflos zwischen den sinkenden Stegen – klein, aber noch schwimmfähig, gebaut für Kerzen und Blumen, nicht für Flüchtlinge. Sylwen stieß es mit dem Fuß an, hievte das erste Kind hinein, sprang hinterher. Das Boot wackelte gefährlich, fing sich wieder.

Eine zweite Kleine stand unschlüssig am Ufer – barfußig, mit Augen wie Mondlicht, zu verängstigt zum Weinen.

„Komm", sagte Sylwen, und das Mädchen kam, wie man kommt, wenn jemand den eigenen Namen mit der richtigen Betonung ausspricht. „Wie heißt du?" fragte Sylwen fast, stoppte sich rechtzeitig. Namen waren heute zu gefährlich. „Später", murmelte sie stattdessen.

Sie stießen ab. Das Boot rieb an einem morschen Pfahl, der schon bessere Jahre gesehen hatte, und glitt in eine schmale Rinne zwischen zwei erlöschenden Laternenfeldern.

„Nicht nach hinten sehen", warnte Sylwen leise. Manchmal machte der Anblick des Grauens die Dinge schlimmer, als sie ohnehin schon waren.

Vor ihnen schwebte ein Zyr'quin, langsam wie ein Gedanke, der niemandem einfallen will und doch beharrlich bleibt. Er sah das Boot nicht – Holz leuchtete nicht, verschmutztes Kinderhemd in Schlammfarben auch nicht, und Sylwen wusste, wie man atmete und die eigene Flamme so dimmt, dass sie nurnoch ein kleines unscheinbares leuchten ist, sie hatte lange nur so überlebt.

Ein Hauch von Kälte strich über ihre rechte Wange – einer der Risse war so nah, dass er ihren Atem hätte trinken können, wenn Atem nach Magie geschmeckt hätte. Die Kinder hielten die Bootskante umklammert, als wären ihre kleinen Finger Wurzeln.

Hinter ihnen sank das nächste Geisterhaus – würdevoll, wie ein alter Mann, der endlich zu Bett geht, nachdem er zu lange aufgeblieben ist. Ein weiteres folgte, langsamer, stand noch einen Atemzug, dann nicht mehr. Weiden ließen ihre Blätter fallen, als zählten sie den Verlust Blatt für Blatt.

Verdanthollow war kein Dorf mehr – nur noch Stege als ziellose Linien, erloschene Lichter, Menschen, die zu körperlosen Stimmen wurden. Eine Frau, die eben noch Königin ihres kleinen Stegs gewesen war, stand auf einer einzelnen schwankenden Bohle, die Arme ausgestreckt, als könnte Gleichgewicht den Mut ersetzen, den sie verloren hatte.

Ein Tha'Lorr kroch unter ihr durch und hauchte sein hungriges Lied, und sie weinte, ohne zu wissen, wessen Tränen es waren, die ihr über die Wangen liefen.

Am Rand des Hains erreichten zwei mutige Burschen endlich den Schieber für die Zuleitung. Der eine – jung genug, um noch an Helden zu glauben – stellte sich quer und legte das ganze Gewicht seiner hoffnungsvollen Jahre dagegen. Das Rad stöhnte wie ein gequältes Tier, der Zulauf gurgelte, zögerte, ließ nach.

Der andere Bursche fiel, stand auf, fiel wieder. Beim dritten Mal blieb er liegen, und ein Zyr'quin glitt über ihn hinweg, stumm und gründlich.

Das Boot glitt weiter, getragen vom Fluss, der heute endlich wieder wusste, was er wollte. Sylwen ruderte nicht, der Fluss führte sie. Er wählte den Weg. Er nahm, was er brauchte. Er ließ leben, was er verschonen mochte. Alte, simple Regeln.

Sie glitten zwischen zwei Rissen hindurch, die aussahen, als hätte jemand feine, präzise Schnitte in die Luft gelegt. Die Kinder hielten den Atem an, ohne dass jemand es ihnen gesagt hätte.

„Wenn der Nebel dir Worte anbietet, nimm sie nicht", murmelte Sylwen. Es klang wie ein Spiel, war aber eine Warnung, die Leben retten konnte.

Die Jüngere nickte. Die Ältere fragte leise: „Gibt der Fluss uns auch zurück?"

„Manches", sagte Sylwen ehrlich. „Manches nicht. Aber er vergisst selten ganz."

Genau wie ich, dachte sie bitter.

Weiter flussabwärts, wo die Stege aufhörten, Stege zu sein, und das Wasser wieder zu gewöhnlichem Wasser wurde, lag ein Stück Land, das sich noch nicht entschieden hatte, ob es eine Insel oder nur eine Laune des Flusses sein wollte. Wurzeln griffen ins Wasser wie nervöse Finger, Erde drohte an den Rändern abzufallen, aber die Mitte hielt – vorerst.

Sylwen zog das Boot zwischen die Wurzeln, schob die Kinder unter einen mächtigen Weidenstamm, der groß genug war, um Geschichten zu erzählen, wenn jemand zuhören wollte, und deckte sie mit ihrem nassen Mantel zu.

„Nicht reden", sagte sie fest. „Nicht antworten, wenn etwas deinen Namen ruft. Und wenn etwas fragt, wer du bist, sagst du nichts."

„Wie heißt du denn?" flüsterte die Ältere, und Sylwen lächelte – ein Lächeln ohne Zähne, aber mit Wärme.

„Später", sagte sie wieder. „Nicht am Wasser."

Sie sah zurück zu dem, was einmal Verdanthollow gewesen war. Das Dorf verlor seine Form wie ein Gesicht im Traum. Zyr'quin zogen ihre geometrisch unmöglichen Bahnen, Rav'kar jagten alles, was noch atmete und blutete, Tha'Lorr hauchten ihr ewiges "Name" in die Ohren der Sterbenden.

Die Älteste stand noch – kleiner geworden, als hätte jemand ein Stück von ihrer Würde abgeschnitten, aber immer noch da. Sie hatte die Hände noch oben, obwohl nichts mehr gehorchte. Manche Gesten sind nicht für die Welt, sondern für einen selbst – eine Art, sich daran zu erinnern, wer man war, bevor alles zusammenbrach.

Sylwen hätte zurückgehen können. Man kann fast immer zurückgehen, wenn man etwas hat, das schwerer wiegt als man selbst. Mut zum Beispiel. Oder Sturheit. Oder die Art von Liebe, die größer ist als die Angst.

Aber sie blieb, wo sie war. Manchmal war Überleben wichtiger als Heldentum. Das hatte sie gelernt. Sie blieben bis ihr Nacken schmerzte und die Kinder ihre Fragen schluckten, weil Fragen Geräusche machen und Geräusche Aufmerksamkeit bedeuten.

Sie sah die Linie, wo der Fluss dunkler wurde – wie eine Stirnfalte, die gleich etwas Unangenehmes sagen wird.

„Am Wasser keine Namen", murmelte sie leise. Kein Gebot – eine Erkenntnis, die mit Blut erkauft worden war.

Sie wandte sich ab und führte die Kinder in den Wald. Wurzeln zerrten an ihren Stiefeln, die Rinde roch kühl und sauber. Unter einer Weide fanden sie eine trockene Senke. Sylwen sammelte Moos, flocht Ranken zu einem dürftigen Dach.

Unter einer Weide, die weit genug vom Ufer stand, um noch zur normalen Welt zu gehören, fanden sie eine trockene Senke. Sylwen sammelte Moos, schichtete es wie schlafende Schafe, und flocht ein paar Ranken zu einem dürftigen Dach. Ihre Hände taten, was Hände tun, wenn der Kopf noch im Gestern hängt: Sie bauten eine Zukunft.

Die Ältere sah zu. Die Jüngere zählte Zweige: „Zwei, drei, vier..." In dieser zarten Arithmetik lag ein Trotz, der Sylwen gefiel.

„Trink", sagte Sylwen und reichte der Älteren eine Kappe mit Wasser aus einer Rinne, weit genug weg vom Fluss, um harmlos zu sein, nah genug, um nicht fremd zu schmecken. „Langsam. Kleine Schlucke."

„Kommen sie uns holen?" fragte die Kleine.

„Nicht hier", sagte Sylwen bestimmt. „Hier sind wir Sicher." Es war eine Lüge, aber die nützliche Art – die Sorte, die Kinder mit Würde tragen können, bis sie alt genug für die Wahrheit sind.

Sie lauschte in den Wald hinein. Hinter ihnen rauschte der Fluss. Dazwischen: Knacken, das kein Holz war; ein Singen, das keine menschliche Kehle besaß.

Die Nacht kam ohne Einladung. Sterne blieben diskret hinter Nebel - vielleicht gut so.

„Erzähl was", bat die Kleine, und die Große stieß sie warnend an. „Sei still", zischte sie, und ihre Stimme klang plötzlich wie die einer erwachsenen Frau, die weiß, wann ein Wort zu viel Gewicht hat für die Luft, die es trägt.

Sylwen dachte an die Älteste mit den Händen im Moos, an den Fischer mit seinen Netzen, an die Frau mit den Schlickschalen. An den Mann, der ein Tha'Lorr geworden war. An zwei mutige Burschen, von denen einer nicht wieder aufgestanden war.

An Geisterhäuser, die sinken durften – aber heute zu viele auf einmal. An Weiden, die nicht weinten, sondern zählten, was verloren war. An den ersten Tag des Sylvaris, der Lichter hätte tragen sollen statt Lasten.

Sie wartete, bis die Kinder wieder im Halbschlaf lagen – der unruhigen Art Schlaf, die Kinder haben, wenn sie wissen, dass die Welt nicht sicher ist – und zog ihr Messer. Es war eine Geste die ihr Sicherheit gab.

Stahl in der Hand ist eine Art Gebet, das keinen Gott beleidigt.

Sie schnitt ein kleines Zeichen in die Rinde der Weide – drei Linien, die sich trafen wie Freunde nach langer Reise. Nicht tief, nicht sichtbar für die Art Augen, die in falschem Licht wachen.

„Damit du weißt, dass wir echt waren", flüsterte sie, und die Weide sah sie an, wie Bäume schauen: langsam, aber ohne Missverständnis.

Später kamen Schritte. Nicht Rav'kar, nicht die schwerfälligen Bewegungen von Tha'Lorr. Menschen, die versuchten, wie Nebel zu klingen.

Sylwen hob die Hand; das ältere Kind wurde schmal wie ein Atemzug, das jüngere so still, dass selbst ihre Angst aufhörte zu zappeln.

Vier Schatten, geduckt, riechend nach Rauch und Weidenbast. Der Vorderste hatte die Hände sichtbar erhoben - Hände, die heute mehr gehalten hatten, als ihnen zustand.

„Nicht am Wasser", erwiderte Sylwen automatisch, und er nickte, als hätte er genau diese Antwort erwartet.

„Nicht hier. Morgen, weiter oben, am Stein mit den roten Adern. Kennst du ihn?"

Sie kannte ihn. „Die Älteste?"

„Stand noch, als wir gingen", sagte er mit einer Stimme, die zu müde war für Hoffnung, aber zu störrisch für Verzweiflung. „Stand besser als wir alle."

„Die Rav'kar?"

„Haben genug gefunden." Er spuckte in die Erde – nicht aus Verachtung, sondern um etwas zu geben, das nicht Erinnerung war. „Sie gehen, wenn nichts mehr da ist zum Reißen. Das dauert selten lange."

„Die Zyr'quin?"

„Ziehen ab, wenn es dunkel genug wird. Oder wenn es langweilig wird." Ein schiefes, müdes Lächeln. „Manchmal ist das dasselbe."

„Die Tha'Lorr?" Ihre Stimme wurde leiser bei der letzten Frage.

Er sah weg, als kostete es Kraft. „Manche bleiben. Manche... werden wieder. Manchmal." Eine Pause. „Nicht oft."

Sie nickte. „Morgen. Am Stein."

„Am Stein", bestätigte er, und sie verschwanden so, wie Menschen verschwinden, die gelernt haben, dass Anwesenheit ein Luxus ist, den sich nicht jeder leisten kann.

Die Kinder drehten sich im Schlaf, als würde die Erde sie vorsichtig herumwenden, damit sie gleichmäßig ruhen konnten. Das jüngere murmelte – Sylwen legte ihr schnell den Finger auf die Lippen.

„Ssht." Das Wort rutschte heraus, bevor sie es zurückhalten konnte. Selbst Beruhigungen machten Wellen in der Luft.

Sie dachte an den Fischer und seine Warnung vor dem "schlechten" Nasswerden. An die Frau mit den Schlickschalen. An die Älteste und ihr "Wir erinnern ihn". Und an sich selbst: "Nicht am Wasser."

Vier Sätze, dachte sie müde. Die eine Welt über die Nacht tragen, bis der Morgen sie ablöst.

Als die graue Kühle des frühen Morgens in ihre kleine Senke sickerte wie zögerliches Licht, weckten sie die Kinder mit der sparsamen Art von Sanftheit, die wenig Worte braucht. Die Ältere brauchte keine helfende Hand – sie war über Nacht ein Jahr älter geworden. Die Jüngere suchte Sylwens Finger und fand sie.

„Durst?" fragte Sylwen, und das Kind schüttelte tapfer den Kopf, weil Mut manchmal genau so aussieht: als kleine Lüge, die andere vor Sorgen bewahrt.

Sie brachen auf durch niedrige Brombeeren und feuchte Gräser, die nach Eisen rochen und nach dem, was übrigbleibt, wenn zu viel Magie zu schnell verbraucht wird. Vögel begannen leise zu singen, als hätten sie geübt, nicht aufzufallen.

Als sie den Stein mit den roten Adern erreichten – einen dicken Rücken im Boden, der aussah, als hätte jemand Blutgefäße aus grauem Fleisch gemeißelt –, wartete schon eine Handvoll Menschen. Niemand rief Namen, niemand weinte laut. Jemand hatte Linien in den Staub gezeichnet – keine Buchstaben, nur Striche. So schlägt man die Zeit, wenn Uhren unhöflich wirken.

Die Älteste war da. Kleiner, aber da. Ihre Hände zitterten jetzt.

Sie hob den Kopf, sah Sylwen, sah die Kinder. In ihrem Blick lag etwas, das jüngere Menschen Dankbarkeit nennen und ältere schlicht Anerkennung – die Art Nicken, das von einer Frau zur anderen geht, wenn beide wissen, was es kostet, die Richtigen am Leben zu halten.

„Später zahlen wir", sagte sie mit einer Stimme, die trotz allem noch Autorität trug. „Heute..." Sie blickte hinunter zu dem unsichtbaren, aber hörbaren Fluss, der wie ein Herzschlag durch eine Decke pochte. „Heute sind wir Dankbar noch am Leben zu sein."

Sylwen nickte. Sie zog den Mantel der Jüngeren zurecht, band der Älteren das blaue Band fester ums Handgelenk. „Wie heißt du?" fragte sie die Kleine, und die öffnete den Mund, schloss ihn wieder.

Die Ältere griff nach ihrer Hand. „Später", sagte sie mit einer Stimme, die älter klang, als sie sein sollte. „Wenn es wieder sicher ist."

Und dieses „Später" war groß genug, um darin zu wohnen, bis die Welt wieder Namen vertragen konnte.

Es war nicht mehr der erste Tag des Sylvaris – ein Tag, an dem man normalerweise dem Wasser Namen anvertraute und das Erwachen der Welt feierte. Heute wurde man mit den Folgen konfrontiert: Schweigen am Ufer, erloschene Laternen und ein Tabu, das niemand mehr brechen würde.

Am Wasser keine Namen.

Sylwen stand zwischen den Überlebenden und spürte die vertraute Leere in der Brust - die Stelle, wo Hoffnung hätte sein sollen. Sie hatte nach Frieden gesucht, nach einem Ort ohne Schreie und Blut. Stattdessen hatte sie wieder einmal zugesehen, wie Menschen starben, während sie die Kinder rettete, die sie retten konnte.

Immer dieselben Entscheidungen, dachte sie bitter. Immer derselbe Schmerz.

Die Tradition von Verdanthollow hatte sich an diesem Morgen für immer gewandelt. Aber das war die Art, wie sich alle wichtigen Traditionen ändern: nicht durch Ratsbeschluss oder königliches Dekret, sondern durch Blut und die harten Lektionen, die nur Überlebende lehren können.

Der Fluss rauschte weiter, gleichgültig und ewig, und trug seine neuen Geheimnisse davon wie alle anderen auch.

 

Chapter 20: Die Schenke am Sturm

Chapter Text

Datum: 26. Vaelaris (348 n.K)
Ort: Stormreach, Schenke 'Zum Wellenläufer'
Figuren: Kaelira Zar'Vorr

Kaelira zog den durchnässten Kapuzenmantel enger um die Schultern, während salziger Sprühnebel das Gewebe durchdrang. Die Feuchtigkeit war das geringste ihrer Probleme. Veydris klebte an ihr wie geronnenes Blut: die Schatten zwischen den Häusern, Nyxars eisige Dankbarkeit, das Echo von Entscheidungen, die andere in ihrem Namen getroffen hatten. Ein Vibrieren durchzog ihre Knochen, als hätte sie stundenlang die Hand auf eine Totenglocke gelegt, deren Läuten nicht verstummen wollte.

Schwere Regenschleier hingen über Stormreach wie die Banner einer belagerten Stadt. Kaelira erklomm die glitschigen Stufen zur Schenke 'Zum Wellenläufer', wo das Holz unter ihren Stiefeln vom endlosen Salzkuss poliert war. Die Luft schmeckte nach Tang, Teer und dem metallischen Atem des Meeres. Den ganzen Tag hatte sie durch die verwinkelten Gassen der Sturmstadt gestreift, Nachrichten überbracht, Spuren getilgt, ihre Schultern angespannt wie Takelage vor dem Sturm. Erst jetzt, als ihre Finger den abgewetzten Türgriff umschlossen, lockerte sich die Last zwischen ihren Schulterblättern.

Das verwitterte Schild über der Taverne war vom Salz blind geworden, doch der Reliefschnitt blieb erkennbar: ein schlanker Kutter, der eine Welle hinabglitt, als bestünde das Meer aus nichts als Luft. Zum Wellenläufer. Ein Ort, wo die Tische von salziger Gischt genarbt waren, die Bänke unter jedem Gast ächzten und Geschichten wie warmer Dampf unter den rußgeschwärzten Balken hingen.

Kaelira schloss die Augen und stellte sich vor, wie die Tür aufschwingen würde: ein Schwall aus Stimmengewirr, goldenes Licht und Holzrauch, der sie umfangen würde wie eine vergessene Umarmung. Einfaches Glück – so selten geworden in ihrer Welt voller politischer Ränkespiele und blutiger Geheimnisse.

Der Wind zerrte ein zweites Mal an der Tür, bevor der Riegel nachgab. Kaelira trat ein, streifte die triefende Kapuze ab und ließ die salzige Kälte von Stormreach hinter sich. Das Chaos einer anderen Welt empfing sie: Stimmen brandeten wie Brecher an felsigen Küsten, Gelächter peitschte durch den Raum, Becher klirrten, und eine Fiedel kämpfte sich durch den Lärm wie ein Schiff durch schwere See.

Der Wellenläufer war kein Etablissement für verwöhnte Adelssöhne. Über den Balken hingen alte Netze, von Salz und Rauch geschwärzt wie die Träume gescheiterter Fischer. Schiffsmodelle schwankten in der warmen Luft, als kreuzten sie noch immer die Stürme längst vergangener Schlachten. Die Hitze des Raumes umschlang sie nach zu vielen Nächten in der beißenden Kälte. Hinter dem massiven Tresen glühte ein kupferner Ofen und warf tanzende Schatten über Regale voller bauchiger Keramikkrüge.

Mit dem geschulten Blick einer Spionin musterte Kaelira das Publikum: Händler mit windgegerbten Gesichtern, die Geschichten in jeder Narbe trugen; Navigatoren in öligem Leinen, deren Augen die Weite der See widerspiegelten; eine Gruppe aus der Akademie in Vaelarion, erkennbar an den wetterfesten Mänteln mit eingewebten Blitzknoten auf der Brust – junge Idealisten, die glaubten, Magie ließe sich in Formeln pressen.

In einer schattigen Ecke hockten drei Gestalten, deren Kapuzen zu tief hingen, um Zufall zu sein. Der süßliche Duft von Rauchkraut und der metallische Geruch von versteckten Klingen verrieten Schattenkarawane. Schmuggler oder Schlimmeres. Am beschlagenen Fenster spielten zwei Jugendliche ein würfelloses Würfelspiel, weiße Kreidepunkte schwebten in der Luft wie gefrorene Sterne – kleine Magie, große Träume.

Auf der winzigen Bühne, kaum höher als ein Trittschemel, wartete ein leerer Instrumentenständer auf geschickte Hände.

Dampf stieg von dampfenden Eintöpfen auf, Rauch vergangener Winter klebte in den Balken, und irgendwo klirrte ein Teller gegen Holz. Eine Gruppe Seemänner stieß ein kehlig-rhythmisches "Heeee" aus, als hätten sie soeben einen Mast erfolgreich gesetzt.

Kaelira erfasste den Raum strategisch: zwei Ausgänge, die große Fensterwand zum Hafen, die Schankbank als möglicher Engpass, drei Tische voller Männer mit mehr Schwielen als Fingern, und eine Gruppe Vaelari-Mädchen, die auf den Bänken kauerten, die Füße unter sich gezogen, ihre Haare zu komplexen Knoten geflochten.

Mehrere Blicke glitten zu ihr hinüber. Manche musterten die breiten Schultern, die aufrechte Haltung einer Kriegerin. Einige nickten knapp – der knappe Respekt eines Kämpfers für seinesgleichen. Andere blickten hastig weg. Kaelira wusste, dass ihr Auftreten auffiel, selbst wenn sie Unauffälligkeit anstrebte. Mitglieder ihrer Gilde waren in Stormreach keine Seltenheit, doch sie trug jene gefährliche Ruhe derer, die den Kodex nicht nur gelernt, sondern gelebt hatten – eine Ruhe, die andere gleichermaßen beunruhigte und faszinierte.

Der Platz an der Wand rechts vom Kamin war frei. Perfekt für jemanden, der Geheimnisse sammelte wie andere Münzen.

Sie ließ sich nieder, Rücken zur Wand, Blick auf Tür und Wirt gerichtet. Die steinerne Mauer drückte gegen ihre Schulterblätter wie eine zweite Rüstung. Erst beim Sitzen merkte sie, wie sehr ihre Muskeln zerrten. Veydris steckte noch in ihren Knochen: endlose Gassen voller lauernder Schatten, eiskalte Verhandlungsräume, wo jeder Atemzug gewogen wurde, die zermürbende Anstrengung, jede Geste zu kalkulieren, weil in Veydris Bewegungen ebenso viel kosteten wie gesprochene Worte.

Nyxar – der Gedanke zuckte durch ihren Geist wie ein Dolchstich: kalt, schwer, schmerzhaft. Sie hatte geholfen, soweit Kodex und Gewissen es zuließen. Mehr nicht. Dieser Abend gehörte ihr.

"Sturmbier? Oder etwas, das die Zähne nicht angreift?" Der Wirt materialisierte neben ihrem Tisch, ein Mann mit einer Narbe, die diagonal über die Stirn lief wie eine missglückte Rune.

"Sturmbier", sagte Kaelira und erlaubte sich ein schmales Lächeln.

Er grinste zurück. "Eine Frau mit Geschmack."

Sie spürte, wie sich der Raum neu ordnete. Das derbe Lachen an den vorderen Tischen war rau, aber nicht bösartig – Hafenarbeiter also, keine Söldner auf der Suche nach Ärger. Der vielstimmige Gesang von der hinteren Ecke trug das tiefe Gewicht Vaelari-Kehlen: Seeleute in Feierabendstimmung. Zwischen den menschlichen Stimmen mischte sich ein anderer Ton: das tieffrequente Summen der Windtürme auf den Klippen, das in Stormreach bis in die Knochen drang wie uralter Frost.

Ein Vorzeichen, das jeder Einheimische deuten konnte: Sank der Ton, kippten die Strömungen und brachten Unwetter. Stieg er, lag der Seeweg offen für weitere Reisen. Kaelira zählte die Schläge fast unbewusst – ein gleichmäßiger Rhythmus, der ihre verkrampften Schultern wie warmes Öl entspannte.

Ein Teller mit salziger Fischpastete erschien vor ihr, gefolgt von einem schäumenden Krug. "Stadtrückkehrer?" fragte die Wirtin – eine Mischung aus Höflichkeit und professioneller Neugier.

"Durchreisende", antwortete Kaelira mit einem diplomatischen Lächeln. "Nur heute Nacht."

"Dann trink den Schaum zuerst und spar dir den Rest für später. Der Schaum ist hier besser als der Bodensatz."

Kaelira nickte und trank. Der erste Schluck schmeckte nach einem Versprechen: herb mit einer süßlichen Note, die auf der Zunge tanzte. Der Raum schrumpfte für sie zusammen auf die weiche Bank, den dampfenden Teller und das Stimmengewirr, das zu einer einzigen, wogenden Schicht verschmolz. Ein Seemann gestikulierte wild, demonstrierte mit ausgebreiteten Armen die Größe eines legendären Fangs. Eine ältere Frau lachte, bis ihr Tränen über die wettergegerbten Wangen liefen. Glas klirrte. Hinter der Küchentür sang jemand eine arbeitsame Melodie.

"Aufwärmen kostet nichts", sagte der Wirt und nickte zum Kamin. "Zuhören auch." Kaelira folgte seinem Blick. Ein Barde erhob sich dort – kein bunter Paradiesvogel, eher ein alter Mast, aus dem man noch einen halben Krieg hätte schlagen können: kräftige Hände, Narben auf den Knöcheln, eine Laute mit eingekerbten Runen statt Perlmutt-Intarsien. Kein Getue, kein erkünstteltes Lächeln.

Das gefiel ihr.

Am Nachbartisch hockten drei Seemänner, ihre Gesichter vom Wind gegerbt wie altes Leder, ihre Stimmen rau von salziger Luft und zu viel gebranntem Schnaps. "Wenn er noch unter uns weilte", sagte der Älteste und spuckte verächtlich auf den Boden, "gäbe es diese Bestien da draußen nicht." Seine Stimme trug die bittere Enttäuschung alter Männer, die zu viel Verfall erlebt hatten. "Die See wäre ruhig, der Himmel klar wie poliertes Glas."

Kaelira lauschte, ohne sich einzumischen. Der Name war ihr vertraut – Xarven Elyth'Ra, gefeierter Retter, Verkörperung einer Zeit, die längst zu Staub zerfallen war. In Veydris hatte man selten über ihn gesprochen – dort hielt man wenig von Heldenliedern und noch weniger von nostalgischen Träumereien. Aber hier, in Vaelarion, lebte sein Name noch immer wie der Sturmwind, der unablässig gegen die Mauern peitschte.

Der grauhaarige Mann erhob sich von der winzigen Bühne. Seine Haare waren vom Wind verfilzt, seine Stimme durchdrang selbst den dichtesten Lärm. Er trug keine prunkvollen Gewänder, sondern die wetterfeste Kleidung eines alten Seefahrers, doch an seiner Seite hing eine Fiedel, die wie frisch poliert glänzte. Als er die Hand hob, legte sich eine respektvolle Stille über den Raum wie ein plötzlicher Windstoß. Nur das Knacken des Feuers und das ferne Donnern der See blieben.

Dann geschah jenes kleine, stille Wunder, das in Tavernen eintritt, wenn eine Geschichte Atem holt: Die Pausen zwischen den Sätzen wurden länger. Löffel hielten inne. Ein trockener Akkord, einmal angeschlagen, brachte das gesamte Holzgerüst zum Mitschwingen.

Der Barde – nicht viel älter als sie selbst, mit der Art Gesicht, das in jeder Stadt zu Hause war: offen, aber schwer zu merken; freundlich, doch ohne Bedürftigkeit – strich mit dem Daumen über die Saiten seiner Laute, als teste er die Stimmung des Raumes. Seine Laute war kein Prunkstück, sondern eine Wegbegleiterin: die Wirbel blank geschliffen, die Decke fachmännisch geflickt.

"Ihr wollt wissen", begann er mit einer Stimme, die Autorität ausstrahlte, ohne zu fordern, "warum der Kreislauf noch brennt, obwohl er gebrochen wurde. Ihr wollt wissen, warum wir noch Zeit haben – und wem wir sie verdanken."

"Hört", sagte er, ohne theatralisch den Arm zu heben. "Hört zuerst."

Einen Herzschlag lang geschah gar nichts. Dann hörte man nur noch das hypnotische Summen der Türme und das rhythmische Klicken der Fensterfalle im Wind. "Gut", sagte er mit zufriedenem Nicken. "Wer den Wind nicht hört, dem kann auch nicht zugehört werden."

Vereinzeltes Lachen brandete auf, doch leise – keine Widerrede, sondern Zustimmung. Kaelira senkte die Schultern. Das war die Art Einleitung, die ihr gefiel: ohne Schnörkel, ohne falsche Demut.

Er begann die Laute zu spielen – eine sanft fließende Melodie, die er zweimal wiederholte, bevor er in eine kräftigere, einprägsamere Tonfolge wechselte.

Der erste Ton legte sich über die Schenke wie ein seidenes Tuch, und die Geschichten begannen sich zu verweben wie Seile in geschickten Händen.

"Er singt von Xarven!" rief ein Junge, dessen Stimme gefährlich nahe am Stimmbruch balancierte.

"Sei leise", tadelte eine alte Frau und drückte ihm sanft den Kopf. "Du kannst auch hören, wenn der Mund geschlossen ist."

Der Barde ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. "Man sagt", begann er – und in diesem 'Man sagt' schwang die gesamte Seele der Stadt mit – "wenn Xarven noch unter uns wandelte, gäbe es keine Monster in Ikaril."

Einige Krüge hoben sich wie in einem stummen Trinkspruch. "Das sagt man", bestätigte jemand aus dem Publikum ernst. "Man sagt auch, das Meer schuldet niemandem etwas. Und dennoch fahren wir jeden Morgen hinaus."

"Bevor der Kreislauf zerbrach", begann der Barde, während seine Finger über die Saiten glitten, "zogen die Strömungen des Himmels in Bahnen, die kein Sterblicher anzuzweifeln wagte. Keine Insel schwebte. Die Flüsse gehorchten ihren Betten wie treue Hunde ihren Herren. Und wir glaubten, dies sei das Maß aller Dinge."

Ein alter Navigator am Nebentisch schloss die Augen, als könnte er sich tatsächlich an diese mythische Zeit erinnern. Sein Sitznachbar, ein junger Händler mit sauberen Händen und naiven Augen, nickte ehrfürchtig. In Ikaril stritt man über vieles – Politik, Handel, Religion – doch nicht über Xarven.

"Manche behaupten", fuhr der Barde fort, während die Melodie dunkler wurde, "die Erben des Lichts hätten ihn gesegnet. Andere flüstern, die Stummen Stimmen hätten ihm gelehrt, wie man schweigt, ohne zu verstummen. Vielleicht war es beides. Sicher ist nur: Als der Himmel zerbarst wie Segeltuch unter Hagel, blieb Xarven stehen."

Er hielt inne. Die Saiten zitterten nach wie die letzten Atemzüge eines Sterbenden. Ein Kind hob zaghaft die Hand, wollte eine Frage stellen, doch seine Mutter zog sie behutsam herunter. Kaelira musste lächeln. In einer Welt voller Narben und zerbrochener Träume brauchten Kinder Helden, die ungebrochen leuchteten.

"Ich erzähle euch nicht, woher er stammte", sagte der Barde, "noch wer ihn lehrte, noch wie sein Schwert hieß. Ich erzähle nur, was uns alle betrifft: den Tag, an dem Xarven Zeit aus dem Sturm stahl."

"Der Tag, an dem er Ikaril rettete", hauchte ein Lehrling der Sturmakademie mit ehrfürchtiger Stimme.

Das Wort schwebte in der Luft wie Morgentau auf Spinnenfäden. Kaelira nahm einen Schluck, spürte die Wärme im Bauch und legte die Hände flach auf das abgewetzte Holz des Tisches. Der Raum war verstummt – eine gespannte Stille wie ein Segel im aufkommenden Wind.

"Es war eine Frau", setzte der Barde an, seine Stimme nun tiefer, getragen von der Schwere der Geschichte, "die den Kreislauf in ihren Händen hielt – und er hielt sie gefangen. Sie trug ein Kind unter dem Herzen und trug die ganze Welt auf ihren Schultern. Und Xarven stand ihr gegenüber."

Draußen zerrte der Wind an der Tür, als wolle er selbst der Geschichte lauschen. Die Wirtin stemmte sich kurz dagegen, dann nickte sie den Gästen zu: "Schlechter Sturm. Guter Abend für alte Geschichten."

Die Finger des Barden zupften eine tiefe, vibrierende Melodie, die mehr durch die Knochen fuhr als durch die Ohren. "Hört von jenem Tag, an dem Ikaril aufhören sollte zu existieren. Von jener Frau, die mehr forderte, als selbst der allmächtige Kreislauf geben konnte."

"Sie war nicht irgendeine dahergelaufene Närrin", begann er. "Sie stammte aus dem gleichen Blut wie Xarven, geboren aus derselben uralten Linie von Macht und Magie. Manche nennen sie die Namenlose, andere sprechen von ihr nur als die Mutter des Bruchs. Sie war hochschwanger, und dennoch wollte sie den gesamten Strom des Kreislaufs durch ihre sterblichen Adern zwingen."

Seine Stimme sank zu einem Flüstern, das dennoch jeden Winkel des Raumes erreichte. "Sie sagte: Wenn ich den Kreislauf beherrsche, beherrsche ich auch die Zukunft meines Kindes."

"Die Alten warnten sie mit verzweifelten Stimmen. Die Gelehrten schrien bis zur Heiserkeit. Selbst die Stummen Stimmen, die jahrhundertelang geschwiegen hatten, erhoben ihre Stimmen und flehten sie an abzulassen. Doch sie lauschte keiner Warnung. Denn in ihrem Herzen brannte nicht allein Gier nach Macht, sondern etwas viel Gefährlicheres: die alles verzehrende Angst einer Mutter. Die Furcht, dass ihr Kind in eine schwächere, dunklere Welt geboren würde. Die Furcht, dass niemand mehr die kosmischen Strömungen beherrschen könnte, wenn sie nicht den Mut fände, es selbst zu versuchen."

Die Saiten bebten, als würde der Kreislauf selbst in der salzigen Luft mitschwingen. Kaelira spürte, wie die Schenke jeden Ton zu schlucken schien. Niemand wagte einen Schluck, niemand rückte einen Stuhl. Nur die Geschichte atmete mit tödlicher Intensität.

"Doch wer den Kreislauf ergreift, ohne dass er den Griff gewährt, der wird zerrissen. Und so geschah das Unvermeidliche. Als sie die himmlischen Bahnen durch ihre menschlichen Adern pressen wollte, zerbrach der ewige Strom. Der Himmel zerschnitt sich wie Pergament, Inseln erhoben sich aus dem Nichts, Ströme stürzten ins Bodenlose, und Ikaril erzitterte bis in seine Grundfesten."

Seine Stimme wurde hart wie Stahl, der auf Stein trifft. "Es war der Bruch."

Ein kollektives Aufstöhnen ging durch die Zuhörer. Jeder kannte diese Bezeichnung – sie war nicht Legende, sondern der blutige Ursprung der Welt, wie sie sie kannten.

"Xarven war ihr Zwillingsbruder. Nicht älter, nicht jünger, sondern derselbe Herzschlag, aufgeteilt in zwei Körper. Wo sie den Kreislauf knechten wollte, trug er ihn wie einen Mantel, den man niemals ablegen darf."

Der Barde spielte ein schnelles, zorniges Muster – Saiten wie abgeschossene Pfeile. "Als er sie endlich fand, lag der Himmel in tausend Scherben. Strömungen, die seit Anbeginn der Zeit geflossen waren, hingen lose wie aufgetrennte Fäden in einer zerrissenen Naht. Und seine Schwester stand mittendrin, ein ungeborenes Kind in ihrem Bauch, Feuer des Wahnsinns in ihren Augen, und schrie ihren Trotz gegen das sterbende Licht."

"Zu spät, brüllte sie ihm entgegen, ihre Stimme übertönte selbst das Bersten der Realität. Zu spät, Xarven, der Kreislauf gehört mir."

Nicht für dich halte ich ihn, nicht für das verdammte Ikaril", fuhr sie fort, und ihre Worte waren schärfer als die Blitze, die aus ihren Händen zuckten. „Alles, was der Strom hergibt, gehört meinem Kind. Seine Zukunft soll größer sein als eure jämmerliche Welt, und wenn die Strömungen dafür in tausend Stücke reißen, dann sollen sie eben reißen."

Ein erschrockenes Murmeln lief durch die Menge im Wellenläufer, als der Barde diese Worte aussprach, denn darin lag nicht nur nackte Angst, sondern eine Gier, die jede Vernunft übertönte.

"Doch Xarven wusste eine Wahrheit, die sie in ihrem Wahn vergessen hatte: Der Kreislauf gehörte nicht ihr. Der Kreislauf war Ikaril."

Die Laute klang schrill und hell, als die Saiten mit brutaler Kraft nach oben gerissen wurden.

"Er trat in den apokalyptischen Sturm, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Wo andere zu Asche verbrannt wären, schloss sich der Strom um ihn wie um einen alten, vertrauten Freund. Er rief ihren Namen durch das Chaos, doch sie hörte nichts außer der wahnsinnigen Stimme in ihrem Kopf, die ihr einflüsterte, sie sei stark genug für das, was sie tat."

"Und so kämpften sie – Bruder gegen Schwester, Licht gegen Dunkelheit."

"Er führte das Schwert des Lichtes, gesegnet von den Erben, wie manche Chroniken berichten. Sie verkörperte das Herz purer Verzweiflung, verstärkt durch das Leben, das in ihr wuchs."

"Sie rief Blitze herbei, die Flüsse aus ihren uralten Betten hoben. Er hob den Schild, der den zersplitternden Himmel zu binden suchte. Sie stieß den rohen Atem des Kreislaufs aus wie flüssiges Feuer. Er hielt mit der geballten Kraft der Zeit selbst dagegen."

"Und die Welt hielt den Atem an und sah zu."

Kaelira stellte sich die Szene vor: Zwei Gestalten, durch Blut verbunden, durch Schicksal getrennt, inmitten von Energieströmen, die nie für sterbliche Augen bestimmt waren. Ein ungeborenes Leben im Bauch der einen, ein Wille aus unzerbrechlichem Stahl im Herzen des anderen.

"Er wollte sie nicht töten", sprach der Barde leiser, und seine Stimme trug nun echten Schmerz. "Doch er erkannte die grausame Wahrheit: Wenn er nichts unternahm, würde Ikaril in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus im Orkan. Und so stieß er vor – zum letzten, verzweifelten Angriff."

Die Finger glitten über die tiefsten Saiten wie die schweren Schritte eines Henkers.

"Doch er kam zu spät. Der Kreislauf war bereits unwiderruflich gebrochen. Kein Schwert, kein Schild, keine Magie der Welt konnte die klaffende Wunde schließen."

"Und so tat er das Einzige, was nur Xarven tun konnte: Er hielt den Riss mit bloßen Händen fest."

Die Stimme des Barden trug jetzt eine Ehrfurcht, die selbst die zynischsten Zyniker in der Ecke verstummen ließ.

"Mit jeder Faser seines Seins, mit jedem Tropfen Blut in seinen Adern stemmte er sich gegen den alles verschlingenden Strom. Er zwang den Riss, sich nicht weiter auszudehnen. Er warf sein gesamtes Leben in die Waagschale – nicht für Ruhm, nicht für Dankbarkeit, sondern weil es getan werden musste."

"Und der Kreislauf, der niemals gehorcht, niemals spricht, niemals vergibt – hielt inne. Für einen einzigen, kostbaren Moment hielt er inne."

Ein kollektives Keuchen ging durch die Zuhörer. Manche schlossen die Augen, andere ballten unbewusst die Fäuste, als könnten sie die übernatürliche Kraft in ihren eigenen Armen spüren.

"Er konnte den Kreislauf nicht heilen", fuhr der Barde fort. "Doch er erkaufte uns Zeit mit seinem Leben. Zeit, die sonst niemand auf der Welt gegeben hätte. Zeit für uns alle, zu überleben."

"Und in dieser geschenkten Zeit fand Ikaril ein neues, zerbrechliches Gleichgewicht. Inseln, die nicht stürzen, sondern in den Wolken schweben. Ströme, die nicht enden, sondern sich teilen und neue Wege finden. Narben, die uns täglich daran erinnern, dass wir einst am Abgrund standen."

Die Laute verstummte für einen endlosen Atemzug. Nur das Knacken des Ofens war zu hören und das ferne Heulen des Windes.

"Und so versank Xarven nicht in den Tod wie gewöhnliche Sterbliche, sondern in den Strom selbst. Manche behaupten, er ist dort noch immer, hält den Riss mit seinen blutenden Händen verschlossen, damit er sich nicht weiter öffnet. Andere glauben, er wurde zu reinem Licht, das uns begleitet, wenn wir die Geste des gebrochenen Kreises zeichnen."

"Doch über eines sind sich alle einig: Ohne Xarvens Opfer gäbe es kein Ikaril mehr."

Die Zuhörer verharrten in absoluter Stille. Dann, einer nach dem anderen, berührten sie ehrfürchtig die Stirn und zeichneten den gebrochenen Kreis in die Luft. Selbst die vermummten Gestalten mit den tiefen Kapuzen taten es – ob aus echtem Glauben oder bloßer Gewohnheit, konnte niemand sagen.

"Und so endet diese Ballade nicht mit glorreichem Sieg, nicht mit einem Ende, sondern mit der kostbarsten Gabe, die uns je geschenkt wurde: Zeit. Zeit zu leben, zu lieben, zu kämpfen. Zeit, die mit dem Blut eines Helden erkauft wurde."

Er ließ die letzten Töne verklingen, bis sie sich im salzgetränkten Holz der Wände verloren.

Kaelira atmete tief aus. Sie hatte vieles in ihrem Leben gehört – Lügen, die wie Wahrheiten klangen, Schwüre, die gebrochen wurden, bevor die Tinte trocken war, Geständnisse, die im Blut ertränkt wurden. Doch die Ballade von Xarven hatte einen anderen, reineren Klang. Er war kein unnahbarer Gott, kein tyrannischer König, kein fanatischer Prophet gewesen. Er war ein Mensch, der aufstand, als alle anderen fielen.

Sie beobachtete, wie ein alter Navigator leise weinte, wie ein Kind die Hand seiner Mutter fester hielt, wie ein Händler ehrfürchtig den Kopf neigte. Stormreach lebte von Handel, von Schiffen, von Wind – und von Geschichten wie dieser. Ohne sie wäre die Stadt nur ein Haufen Stein und Salz, ohne Seele, ohne Hoffnung.

Die Worte des Barden hingen schwer in der Luft wie Rauch, der nicht weichen wollte. Einen Herzschlag lang schien selbst der Sturm draußen seine unerbittlichen Angriffe auf die Fensterläden eingestellt zu haben. Dann aber, fast schüchtern, begann ein junger Matrose mit seinem Becher gegen das Holz zu klopfen – ein langsamer, respektvoller Rhythmus. Ein zweiter folgte, ein dritter, bis die Tische wie ein kollektives Herz zu pulsieren schienen.

"Für Xarven!" rief jemand mit rauer Stimme, und ein halbes Dutzend Kehlen erwiderte es wie einen Schlachtruf. Doch sofort erhob sich ein älterer Seemann mit grauen Zöpfen und schüttelte entschieden den Kopf.

"Für Xarven, ja... aber vergesst niemals: Ein Mann allein hält kein Tau bei schwerem Wetter. Seine Schwester wollte es auch gut – und seht, zu welchem Verhängnis es führte."

Einige Kinder kicherten nervös bei der Erwähnung der Namenlosen, als würde ihr bloßer Name Unglück heraufbeschwören.

Die Stille nach diesen Worten glich jener nach einer besonders hohen Welle, wenn das Wasser sich neu sortieren muss. Dann klirrte irgendwo ein Löffel gegen Keramik, jemand atmete hörbar auf, und die Gespräche sprangen wie Funken eines neu entfachten Feuers zurück in den Raum. Das Kind am Fenster bat um ein zweites Stück Honigfladen; der alte Navigator wischte sich mit seinem vernarbten Handrücken über die feuchten Augen.

"Er hält noch immer, sagen die Leute", murmelte die Wirtin neben Kaelira, ohne den Blick vom Barden zu nehmen, der seine Laute sorgfältig stimmte. "Nicht tot, nicht fortgegangen. Haltend."

"Wenn er losließe", antwortete Kaelira leise, "würden wir es alle spüren. Sofort."

"Jeder hier würde es spüren", bestätigte die Wirtin und legte eine Hand flach auf die Tischplatte, als könne sie darunter den Herzschlag der gesamten Stadt ertasten.

Auf der Bank gegenüber lehnte ein Seemann mit zerkratzten Handrücken, die unzählige Geschichten von Tauwerk und Sturm erzählten. Er schob seinen halbvollen Becher beiseite. "Ich sage euch eines: Wenn Xarven jemals zurückkehrte, würden die schwebenden Inseln endlich landen, wo sie hingehören. Alles wieder am richtigen Platz, wie es sich gehört."

Ein junger Mann mit makellos sauberem Mantel – zweifellos aus der Akademie, wo sie Theorien über die Praxis stellten – schüttelte energisch den Kopf. "Sie gehören jetzt dorthin, wo sie sind. Der Kreislauf hat neue Bahnen gefunden, neue Wege erschlossen. Xarven hat uns Zeit gegeben, diese Veränderungen zu verstehen und zu meistern – nicht, um die Welt wieder an den Boden zu nageln wie einen alten Teppich."

"Pah, verstehen." Der Seemann kniff spöttisch ein Auge zu. "Für manche bedeutet verstehen dasselbe wie Gebühren verlangen, damit andere passieren dürfen."

Vernehmliches Grinsen wanderte zu den Tischen, wo Händler des Goldenen Fadens so taten, als hörten sie nichts von diesem nicht gerade subtilen Seitenhieb.

Ein grauhaariger Mann, dessen Rücken noch immer die unverkennbare Haltung eines alten Soldaten zeigte, stellte seinen Becher mit einem entschiedenen Klirren ab. "Ich war an der Schlucht von Vael dabei, als die erste Insel aus dem Nichts auftauchte", sagte er in die Runde, seine Stimme trug die Autorität des Augenzeugen. "Sie kam aus dem Nichts. Zuerst nur ein Schatten am Himmel. Dann ein Brummen, das dir die Zähne zum Vibrieren brachte und die Knochen erzittern ließ. Und plötzlich fiel die Sonne anders, weil da oben etwas war, das die Luft selbst gefangen hielt."

Seine Stimme wurde leiser, ehrfürchtiger. "Wir warfen uns alle zu Boden. Der Mann neben mir betete zum ersten Mal in seinem Leben, obwohl er sonst über die Götter spottete. Und wir standen wieder auf, weil das verdammte Ding nicht herunterfiel. Das ist Xarvens Werk. Ich habe damals geschworen, es niemals zu vergessen."

"Niemand hier vergisst", sagte die Wirtin mit der schlichten Gewissheit einer Frau, die ihr Leben lang Geschichten gehört hatte. "Wir verkaufen Sturmbier und erzählen seine Geschichte. Das muss reichen."

"Reicht es wirklich?" fragte eine Frau vom Nachbartisch scharf – die Tinte an ihren Fingern verriet die Gelehrte, die zu viele Bücher gelesen und zu wenige Stürme erlebt hatte. "Wir haben neue Seekarten, unbekannte Strömungen, völlig veränderte Handelswege. Wir haben aber auch neue Risse im Gefüge der Realität. Der Kreislauf ist nicht mehr glatt und vorhersagbar. Er ist... scharfkantig geworden. Gefährlich."

"Glatt war er vorher auch nicht", entgegnete der Akademie-Lehrling, fast zu hastig, als müsse er eine Prüfungsfrage beantworten. "Nur... anders gefährlich. Xarven hat verhindert, dass alles in sich zusammenbricht. Dass wir alle enden. Mit Kanten kann man lernen umzugehen, wenn man klug ist."

"Das sagt sich leicht für jemanden mit warmen Händen und vollem Bauch", brummte der Seemann misstrauisch.

"Streitet euch nicht über das Geschenk, das wir alle erhalten haben", mischte sich der Barde diplomatisch ein, während er eine Saite nachjustierte. "Ohne ihn würden wir hier nicht sitzen und uns über irgendetwas Gedanken machen."

Zustimmendes Gemurmel erhob sich – halb peinlich berührt über die Streiterei, halb dankbar für die einfache Wahrheit. Kaelira trank einen langen, bedächtigen Schluck; das Sturmbier lag warm und beruhigend im Magen.

Aus der Ecke der Kapuzengestalten hob einer langsam den Kopf. Nur ein glatt rasiertes Kinn war zu erkennen, aber die Mundwinkel verrieten eine Härte, die nicht von ehrlicher Arbeit stammte. "Xarven hat den kosmischen Riss gehalten", sagte er mit ruhiger, fast freundlicher Stimme. "Andere halten heute die Handelswege offen. Manche Narren nennen uns dafür Diebe und Wegelagerer. Andere, Klügere, nennen uns Wegweiser."

Sein Blick wanderte durch den Raum, verweilte bei niemandem zu lange. "Namen sind wie Wind – sie kommen und gehen. Wege sind Wege."

Jemand murmelte "Schattenkarawane" zwischen zusammengepressten Zähnen, ohne das Wort ganz auszusprechen. Der Mann schien es nicht zu hören – oder ignorierte es gekonnt.

"Wege sind Wege", wiederholte die Tintenfrau nachdenklich, als schmecke sie den Satz auf der Zunge. "Und Gebühren sind trotzdem Gebühren."

Die Wirtin klatschte einmal entschieden in die Hände – nicht hart, nur verbindend wie ein Richter, der Ordnung schafft. "Sollen wir über schnöde Gebühren diskutieren, wenn die Leute noch Xarvens Heldentat im Ohr haben? Nicht heute Abend. Heute trinken wir darauf, dass wir morgen noch hier sein werden, um zu streiten."

Becher wurden in die Höhe gereckt wie Waffen. "Auf Xarven."

"Auf die geschenkte Zeit", ergänzte der alte Soldat mit bewegter Stimme.

Kaelira hob ebenfalls ihren Becher. Als sie trank, sah sie das Kind vom Fenster, das nun eifrig die Geste des gebrochenen Kreises übte und dabei jedes Mal zu früh die Finger öffnete. Die Mutter lachte liebevoll und korrigierte mit geduldigen Bewegungen. Überall im Raum kleine, intime Rituale: ein Finger, der dreimal gegen den Becherrand tippte, eine Hand, die kurz den Brustknochen berührte, ein Blick zur Decke, als säße dort jemand Unsichtbares und nickte zurück.

"Sagt mir", begann die Tintenfrau mit der Neugier einer Forscherin, "wenn Xarven wirklich in den Strom versank – wo ist er dann? Als Licht? Als... Kraft, die hält?"

"Im Kreislauf, wo denn sonst", sagte der Lehrling mit dem belehrenden Tonfall derer, die Formeln auswendig gelernt haben. "Wir nennen es Persistenz eines metaphysischen Ankers. In den Diagrammen der Akademie –"

"Diagramme", unterbrach ihn der Seemann verächtlich. "Ich nenne es anders: Wenn die Nacht zu plötzlich still wird und meine Nerven flimmern, spreche ich seinen Namen aus, und sie beruhigt sich wieder."

Ein wissender Austausch von Blicken wanderte durch die Reihen. Der Soldat legte nachdenklich den Kopf schief. "Bei uns in der Garnison hieß es: Wer vor dem Schlafengehen seinen Schild am Fenstersims dreht, schläft ohne Sturzträume. Mag Aberglaube sein. Funktioniert hat es trotzdem."

"Aberglaube oder nicht", brummte die Wirtin und nickte zu einem glasigen Stein an der Wand, "wir haben den Rissstein nicht ohne guten Grund dort hängen. Seit er da ist, hat uns kein Sturm das Dach weggerissen. Das Haus zwei Straßen weiter – dreimal in sechs Jahren."

"Man könnte meinen, der Stein hält tatsächlich das Dach", spottete einer der Händler vom Goldenen Faden halblaut.

"Man könnte auch meinen, manche Schulden begleichen sich von selbst", gab die Wirtin prompt zurück. Ehrliches Lachen brandete auf, breit und befreiend. Selbst der Händler grinste.

"Ich frage mich oft", sagte die Tintenfrau leiser und fuhr über die Tischkante, als wäre sie eine Zeile Text, "ob die Mutter des Bruchs am Ende begriff, was sie angerichtet hatte."

"Sie verstand nur, was sie wollte", meinte der Seemann bitter. "Und jeder, der gegen den Strom schwimmt, wird am Ende nass."

"Was ist mit dem Kind?" fragte das Mädchen vom Fenster plötzlich, sehr ernst und mit der direkten Art von Kindern, die noch keine Scheu vor schwierigen Fragen haben. Die Mutter wollte abwinken, doch der Barde nickte ihr aufmunternd zu. "Eine sehr gute Frage, kleine Dame."

Ein respektvoller Raum entstand – nicht Stille, eher ein Platz, den alle instinktiv frei ließen für wichtige Gedanken. Der Barde legte die Laute behutsam in den Schoß. "Kinder sind auch Teil des Kreislaufs", sagte er schließlich mit der Weisheit eines Mannes, der viele Geschichten kannte. "Sie kommen zur Welt, weil das Leben selbst weiter will. Xarven hat nicht nur uns Zeit geschenkt. Vielleicht auch diesem ungeborenen Kind. Ob Junge oder Mädchen." Er hob die Schultern. "Wer kann das schon zählen oder messen?"

Das Mädchen dachte intensiv darüber nach, als sei es ein Rätsel mit einer eindeutigen Lösung. "Dann... hat Xarven es gerettet, ohne es zu kennen?"

"Wenn man Ikaril rettet", sagte der alte Soldat mit der Gewissheit des Erfahrenen, "rettet man immer auch jemanden ganz Bestimmten, den man nie sehen wird."

Kaelira spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Manchmal war Heldentum nur ein anderes Wort für jemand hält aus, bis es reicht. Es gab dunkle Tage, an denen sie die Welt lieber ohne solche schweren Worte gehabt hätte. Heute war keiner davon.

Der Lehrling der Sturmakademie kramte in seiner Manteltasche und zog etwas hervor: einen dünnen, verschrammten Ankerknoten aus Messing, wie ihn Novizen als Glücksbringer und Erinnerung trugen. Er legte ihn vorsichtig auf den Tisch. "Wir messen täglich die neuen Energiebahnen", sagte er mit jugendlicher Begeisterung. "Die Türme, die Hüter des Atems, reagieren noch immer. Manchmal singen sie sogar. Ich bin überzeugt, das ist die Stelle, an der Xarven..." Er tippte ehrfürchtig gegen den Knoten. "...hält. Nicht immer gleich stark oder laut. Aber für die, die wirklich hören wollen, ist es da."

"Ich höre es im Mast meines Schiffs", meinte der Seemann nachdenklich. "Wenn er ächzt wie eine alte Geige, aber trotzdem nicht bricht, danke ich ihm." Er hob den Becher in Richtung des Fensters, als sei dort draußen sein Schiff.

"Ich höre es nachts", sagte die Wirtin, "wenn die ganze Stadt für einen Moment völlig leise wird. Dann weiß ich sicher, sie wird wieder laut. Das ist mein Beweis dafür, dass jemand aufpasst."

Die Kapuzengestalt in der Ecke rieb nachdenklich die Fingerkuppen aneinander, als prüfe sie deren Rauheit für kommende Arbeiten. "Ich höre es in Preisverhandlungen", murmelte er trocken. "Wenn jemand glaubt, er könnte Zeit kaufen wie Fleisch oder Getreide. Dann sage ich ihm: Zeit ist bereits bezahlt worden. Mit Blut."

Überraschtes Lachen erhob sich, das schnell in Respekt umschlug.

Der Barde spannte erneut die Saiten – ein Ton, der eher kreisförmig als gerade klang, wie Wasser, das sich in einem ruhigen Becken bewegt. "Man hat mich einmal gefragt, warum wir immer wieder dieselbe Ballade singen, Jahrhundert für Jahrhundert. Ich habe geantwortet: Weil wir uns sonst einreden würden, wir wären ganz allein gewesen in der Dunkelheit. Aber das waren wir nicht. Jemand hat für uns alle gehalten."

"Und hält noch immer", fügte die Tintenfrau hinzu, diesmal ohne Frage in der Stimme.

"Und hält noch", wiederholte der Raum wie einen heiligen Schwur.

Eine Weile glitten die Gespräche in ruhigere, vertrautere Bahnen. Geschichten tauchten auf wie Treibgut nach einem Sturm: ein Onkel, der in einer Nacht des Scherwinds mit einem einzigen Seil drei Boote vor dem Untergang gerettet hatte; eine Großmutter, die am Zittern der Öllampen erkannte, wenn eine schwebende Insel ihren Kurs wechselte; eine Händlerin, die beharrlich schwor, die Erben des Lichts hätten in einem dunklen Seitengässchen eine Laterne entzündet, heller als der Mittag und wärmer als Liebe.

Niemand stritt um absolute Wahrheiten. Man ließ sie stehen wie zum Trocknen aufgehängte Netze: Mögen sie morgen nützlich sein.

Kaelira stand schließlich auf, um ihre steifen Beine zu strecken. Durch die beschlagenen Scheiben sah sie, wie die Blitze am Horizont kleiner und seltener wurden, als zögen sie sich in die Taschen eines fernen, müden Riesen zurück. Der Wind pfiff gedämpfter an den Türfugen. Irgendwo im Hof lachte jemand – rau, glücklich, lebendig.

Als sie sich wieder setzte, hatte die Wirtin bereits eine kleine Schale Früchte nachgelegt und ein Stück gesalzene Silberhecht-Haut, knusprig gebraten, als sei es für diesen genauen Moment erfunden worden.

"Geht aufs Haus", sagte die Wirtin knapp.

Kaelira hob zwei Finger zum Gruß. "Auf Xarven."

"Auf die geschenkte Zeit", sagte die Wirtin.

Die Laute setzte noch einmal an – diesmal nicht für eine große Ballade, sondern für die Art sanfter Melodie, zu der Gespräche reifen wie guter Wein. Der alte Soldat beugte sich zum jungen Lehrling hinüber, erklärte ihm leise, wie man mit wenigen, gut gewählten Worten eine nervöse Patrouille beruhigt. Der Seemann erzählte dem neugierigen Kind, wie man Knoten löst, die andere für unlösbar halten. Die Kapuzengestalt bestellte diskret die nächste Runde für seinen Tisch, bezahlte ohne zu feilschen oder den Preis anzuzweifeln. Die Tintenfrau schrieb mit dem Fingernagel still ein Wort in die feuchte Tischplatte: Halten.

Als der Abend tiefer und gemütlicher wurde, stellte der Barde seine getreue Laute in den Ständer und stieg von der kleinen Bühne herab. Menschen klopften ihm flüchtig, aber herzlich auf die Schulter, als sei er ein zuverlässiger Bote gewesen, der wichtige Nachrichten aus sicherer Hand gebracht hatte. Kaelira fing seinen müden Blick auf, und er nickte ihr zu – ein schmaler, erschöpfter Gruß unter Menschen, die wissen, dass manche Lasten nicht leichter werden, nur weil man sie mit anderen teilt.

"Danke", sagte sie, ohne aufzustehen.

"Nicht mir", antwortete er mit einem matten Lächeln. "Dem, der hält, gehört der Dank."

Kaelira lächelte zurück. "Dann hat er heute viel Dankbarkeit gehört."

"Heute und morgen", sagte der Barde, während er seinen Mantel nahm, "und so lange, bis wir ihn nicht mehr brauchen."

"Wir werden ihn immer brauchen", mischte sich die Wirtin mit der Selbstverständlichkeit einer Frau ein, die manche Wahrheiten nur gelegentlich laut aussprechen muss.

"Dann", sagte der Barde und ging zur Tür, "singen wir eben weiter."

Er verschwand in die stürmische Nacht, und der Wind rückte kurz am Riegel, als wolle er höflich Platz machen. Hinter ihm schloss sich der vertraute Lärm wieder, doch etwas Unsichtbares blieb: das warme Gefühl, dass irgendwo, für immer unsichtbar, eine starke Hand in einem kosmischen Riss lag und niemals loslassen würde.

Stormreach atmete tief durch. Der Wellenläufer summte zufrieden vor sich hin.

Kaelira legte die Finger an Daumen und Zeigefinger, formte den gebrochenen Kreis, hielt ihn einen Atemzug länger geschlossen, als der Brauch es verlangte – und öffnete ihn dann mit einer Dankbarkeit, die sie selbst überraschte.

Die Gespräche setzten sich fort wie Ströme, die ihren Weg seit Jahrhunderten kennen.

Draußen hatte der Regen endlich nachgelassen. Die Pfützen trugen das flackernde Licht der Hafenlaternen wie flache, goldene Monde auf ihrer Oberfläche, und irgendwo hinter den Docks schlug ein loses Tau im hypnotischen Takt des schwächer werdenden Windes. Kaelira blieb unter dem verwitterten Schild des Wellenläufers stehen und lauschte aufmerksam: Das ferne Summen der Hüter des Atems lag heute eine kaum merkliche Spur tiefer – kein bedrohlicher Laut, eher ein sanfter Hinweis, als zöge der Kreislauf behutsam eine neue, hoffnungsvolle Bahn.

Ein Botenjunge huschte die enge Gasse herauf, die Kapuze zu groß für seinen schmalen Kopf, die Schritte zu hastig für die glitschigen Steine. Er wäre an ihr vorbeigeschossen wie ein aufgescheuchtes Tier, hätte der Wind ihn nicht zur Seite gedrückt. "Verzeiht..." Er hielt verwirrt inne, fand keine passende Anrede für eine Frau wie sie und ließ es klugerweise bleiben. "Mir wurde aufgetragen, dies der Frau zu geben, die den Riss am längsten und aufmerksamen ansieht."

Er reichte ihr ein kleines, ölverschmiertes Päckchen und war bereits wieder in der Dunkelheit verschwunden, als hätte der Sturm persönlich nach ihm gegriffen.

Unter dem schwachen Schein einer Laterne wickelte Kaelira es aus. Innen lag eine Messingnadel, kunstvoll gebogen zu einem Ankerknoten, alt und von unzähligen Händen glatt poliert. Unter der Nadel fand sie einen schmalen Streifen Papier, die Schrift ruhig und ohne erkennbare Hast:

Jemand hält. Halte du auch weiter.

Kein Siegel. Kein Name. Kein Hinweis auf den Absender. Nur das vertraute Klicken einer fernen Fensterfalle im Rücken, als wolle der Wellenläufer die geheimnisvollen Zeilen mitlesen. Kaelira steckte die Nadel sorgfältig ein, blickte hinüber zum Hafen, wo die Masten wie dunkle Zeiger gegen den aufklarenden Himmel standen, und nickte langsam in die Nacht, als gäbe sie eine Antwort auf eine ungestellte Frage.

"Bis morgen", sagte sie zu Stormreach, und die Stadt atmete im beruhigenden Takt der Türme.

 

Chapter 21: Lern' oder brenn': Die Norak'el-Lektion

Chapter Text

Datum: 14. Ignatis ( 333n.K )
Ort: Pyrelis auf dem Kontinent Ignirion
Figuren: Serika Mirathen & Norak'el Velkaran.

 

 

Pyrelis pulsierte an diesem Abend wie das schlagende Herz eines Vulkans. Fackeln züngelten an jeder Straßenecke, ihre Flammen warfen tanzende Schatten auf die vulkanischen Steinmauern. Trommelschläge dröhnten durch die schwüle Luft, ein Rhythmus so tief und mächtig, dass Serika ihn in ihren Rippen spürte. Die Hitze umhüllte sie wie warmes Wasser, zunächst bedrängend, dann überraschend beruhigend - als würde die Stadt selbst sie willkommen heißen.

Serika Mirathen war zum ersten Mal hier, eine Pilgerin aus dem kühlen Thal'vareth, wo stille Bibliotheken voller alter Runen in ewigem Schweigen ruhten. Doch Ignirion griff ihre Sinne ohne Gnade an. Rauch von geröstetem Fleisch mischte sich mit dem süßen Duft von Gewürzen und dem erdigen Aroma von Lavabrot, das in heißen Steinöfen knisterte. Jeder Atemzug schien sie lebendiger zu machen, als würde das Feuer der Stadt in ihre Adern fließen.

Die Menge drängte sich vor der Schmiedebühne zusammen, Körper an Körper, alle Gesichter dem gleichen Schauspiel zugewandt. Serika kämpfte sich durch das Gedränge, bis sie endlich sehen konnte, was die Menschen so fesselte.

Dort stand er. Norak'el Velkaran. Ein Mann, als hätte Ignirion selbst ihn aus Feuer und Eisen geschmiedet: Schultern breit wie ein Amboss, dunkles Haar straff zurückgebunden, jede Bewegung fließend und kraftvoll. Wenn sein Hammer auf glühendes Metall traf, explodierten Funken wie gefallene Sterne, und die Menge brüllte vor Begeisterung. Sein Lächeln war mühelos, strahlend, magnetisch - der Ausdruck eines Mannes, der wusste, dass ihm die Welt zu Füßen lag.

Serika starrte ihn an, völlig gebannt von diesem Schauspiel roher Kraft und Eleganz. So vertieft war sie, dass sie den Ellbogen nicht bemerkte, der sich in ihre Rippen bohrte. Ihr Becher entglitt ihren Fingern.

Eine kräftige Hand fing ihn auf, bevor er den Boden berühren konnte.

„Vorsicht, kleine Flamme", säuselte eine tiefe Stimme, warm wie geschmolzenes Gold. „So guten Glutwein verschwendet man nicht."

Serika hob den Blick - und sah direkt in die Augen von Norak'el Velkaran. Sie waren braun wie poliertes Mahagoni, mit goldenen Splittern, die im Fackellicht funkelten. Ihr Mund wurde trocken.

„Oh... danke", stammelte sie, ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren.

Er reichte ihr den Becher zurück, seine Finger streiften ihre - warm, ein wenig rau von der Arbeit, überraschend sanft. „Du bist nicht von hier, stimmt's? Deine Haut ist zu blass für unsere Sonne."

„Ich bin Serika, aus Thal'vareth", antwortete sie, noch immer atemlos.

„Thal'vareth!" Er lachte, ein Klang wie knisterndes Feuer. „Die Stadt der ewigen Bücher. Dann bist du gebildet. Dort gibt es mehr Pergamente als Bäume." Seine Augen musterten sie mit unverhohlener Neugier. „Bist du Gelehrte?"

Sie nickte zögernd. „Ich sollte bald an der Runen-Akademie lehren."

„Ah, das erklärt deinen Blick." Er trat einen Schritt näher, nah genug, dass sie das Eisen und den Schweiß an ihm riechen konnte. „Du siehst die Dinge, als hätten sie Geheimnisse. Als könntest du in ihre Seele blicken. Gefährlich für Männer wie mich."

„Gefährlich?" Ein Lachen entwich ihr, leicht und überrascht.

„Wir leben von starken Armen und heißem Blut", erklärte er mit einem schiefen Grinsen. „Aber kluge Worte? Die können tiefer schneiden als jede Klinge."

Das Kompliment ließ ihr Herz flattern. Niemand hatte je ihre Intelligenz als etwas Verführerisches beschrieben. In Thal'vareth war sie die ernste Studentin gewesen, respektiert, aber nie begehrt.

„Und was führt eine Runenmeisterin zur Flammenprüfung?" fragte er weiter. „Das ist nichts für schwache Nerven."

„Ich wollte sie einmal erleben", gestand sie ehrlich. „Auch wenn ich das Klima kaum gewöhnt bin. Es ist, als würde man in zu heißes Badewasser steigen - zuerst unmöglich, dann will man nie wieder raus."

Sein Lachen war so ansteckend, dass sie selbst lächeln musste. „Genau so ist Ignirion. Zu viel für den ersten Geschmack, dann süchtig für den Rest des Lebens."

„Und du?" wagte sie zu fragen. „Was bedeutet dir dieses Fest?"

Sein Ausdruck wurde ernster, fast ehrfürchtig. „Alles. Es ist das schlagende Herz dieser Stadt. Hier zeigt jeder, was er wert ist - Schmiede, Krieger, Händler. Heute vergessen wir Kriege und Geschäfte. Heute macht das Feuer uns alle gleich."

Er nahm ihren Becher, kostete einen Schluck und verzog leicht das Gesicht. „Zu süß. Hast du schon echten Glutwein probiert?"

„Noch nicht."

Mit einer fließenden Bewegung winkte er einem Händler, tauschte Münzen gegen zwei kleine Becher und reichte ihr einen. „Vorsicht - erst süß, dann brennt er wie die Hölle. Aber er wärmt von innen."

Sie nippte daran und verzog das Gesicht, bevor sie lachen musste. „Bei allen Runen, der brennt wirklich!"

„Aber er macht mutig", erwiderte er und hob seinen Becher. „Auf die Flamme, die dich zu mir geführt hat Serika."

Der Klang ihres Namens in seiner Stimme ließ sie erschauern. Sie stießen an, und für einen Herzschlag existierte nur die Hitze zwischen ihnen.

Die Trommeln wurden lauter, drängender. Die Menge schob sich dichter zur Bühne, Körper pressten sich aneinander. Serika, kleiner als die meisten, sah nur noch Rücken und Schultern.

„Warte", sagte Norak'el.

Bevor sie protestieren konnte, legte er die Hände um ihre Taille und hob sie mühelos hoch, als wäre sie aus Federn gemacht. Sie keuchte überrascht auf, dann lachte sie, als sie plötzlich über alle Köpfe hinwegsehen konnte. Der Funkenregen über dem Amboss, die tobende Menge, das goldene Glühen der gesamten Stadt - alles lag ihr zu Füßen.

„Besser?" fragte er, sein Atem warm an ihrem Ohr.

„Viel besser", hauchte sie. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie sicher war, er musste es hören.

Als die Funken wie Sternschnuppen über ihnen tanzten, wusste Serika mit kristallklarer Gewissheit: Sie war verloren. Hoffnungslos, rettungslos verliebt.

Die Menge tobte noch immer, als Norak'el sie sanft auf die Füße stellte. Ihre Knie fühlten sich weich an wie warmes Wachs, doch seine Hand an ihrem Rücken hielt sie aufrecht.

„Du hast Augen wie jemand, der die Welt verschlingen will", sagte er mit einem Lächeln, das ihr den Atem raubte, „aber nicht immer den besten Platz bekommt. Das sollten wir ändern."

Er bot ihr seinen Arm an - nicht fordernd, sondern wie die selbstverständlichste Einladung der Welt. Als sie zögernd ihre Hand hineinlegte, spürte sie die Wärme seiner Haut durch den Stoff, die Kraft der Muskeln darunter.

Er führte sie durch das Gedränge mit einer Eleganz, die beeindruckend war. Die Menschen wichen ihm nicht nur aus, sie grüßten ihn, klopften ihm auf die Schulter, riefen seinen Namen. Norak'el erwiderte jeden Gruß, lächelte, lachte - und doch hatte Serika das Gefühl, seine ganze Aufmerksamkeit gehörte nur ihr.

„Das musst du probieren", sagte er, als sie an einem Stand mit dampfenden Spießen vorbeikamen. Fleisch und rote Schoten brutzelten über glühenden Lavasteinen, das Fett zischte und knisterte. „Feuerzunge. Scharf genug, um Tote zu wecken."

Sie biss vorsichtig ab - und Tränen schossen ihr sofort in die Augen. „Bei allen Göttern! Das ist flüssige Lava!"

Norak'el lachte und reichte ihr schnell ihren Becher. „Hier, Glutwein hilft. Und jetzt noch einen Biss - diesmal schmeckst du die Süße dahinter."

Zögernd probierte sie erneut. Tatsächlich - hinter der Feuerwand kam eine überraschende Fruchtigkeit zum Vorschein, komplex und köstlich.

„Du hattest recht", keuchte sie.

„Natürlich", neckte er. „Ich bin Schmied. Ich verstehe mich auf Feuer in all seinen Formen."

Später brachte er sie zu einem Stand mit dunklen, flachen Broten, die in Dampfbecken weich wurden. „Lavabrot. Nur warm ist es perfekt." Er brach ein Stück ab, tunkte es in eine Schale mit rötlicher Paste und hielt es ihr hin. „Vertrau mir."

Der würzige Geschmack explodierte auf ihrer Zunge - komplex, kräftig, mit einer Wärme, die sich in ihrer Brust ausbreitete.

„Ignirion will nicht, dass du satt wirst", erklärte Norak'el, während er sie beobachtete. „Es will, dass du glücklich wirst."

Sie sah ihn an, spürte das Gewicht seiner Worte. „Und du? Willst du auch, dass ich glücklich werde?"

Seine Augen wurden intensiv, bohrten sich in ihre. „Nichts anderes."

Ihre Wangen brannten heißer als das Lavabrot.

Neue Trommelrhythmen setzten ein, schneller, wilder. Paare strömten auf den Platz, griffen nach den Händen des anderen. Norak'el verbeugte sich leicht vor ihr.

„Darf ich?"

„Ich bin keine gute Tänzerin", gestand sie.

„Dann lass mich führen."

Seine Hand fand ihre Taille, zog sie in den Kreis der Tanzenden. Er bewegte sich mit einer Eleganz, die einem Schmied niemand zugetraut hätte - fließend, sicher, seine Führung so klar, dass sie nichts tun musste außer sich fallen zu lassen. Er wirbelte sie durch die Luft, fing sie auf, ließ sie fliegen.

„Du machst das absichtlich", keuchte sie, als er sie in einer komplexen Drehung auffing.

„Natürlich. Ich wollte dich lachen hören."

Das Kribbeln in ihrer Brust wurde zu einem lodernden Feuer, als er sie enger zog, nur für einen Herzschlag, bevor er sie wieder weit ausschwingen ließ. Die Trommeln, das Johlen der Menge, das Funkeln der Fackeln - alles verschmolz zu einem goldenen Rausch, in dessen Zentrum nur er existierte.

Als das Lied endete, hielt er sie einen Moment im Arm, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt.

„Siehst du, du bist besser, als du denkst", flüsterte er.

Tränen brannten in ihren Augen - nicht vor Traurigkeit, sondern weil es zu schön war, um wahr zu sein.

„Norak'el..." begann sie.

Er legte sanft den Finger an ihre Lippen. „Nicht jetzt. Heute Nacht musst du nur fühlen."

Als das nächste Feuerwerk den Himmel über Ignirion in Gold tauchte, wusste Serika Mirathen mit erschreckender Klarheit: Ihr Herz gehörte nicht mehr ihr.

Nach dem Tanz führte Norak'el sie von der tobenden Menge fort, durch eine schmale Gasse, wo die Fackeln kleiner waren und die Stimmen nur noch als fernes Murmeln klangen. Hier war die Wärme sanfter, wie ein seidener Mantel um ihre Schultern.

„Manchmal", sagte er, während sie nebeneinander gingen, ihre Schritte im Gleichklang, „ist das Schönste am Fest nicht das Feuer selbst, sondern die Stille zwischen den Flammen."

Serika nickte, spürte die Wahrheit seiner Worte. „Es fühlt sich an, als würde die Stadt noch immer atmen, aber leiser. Wie nach einem tiefen Seufzer."

Er blieb stehen, sah sie von der Seite an. „Und du? Atmest du leichter hier oder in Thal'vareth?"

Die Frage traf sie unerwartet tief. „Thal'vareth ist vertraut. Geordnet wie ein Runenkreis. Aber hier..." Sie suchte nach den richtigen Worten. „Hier fühle ich mich lebendiger. Als würde mein Blut zum ersten Mal richtig fließen."

„Weil Ignirion dich sieht", sagte er schlicht. „Weil ich dich sehe."

Ihre Schritte stockten. Die Intensität in seiner Stimme ließ ihr Herz rasen.

„Du bist sehr geschickt mit Worten", flüsterte sie.

Er trat näher, bis ihre Schultern sich fast berührten. „Weil du es verdienst, dass jemand die richtigen für dich findet."

Die Luft zwischen ihnen knisterte wie vor einem Sturm. Er hob die Hand, strich eine lose Strähne aus ihrem Gesicht, seine Finger verweilten sanft an ihrer Wange.

„Bleib heute länger", bat er, seine Stimme rau vor Gefühl. „Ignirion hat mehr Geheimnisse, als eine Nacht preisgeben kann."

Serika wusste, dass sie längst entschieden hatte. Ihre Vernunft mochte protestieren, aber ihr Herz hatte bereits kapituliert.

Die Wochen, die folgten, vergingen wie in einem Fiebertraum. Fast täglich trafen sie sich - auf den belebten Märkten, in rauchigen Tavernen, bei Spaziergängen entlang der Lavaflüsse, wo der Boden in der Nacht glühte wie ein Sternenband unter ihren Füßen.

Norak'el war ein Meister der Verführung, ohne dass es je aufdringlich wirkte. Er lachte mit ihr über Geschichten aus Ignirion, neckte sie sanft wegen ihrer Blässe, hörte ihr zu, als gäbe es nichts Faszinierenderes auf der Welt. Er brachte ihr die Geheimnisse der ignatharischen Küche näher, erklärte ihr die Bedeutung von Schmiedesymbolen, zeigte ihr, wie man eine Klinge über der Flamme hielt, ohne dass sie stumpf wurde.

Nie sprach er abwertend über ihre Herkunft. Im Gegenteil - er löcherte sie mit Fragen über Runen, über die Philosophie der Stille, über die alten Sprachen. Er machte sie glauben, sie sei das faszinierendste Wesen, das je seinen Weg gekreuzt hatte.

Serika schwebte durch diese Wochen wie berauscht. Jeder Tag begann mit der Vorfreude, ihn zu sehen, jede Nacht endete mit seinem Namen auf ihren Lippen. Sie war sich sicher: So musste wahre Liebe sich anfühlen.

Doch die Zeit war unerbittlich. Der Tag ihrer geplanten Rückreise nach Thal'vareth rückte näher wie ein drohendes Gewitter.

Eines Abends, als die Lavaflüsse in tiefem Rot unter ihnen pulstierten und die Luft warm wie Samt um sie floss, blieb Norak'el plötzlich stehen.

„Serika." Seine Stimme war ernst, eindringlich. „Deine Abreise rückt näher."

Sie nickte, ein Kloß in ihrer Kehle. „In zwei Wochen."

„Und du willst wirklich gehen?" Er drehte sich zu ihr, nahm ihre Hände in seine großen, warmen. „Deine Professur, deine Akademie - ist das wirklich wichtiger als das, was wir haben?"

„Es war immer mein Traum", flüsterte sie, doch ihre Stimme klang unsicher.

„Träume können sich ändern." Er beugte sich zu ihr, sah ihr tief in die Augen. „Bleib bei mir, Serika. Zieh zu mir. Ich will nur eins: dass du glücklich bist. Dass du jeden Morgen lächelnd aufwachst. Dass du nie wieder allein sein musst. Alles andere ist nur Stein und Pergament. Aber wir - wir sind lebendiges Feuer."

Tränen brannten in ihren Augen. Sie wusste, sie sollte Argumente finden, Vernunft sprechen lassen. Doch sein Blick, seine Stimme, die Wärme seiner Hände - alles ließ ihren Widerstand schmelzen wie Wachs vor einer Flamme.

„Ich..." Die Worte blieben ihr im Hals stecken.

Er küsste ihre Stirn, zärtlich, fast ehrfürchtig. „Denk nicht, Serika. Fühl. Und sag mir - hat dein Herz nicht längst entschieden?"

In diesem Moment, mit der Lava, die unter ihnen glühte wie das Blut der Erde selbst, wusste Serika: Sie war bereit, alles für ihn aufzugeben. Ihre Zukunft, ihre Träume, ihr altes Leben - alles schien bedeutungslos gegen die Kraft des Gefühls, das ihn in ihre Arme trieb.

Serika stand vor Norak'els Haus und konnte kaum glauben, dass dies nun ihr Zuhause sein sollte. Das Gebäude war typisch ignatharisch - aus dunklem Vulkanstein erbaut, durchzogen von schimmernden Metallvenen, die im ewigen Fackellicht der Straße glänzten. Es roch nach Eisen und Öl, nach harter Arbeit und einer Wärme, die selbst nachts nicht ganz verschwand.

„Willkommen daheim", sagte Norak'el mit diesem unwiderstehlichen Lächeln, das sie jedes Mal schwach werden ließ.

Er hob sie über die Schwelle, als wäre sie federleicht. Sie lachte, während er sie sanft wieder absetzte, seine Hände einen Moment länger als nötig an ihrer Taille.

Die ersten Tage waren Honig und Feuer. Er kochte für sie - einfache, kräftige Speisen, die er mit der gleichen Sorgfalt zubereitete wie seine Schmiedearbeiten. Er erzählte Geschichten aus Ignirion, brachte sie zum Lachen, lauschte ihr, wenn sie über Runentheorie sprach. Serika war überzeugt, die richtige Wahl getroffen zu haben.

Doch nach einigen Tagen, als sie ihre Truhe öffnete, um ihre Kleidung zu verstauen, blieb sie ratlos mitten im Raum stehen.

„Norak'el", begann sie vorsichtig. „Wo könnte ich meine Sachen unterbringen? Der Schrank scheint keinen Platz zu haben."

Er kam zu ihr, schlang die Arme um sie von hinten, küsste ihren Hals. „Ach, kleine Flamme, zerbrech dir darüber nicht den Kopf. Meine Arbeitskleidung braucht den Platz - täglich in Gebrauch. Deine feinen Sachen sind in der Truhe sicherer vor dem Ruß der Stadt." Seine Stimme wurde sanfter, verführerisch. „Außerdem... wenn ich dich anschaue, brauche ich keine prächtigen Kleider, um deine Schönheit zu sehen."

Sie errötete, geschmeichelt von seinen Worten. Trotzdem nagte etwas in ihr - ein winziger Stachel des Unbehagens.

Ein anderes Mal, als sie vorschlug, den kleinen Balkon zu verschönern, winkte er ab. „Serika, du solltest dich entspannen. Ich will nicht, dass du dich mit solchen Kleinigkeiten abmühst. Lass mich für alles sorgen."

„Aber ich würde es gerne machen", wagte sie einzuwenden.

Er legte den Kopf schief, lächelte sanft, doch in seiner Stimme lag ein neuer Unterton. „Wenn du ständig alles ändern willst, klingt es, als wärst du nicht zufrieden mit dem, was ich dir gebe. Bin ich nicht genug für dich?"

Schreck durchfuhr sie. „Doch! Natürlich bist du genug. Ich wollte nur-"

Er küsste sie, bevor sie den Satz beenden konnte. „Dann vertrau mir. Ich kenne Ignirion, ich weiß, was hier funktioniert. Ich will doch nur, dass du glücklich bist."

Sie nickte, das schlechte Gewissen nagend in ihrer Brust. Wie konnte sie an seiner Fürsorge zweifeln?

So begann es - kleine Verschiebungen, kaum sichtbar, charmant verpackt in Sorge und Liebe. Jedes Mal, wenn sie etwas ansprach, drehte er es geschickt um, machte sie zur Undankbaren, ihn zum liebenden Beschützer. Serika lachte mit ihm, schlief an seiner Seite - und merkte nicht, wie der Raum um sie herum kleiner wurde.

Es war tief in der Nacht, später, als Serika erwartet hatte. Die Straßenlaternen waren längst heruntergebrannt, nur schwaches Glimmen blieb. Von den Schmiedehallen hallte kein Hammerschlag mehr. Selbst Ignirion schlief, soweit diese Stadt überhaupt zur Ruhe kommen konnte.

Serika saß am Fenster, die Knie angezogen, ein dünnes Tuch um die Schultern. Sie hatte gewartet. Erst mit einem Lächeln, dann mit wachsender Sorge, schließlich mit einem eisernen Knoten im Magen.

Die Tür öffnete sich endlich. Norak'el trat ein, den Mantel nachlässig über eine Schulter geworfen. Er roch nach Rauch und etwas Süßem - nicht nach Glutwein, nicht nach der Schmiede. Etwas Fremdes.

„Norak'el." Ihre Stimme zitterte trotz aller Bemühungen. „Es ist mitten in der Nacht. Wo warst du?"

Er blieb stehen, musterte sie - und lächelte. Nicht entschuldigend, sondern ruhig, kontrolliert. „Ich wollte dich nicht wecken, kleine Flamme. War mit Freunden unterwegs. Ein Fest, ein paar Becher zu viel... weiter nichts."

Sie stand auf, trat näher, suchte in seinen Augen nach der Wahrheit. „Mit Freunden? Warum hast du nichts gesagt? Ich habe mir Sorgen gemacht."

Sein Kopf neigte sich leicht zur Seite, das Lächeln wurde weicher - und irgendwie gefährlicher. „Sorgen? Serika... vertraust du mir etwa nicht?"

„Doch!" Die Heftigkeit ihrer eigenen Reaktion erschreckte sie. „Aber ich dachte... wenn du so spät kommst, vielleicht... vielleicht bin ich dir zu viel geworden."

Er trat auf sie zu, nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Hör auf damit. Du bist nicht zu viel. Du bist das Beste, was mir je passiert ist."

„Dann sag mir die Wahrheit", flüsterte sie. „Falls du mich nicht mehr willst, sag es mir. Ich halte es nicht aus, im Dunkeln zu tappen."

Norak'el lachte leise, küsste ihre Stirn. „Du bist süß, wenn du zweifelst. Aber du siehst Gespenster, wo keine sind. Ich komme spät, weil ich hart arbeite - für uns beide. Damit du in Sicherheit bist, damit du nichts entbehren musst. Und was bekomme ich dafür? Misstrauen."

Serika wich einen Schritt zurück, das Herz schmerzend. „Das ist nicht fair. Ich frage nur, weil ich wissen möchte, wo du bist. Weil ich dich liebe."

„Und ich liebe dich", erwiderte er sofort, mit einer Wärme, die fast schmerzte. „Aber deine Fragen klingen, als wolltest du mich an eine Kette legen. Willst du das? Willst du mich ersticken?"

„Nein! Niemals!" Sie schüttelte den Kopf, Tränen brannten in ihren Augen. „Ich will nur ehrlich mit dir sein."

„Ehrlich?" Wieder dieses Lächeln, während er sie sanft an sich zog. „Ehrlichkeit bedeutet auch, einander zu vertrauen. Ich tue nichts, was uns schadet. Glaub mir einfach."

Sie lehnte die Stirn an seine Brust, spürte sein ruhiges Herz unter ihrer Wange. Der Knoten in ihrem Bauch zog sich fester zusammen, obwohl seine Worte so überzeugend klangen.

„Wenn ich je gehe", flüsterte er in ihr Haar, „dann nur, weil du mich mit deinen Zweifeln wegstößt. Lass das nicht zu, Serika. Lass uns Feuer bleiben, nicht Asche."

Sie schloss die Augen, wollte ihm so verzweifelt glauben. Er klang so sicher, so liebevoll - fast war sie überzeugt, das Problem läge bei ihr, nicht bei ihm.

Doch die Frage blieb wie schwelende Glut in ihrem Herzen. Und tief in ihr wusste sie: Glut konnte jederzeit zu einem Inferno werden.

Die Tage in Ignirion blieben voller Wärme, doch in Serikas Herz wuchs ein Schatten, dunkler als der Rauch der Schmiedefeuer. Es waren die kleinen Dinge, scheinbar bedeutungslos, die sich wie Tropfen zu einem reißenden Strom sammelten.

Eines Abends, beim Ordnen der Wäsche, entdeckte sie an seinem Mantel etwas, das ihr das Blut gefrieren ließ: feine Haare, golden wie Sonnenstrahlen, völlig anders als ihre eigenen dunklen Strähnen. Sie hingen in den Fasern, als wollten sie unbedingt gesehen werden.

Serika hielt sie zwischen den Fingern, ihr Atem stockte. Als er nach Hause kam, stand sie da - mit dem Beweisstück in der Hand.

...

komm nächste Woche wieder für Part 2

 

Chapter 22: Lern' oder brenn': Die Norak'el-Lektion (Part 2)

Chapter Text

Serika hielt sie zwischen den Fingern, ihr Atem stockte. Als er nach Hause kam, stand sie da – mit dem Beweisstück in der Hand.

...

 

„Norak'el", begann sie, ihre Stimme kontrolliert, obwohl ihr Herz raste. „Wo kommen diese Haare her?"

Er warf einen kurzen Blick darauf, dann lachte er, als wäre es die harmloseste Frage der Welt. „Ach, kleine Flamme. Von den Festen natürlich. Du weißt, wie voll es wird. Jemand ist mir im Gedränge zu nahe gekommen – eine Tänzerin, eine Freundin von Freunden. Bei den Menschenmassen unvermeidlich."

„Aber sie sind überall an deinem Mantel", beharrte sie.

Er trat zu ihr, nahm ihr sanft die Haare aus der Hand und ließ sie zu Boden gleiten, als wären sie Staub. „Und jetzt sind sie weg. Willst du unsere Liebe wirklich an ein paar bedeutungslose Fäden hängen?"

Das Schuldgefühl kroch in ihr hoch. „Ich frage nur, weil ich Klarheit brauche. Falls da etwas ist... bitte sag es mir. Ehrlichkeit könnte ich ertragen, aber nicht Lügen."

Norak'el legte die Hände auf ihre Schultern, beugte sich so nah zu ihr, dass sie seinen Atem spürte. „Lügen? Serika, hör dir selbst zu. Ich arbeite jeden Tag hart, sorge für unser Essen, halte dich nachts in meinen Armen – und trotzdem denkst du, ich würde dich belügen?"

„Ich—"

„Du weißt, dass du die Einzige bist. Aber manchmal, wenn du so sprichst..." Seine Stimme wurde weicher, verletzlicher. „...manchmal glaube ich, du willst mich verlieren. Als würdest du mich so sehr misstrauen, dass du mich selbst von dir stößt."

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Das will ich nicht. Ich will nur sicher sein, dass ich dir nicht gleichgültig bin."

„Du bist mir nie gleichgültig," sagte er sofort und zog sie in seine Arme. „Du bist mein Herz, Serika. Aber dein Misstrauen brennt heißer als jedes Schmiedefeuer. Lass es nicht zwischen uns treten."

Sie presste die Stirn gegen seine Brust, hörte sein Herz schlagen – ruhig, beständig, als könne es niemals lügen.

Doch in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wie Funken im Wind. Die fremden Haare an seinem Mantel. Der süßliche, unbekannte Duft, der neulich an seiner Haut gehaftet hatte. Seine späten Heimkehrzeiten, die er mit vagen Ausreden erklärte. Alles wies auf dieselbe schmerzhafte Wahrheit hin.

Und dennoch: Seine Worte, sein Blick, die Wärme seiner Arme um sie – sie machten es beinahe unmöglich, ihm nicht zu glauben.

„Vielleicht... vielleicht bilde ich es mir nur ein," flüsterte sie gegen seine Brust.

„Natürlich tust du das," sagte er sanft und strich ihr über das Haar. „Du bist nur müde. Zu viel Hitze, zu viele Sorgen. Ich bin hier, das ist alles, was zählt."

Und so fand sie sich wieder an seiner Seite, während in ihr ein Krieg tobte zwischen dem, was ihre Augen sahen, und dem, was er sie fühlen ließ.

Ignirion kannte keinen wahren Schlaf. Selbst in den tiefsten Nachtstunden drang das ferne Hämmern aus den Schmieden, und der rote Schein der Lavaflüsse zeichnete flackernde Schatten an die Steinwände. Serika hatte lange wachgelegen, starrte an die Decke und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen neben sich. Norak'el war „bei Freunden", wie so oft in letzter Zeit. Sie hatte nicht gefragt, wollte nicht wieder hören, dass _sie_ es war, die zu viel zweifelte.

Doch heute Nacht ließ sie das Gefühl nicht los. Ein inneres Ziehen, ein Flüstern in ihrem Bauch, das sie zwang aufzustehen. Sie wickelte sich ein dünnes Tuch um die Schultern, trat hinaus in die noch warmen Gassen und folgte den Stimmen, dem Gelächter, die von der Taverne „Zum Glühenden Amboss" am Rand der Schmiedehallen herüberschallten.

Die schwere Eichentür stand einen Spalt offen. Wärme, Rauch und Gelächter quollen heraus wie Geister aus einer Flasche. Sie trat näher, ihr Herz pochte wie Hammerschläge auf heißes Eisen.

Und da sah sie ihn. Norak'el Velkaran.

Er war nicht allein. In seinen Armen ruhte eine Frau mit goldenem Haar, das im Fackellicht schimmerte wie geschmolzenes Erz. Seine Hand lag an ihrer Taille, sein Mund so nah an ihrem Hals, dass Serika seinen warmen Atem beinahe spüren konnte.

Die Welt um sie herum erstarrte. Einen Augenblick konnte sie nicht atmen, konnte nicht denken. Alles, was sie wochenlang gefühlt, bezweifelt, in schlaflosen Nächten durchdacht hatte, stand nun vor ihr – kristallklar wie eine Rune in Stein gemeißelt.

„Norak'el," flüsterte sie.

Er zuckte zusammen wie von einer Peitsche getroffen, sah auf. Doch statt Schuld zu zeigen, legte sich dieses geübte, charmante Lächeln auf sein Gesicht – jenes Lächeln, das sie einst zum Schmelzen gebracht hatte. „Serika! Kleine Flamme, es ist nicht, was du denkst..."

„Nicht was ich denke?" Ihre Stimme schnitt durch das Gelächter im Raum wie eine scharfe Klinge. „Ich sehe dich, Norak'el. Ich sehe dich mit eigenen Augen, und du wagst es immer noch, mir zu sagen, dass ich mir Gespenster einbilde?"

Die Gespräche verstummten. Die Frau in seinen Armen zog sich hastig zurück, doch Norak'el streckte die Hand nach Serika aus, als könne er sie mit einer Geste besänftigen.

„Hör mir zu, bitte. Sie hat nur..."

„Schweig!" Ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut. Wochen voller Selbstzweifel, voller Nächte, in denen sie gedacht hatte, _sie_ sei das Problem, brachen aus ihr hervor wie Lava aus einem Vulkan. „Ich habe dir geglaubt, als du sagtest, ich würde übertreiben. Ich habe mir eingeredet, dass meine Augen mich täuschen. Aber sie täuschen mich nicht. _Du_ täuschst mich."

Er setzte wieder an, seine Worte süß wie Honig, geschmeidig wie warmes Öl. „Serika, du weißt doch, dass du alles für mich bist. Ich habe Fehler gemacht, ja, aber nur, weil ich..."

„Weil du nur dich selbst liebst," unterbrach sie ihn. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, Tränen liefen ihr über die Wangen, aber ihre Stimme war stark wie geschmiedeter Stahl. „Du wolltest, dass ich zweifle. Du wolltest, dass ich mich klein fühle, damit du größer erscheinst. Aber ich bin nicht klein, Norak'el. Ich war nie klein."

Die Luft im Raum schien zu gefrieren, als sie die Worte sprach, die schon so lange in ihr gebrannt hatten.

Sie hob die Hände, und ihre Stimme wurde klar und scharf, getragen von der Macht all der Runen, die sie je studiert hatte. „Du willst Feuer sein? Dann sei Feuer. Doch bei jedem schändlichen Verlangen, bei jeder Regung deines aufgeblähten Egos, sollst du stürzen, sollst du fallen – und die ganze Welt soll sehen, wie schwach du wirklich bist."

Ein leises Knistern ging durch den Raum, als würde die Luft selbst elektrisch geladen. Es war kein sichtbares Feuer, kein gleißender Blitz, sondern etwas viel Subtileres – ein Gefühl, als hätte das Universum selbst den Atem angehalten. Norak'els Augen weiteten sich, als er spürte, dass etwas Unsichtbares, Unerbittliches nach ihm griff.

„Serika, was hast du getan?" flüsterte er, und zum ersten Mal hörte sie echte Angst in seiner Stimme.

Sie trat zurück, ihre Stimme hart wie Granit. „Ich habe dir gegeben, was du nie ertragen wirst: einen Spiegel."

Und mit diesen Worten wandte sie sich um und verließ die Taverne. Ihre Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wider wie ein Todesurteil. Hinter ihr blieb Norak'el zurück – stolz, schön, stark, und doch von einem Fluch befallen, den er nicht verstand. Noch nicht.

Serika stürmte durch die gewundenen Gassen von Ignirion, die Lavaflüsse unter den steinernen Brücken glühten rot wie ihr Zorn. Die Hitze der Stadt, die sie sonst erdrückte, fühlte sich plötzlich an wie eine warme Umarmung – als würde Ignirion selbst ihre Wut teilen.

In Norak'els Haus – denn, es war nie _ihr_ Haus gewesen, erkannte sie jetzt – war es still wie in einem Grab. Sie ging direkt zur Truhe, die noch immer verschlossen am Rand des Raumes stand, voller Kleider, die nie in seinem Schrank Platz gefunden hatten. Wie symbolisch.

Sie riss sie auf und packte mit schnellen, entschlossenen Bewegungen ihre Sachen zusammen. Kein Zögern, kein sentimentales Innehalten. Ihre Hände bebten nicht vor Schwäche, sondern vor der Kraft der Entscheidung.

Als die Truhe geschlossen war, band sie sie mit einem starken Seil zusammen und zerrte sie hinaus, Schritt für schweren Schritt, bis sie vor dem Handelshaus des **Goldenen Fadens** stand. Es war spät, aber dort brannte noch Licht – die Händler dieses Bundes waren berühmt für ihre Diskretion und ihre Bereitschaft, zu jeder Stunde Geschäfte zu machen.

Ein Mann mittleren Alters in dunkler Kleidung mit einem goldenen Faden im Saum öffnete die Tür. „Kann ich Euch helfen, Herrin?"

„Ja," fauchte Serika, und ihre Stimme war schärfer als jede Schmiedeklinge. „Ich brauche einen Wagen nach Thal'vareth. Heute Nacht. Und ein Zimmer, um bis zur Abfahrt zu schlafen. Bezahlt wird sofort."

Der Händler blickte von ihr zur fest verzurrten Truhe, dann wieder zu ihr. Er spürte die Glut, die beinahe von ihrer Haut zu strahlen schien, und nickte schnell. „Natürlich, sofort. Der Wagen wird Euch im Morgengrauen bereitstehen. Das Gästezimmer im oberen Stock steht leer."

„Gut," knurrte sie, schob die Truhe hinein und ließ sich nicht ein einziges Mal den Anschein geben, als würde sie um Erlaubnis bitten.

Der Händler führte sie die knarrende Treppe hinauf, und als sie außer Hörweite war, murmelte er kopfschüttelnd zu sich selbst: „Bei allen Göttern... die Frau sprüht ja Funken. Wer in aller Welt kann bei jemandem solche Wut entfachen?"

Er machte eine Pause, dann schnaubte er leise. „Wahrscheinlich ein Mann."

Zur gleichen Zeit in der Taverne saß Norak'el zurückgelehnt auf der Bank, einen Becher dampfenden Glutweins in der Hand, sein Gesicht im Licht der Fackeln noch immer makellos. Einige Freunde hatten sich zu ihm gesellt, lachten über irgendeinen derben Scherz.

„Siehst du," sagte er mit einem nachlässigen Achselzucken, „manche Frauen sind einfach... unberechenbar. Man tut alles für sie, schenkt ihnen Wärme, Aufmerksamkeit, erfüllt ihre Wünsche – und dann drehen sie völlig durch wegen Nichtigkeiten. Ein paar Haare auf dem Mantel, ein Abend mit Freunden... und plötzlich bist du das Monster."

Seine Begleiter lachten zustimmend, einer klopfte ihm auf die Schulter. „Du hast es gut, Norak'el. Andere würden um so eine Frau kämpfen, du hast gleich mehrere zur Auswahl."

Norak'el grinste selbstgefällig und hob den Becher zu einem Trinkspruch – da zuckte er zusammen.

Ein seltsames, brennendes Ziehen durchfuhr seinen Körper, tief und schmerzhaft. Er räusperte sich, lachte gezwungen. „Nichts weiter, alles in Ordnung."

Doch als die Frau mit dem goldenen Haar an seinem Tisch vorbeiging und ihm ein verführerisches Lächeln schenkte, spürte er, wie sein Körper reagierte – und im selben Moment gaben seine Beine nach.

Er fiel abrupt nach vorne, der Becher Wein schwappte über, seine Freunde rissen erschrocken die Augen auf. „Norak'el?!"

„Verdammte Scheiße!" Er keuchte, stützte sich mühsam hoch, doch sein Gesicht war schmerzverzerrt. „Ich... ich bin nur ausgerutscht."

Schallendes Gelächter brach am Nachbartisch aus. „Norak'el Velkaran, der große Schmied – fällt um wie ein Kind beim ersten Schritt!"

„Halt den Mund," knurrte er und versuchte Haltung zu wahren. Doch die Röte in seinem Gesicht verriet, dass es mehr war als ein einfacher Ausrutscher.

Und tief in ihm, verborgen vor allen anderen, spürte er: Etwas stimmte nicht. Etwas hatte sich grundlegend verändert.

Es dauerte mehrere qualvolle Tage, bis Norak'el das wahre Ausmaß des Fluches begriff. Am Morgen, beim Schmieden, fühlte er sich stark wie eh und je. Im Kampftraining war er unbesiegbar. Doch sobald seine Gedanken in eine bestimmte Richtung drifteten – zu einer Frau, zu Berührungen, zu körperlichem Verlangen – schlug der Fluch gnadenlos zu.

Das erste Mal bemerkte er es bewusst, als er einer jungen Gewürzhändlerin auf dem Markt half, einen schweren Sack zu tragen. Sie bedankte sich mit einem bezaubernden Lächeln und legte ihm dankbar die Hand auf den Arm. Er grinste, bereit, ein paar seiner berühmten charmanten Worte fallen zu lassen – doch kaum spürte er dieses vertraute Kribbeln in seinem Körper, durchfuhr ihn ein Schmerz wie glühende Nadeln.

„Beim Feuer der Schmiede!" brüllte er, krümmte sich zusammen, und der Sack fiel zu Boden. Die kostbaren Gewürze verteilten sich wie bunter Regen über die Straße.

Die Händlerin stolperte erschrocken zurück. „Ist alles in Ordnung mit Euch?"

„Ja! Natürlich!" keuchte er, während er sich abmühte, aufrecht zu stehen, die Zähne vor Schmerz zusammengebissen. „Bin nur... falsch aufgetreten."

Die Frau nickte skeptisch, und das Kichern der Marktbesucher breitete sich aus wie ein Lauffeuer.

Einige Abende später, in derselben Taverne, wagte er einen weiteren Versuch. Eine rothaarige Bardin hatte ihm zugezwinkert, ihre Stimme war so melodisch, dass er kaum widerstehen konnte. Er zog sie an sich, bereit, sie mit einem seiner legendären Küsse zu erobern – und genau in diesem Moment durchfuhr ihn wieder dieser höllische Schmerz, ließ ihn fast vom Hocker fallen.

„Ahhhh, bei allen Dämonen!"

Die Bardin riss entsetzt die Augen auf und trat hastig zurück. „Bei den heiligen Flammen, was ist nur mit Euch?!"

Seine Freunde prusteten los, einer trommelte auf den Tisch. „Norak'el! Der stärkste Mann Ignirions – besiegt vom eigenen Verlangen!"

Das Gelächter schwappte durch die ganze Schenke wie eine Flutwelle, und Norak'el wünschte sich, im Boden zu versinken.

Mit jedem Tag wurde es schlimmer. Selbst ein flüchtiger Gedanke reichte aus, und schon durchfuhr ihn der Schmerz, ließ ihn stolpern, aufstöhnen, zusammenbrechen.

Beim Training mit den Waffenbrüdern, als er einer Kämpferin beim Dehnen zusah.

Beim Spaziergang durch die Straßen, wenn ihm jemand kokettierend zulächelte.

Sogar nachts, wenn er allein im Bett lag und sein Körper natürliche Sehnsüchte entwickelte – der Fluch schlug unerbittlich zu, und er wälzte sich stöhnend vor Schmerzen.

Tagsüber konnte er noch den stolzen Schmied spielen, doch langsam verbreitete sich in der Stadt ein Ruf. Überall tuschelte man: „Hast du gehört? Norak'el kann nicht mehr... na ja..." „Er fällt jedes Mal hin, wenn er es auch nur versucht." „Die schönste Frau der Welt könnte nackt vor ihm tanzen – und er würde winselnd am Boden liegen!"

Und immer öfter hörte er dieses höhnische Kichern hinter seinem Rücken.

Norak'el Velkaran – einst der strahlendste Held der Flammenprüfung – war zur lebenden Pointe von Ignirion geworden.

Die Reise zurück nach Thal'vareth war lang, doch Serika spürte keine Erschöpfung. Die Luft wurde kühler und klarer, je weiter sie sich von der Gluthitze Ignirions entfernte. Dort, wo die Stille der Akademiehallen sie früher wie ein Gewicht bedrückt hatte, war sie nun eine willkommene, heilende Ruhe.

Sie mietete sich ein kleines Haus nahe der Akademie in Arkanis – schlicht, aber sonnendurchflutet. Ihre Truhe stellte sie bewusst in die Mitte des Raumes, diesmal als Symbol dafür, dass ihr Leben endlich ihr gehörte.

Die Dozenten an der Akademie empfingen sie mit offenen Armen. Man erinnerte sich an ihr außergewöhnliches Talent, ihre scharfen Gedanken, ihre Fähigkeit, Energie zu formen und zum Leben zu erwecken. Und doch... etwas in ihr hatte sich fundamental verändert. Sie war nicht mehr nur die brillante Gelehrte. Sie war eine Frau, die durch Feuer gegangen und stärker daraus hervorgegangen war.

Eines Abends, beim Experimentieren mit einer komplexen Rune des Bindens, geschah etwas Faszinierendes: Sie fing den magischen Klang des Fluches ein, den sie Norak'el auferlegt hatte. In einer kleinen Glasphiole glühte er schwach wie ein gefangener Funke.

Serika betrachtete ihn lange, dann breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Am nächsten Markttag bot sie die Phiole an, beschriftet mit einer eleganten Rune. „Ein kleiner Lehrfluch", erklärte sie lachend den neugierigen Käufern. „Lehrt untreuen Männern eine unvergessliche Lektion. Keine Sorge – er wirkt nur, wenn er wirklich verdient ist."

Die Leute waren fasziniert, amüsiert, zahlten gutes Geld dafür. Und bald sprach man in ganz Thal'vareth von der Frau, die _Flüche in Flaschen_ verkaufte. Jedes Fläschchen ein Stück Gerechtigkeit, ein Werkzeug gegen Arroganz, eine Erinnerung an die eigene Stärke.

Serika wurde nicht nur respektiert – sie wurde geliebt. Ihre Kollegen bewunderten sie, die einfachen Leute vertrauten ihr. Sie hatte ihr Herz verloren, aber ihre Würde und so viel mehr zurückgewonnen.

Währenddessen in Ignirion kämpfte Norak'el verzweifelt darum, sein altes Leben aufrechtzuerhalten. Er schmiedete noch immer, trainierte fleißig, lachte laut in den Tavernen. Doch immer häufiger geschah es, dass ein einziger Blick, ein kokettes Kichern einer Frau, eine zufällige Berührung ihn ins Wanken brachte.

„Ahhh – verdammt!" keuchte er, krümmte sich, stürzte zu Boden.

Und die Leute lachten. Erst verstohlen, dann offen und gnadenlos. Kinder machten ein Spiel daraus: „Spielt den Norak'el!" riefen sie, warfen sich theatralisch auf den Boden und hielten sich den Schritt.

Die Frauen, die ihn einst bewundert hatten, schauten nun mit spöttischem Funkeln in den Augen. Männer, die früher neidisch auf ihn gewesen waren, prosteten ihm jetzt mit hämischem Grinsen zu.

Und wenn Norak'el verzweifelt versuchte, es wegzulächeln, die Situation zu retten, wurde alles nur noch schlimmer. Denn jeder in Ignirion wusste inzwischen: Der stolze Kämpfer, der unwiderstehliche Charmeur, war von einem rätselhaften Fluch getroffen, den er weder erklären noch brechen konnte – solange er nicht bereit war, sich selbst zu ändern.

Die Jahre in Thal'vareth verwandelten Serika Mirathen grundlegend. Aus der jungen Frau, die einst alles für eine vermeintliche Liebe geopfert hatte, wurde eine der einflussreichsten Meisterinnen des Kontinents.

Ihr bescheidener Marktstand war längst Geschichte. Heute führte sie ein ganzes Imperium: Eine weitläufige Werkstatt, mehrere Läden, ein Netzwerk von Agenten, das sich über alle größeren Städte Ikarils erstreckte.

Sie verkaufte nicht nur Flüche, sondern alles, was die hohe Runenkunst möglich machte:

**Stärkungsrunen** für Krieger, die in gefährliche Schlachten zogen.

**Heilungssiegel** für Verwundete und chronisch Kranke.

**Schutzamulette** für Händler, die durch banditenverseuchte Gebiete reisten.

**Maßgeschneiderte Zauber** – von subtilen Liebeszaubern bis hin zu mächtigen Bannkreisen gegen Spione und Assassinen.

Serika war nicht nur eine Händlerin geworden – sie war eine Schlüsselfigur im komplexen Machtgefüge Ikarils. Händler, Krieger, Adelige, sogar Mitglieder geheimer Bruderschaften suchten ihren Rat und ihre Dienste. Wer Serika kannte, hatte Zugang zu einem Informationsnetzwerk, das sich über den gesamten Kontinent spannte.

Und sie nutzte diese Macht mit Bedacht – niemals aus purer Gier, sondern um sich selbst und andere zu stärken, die es verdienten. Ihre Wut war längst zu einer kristallklaren Klarheit geworden. Sie wusste genau, was sie wollte, und hatte gelernt, dass sie niemals wieder weniger akzeptieren würde, als sie verdiente.

In Ignirion hingegen war Norak'els einst ruhmreicher Name zu einem stadtweiten Scherz geworden. Wo früher ehrfürchtig „Norak'el Velkaran, der Große!" gerufen wurde, hörte man jetzt spottendes Gelächter: „Da kommt er, der Mann, der schneller fällt, als er zuschlagen kann."

Seine Werkstatt blieb zunehmend leerer, die lukrativen Aufträge wurden seltener. Er war immer noch ein außergewöhnlich talentierter Schmied – vielleicht sogar einer der technisch besten –, doch er hatte seine Glaubwürdigkeit verloren. Er vertrank seine Abende in düsteren Tavernen, suchte verzweifelt nach kurzweiligen Ablenkungen, und jedes Mal, wenn er einer Frau auch nur nahezukommen suchte, brach er unter höhnischem Gelächter zusammen.

Eines Abends jedoch, als er wieder betrunken in einer heruntergekommenen Schenke saß, hörte er einen weitgereisten Händler aus Thal'vareth prahlen.

„Habt ihr von ihr gehört? Serika Mirathen! Sie verkauft nicht nur Runen und Heilungen – sie kontrolliert jetzt ein ganzes Netz von Magiern und Informanten! Ihr Einfluss reicht bis nach Elythar und zu den Noctari, wie man hört. Manche nennen sie bereits die _Runenkaiserin von Ikaril_. Wer ihre Hilfe will, muss Monate im Voraus zahlen und sich einer Prüfung unterziehen."

Norak'el erstarrte. Der Name traf ihn wie ein Hammerschlag auf kaltes Eisen.

„Serika..." flüsterte er ins Leere.

Zuerst fühlte er nur Wut. Brennende Wut darüber, dass sie ihn verlassen hatte. Wut, dass sie jetzt erfolgreich und mächtig war, während er zum Gespött der ganzen Stadt geworden war. Er ballte die Fäuste, als könnte er den Schmerz mit roher Gewalt zermalmen.

Doch dann... kam etwas anderes. Ein leiser, beharrlicher Gedanke, der sich nicht mehr vertreiben ließ.

_Vielleicht... vielleicht hat sie recht gehabt._

Er starrte auf seine Hände – starke, geschickte Hände, fähig, das härteste Metall zu formen. Und doch hatte er sie nie genutzt, um etwas von wahrem Wert zu schaffen. Alles, was er je getan hatte, war für den Moment gewesen – ein Kampf, ein Fest, ein Kuss, eine Eroberung. Niemals hatte er ernst genommen, was wirklich zählte.

„Ich hätte der größte Schmied ganz Ignirions werden können," murmelte er in den Rauch der Taverne hinein. „Aber ich habe alles verspielt für... für nichts als leere Eitelkeit."

Seine Kumpane lachten und prosteten ihm zu, machten weitere derbe Witze über sein Missgeschick. Doch Norak'el lachte diesmal nicht mit. Zum ersten Mal spürte er die gähnende Leere in seinem Inneren. Das erdrückende Gewicht seiner eigenen Bedeutungslosigkeit.

Serika hatte sich zu etwas Größerem erhoben, als sie je allein hätte sein können. Norak'el war zurückgeblieben, gebrochen von seinem eigenen Stolz – und mit der bitteren Erkenntnis, dass er jeden Schmerz verdient hatte.

Die Jahre zermürbten Norak'el, aber sie läuterten ihn auch. Er mied allmählich die Tavernen, konzentrierte sich mit neuer Intensität auf seine Schmiede. Zuerst lachten die Leute, wenn er plötzlich ernst und fokussiert wirkte. Dann verstummten sie allmählich. Schließlich kamen sie wieder, um seine Arbeit zu betrachten – und mussten widerwillig anerkennen, dass seine Klingen, seine Rüstungen, seine kunstfertigen Werkzeuge zu den besten gehörten, die Ignirion je hervorgebracht hatte.

Doch mehr noch als seine Hände veränderte sich sein Herz.

Er lernte, mit der Einsamkeit zu leben. Ohne Frauen, ohne oberflächliches Gelächter, ohne das Spiel der Verführung, das er so lange perfektioniert hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hörte er den Klang echter Stille – und in dieser Stille sah er klar all das Leid, das er angerichtet hatte. Die gesäten Zweifel, die vergossenen Tränen, die gebrochenen Herzen. Vor allem ihres.

Eines Tages lernte er eine Frau kennen. Keine schillernde Bardin, keine Händlerin, die ihn wegen seines Namens bewunderte. Eine einfache, hübsche Heilerin mit ruhigen, ehrlichen Augen und einer Stimme, die nie log.

Er spürte das vertraute Kribbeln – und hielt unbewusst den Atem an, erwartete den gewohnten Schmerz. Doch er blieb aus. Stattdessen breitete sich nur ein warmes, tiefes Gefühl in ihm aus, ruhig und echt.

Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er nichts erobern. Er wollte sie _kennenlernen_. Er fragte nicht, um charmant zu erscheinen, sondern weil er wirklich hören wollte: Woher sie kam. Was sie liebte. Was sie fürchtete. Wovon sie träumte. Und sie lachte, sah ihn an, als wäre er kein berühmter Held, kein gefallener Name, sondern einfach ein Mensch unter Menschen.

Norak'el verliebte sich – ehrlich, tief, ohne jedes Kalkül. Und als er das erkannte, als er zum ersten Mal verstand, was wahre Liebe bedeutete, spürte er, wie etwas tief in seinem Inneren brach.

Der Fluch.

Kein Schmerz mehr, kein demütigendes Hinfallen. Nur Stille und einen Frieden, den er nie für möglich gehalten hätte.

Die Straßen von Ignirion bebten im hypnotischen Rhythmus der großen Trommeln. Funken sprühten vom zeremoniellen Amboss auf der Hauptbühne, die Menge jubelte ekstatic. Das Flammenfest war prächtiger als je zuvor – Händler, Krieger und Gelehrte aus allen Ecken Ikarils waren gekommen, um das Schauspiel zu erleben.

Norak'el stand etwas abseits am Rand des Platzes, die Hände ruhig verschränkt, sein Blick gelassen. Er war nicht mehr der junge, aufgeblähte Mann, der sich in jeder Menge hatte sonnen müssen. Heute genoss er das Schauspiel in Ruhe, als einer von vielen.

Da teilte sich die Menge wie Wasser vor einem Schiffsbug. Eine kleine Prozession trat hervor – zwei Leibwächter in dunklen Gewändern, ein Bannerträger mit dem Symbol des Goldenen Fadens, und in ihrer Mitte eine Frau in tiefroter Seide, ihr dunkles Haar kunstfull mit silbernen Spangen durchzogen. Ihr Gang war aufrecht und selbstbewusst, ihr Blick scharf wie eine geschliffene Klinge, und die Leute flüsterten ehrfürchtig ihren Namen.

**Serika Mirathen.**

Norak'el spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Sie war schöner als in seiner Erinnerung, doch auf eine völlig andere Art. Es war keine jugendliche Zartheit mehr, sondern eine Aura von Macht und Selbstbestimmung, die beinahe greifbar war.

Ihre Augen suchten die Menge ab – und trafen die seinen. Für einen endlosen Moment war alles um sie herum nur Rauschen. Die donnernden Trommeln, das begeisterte Lachen, das Prasseln der Feuerwerke – nichts war so intensiv wie das elektrisiegende Schweigen zwischen ihnen.

Zögerlich trat er vor. Die Leibwächter spannten sich sofort an, die Hände an den Griffen ihrer Waffen, doch Serika hob nur leicht die Hand. „Lasst uns."

Sie standen nun einander gegenüber, während die Menge um sie herumströmte wie Wasser um zwei Felsen in einem Fluss. Er neigte respektvoll den Kopf. „Serika."

Sie erwiderte die Geste mit kühler Eleganz. „Norak'el."

„Du hast dich verändert," sagte er leise, und in seiner Stimme lag keine Koketterie, sondern aufrichtiges Staunen.

„Musste ich," antwortete sie mit einem kleinen, wissenden Lächeln. „Sonst wäre ich in deinem Schatten verschwunden. Ich weiß jetzt, wer ich bin. Und was ich wert bin."

Einen Moment schwiegen sie, dann nickte er langsam. „Ich habe gehört, dein Name hallt inzwischen durch ganz Ikaril. Die Händlerin, deren Netzwerk selbst Könige respektieren."

Serika lächelte, und es war weder bitter noch triumphierend. „Man übertreibt gerne. Ich arbeite hart – und ja, ich bin allein. Aber ich bin glücklicher so. Frei. Und du?"

Norak'el nickte, und in seinem Blick lag weder Neid noch Bitterkeit, sondern eine ruhige Akzeptanz. „Meine Arbeit hat endlich Bedeutung bekommen. Meine Schmiedewerke werden in allen Ländern getragen, und sie werden wegen ihrer Qualität geschätzt, nicht wegen meines Namens. Und..." Er zögerte kurz, dann lächelte er ehrlich. „Ich habe eine Frau geheiratet. Eine, die mich nicht für mein Aussehen oder meinen Ruf liebt, sondern für den Mann, der ich geworden bin."

Serika blinzelte überrascht, dann breitete sich ein echtes, warmes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Dann haben wir beide gefunden, was wir wirklich gesucht haben – nur auf verschiedenen Wegen."

„Vielleicht genau so, wie es sein sollte," erwiderte er nachdenklich.

Für einen Herzschlag hielten ihre Blicke einander fest – nicht mit alter Sehnsucht oder unerfülltem Verlangen, sondern mit gegenseitigem Respekt und einem Hauch von Wehmut für das, was sie beide hatten lernen müssen.

Dann lachten beide gleichzeitig, leicht und beinahe verschwörerisch.

„Ignirion hat uns beide geprägt," sagte Serika schließlich. „Aber wir haben daraus gemacht, was wir wollten."

„Ja," nickte er. „Und diesmal ohne Flüche."

Ein kurzes, bedeutungsvolles Schweigen entstand, erfüllt von alten Erinnerungen. Dann glitt ein beinahe schelmisches Lächeln über sein Gesicht. „Du hättest den Fluch nicht ganz so... präzise gestalten müssen, weißt du."

Ihre Augen blitzten auf, und ein leises, melodisches Lachen entfuhr ihr. „Oh, doch. Hätte ich ihn schwächer gemacht, hättest du vermutlich nie etwas gelernt. Du warst schon immer stur."

Er schnaubte halb amüsiert, halb beschämt. „Ja... wahrscheinlich hast du recht." Er blickte kurz zu Boden, dann wieder zu ihr. „Ich hatte es verdient. Jeden einzelnen Moment des Schmerzes."

Ihre Leibwächter tauschten verwirrte Blicke, als verstünden sie nicht, wovon die beiden sprachen. Doch Serika lächelte nur sanft. „Dann war der Fluch keine Strafe, sondern eine Lektion."

„Die härteste, die ich je bekommen habe," erwiderte er mit völliger Ehrlichkeit. „Aber auch die wertvollste."

Sie musterte ihn aufmerksam, sah die Ruhe in seinen Zügen, die Ernsthaftigkeit in seinem Blick. „Du hast dich wirklich verändert."

„Musste ich," antwortete er schlicht. „Sonst wäre ich untergegangen. Ich weiß jetzt, was echte Liebe ist. Und wie erschreckend wenig ich früher davon verstanden habe."

Für einen Moment kehrte das Schweigen zurück – doch diesmal war es nicht schwer oder schmerzhaft, sondern leicht und versöhnlich, getragen von einem tiefen, gegenseitigen Verstehen.

Dann lachten beide wieder, warm und beinahe freundschaftlich.

„Ignirion hat aus uns beiden gemacht, was wir werden sollten," sagte Serika schließlich. „Nur hat es länger gedauert, als wir dachten."

„Manches braucht Zeit," nickte er. „Auch wenn der Weg schmerzhaft ist."

Sie wandte sich zum Gehen, ihre Begleitung schloss sich diskret an. Doch im Vorübergehen legte sie ihm kurz, fast zärtlich die Hand auf den Arm. „Pass gut auf dich auf, Norak'el."

„Und du, Serika," erwiderte er mit einem aufrichtigen Lächeln, „sorge dafür, dass kein anderer Mann so dumm sein muss wie ich."

Sie lachte noch einmal – ein Klang wie silberne Glocken – und dann verschwand sie in der Menge. Eine mächtige Frau, die ihren Platz in der Welt gefunden hatte. Er blieb zurück, aber nicht mit Bedauern oder Sehnsucht, sondern mit einer tiefen, stillen Zufriedenheit.

Denn diesmal war wirklich alles gesagt worden, was gesagt werden musste.

 

Chapter 23: Das Feuer des Vaters

Chapter Text

Datum: 12. Sylvaris (350 n.K.)
Ort: Eine Handelsstraße in den Zwischenlanden
Figuren: Ignis Rath'Mor

 

Der Wind trug den Geruch von heißem Staub und nasser Asche, als hätte im fernen Osten Regen auf glühende Kohlen geschüttet, die noch immer unter der Erde brodelten. In der Mulde der alten Handelsstraße flackerten drei Feuer. Zwei davon kochten Suppe und spendeten den Händlern trügerischen Mut. Das dritte brannte einfach nur, starrte zurück in die Dunkelheit wie ein Auge, das nie blinzelte. Ignis saß davor, einen Atemzug zu nah. Sein Rücken war gerade, die Hände ruhten auf den Knien. Das Knistern der Flammen schien ihm zu antworten, als verstünde er eine Sprache, die nur Haut sprechen konnte. Seine Haut kannte jedes Wort davon.

Hinter ihm klapperten Becher gegen Holz. Leder spannte sich über Waren, Seile knarrten unter der Last, ein Rad schabte rhythmisch an einer verbogenen Speiche. Stimmen griffen nach einander wie Hände, die in der Unsicherheit Halt suchten und stattdessen nur Luft fanden. Der Tross war klein: Händler mit müden Gesichtern, zwei Familien, deren Kinder im Schlaf wimmerten, drei Befreite auf dem Weg zu Namenszeremonien in Stormreach. Ignis war für diesen Abschnitt angemietet worden, die Route zu sichern. Nichts, was man in Tavernen groß erzählen musste. Alles, was man richtig machen musste. Er hatte sich den Auftrag ausgesucht, weil er halten wollte. Nicht brennen. Ein Test, ob er das Lodernde in sich so führen konnte, dass es wärmte, ohne zu verzehren.

„In Stormreach haben sie's unterschrieben," sagte einer beim Wagen, die Stimme rau wie ein alter Amboss, der zu viele Schläge gehört hatte. „Aerion Vael'Thir und Aeri'Vel. Sie sagen, die Sklaverei ist gebrochen. Einfach so. Mit Tinte."

„Papier brennt," knurrte ein anderer. Die Bitterkeit in seiner Stimme war dick genug, um sie zu schmecken. „Und die Runen? Ich hab gehört, in der Nacht vom Umsturz sind die Schutzzeichen einfach... eingeschlafen. Ganze Häuser blind geworden. Die Stummen Stimmen hätten ein altes Lied gesungen. Ein Lied, das Bindungsmagie müde macht, wie einen Mann nach drei Tagen ohne Schlaf."

„Unsinn," mischte sich eine Frau ein, die ihren Mantel trug, als wäre er ein Wappen aus besseren Zeiten. „Es waren seine eigenen Kinder. Blut gegen Krone. Aerion und Aeri haben die Ketten gelöst – mit einem Schwur im Namen des Kreislaufs. Ein neuer Eid gegen alte Siegel. Das ist Macht, die aus mehr kommt als nur aus Liedern."

„Schwüre sind auch Ketten," sagte der erste. „Schöner vielleicht, aber sie schneiden genauso tief, wenn man an ihnen zieht."

„Und die Händler?" Der Mann mit dem Amboss in der Stimme lachte kurz, ohne Freude, ein Geräusch wie brechendes Holz. „Die reden jetzt von Verträgen. Keine Sklaven mehr, nur noch Dienste. Du unterschreibst freiwillig, sagen sie. Freiwillig – wenn du keinen Namen hast und keinen Platz und dein Magen so leer ist, dass du deine eigenen Gedanken hörst."

„Aeri will Namenszeremonien," sagte die Frau leiser. „Identität zurückgeben, sagen sie in Stormreach. Namen, Rechte, Geschichte. Als könnte man ein Leben in ein Wort packen und es jemandem zurückgeben wie einen vergessenen Handschuh."

„Und in Zephyris? In Lutharion? In Gildenspire?" Der Ambossmann spuckte in den Sand. „Rechte kosten. Freiheit kostet mehr. Und wer bezahlt, wenn die Kassen leer sind?"

Ignis ließ die Worte an sich ablaufen wie Regen über heißes Eisen. Was blieb, waren die Stellen, an denen sie fauchend auftrafen, und die, an denen sie verdampften, bevor sie nass wurden. Sylvaris war der Monat, in dem die Alten Heilung erwarteten, in dem der Kreislauf eigentlich ruhig atmen sollte. Seit dem Morgen fühlte sich Heilung an wie eine Nadel, die das Falsche aus einer Wunde zog, während der Patient wach blieb und jeden Stich spürte. Derreislauf atmete anders. Schief. Es war, als hätte jemand weit draußen am Rand der Welt einen Strich versetzt, und alle Linien liefen plötzlich auf ungewohnte Kreuzungen zu, trafen sich dort, wo sie sich nie hätten treffen sollen.

Bevor die Nacht sich ganz gesetzt hatte, waren sie gekommen: vier Männer, sauber genug, um keine Räuber zu sein, schmutzig genug, um keine Beamten zu sein. „Dienstbünde," sagten sie mit Lächeln, die nach altem Eisen schmeckten. „Freiwillig." Sie hielten Pergamente, die nach Öl rochen, als hätte man sie zu oft mit ungewaschenen Händen berührt.

Ignis war aufgestanden, bevor einer der Händler einen höflichen Satz fertig stammeln konnte. Er trat zwischen die Männer und den Tross, hob zwei Finger, und mit der anderen Hand zog er eine schmale, glühende Linie über den trockenen Boden. Kein Wall. Eine Grenze. Die Flamme flackerte nicht einmal. Sie hielt, ruhig und fest wie ein Urteil.

„Freiwillig," sagte Ignis, ohne zu lachen, obwohl der Drang da war, „heißt, dass ihr gehen dürft, wenn ich Ja sage." Er grinste dann doch, schmal wie eine Klinge, die gerade geschärft wurde. „Heute sage ich Nein."

„He!" Einer der Männer machte einen Schritt nach vorn. Die Linie antwortete mit einem einzigen harten Zischen, kurz wie ein Schnalzer, aber die Hitze dahinter war spürbar. Der Mann blieb stehen, als hätte ihm jemand den Fuß in eine Erinnerung gestellt, die er lieber vergessen hätte.

„Wir sind hier für Ordnung," versuchte der Vorderste. Seine Stimme trug das Gewicht von jemandem, der gewohnt war, gehört zu werden.

„Ordnung ohne Ketten?" fragte Ignis freundlich, fast sanft. „Dann braucht ihr keine Verträge hier. Und wenn ihr doch welche habt – steckt sie euch dahin, wo ihr sie lesen könnt, wenn ihr rennt."

Sie wogen ihn mit Blicken, als sei er ein Preis, den man schätzen musste. Der Boden glühte unter seinen Worten, aber nicht hoch, nicht breit – genau. Präzise wie ein Schnitt, der nur die Haut ritzt, aber das Blut darunter spürt. Die Männer entschieden, dass es heute zu viele Augen gab, die später zu viele Fragen stellen würden. Sie zogen ab, langsam, mit der Würde von Männern, die sich einredeten, sie hätten es sich selbst ausgesucht. Jemand hinter Ignis atmete zu laut aus. Jemand anderes murmelte ein Danke, als hätte er eine Bitte mit einem Befehl verwechselt.

Ignis setzte sich wieder ans Feuer, als wäre nichts passiert. Das war der eigentliche Kampf: nicht anzufeuern, was lodern wollte. Wärmen, nicht brennen. Heute war ein guter Tag, um zu halten.

„Die Priester sagen, die Kreise stolpern," flüsterte jemand, ein Junge, dessen Stimme noch nicht sicher war, in welchem Fach sie liegen wollte. „Bindungen rutschen. Zauber greifen zu spät. Oder zu früh. Als wüsste die Magie selbst nicht mehr, wann sie kommen soll."

„Magie heuchelt jetzt auch Kontrolle," knurrte der Trockene. „Wie die Herrschaften. Tun so, als hätten sie alles im Griff, während ihnen die Finger zittern."

Eine Funkenmünze sprang aus dem Feuer, schlug Ignis auf den Handrücken und biss zu. Er ließ sie beißen, spürte das vertraute Stechen, das Brennen, das kam und ging wie ein alter Freund, der nie klopfte. Das Zischen klang wie eine Tür, die man schließt, damit sich eine andere öffnet. Er atmete aus, und die Flamme nickte, als hätte sie ein Argument verstanden und akzeptiert.

„Bei den Flammen," sagte er leise in die Glut, seine Stimme nur für das Feuer bestimmt, „wenn die Welt stolpert, lernt sie vielleicht endlich zu laufen."

Der Wind fuhr durch den roten Saum seines Umhangs, ließ ihn flattern wie eine Fahne ohne Reich. Die Goldringe in seinem Ohr klirrten leise, unschlüssig zwischen Schmuck und Siegel, zwischen Erinnerung und Versprechen. Ignis schob die linke, unbehandschuhte Hand näher an die Hitze. Die Narben darin antworteten mit dumpfem Leuchten, kein Prahlen, eher stures Atmen unter Asche. Er war tagsüber schelmisch gewesen, großmäulig, hatte über „Papier-Fesseln" gespottet und dem Tross Mut gemacht mit Worten, die leichter fielen als Wahrheiten. Nachts wurde er still. Das war sein Fehler. Oder seine Rettung. Er wusste noch nicht, welches.

Hinter ihm polterte ein Wagenrad in ein Loch, ein Fluch flog durch die Luft, und jemand erklärte mit der Sicherheit eines Mannes, der viele unsichere Dinge gesehen hatte: „Der König ist tot, die Ketten sind Worte geworden, die Priester singen neue Lieder, die Runen schlafen – und trotzdem tun alle so, als hätten sie einen Plan. Als wüssten sie, wohin die Straße führt."

Ignis' Mundwinkel zuckten. Heuchelt, was ihr wollt. Er drehte den schwarzen Handschuh fester um sein rechtes Handgelenk. Die Naht kratzte wie ein Gelübde, das man trägt, damit es scheuert, wenn man es vergisst.

Jemand am Feuer sagte, die Magie tue jetzt so, als wäre sie gezähmt. Heuchelei, nannte er es.

Ignis lachte, weil Lachen leichter war als Wahrheit – und im selben Atemzug merkte er, wie die Glut auf seinem Handrücken antwortete. Ein Funke biss zu, tiefer als die anderen, die Narben summten leise wie Saiten, die jemand anschlug, und der Geruch von nassem Aschestaub kippte zu Metall, Öl, Kohle. Der heutige Sylvaris trat einen Schritt zurück, unsicher und schüchtern. Ein anderer trat vor, mit schweren Stiefeln. Die Gegenwart stützte sich an seine Schultern; die Vergangenheit nahm ihn an der Hand.

Die Schmiede war kein Raum. Sie war ein Temperament, eine Laune aus Hitze und Eisen.

„Ein Tempel ohne Priester," hatte sein Vater gesagt, die Stimme tief wie das Grollen eines Herdfeuers. „Hämmer sind seine Glocken. Und wer hier betet, betet mit den Händen."

Es war der Tag von Ignis' Feuertaufe gewesen. Siebzehn Jahre lagen in seinen Knochen wie ein Schwert, das für jede Scheide zu groß geworden war. Schweiß klebte auf seinem Rücken, dick und salzig. Funken hatten längst gelernt, ihn wie einen Verwandten zu behandeln: mit Respekt und einer gewissen Frechheit, die nur Familienmitglieder sich erlauben durften.

„Heute schmiedest du mehr als Stahl." Die Stimme seines Vaters trug das Gewicht eines Balkens, den zwei Männer heben mussten. „Heute schmiedest du dich."

„Dann wird's schnell gehen," hatte Ignis geantwortet, das Grinsen schmal und zu scharf, wie eine Klinge, die noch geschliffen werden musste.

In der Ecke stand der Meister. Arme locker, Augen still, aus Stein geschnitten und doch nicht kalt. Kein Blut in seinen Adern, aber ein Fels, an dem Wasser lernte, nicht alles zu verschlingen. Er schwieg, bis Schweigen etwas bedeutete, bis es Gewicht bekam und im Raum stand wie eine vierte Person.

Sie fütterten den Herd mit Kohle und gebrochenem Knochenquarz, einem Zeichen der im Feuer Geborenen. Ignis hob die Hand, rief sein Feuer. Es kam ihm entgegen wie ein Hund nach zu langer Leine: zu freudig, zu schnell, zu ungeduldig. Er hielt die Leine kurz. Zärtlich. Hart. Die Balance zwischen Liebe und Disziplin. Die Flammen leckten am Rohstahl, und das Erz roch, als hätte es eine Zunge, als könnte es sprechen, wenn man nur genau genug hinhörte. Der Kreislauf summte, nicht in den Ohren – in den Knochen, tief drin, wo man ihn nicht ignorieren konnte. Heute vibrierte er schief, als hätte ein fremdes Herz in einem alten Körper versucht, den Takt zu übernehmen.

„Langsam," sagte der Vater.

„Ich weiß, was ich tue," erwiderte Ignis, zu schnell, die Worte wie Funken, die zu früh sprangen.

„Dein Feuer kennt die Arbeit noch nicht."

„Mein Feuer kennt mich. Und ich kenne die Arbeit."

„Arbeit kennt Geduld. Du nicht." Die Worte kamen ohne Schärfe, aber sie schnitten trotzdem.

Ignis atmete, und seine Hitze reagierte mit einem ganz leisen, albernen Triumpf, als hätte sie einen Punkt gewonnen. „Bei den Flammen..."

Gelb wurde Orange. Orange war das Lied, in dem Hitze zu singen begann, in dem Metall weich wurde und seine Geheimnisse preisgab. Der erste Schlag fiel zu hart – Funken sprangen beleidigt auf wie Kinder, die man zu unsanft geweckt hatte. Der zweite zu weich – der Stahl lachte ihn aus mit einem dumpfen, falschen Klang. Der dritte saß. Genau richtig. Der Rhythmus griff: Herz, Hammer, Herd. Ein Takt, den man nur verlor, wenn man versuchte, ihn zu besitzen, statt sich ihm hinzugeben.

Er öffnete den Mund. „Ich könnte—"

„Tu's richtig," sagte der Vater, nicht laut. Es hätte zärtlich klingen können, wäre der Ton nicht so zweckmäßig gewesen wie ein Hammerkopf, der genau dorthin fiel, wo er sollte.

Worte konnten Hiebe sein. Ignis' Kiefer spannte sich, die Muskeln zogen sich zusammen wie Seile unter Last. Der Meister hob zwei Finger, kaum sichtbar, eine Geste, die man leicht übersehen konnte: Halt. Ignis stoppte, die Klinge schräg, die Zange fest in der Hand, die Knöchel weiß.

„Warum?"

„Weil du dich hörst," sagte der Vater ruhig, „und nicht den Stahl. Du lauschst deiner Ungeduld, nicht dem Metall."

„Ich höre beides."

„Du bist lauter. Und laut ist nicht immer richtig."

Ignis lachte, aber Schärfe lag darin wie Splitter in Honig. „Ich bin Feuer."

„Dann lern zu glühen, statt zu lodern."

„Lodern bringt Licht. Lodern ist Leben."

„Und frisst Dachbalken. Und Häuser. Und manchmal die Menschen darin."

Der Meister trat vor, berührte die Rohkante mit dem kleinen Hammer, als streichle er eine streunende Katze, die ihm nicht ganz traute. „Dein Schlag zieht," sagte er mit einer Stimme, die klang, als hätte sie schon tausend solcher Gespräche geführt. „Du versuchst zu führen, bevor die Klinge folgen kann. Lass ihr den Schritt. Führen ist zuerst hören, dann lenken."

Ignis presste die Zange fester, als ließe sich ein Gedanke halten, wenn die Hand nur stark genug zupackte.

„Wenn ich nachgebe, verliert der Stahl Form," murmelte er.

„Wenn du zwingst, verliert er sie auch," erwiderte der Meister. „Atme. Spüre ihn. Dann schlag."

Ignis atmete. Einmal. Tief, bis die Luft in seinem Bauch ankam. Noch einmal. Sein Feuer, das zu Beginn vor Freude getanzt hatte wie ein Kind beim ersten Schnee, legte die Ohren an. Es kannte seine Hand, es mochte sie – aber es mochte die Freiheit dahinter mehr, und manchmal war das ein Problem.

„Weiter," sagte der Vater. Nicht loslassend. Nur weiser in der Richtung, wie ein Kompass, der nie log.

Ignis hob den Hammer. Der Schlag saß. Sauber. Noch einer. Die Klinge bekam Linie, Form, Absicht. Ein gutes Gewicht legte sich auf seine Brust wie eine Hand, die nicht drückte, sondern einfach da war, beruhigend und wahr.

„So," murmelte er, und die Hitze bewegte sich in ihm wie ein zufriedener Atem, der endlich Ruhe fand.

„Ignis." Nur sein Name. Aber darin lag: Halt dich. Nicht fliegen. Nicht jetzt. Nicht so.

Der Name prickelte auf seiner Haut wie Sandkorn unter einer Binde, die man nicht abstreifen konnte. „Vater, hör auf, mich zu zügeln."

„Zügel retten deine Knochen," sagte der Meister mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete. „Atme."

„Ich atme!" Er hätte es nicht schreien müssen. Doch der Zorn in ihm mochte keine leisen Bestätigungen, keine ruhigen Antworten. Der Hammer fiel eine Spur zu schnell, die Kante zog zu stark, der Stahl klang falsch – ein dissonanter Ton, der ihm wie Hohn durch den Arm fuhr. In seiner Brust machte etwas auf. Süß und heiß und sehr, sehr bekannt.

Die Flammen am Herd streckten sich, als hätten sie gehofft, endlich losgelassen zu werden, endlich zu dürfen. Ihre Zungen wurden schärfer, hungriger, und die Glut nahm Farbe an, die nicht nur Hitze war, sondern Wille. Absicht.

„Langsam," sagte der Vater, und diesmal lag Warnung in seiner Stimme.

„Hör auf!" zischte Ignis, die Hitze gestaut im Hals wie Wasser hinter einem Damm. „Ich hab's im Griff."

Die Luft machte eine Falte. Kein Knall, kein Funkenregen mehr als üblich – nur der Eindruck, dass der Kreislauf kurz die Augen schloss, wie ein alter Mann, der eine Stufe übersieht und den Aufprall erst im Knie spürt, wenn es zu spät ist.

Dann setzte die Flamme an. Nicht höher – wacher. Bewusster. Ein Fächer sprang über die Werkbank, fand eine glänzende Spur, die gestern hätte weggewischt werden sollen, eine Nachlässigkeit, die sich jetzt rächte. Öl erinnerte sich an seine Liebe zum Feuer. Der Herd machte einen inneren Riss, nicht zu sehen, aber zu hören für Haut, die gelernt hatte, auf das Flüstern von Gefahr zu lauschen. Das Feuer legte die Ohren an und sprang. Hungrig. Freudig. Frei.

„Ignis!" Der Vater war da, schneller als sein Alter es erlaubte, eine Hand an der Zange, die andere an Ignis' Schulter, fest, haltend. „Zurück!"

„Lass! Ich—"

„Atmen," sagte der Meister, schon jenseits der Hitze, die Zange am Rohling, die Unterarme fest wie zwei neue Balken, die ein Dach trugen. „Jetzt."

„Bei den Flammen, ich—"

„Atmen."

Ignis atmete, aber das Einatmen war glühend, und das Ausatmen war ein Grollen, und sein Zorn – oh, sein Zorn mochte die Bewegung der Luft wie ein Schmied das Klingen eines gut geschärften Hammers. Die Flamme hing an der Klinge wie Hunger, schlug nach dem Balken über dem Herd. Holz antwortete mit einem Ja, das es nie hätte geben dürfen, einem Zustimmen, das alles veränderte.

„Bei den Flammen—" Er hörte sich selbst, und das Hören machte die Hitze nur lauter, wütender.

Der Vater stieß ihn weg, hart und ohne höfliche Worte, ohne Rücksicht auf Stolz. Ein Dachbalken schrie wie sterbendes Vieh, brach mit einem Geräusch, das man nie vergaß, und sandte in Zeitlupe eine Wolke glühender Splitter durch die Luft, jeden einzelnen konnte man sehen, als hätte die Zeit selbst beschlossen, diesen Moment zu dehnen. Der Meister sah Ignis an. Nicht Furcht in seinen Augen. Ruhe. Ein Mann, der trinkt, obwohl das Wasser abgezählt ist, obwohl er weiß, dass es nicht reicht.

„Atmen", sagte der Meister ruhig, und in dem Moment, in dem Ignis Luft holte, tief und verzweifelt, schien die Luft um ihn mitzuschwellen.

Das Feuer im Herd antwortete.

Ein leises Grollen, tief und urzeitlich, als würde eine unsichtbare Lunge mit ihm atmen, als wären Mensch und Flamme eins geworden.

Ignis spürte den Druck in den Adern. Jeder Pulsschlag war eine Flamme, jeder Herzschlag ein Funke.

„Langsamer", mahnte der Vater, aber das war kein Befehl mehr. Das war Öl auf Glut.

Ignis' Kiefer spannte sich, die Zähne knirschten. Immer wollten sie ihn zügeln. Immer dieses „Langsamer, vorsichtiger, ruhiger." Wie sollte man Feuer zähmen, wenn man selbst eins war? Wie sollte man atmen, wenn jeder Atemzug brannte?

Er trieb den Hammer nieder. Ein Schlag zu stark. Dann noch einer, härter, lauter. Funken regneten auf den Boden, tanzten über die Runen im Stein, die eigentlich längst kalt sein sollten, erloschen, sicher. Aber die Runen begannen zu glimmen – kaum sichtbar, nur ein leichtes Pulsieren, als würde der Boden auf seine Stimmung reagieren, als wäre die Welt selbst ein Instrument, das er spielte.

„Ignis," warnte der Meister, und diesmal lag echte Dringlichkeit in seiner Stimme. „Dein Feuer—"

„—ist unter Kontrolle!" fauchte er, und genau das war die Lüge, die das Feuer hören wollte, die Bestätigung, auf die es gewartet hatte.

Die Luft kippte.

Ein Rauschen wie ein Atemzug, der nicht ihm gehörte, der aus dem Boden kam, aus den Wänden, aus dem Herd selbst.

Dann ein leises Knacken – kein Holz, kein Metall, sondern etwas Tieferes, Fundamentaleres.

Etwas im Kreislauf selbst hatte den falschen Ton getroffen, eine Note, die nicht in die Melodie gehörte.

Die Flammen in der Esse bäumten sich auf, hell wie geschmolzenes Gold, blendend, und warfen lange Schatten, die sich wie lebende Wesen bewegten. Sie wirkten lebendig. Zornig. Freudig. Beides zugleich.

Ignis wollte zurückweichen, doch das Feuer kam ihm entgegen – nicht in Zungen, sondern in einem Strom, der sich an seine Brust schmiegte, als kenne er ihn seit Jahrtausenden, als wären sie alte Freunde, die sich endlich wiederfanden. Seine Haut leuchtete. Seine Adern wurden Linien aus Licht, goldene Pfade unter der Haut. Er versuchte, das Feuer zurückzurufen, doch seine Wut war schneller. Die Flammen hörten auf sie, nicht auf ihn. Sie folgten dem Gefühl, nicht dem Verstand.

„Atmen!" schrie der Meister und trat zwischen ihn und den Herd. Er riss die Zange hoch, wollte die Klinge aus der Glut ziehen, den Fluss brechen, die Verbindung kappen – und in genau diesem Moment brach die Glut.

Ein Schrei ohne Stimme.

Ein Aufleuchten ohne Licht.

Das Feuer stürzte heraus wie Wasser, das zu lange festgehalten wurde, wie ein Fluss, der seinen Damm durchbrach – eine Druckwelle aus Hitze und Klang, die nicht nur brannte, sondern war. Die Welt war plötzlich nur noch Weiß, ein Nichts aus gleißender Helligkeit.

Ignis fiel, riss den Arm hoch, wollte abwehren, wollte schützen – doch das Feuer kam durch ihn hindurch. Es war nicht nur Flamme, es war Gefühl. Zorn, Scham, Stolz – alles, was in ihm brannte, verbrannte ihn jetzt, kehrte zu ihm zurück wie eine Schuld, die man nie bezahlt hatte.

Er sah noch, wie der Meister die Arme ausbreitete, als wolle er die Hitze einfangen, als könnte man sie halten wie einen Vogel – und wie das Feuer ihn annahm. Wie eine alte Schuld, die endlich heimkehrte. Wie eine Rechnung, die beglichen werden musste.

Dann Stille.

Nur das metallene Keuchen der Schmiede, das Atmen von heißem Stein und erkaltenden Flammen, und ein Geruch, der alle Erinnerung erstickte, der sich in die Nase brannte und dort blieb.

Ignis hustete, rang nach Luft, fühlte, dass seine Haut glühte. Nicht verbrannt, nicht zerstört – gezeichnet. Verändert. Dort, wo die Flammen ihn berührt hatten, zogen sich Linien, dunkel und hell zugleich, wie glimmende Schriftzüge unter der Haut, ein Text, den nur er lesen konnte. Sie pochten im Takt seines Herzens, pulsierten wie ein zweites Leben.

Er kroch zu dem Herd, sah die Klinge – halb geschmolzen, halb vollendet. Die eine Seite glatt, glänzend, makellos wie ein Spiegel. Die andere – verzogen, rissig, als wäre das Metall selbst vernarbt, als hätte es denselben Schmerz gespürt wie er.

Er hob sie hoch, und die Glut darin spiegelte sich in seinen neuen Narben. Für einen Moment sah es aus, als seien er und das Schwert dasselbe Metall, nur anders gehärtet, anders geformt.

„Du lebst," keuchte der Vater. Blut am Mundwinkel, ein dünnes Rinnsal, das er nicht wegwischte.

Ignis sah ihn an, zitternd, voller Scham, die tiefer ging als jede Wunde. Er wusste nicht, ob er die Worte hörte oder las, aber sie brannten sich in ihn ein wie die Narben auf seiner Haut.

An der Tür stand der Älteste, plötzlich da, als wäre er aus dem Schatten getreten. Er sah das Feuer, das noch zischte, den Meister, der reglos lag wie ein gefällter Baum, und sprach die Worte, die niemand hören wollte.

„Das Feuer hat gewählt."

Ignis lachte kurz, ein Laut zwischen Schmerz und Trotz, bitter wie verbrannte Asche. „Ich habe es nicht gewählt."

Der Älteste blickte ihn scharf an, die Augen wie geschliffenes Glas, das zu viel gesehen hatte. „Niemand wählt das Feuer. Man wählt, wer man darin ist."

Der Vater senkte den Blick. Ein kleines, schweres Nein, das mehr wog als alle Strafen, die man aussprechen konnte. In dieser Welt war Zuneigung selten laut – sie zog sich zurück, wenn sie zu viel brannte, wenn sie zu gefährlich wurde.

Ignis hob die Klinge, sah die Linie zwischen Schönheit und Makel, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was war. „Besser kämpfen und verlieren, als gar nicht kämpfen", sagte er leise, die Worte mehr für sich selbst als für die anderen.

„Feuer gehorcht dem, der nicht brennt," flüsterte der Vater, die Stimme heiser, gebrochen. „Lern zu glühen."

Ignis nickte. Aber in seinem Inneren glühte etwas anderes. Eine neue Flamme. Eine, die sich nicht mehr löschen ließ. Eine, die er entweder meistern würde – oder die ihn verzehren würde, bis nichts mehr übrig blieb.

Der Geruch von Metall, Öl und Kohle wischte sich aus der Nase seines Jetzt, verblasste wie Rauch im Wind. Die Straße trat zurück in den Rahmen seiner Augen, die Gegenwart schob sich vor die Erinnerung wie ein Vorhang. Das Feuer vor ihm züngelte, als hätte es seine eigene Erinnerung genossen, als hätte es zugehört. Ignis ließ die Schultern sinken, bis der Lederriemen seines Handschuhs wieder in die richtige Rille glitt, bis die Spannung aus seinem Nacken wich.

Bei den Wagen hatte sich das Gespräch verlagert, wie es immer tat. Es drehte sich im Kreis, suchte nach Antworten, fand keine, begann von vorn. Das tat es immer. Klären tat es sich nie. „Es gibt schon neue Häuser," sagte einer mit einer Stimme, die müde klang, zu müde für Hoffnung. „Sie nennen's Dienstbünde. Freiwillig." Er spuckte das Wort aus wie etwas Verdorbenes. „Aeri macht Namenszeremonien. Gibt ihnen Namen zurück, Identität, Geschichte. Aber Namen kaufen keine Brotlaibe. Namen füllen keine Mägen."

„Aerion verhandelt mit den Adligen," entgegnete die Frau im Mantel, die Stimme eine Mischung aus Bewunderung und Zweifel. „Die Hälfte will die neue Ordnung, glaubt an sie. Die andere Hälfte wartet auf eine Gelegenheit, die alte zu verstecken, zu verschleiern, in neue Worte zu packen."

„Verstecken kann man Runen in Verträgen," nickte der Ambossmann. „Nicht jeder Käfig hat Gitter. Manche haben Siegel. Manche haben Unterschriften und Zeugen und schöne Worte."

„Die Stummen Stimmen," warf ein Junge ein, die Augen weit, als erzählte er von Geistern, „haben angeblich wieder gesungen. Diesmal in Lutharion. Ganze Lager... die Zeichen sind ausgefallen. Einfach... still. Als hätte jemand sie ausgeblasen wie Kerzen."

„Wenn Bindungsmagie müde wird," sagte jemand mit der Gewissheit eines Mannes, der zu viele Theorien gehört hatte, „weckt jemand anderes sie wieder. Für einen Preis. Es gibt immer einen Preis."

Ignis sah nicht zu ihnen hin. Das Feuer vor ihm war mehr als Holz und Flamme. Es war ein Spiegel. Heuchelt, was ihr wollt. Ich kenne die Art, wie Hände ruhig tun, während Finger zittern. Ich kenne die Lügen, die man sich selbst erzählt.

Er zog den Handschuh ab. Die Narben auf seinem Handrücken glommen, als hätten sie seit Jahren eigenständig geübt zu sprechen, als wären sie eine Sprache, die nur er verstand.

„Bei den Flammen," murmelte er, mehr zu sich selbst als zu irgendjemandem, „Ketten sind auch Gedanken. Und Gedanken, die man nicht prüft, liegen schneller wieder auf der Haut als jedes Eisen. Schwerer manchmal."

„Ignathari?" Der Junge stand plötzlich näher, zu lang für seine Jahre, als wüsste sein Körper noch nicht, wie groß er werden wollte, als wäre er in seinen eigenen Gliedern verloren. „Stimmt es... also... wenn der Kreislauf stolpert... dass ihr euer Feuer dann halten könnt? Die Priester sagen, die Kreise sind unruhig. Alles wackelt."

Ignis hob den Blick. Aufmerksamkeit war ein Gewicht; er legte es dem Jungen hin, nicht hart, nur echt, nur ehrlich. „Man bändigt Feuer nicht," sagte er mit einer Stimme, die ruhig war, aber fest. „Man hält ihm die Hand hin. Wenn es dich kennt, wenn es dich versteht, beißt es vielleicht nicht. Vielleicht."

„Und wenn es beißt?"

„Dann lernst du, nicht zurückzubeißen, denn man verliert immer. Gegen Feuer gewinnt man nicht mit Wut. Man gewinnt mit Geduld."

Der Junge schluckte die Antwort, als müsste er sie in seinen Knochen versenken, als müsste er sie dort aufbewahren für später. „Und die Sklaverei? Ist sie... wirklich vorbei?"

Ignis dachte an Stormreach, an Tinte auf Pergament, an Siegel und Eide. An Namen, die man Menschen zurück auf die Zunge legte, damit sie sich selbst schmecken konnten, damit sie sich erinnerten, wer sie waren. An Händler, die aus Ketten Verträge formten und aus Gehorsam Dienste machten. Heucheln und Halten waren Brüder; sie trugen denselben Mantel, bis einer schwitzte, bis einer zusammenbrach.

„Sie ist beendet," sagte er, die Worte sorgfältig gewählt, „in Worten. Worte sind Werkzeuge. Manche sind Hämmer, die bauen. Manche sind Masken, die verbergen. Es kommt darauf an, wer sie schwingt. Und warum."

„Danke." Der Junge nickte langsam, so als müsste das Nicken erst von seiner Haut genehmigt werden. Und als würde er nur so tun, als hätte er es verstanden, als würde er die Antwort erst später begreifen, wenn er allein war.

Ignis wandte sich wieder dem Feuer zu. Der Funkenbiss war nur noch ein dunkler Punkt auf seiner Haut, eine kleine Erinnerung. Er hielt die Hand näher, spürte, wie die Hitze an seinem Puls lauschte, wie sie ihn kannte. Hitze log nicht. Sie tat weh oder gut. Nie beides. Nie gleichzeitig. Er hörte den Vater sagen: Lern zu glühen. Und in der Erinnerung stand der Meister, schlicht, die Maske der Flammen auf seinem Gesicht wie eine zweite Haut, und sagte: Atmen.

Er stand auf. Die Bewegung machte kein Geräusch, das Wichtigkeit vortäuschte, keine große Geste. Er zog die halb geschmolzene Klinge aus der Hülle. Die gute Seite fing Licht, glänzte wie ein Versprechen. Die zerlaufene verschluckte es, saugte es auf wie ein Geheimnis. Ich bin beides, dachte er diesmal ohne Trotz, nur mit Maß, mit Akzeptanz.

„Die Welt stolpert," sagte er halblaut, mehr zu sich selbst als zu den anderen. „Der Kreislauf wankt. Die Herren spielen stark, tun so, als hätten sie alles im Griff. Die Händler erfinden neue Wörter für alte Ketten, schöne Worte mit hässlichen Bedeutungen." Er schob die Klinge zurück in die Scheide, das Metall sang leise. „Ich stürze nicht. Nicht so. Nicht heute."

Der Trockene hob den Blick von seinem Becher. „Du redest wie einer, der schon gebrannt hat. Wie einer, der weiß, wie es sich anfühlt."

Ignis' Mund wurde schmal, ein Lächeln ohne Zähne, ohne Freude. „Ich habe nicht nur gebrannt. Ich war der Herd. Ich war die Flamme, die alles verzehrt."

„Und jetzt?"

„Jetzt versuche ich der Schmied zu sein. Der, der formt. Der, der erschafft."

Er streifte den Handschuh wieder über, langsam, bedächtig, als knüpfte er eine Leine, an deren Ende etwas lief, das er kannte und respektierte. Das Feuer knisterte lauter, als wolle es protestieren, dass einer ging, der seine Sprache sprach, der es verstand. Ignis drehte sich nicht um. Manchmal war Weggehen kein Verrat, sondern der einzige Gehorsam, der zählte. Manchmal war Abstand Respekt.

Er trat aus dem Lichtkreis. Die Zwischenlande nahmen ihn auf wie ein Feld, das Schuhe kannte, das gewohnt war an Wanderer. Der Sand unter seinen Stiefeln war kühl, aber nicht feindlich. Weit im Süden zeichnete sich die dunkle Linie einer Schmiedefeste ab, als hätte der Horizont dem Morgen bereits einen Funken abgerungen, als würde dort schon gearbeitet. Er ging nicht dorthin. Tempel ohne Priester konnten sich selbst genügen – oder nicht. Er war kein Priester. Er war nur ein Mann, der Feuer trug.

Mit jedem Schritt erinnerte ihn die Klinge an seine Hand, an seine Verantwortung. Nicht schwer. Nur wahr. In der Ferne rollte etwas, das kein Donner war, eher das Möbelrücken der Geschichte, das Verschieben großer Dinge. Stormreach hatte eine Tür geöffnet. Zephyris, Lutharion, Gildenspire flüsterten durch Ritzen, tuschelten hinter vorgehaltenen Händen. Namenszeremonien, dachte er. Namen waren Runen für die Zunge. Er mochte das Bild und traute ihm nicht. Namen waren nicht genug. Aber sie waren ein Anfang. Besser als nichts.

Er legte die linke Hand flach auf die Brust, dort, wo die Narben wie sternlose Wege lagen, wie Pfade, die nur er sehen konnte. Die Wärme darunter war verlässlich wie Atem, konstant wie das Schlagen seines Herzens. Über ihm machte sich der Himmel breit, als wolle er größer wirken, als er war, um die Ränder der Unruhe zu verdecken, um zu tun, als wäre alles in Ordnung. Die Welt spielte Kontrolle, wie ein schlechter Schauspieler Würde spielte: laut, hart, mit zu geradem Rücken, mit zu festen Worten.

„Ich entscheide," sagte Ignis in die Nacht hinein, seine Stimme fest, „welches Feuer ich bin."

Ein Windstoß hob den roten Saum seines Umhangs, ließ ihn flattern, dann fallen wie ein beendeter Satz, wie das Ende eines Gedankens. Hinter ihm nahmen die Stimmen bei den Wagen neues Material auf – Gerüchte, Befürchtungen, kluge Sprüche, mit denen Menschen die Ritzen zwischen Angst und Hoffnung ausstopften.

Er lachte leise, ein Geräusch ohne Freude, nur Erkenntnis. „Bei den Flammen," murmelte er, „ich brenne, bis ich glühe. Und dann glühe ich, bis ich verstehe."

Er ging auf der Straße, die keine Fragen stellte, und ließ den Kreis aus Licht hinter sich, bis die Glut nicht mehr skandierte, sondern summte. Der Mond, ein schiefer Teller am Himmel, hing zu hoch, um hilfreich zu sein, aber er gab der Welt wenigstens einen Rand, eine Grenze zwischen hier und dort. Schritte. Atem. Hitze, die blieb, auch wenn die Flamme nicht mehr zu sehen war. In seinem Kopf legte er die Klinge noch einmal auf den Amboss, ohne sie zu schlagen. Manchmal war Nicht-Schlagen die einzige Kunst, die man wirklich lernen musste. Manchmal war Zurückhaltung die größte Stärke.

Es dauerte, bis der Morgen einen dünnen Strich über den Horizont zog, zögerlich, als wäre er sich nicht sicher, ob er willkommen war. In der blassen Farbe sah er wieder die Schmiede: die Hand des Vaters auf dem Amboss, als prüfe er, ob die Welt fest genug sei, seine Sätze zu tragen. Du lebst. Das reichte nicht. Damals ein Schlag, hart und direkt. Jetzt ein Seil, das ihn hielt, aber auch fesselte. Leben war Anfang. Reichen musste, was du tatest, wenn es weh tat.

Er sah den Meister und den dünnen Ton von Atmen, das letzte Flackern. Er sah die Flammen, und er sah – überraschend – in dem Moment etwas, das er damals nicht hatte sehen können, weil es unter dem Licht verborgen gewesen war, unter dem Chaos: die winzige Bewegung von Lippen, die kein Schrei formte, sondern ein Wort. Nein, kein Wort. Ein Befehl. Nicht an ihn. An sich selbst: Halt. Der Mann hatte die Flamme nicht besiegt. Er hatte ihr nur die Hand hingehalten und beschlossen, nicht zurückzuzucken. Er hatte gewählt, wer er darin war.

Manchmal war Standhalten nicht laut; manchmal war es ein ruhiger Blick in eine Richtung, in der alles schreifte. Ignis hob die Klinge einen Finger breit aus der Scheide, nur um das leise Metallflüstern zu hören, das ihm seit Jahren sagte: Ich bin da. Ich bin Teil von dir. Er schob sie zurück. Er würde sie brauchen. Nicht, um zu zeigen, wie heiß er brennen konnte, sondern um zu beweisen, dass er sich entschieden hatte, wie er glühen wollte.

Er dachte an die Städte, an die Eide, an die Versuche, Ordnung zu spielen, während der Kreislauf die Melodie wechselte, während alles aus dem Takt geriet. Er stellte sich vor, wie in Stormreach Namenszeremonien abgehalten wurden – Stimmen, die Namen trugen wie frisch geschmiedete Ketten, die keine Ketten sein wollten, die Freiheit versprachen, aber vielleicht doch nur neue Formen von Bindung waren. Er stellte sich Händler vor, die Wörter polierten, bis sie nach Freiheit schmeckten und doch nach Gehorsam rochen, süß und bitter zugleich. Er stellte sich Priester vor, die in Runen sprachen, die am Rand ausfransten, weil die Linien im Stein neu liefen, weil nichts mehr war, wie es einmal gewesen war.

Kontrolle, dachte er, war ein Wort für Außenstehende. Für die, die zuschauten. Innen hieß es: Halt.

Er hielt. Er ging. Er glühte.

Als die erste Helligkeit den Rand der Welt strich wie ein Pinsel über Leinwand, antworteten seine Narben. Kein Leuchten zum Zeigen, kein Prahlen. Nur das sture, verlässliche Atmen von Glut unter Asche. Ein Versprechen, das nicht in Tinte geschrieben war, das keine Zeugen brauchte. Ein Eid, der kein Siegel brauchte, weil er in Fleisch und Feuer geschrieben stand.

Während in Stormreach Papier schwerer wog als Eisen und in den Zwischenlanden die Menschen taten, als hätten sie die Hände ruhig, als wüssten sie, was kommt, trat Ignis Rath'Mor an den Rand des Lagers, wo die Straße wieder zu einem Gedanken wurde, den man gehen konnte. Er war hier, um zu schützen. Wenn „Dienstbünde" wieder auftauchten mit ihren schönen Worten und hässlichen Wahrheiten, würde er ihnen Grenzen zeigen. Wenn Angst das Lager biss, wenn die Nacht zu lang wurde, würde er wärmen. Nicht brennen. Und wenn sein altes Feuer den Kopf hob, wenn es versuchte, ihn zu überwältigen, würde er ihm die Hand hinhalten – und nicht zurückzucken. Das war der Unterschied. Das war alles.

Er würde nicht der Mann sein, der immer die Flammen erhöhte, wenn die Welt lauter schrie. Er würde der Mann sein, der entschied, wann sie sprechen durften. Er würde die Hand hinhalten. Nicht, um zu zwingen. Um zu führen, indem er zuerst hörte. Zuerst verstand. Dann handelte.

Das Feuer in ihm summte seine Zustimmung. Leise. Aber da.

 

Chapter 24: Das Gleichgewicht der Schatten

Chapter Text

Datum: 24. Sylvaris (350 n.K)
Ort: Solthara
Figuren: Kuratorin der Spiegel

 

Das Licht fiel in Solthara anders als anderswo. Es zögerte, als müsse es Erlaubnis einholen, bevor es über die makellosen Wangenknochen der Elythari glitt und sich in den goldenen Terrassen verlor. Die Stadt schwebte hoch über den tieferen Inseln Elytharas – eine Ansammlung schimmernder Plattformen, verbunden durch Brücken aus geschliffenem Stein, deren Oberflächen so glatt poliert waren, dass sie wie gefrorenes Wasser wirkten. Jede Plattform trug Gärten, die nie verwelkten, Brunnen, deren Wasser aufwärts floss, Gebäude aus einem Material, das gleichzeitig Marmor und Licht zu sein schien.

Ein Fluss stieg hier nach oben. Gegen jede Vernunft, gegen jede bekannte Physik. Das Wasser band die Ebenen aneinander und ergoss sich in Becken von solcher Klarheit, dass man den Himmel darin vergessen konnte – und häufig vergaß, wo oben endete und unten begann. Gelehrte aus Thal'Vareth hatten versucht, dieses Phänomen zu katalogisieren. Die Elythari hatten ihnen höflich erklärt, dass manche Dinge nicht gemessen werden sollten.

Die Kuppel der Spiegel thronte über allem wie eine Krone aus poliertem Kristall. Säulen aus blassem Marmor, so alt, dass sie vor dem Kreislaufbruch gestanden hatten, trugen das Dach. Es fing Tageslicht ein und gab es in warmen, fast lebendigen Wellen zurück. Wer hier stand, spürte den Atem der Stadt. Langsamer als ein menschlicher Puls. Tiefer. Älter. Die Elythari bewegten sich darin wie Noten in einem Lied, das niemand komponiert hatte, aber jeder kannte. Ihre Bewegungen folgten Rhythmen, die nicht zu hören, aber zu fühlen waren.

Heute war die Halle gefüllt.

Gäste aus Stormreach. Männer und Frauen mit wettergegerbten Gesichtern, die noch den Salzgeruch des Meeres trugen, obwohl sie seit drei Tagen auf festem Grund standen. Sie sprachen leise miteinander, ihre Stimmen rau vom Wind der Sturmwege. Die Abschaffung der Sklaverei hatte ihnen Namen zurückgegeben – doch Namen allein füllten keine leeren Mägen, kauften keine Sicherheit. Sie waren gekommen, weil Solthara eingeladen hatte. Niemand schlug eine Einladung aus Solthara aus.

Händler aus den Zwischenlanden. Ihre Kleidung war eine Sammlung von Kulturen – Stoffe aus Sylvara, Knöpfe aus Ignirion, Gürtelschnallen aus Thal'Vareth. Sie waren die Adern des Handels, die zwischen den Kontinenten pulsierten, und sie verstanden eine Sprache, die älter war als Worte: Profit. Ihre Augen erfassten alles – die Anzahl der Wachen, die Qualität des Steins, die Temperatur der Höflichkeit. Sie wussten, dass Einladungen Preise hatten.

Gelehrte aus Thal'Vareth, ihre Roben bestickt mit Runen, die nur im richtigen Licht lesbar wurden. Sie trugen Schriftrollen wie andere Schwerter – jede ein Argument, eine Waffe aus Wissen. Arkanis hatte sie geschickt, offiziell zur "akademischen Zusammenarbeit". Inoffiziell, um zu messen, was die Elythari preisgaben und was sie verbargen.

Magiekundige aus verschiedenen Ländern, erkennbar an der Art, wie ihre Finger zuckten, als wollten sie Runen in die Luft zeichnen. Einige aus Kael'Zara, wo Kampf und Magie dieselbe Sprache sprachen. Andere aus kleineren Reichen, die zwischen den großen Mächten existierten wie Wasser zwischen Steinen.

Sie füllten den Raum mit Stimmen, die einander umkreisten, nie direkt berührten. Mit Gesten zu präzise, um zufällig zu sein. Mit Blicken, die Inventur machten. Das offizielle Fest zur "Stabilisierung nach der Befreiung" – so stand es in den Einladungen. Doch jeder hier wusste: Wenn die Elythari ein Fest gaben, feierten sie nicht. Sie arbeiteten.

Solthara vergaß niemanden. Die Stadt erinnerte sich an Namen, die längst von Zungen gefallen waren, ritzte sie in ihren Stein, flüsterte sie in den Morgen zurück. Manche sagten, die Toten lägen hier in den Wänden, ihre Geschichten eingeschlossen in Runen, die nur die Ältesten lesen konnten. Andere wussten es. An manchen Abenden, wenn das Licht eine bestimmte Neigung hatte, konnte man sie hören – ein Murmeln unter der Stille, als ob die Stadt träumte.

Ein Ratsmitglied trat vor. Sein Gesicht war schön auf die Art, wie alte Statuen schön sind – perfekt und ohne Fehler, doch ohne die kleinen Asymmetrien, die Leben bedeuten. Die beinahe Unsterblichkeit hatte ihn glatt gemacht. Seine Stimme glitt durch den Raum wie Öl über Wasser, geschmeidig und undurchdringlich zugleich.

„Nach Stormreach", begann er, und der Name allein ließ einige Anwesende zusammenzucken, „beginnt eine Zeit der Wiederherstellung." Eine gemessene Pause, genau abgewogen wie eine Handelswährung. „Namen kehren an ihre Träger zurück. Rechte finden ihre Hände." Wieder eine Pause. „Der Kreislauf verlangt Takt."

Der Kreislauf. Das Wort schwebte im Raum wie Rauch. Für die meisten hier war es eine abstrakte Idee, etwas, das Gelehrte diskutierten. Doch die Art, wie er es aussprach – mit einer Ehrfurcht, die an Furcht grenzte – ließ einige der Anwesenden innehalten.

„Wir geben ihm diesen Takt."

Applaus. Leise, höflich. Die Elythari klatschten nicht; sie nickten. Und wenn sie nickten, stimmte das Licht zu, als ob es derselben Partitur folgte. Ein Händler aus den Zwischenlanden applaudierte mechanisch, seine Hände bewegten sich, doch seine Augen blieben auf den Ausgängen. Er hatte schon zu viele Einladungen erlebt, die sich in Fallen verwandelt hatten.

Die Kuratorin der Spiegel stand nicht im Zentrum des Raumes, doch wer das Spiel verstand, wusste: Die Mitte war dort, wo sie stand. Sie war älter als die meisten hier, doch bei den Elythari bedeutete "älter" etwas anderes. Ihre Haut war makellos wie polierter Alabaster, ihre Augen die Farbe von Bernstein, der Licht speichert. Sie trug ein Gewand aus einem Stoff, der zwischen weiß und gold changierte, je nachdem, wie man stand. Ihre Hände ruhten auf der marmorglatten Brüstung, die Finger berührten kaum den Stein – und doch spürte jeder, der sie beobachtete, dass diese leichte Berührung mehr Macht hatte als eine geballte Faust.

Durch die offenen Bögen der Kuppel sah man die tieferen Terrassen von Solthara. Luft so klar, dass sie wie Wasser wirkte. Darunter die schwebenden Gärten, wo Pflanzen wuchsen, die nirgendwo sonst existierten. Noch tiefer die niederen Inseln Elytharas, und dann – weit unten – die Welt. Die Wälder von Sylvara. Vaelarion mit seinen Sturmtürmen. Die brennenden Berge Ignirions. Von hier oben sahen sie klein aus. Beherrschbar. So, als könnte man sie mit einer Handbewegung ordnen.

Die Kuratorin hörte zu. Aber nicht den öffentlichen Worten. Die waren Vorhänge, schön bestickt, bedeutungslos. Sie hörte den Ton darunter: das Zittern im Kreislauf, das seit fünfundzwanzig Tagen bestand. Seit jenem Tag in Stormreach, als Aerion und Aeri ihren König gestürzt hatten. Als Tinte Metall ersetzte, als der Eid ohne Kette gesprochen wurde. Die alten Bindungsrunen, die jahrhundertelang Sklaven markiert hatten, waren zerbrochen worden. Gut. Notwendig. Die Sklaverei war ein Schandfleck gewesen, ein System, das selbst die Elythari – in ihren seltensten Momenten der Ehrlichkeit – als barbarisch bezeichneten.

Doch das Metall hatte sich die Tinte gemerkt. Die Magie hatte ein Gedächtnis. Und jetzt zitterte der Kreislauf.

„In Stormreach", sagte eine Frau aus den Zwischenlanden neben der Kuratorin, deren Worte präzise wie frisch gemünzte Silberlinge fielen, „feiern sie Namen, als wären Namen Brot." Sie trug Ringe an jedem Finger – keine Schmuckstücke, sondern Siegel. Jedes repräsentierte einen Handelsvertrag, eine Schuld, eine Loyalität. „Eure... Begleitung bei den Namenszeremonien wird besänftigend wirken."

Die Kuratorin wandte den Kopf. Nicht schnell. Jede Bewegung ein Urteil. „Namen sind Werkzeuge. Werkzeuge sind so gut wie die Hände, die sie führen."

„Stormreach hat viele Hände, die jetzt führen wollen." Die Händlerin lächelte nicht. In den Zwischenlanden lernte man früh, dass Lächeln Schwäche zeigen konnte.

„Dann geben wir den Händen einen Takt." Ein fast unmerkliches Lächeln zog über die Lippen der Kuratorin. So leicht, dass selbst die Spiegel es nicht festhielten.

„Manche nennen das Zügeln."

„Manche nennen es Tanzen." Ihre Stimme hatte die Temperatur von geschmolzenem Gold kurz vor dem Erstarren – kalt genug, um zu verführen, heiß genug, um zu verbrennen.

Am Seiteneingang wartete ein Bote aus Thal'Vareth. Seine Kleidung war unspektakulär genug, um aufzufallen – grau wie Regenwasser, praktisch geschnitten, ohne Verzierungen. Genau das machte ihn verdächtig. Wer nach Solthara kam, trug seine beste Kleidung. Doch sein Schatten blieb länger an den Säulen haften, als Schatten sollten. Als hätte er Gewicht. Substanz. Die Kuratorin hatte ihn bereits bemerkt, als er vor einer Stunde durch die äußeren Tore gekommen war.

In der Mappe, die er trug, lag nichts Aufsehenerregendes – nur zusammengerollte Karten, einige Messberichte, alltägliche Korrespondenz zwischen Gelehrten. Gerade deshalb konnte es die Welt verändern. Die gefährlichsten Waffen sahen nie wie Waffen aus.

Als der Redner die Hände senkte und die Halle gemeinsam ausatmete wie ein einziger Organismus, trat der Bote vor. Keine Verbeugung. In Solthara war Namenlosigkeit die höchste Höflichkeit. Man ließ Gäste unbenannt, um sie nicht zu verlieren – eine alte Weisheit, die besagte, dass Namen Macht gaben. Wer einen Namen kannte, konnte ihn binden. Die Elythari verstanden das besser als jedes andere Volk.

„Euer Licht", sagte er ohne Eile. Die Formulierung war alt, respektvoll, aber nicht unterwürfig. „Die Messungen aus Arkanis sind abgeschlossen." Er sprach leise, doch seine Worte trugen. In Solthara musste man nie schreien. „Seit dem 27. Thalmaris zeigen drei Knoten Phasenfluktuationen. Weder geographisch noch meteorologisch zu begründen." Er hielt inne, ließ die Worte sich setzen wie Sediment im Wasser. „Wir haben das Zittern eingezeichnet."

Die Kuratorin neigte den Kopf. Eine Geste, die Zustimmung und Befehl zugleich war. „Im Nebenraum. Dort hat das Licht die richtige Fallhöhe."

Die Gäste glitten auseinander wie Wasser in Rinnen, folgsam und doch eigenständig. Offiziell wurden Tabletts gereicht – kleine Kunstwerke aus Kristall, gefüllt mit Früchten, die nirgendwo sonst wuchsen, Wein, der nach Sonnenlicht schmeckte. Höfliche Gesprächsfetzen über Handel und Wetter wanderten durch den Raum. Ein Gelehrter aus Thal'Vareth lobte die Architektur. Ein Händler erkundigte sich nach den Preisen für Elixiere – eine Frage, die mit einem höflichen Lächeln abgewehrt wurde. Elythara verkaufte keine Unsterblichkeit. Nicht an Fremde.

Leises Lachen, das die Rede in die Spiegel zurückschob, wo sie verstummte. Das Fest funktionierte wie ein perfekt geöltes Uhrwerk.

Unoffiziell folgten sechs Menschen der Kuratorin eine halbe Treppe hinab. Fünf, wenn man Schatten nicht zählte. Doch in Solthara zählte man Schatten immer.

Man sah es nicht, aber man fühlte es: Der Atem wurde kühler. Nicht von Luftströmung. Von den Leitlinien im Stein. Der Boden trug dünne Runenadern, alt wie Wasser, das seit hundert Jahren denselben Fels trifft. Sie leuchteten schwach, ein Glimmen wie von Glühwürmchen, die unter Milchglas gefangen waren. Hell genug, um nicht für Risse gehalten zu werden. Dunkel genug, um nicht mit Staub weggewischt zu werden.

Die Runen waren in einer Sprache geschrieben, die vor dem Ersten Bruch gesprochen worden war. Ikaril, die Ursprache. Nur wenige konnten sie noch lesen – die Elythari, einige Gelehrte aus Thal'Vareth, und jene, die zu viel Zeit in verbotenen Archiven verbracht hatten. Die Inschriften erzählten von Ordnung. Von Balance. Von dem Preis, den Chaos forderte.

Wer nicht wusste, was sie waren, fand den Raum ästhetisch ansprechend. Die Wände waren aus einem dunklen Stein, der Licht schluckte und langsam wieder freigab, als hätte er ein Gedächtnis. Es gab keine Fenster, doch die Luft fühlte sich nicht stickig an. Sie zirkulierte auf eine Art, die nicht natürlich war – gesteuert von Luftströmungsrunen, die in die Ecken eingelassen waren.

Wer wusste, fand ihn ehrlich. Hier unten fielen die Masken. Hier wurde nicht getanzt. Hier wurde gearbeitet.

Der Bote legte die Mappe auf den Tisch. Zwei Fingerklopfer gegen die glatte Oberfläche – ein alter Gruß unter Gelehrten, eine Bestätigung, dass das Wissen, das folgte, geprüft war. Die Runen antworteten mit einem Ton, den nur Zungen hörten, die Ruhe gelernt hatten. Ein Summen, das in den Zähnen saß, im Brustbein. Die Kuratorin hörte ihn. Sie hatte ihn schon lange gehört, bevor er erklang.

Die Karte war kein Land. Sie zeigte Linien, die niemand gegangen war und doch alle Wege umrissen. Knotenpunkte an Städten mit berühmten Namen – Stormreach, Gildenspire, Arkanis – und an Orten, die nur alte Geschichten kannten. Drei Knoten waren dunkler schraffiert, umgeben von kleinen Markierungen wie frisch getrocknete Tinte.

„Seit dem 27.", sagte der Bote. Seine Stimme blieb sachlich, doch die Knöchel, mit denen er die Kartenkante hielt, waren weiß. „Ein Rauschen im Fluss. Nicht überall, nicht gleich stark." Er zögerte, suchte nach den richtigen Worten. „Am 25. intensiver als am elften. Die Fluktuationen folgen keinem meteorologischen Muster, keiner Gezeitenlogik. Wir haben mehrfach gemessen. Verschiedene Methoden. Verschiedene Magister."

Die Kuratorin ließ die Hand über den Markierungen schweben, berührte sie nicht. Ihre Finger bewegten sich langsam, als würde sie etwas ertasten, das nur sie spüren konnte. „Messfehler sind oft nur Worte für Ereignisse, die man nicht wahr haben will."

Der Bote nickte. „Die Knoten?"

„Zwei konzentrieren sich um Stormreach." Er tippte auf die Karte. „Hier, wo die Thronstürzung stattfand. Und hier, an der Küste, wo die alten Bindungsrunen zerstört wurden." Er zögerte, bevor er weitermachte. „Der dritte Knoten liegt außerhalb der bekannten Muster. Dort, wo Linien nicht gern zugeben, dass sie sich treffen."

Das Ratsmitglied nickte, als stelle es eine Tatsache fest: „Thal'Vareth."

Der Raum wurde stiller, falls das möglich war. Thal'Vareth. Die Stadt des Wissens. Arkanis mit seiner endlosen Bibliothek, seinen Archiven, die tiefer in den Fels reichten als jede Festung. Ein Ort, wo Magie und Wissenschaft verschmolzen, wo alte Geheimnisse gehütet wurden wie Drachen ihr Gold. Wenn die Fluktuationen sich dort zeigten...

„Arkanis liest", bestätigte der Bote mit der Vorsicht eines Mannes, der weiß, dass Wissen Konsequenzen hat. „Wir schreiben nicht."

Eine alte Unterscheidung. Arkanis maß, dokumentierte, katalogisierte. Die Elythari entschieden, was mit dem Wissen geschah. Manche nannten es Partnerschaft. Andere Kontrolle.

„Wissen zu lesen heißt, es neu zu formen." Die Kuratorin sprach zur Linie auf der Karte, nicht zu den Menschen. Ihre Stimme hatte eine Qualität, die schwer zu beschreiben war – als ob sie nicht nur sprach, sondern die Worte formte, ihnen Gewicht gab. „Nur Narren glauben, Worte blieben, wie sie geschrieben wurden."

Ihre Finger bewegten sich leicht, als zeichnete sie etwas nach, das nur sie sehen konnte. In der Luft über der Karte schimmerte etwas – fast unsichtbar, ein Nachbild auf der Netzhaut. „Das Zittern folgt nicht Orten. Es folgt Entscheidungen."

„Eurem Rat", lächelte das Ratsmitglied. Das Lächeln war für Gäste gedacht, nicht für Wahrheit. Eine Performance.

„Nicht meinem. Nicht unserem." So ruhig, dass der Boden zustimmte. Unter ihren Füßen erwachten die Runen für einen Moment, pulsierten einmal, zweimal, beruhigten sich wieder. „Es folgt der Idee, dass Worte Metall ersetzen können, ohne Metall zu bleiben. Dass Eide ohne Ketten Bestand haben."

Sie wandte sich dem Boten zu, und zum ersten Mal begegneten sich ihre Blicke direkt. „Die Namenszeremonien in Stormreach waren notwendig. Richtig. Die Sklaverei war eine Wunde, die endlich geschlossen wurde." Eine Pause. „Doch jede Heilung hinterlässt Narben. Und manche Narben... jucken."

Der Bote schwieg wie Gelehrte schweigen, wenn sie verstehen und nicht entscheiden dürfen. Seine Hände zitterten leicht, als er die nächste Karte hervorzog. „Wir finden Korrelationen zwischen Namensritualen, neu aufgelegten Verträgen und..." Er suchte nach dem richtigen Wort, fand keines, das präzise genug war. „Der Dichte von Erwartungen."

„Erwartungen", sagte die Kuratorin, und zum ersten Mal trug ihre Stimme etwas wie Wärme – oder was für Wärme durchgehen konnte bei jemandem, der Jahrhunderte gesehen hatte, „sind die schwerste Form von Magie."

Sie nahm einen Atem auf den Takt der Linien. Ein alter Satz, halblaut gesprochen – so alt, dass die Worte in Ikaril kamen, nicht in der Gemeinsprache –, legte sich auf den Stein. Der Ton saß hinter den Schneidezähnen, nicht im Ohr. Ein kaum sichtbarer Glanz zog sich an einer dünnen Linie entlang, folgte ihren Worten wie ein treuer Hund. Das Zittern glättete sich um eine Nuance. Ein Nichts, das jeder im Raum bemerkte, selbst jene, die später behaupten würden, es nicht bemerkt zu haben.

Das Ratsmitglied atmete aus. „Harmonisierung."

„Bindung." Die Kuratorin korrigierte, ohne die Stimme zu heben. Ihre Augen blieben auf der Karte. „Glättest du den Fluss, wird er glatter. Machst du ihn glatter, wählt er leichter eine Richtung." Sie hob einen Finger, ließ ihn über die Linie schweben, wo Stormreach verzeichnet war. „Nicht irgendeine."

„Die richtige", sagte das Ratsmitglied automatisch.

„Die nützlichste." Sie ließ die Hand sinken. „Ordnung ist, was der Stärkste durchsetzen kann. Gerechtigkeit ist, wie er es nennt, wenn er gewonnen hat."

Die Worte hingen im Raum wie Rauch nach einem gelöschten Feuer. Der Gelehrte aus Thal'Vareth, der bisher geschwiegen hatte, räusperte sich. „Die Messungen zeigen eine Beschleunigung. Was am 27. begann, ist am 23. stärker. Am 18. noch stärker. Es ist keine lineare Progression. Es ist..." Er suchte nach einem Vergleich. „Wie ein Stein, der einen Hang hinabrollt. Langsam zuerst. Dann schneller."

„Und wenn er unten ankommt?" Die Kuratorin stellte keine Frage. Sie wusste die Antwort bereits.

„Wir wissen es nicht." Der Gelehrte klang unglücklich darüber. In Thal'Vareth lernte man, Unsicherheit zu hassen. „Die Modelle brechen ab. Zu viele Variablen. Zu viele unbekannte Faktoren im Kreislauf selbst."

„Dann", sagte die Kuratorin leise, „müssen wir die Variablen reduzieren."

Sie nickte dem Boten zu. „Arkanis liefert. Wir danken."

„Wir liefern Daten." Er wusste, was aus Daten wurde, wenn sie durch Solthara gingen. Rohmaterial, das zu Werkzeugen geschmiedet wurde. Werkzeuge, die Welten formten.

„Daten sind Fäden." Die Kuratorin faltete die Hände hinter dem Rücken. „Wir entscheiden, in welchen Webstuhl sie geraten. Und welche nie gewoben werden."

Es folgte Rede von Intervallen, Proben, Wettermustern, die keine waren. Von magischen Resonanzen entlang der alten Handelsrouten – der Sturmweg zwischen Vaelarion und Thal'Vareth zeigte Anomalien, die Bernsteinstraße nach Kael'Zara war unberührt. Von Tinte, die schwerer wog als Stein, weil sie Versprechen trug.

Das Ratsmitglied berichtete von Nachrichten aus Gildenspire, dem Handelszentrum von Thal'Vareth, wo Gerüchte kursierten über instabile Portale. Von Boten aus den Zwischenlanden, die von seltsamen Träumen berichteten – Träume, in denen alte Runen an Wänden erschienen, die sie nie zuvor gesehen hatten. Von einem Vorfall in Smoldercrest, der Schmiedestadt Ignirions, wo eine Waffe während der Fertigung zersplittert war – ohne äußere Einwirkung, einfach zerfallen, als hätte sie vergessen, wie man zusammenhält.

Unter allem lag, worüber man nicht sprach: Die Fluktuationen zerstörten die Ordnung nicht. Sie tasteten sie. Prüften sie. Als würde jemand an den Fundamenten rütteln, um zu sehen, wie fest sie standen.

Jemand musste die Hand sein, die zurücktastete.

Auf dem Weg zurück in die Halle ließ die Kuratorin die Hand an der Wand entlang gleiten. Der Stein fühlte sich an wie ein Tier, das neben dir geht und nur stolpert, wenn es nicht dein Tier ist. Warm. Fast atemend. Die Runen pulsierten unter ihrer Handfläche – ein Herzschlag, der nicht ihrer war.

Solthara lebte. Das wusste jeder, der genug Zeit hier verbrachte. Die Stadt war nicht nur Architektur. Sie war ein Organismus, gewachsen aus Jahrhunderten elytharischer Magie, aus den Seelen jener, die hier gestorben waren und deren Namen in die Wände eingraviert worden waren. Die Halle der Ewigen Namen tief im Inneren der Stadt beherbergte Millionen von Inschriften – jede ein Mensch, jede eine Geschichte, jede ein Teil des Ganzen.

Manche sagten, man könne sie nachts flüstern hören. Die Kuratorin wusste, dass es stimmte. Sie hatte die Flüstern gehört. Manchmal gaben sie Ratschläge. Manchmal warnten sie. Manchmal erzählten sie Geheimnisse, die besser vergessen blieben.

Die Kuppel der Spiegel füllte sich wieder. Mehr Gäste waren angekommen – ein Händler aus Nyxthar, der schattenhaften Stadt in Veydris, erkennbar an der Art, wie er sich bewegte, als wollte er nicht bemerkt werden. Zwei Krieger aus Kael'Zara, ihre Uniformen makellos, ihre Blicke niemals ruhend. Ein Magister aus Deyvara, der verlassenen Verwaltungsstadt, die beim Ersten Bruch zerstört und danach neu errichtet worden war – ein Ort aus Ordnung und Trauma.

Die einen lasen Gesichter. Die anderen maßen Abstände. Solthara entschied, welche Lesart blieb.

Zwischen den Säulen schwebten Brückenfenster hinaus ins Freie, unter denen Luftströmungen wie Flüsse zogen. Man konnte sie sehen, wenn man genau hinsah – Verzerrungen in der Luft, wo Magie den Wind leitete. Auf den Tischen standen Schalen mit hellem Wasser, in denen sich Decke und Himmel spiegelten. Wer hineinsah, sah zuerst sich selbst, dann das Oben, dann – wenn man lange genug starrte – etwas, das darunter lag. Möglichkeiten. Zukünfte. Oder Einbildungen.

„Wir beraten", sagte das Ratsmitglied zu einem Händler aus den Zwischenlanden, der zu interessiert an den Schalen aussah. „Wir begleiten. Wir stabilisieren." Ein höfliches Husten an der richtigen Stelle, so präzise wie ein Metronom. „Namenszeremonien geben Form statt Opfer." Ein weiteres Lächeln, so dünn wie Silberfolie. „Die Elythari waren eine Quelle. Wir bleiben es."

Der Händler nickte, als verstünde er. Er verstand nicht. Niemand verstand wirklich, außer jenen, die verstehen sollten. Das war das Schöne an öffentlichen Erklärungen – sie klangen nach Wahrheit, ohne eine zu sein.

Die Kuratorin merkte sich Gesichter. Nicht nur ihre Züge, sondern die Art, wie sie den Raum füllten. Der Krieger aus Kael'Zara – zu steif, als ob er Befehle erwartete. Die Magierin aus Sylvara – ihre Finger zuckten leicht, ein Zeichen von Unbehagen bei so viel poliertem Stein, so wenig wachsender Natur. Der Diplomat aus den Zwischenlanden – seine Augen ruhten nie länger als drei Sekunden auf demselben Objekt, immer suchend, immer wägend.

Und dann bemerkte sie es.

Ein Schatten an einer Säule – oder vielleicht nur eine Täuschung des Lichts. Elegant positioniert, so exakt im Halbton, dass man zweimal hinsehen musste, um sicher zu sein, dass dort überhaupt etwas war. Keine Insignien. Keine erkennbare Zugehörigkeit. Nur eine Präsenz, die flüsterte: Ich bin der Raum zwischen den Worten.

...

Komm nächste Woche wieder für Part 2

 

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