Chapter 1: Die Verwandlung
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Alfreds Lungen brannten wie Feuer, die Muskeln in seinen Beinen rebellierten gegen den Schmerz. Er durfte diesen jedoch nicht beachten und unter gar keinen Umständen durfte Alfred die Hand loslassen, die er mit seiner Rechten fest umklammerte. Es war Sarahs Hand. Sarah, deren Rettung ihn beinahe alles gekostet hätte. Geschwächt vom Blutverlust stolperte sie hinter ihm her. Graf von Krolock hatte sie auf dem Mitternachtsball der Vampire gebissen. Wie genau sich die Verwandlung nach einem Biss vollzog, war noch unklar. Der Professor forschte daran. Aber Alfred war sich sicher, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten. Sie mussten so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und das Schloss bringen. Doch sie waren noch lange nicht in Sicherheit. Zu Alfreds Erleichterung hatte das improvisierte Kreuz aus zwei ineinandergesteckten Kerzenständern im Ballsaal tatsächlich gewirkt. Die Vampire hatten ihnen nicht folgen können, sonst wäre ihre Flucht wohl gescheitert. Der Graf hatte seinem buckligen Diener befohlen, die drei Menschen zurückzubringen, um sie den Blutsaugern als Opfer darzubieten. Unwillkürlich erschauderte Alfred bei dem Gedanken.
Aber sie kamen schneller als der humpelnde Koukol voran und im dichten Wald waren sie ihn bald losgeworden. Doch der Schnee verriet sie – ihre Spuren waren nicht zu übersehen. So war es nur eine Frage der Zeit, bis der Bucklige wieder auf ihrer Fährte war. Außerdem bemerkte Alfred mit Sorge, dass sie immer langsamer wurden.
»Alfred«, rief Sarah atemlos. »Ich kann nicht mehr. Bitte!«
Langsam verringerte er das Tempo und sah sich um. Sarah taumelte hinter ihm her, vollkommen entkräftet und schien einer Ohnmacht sehr nah. Das rote Ballkleid hob sich unheilvoll von ihrer blassen Haut ab. Sie blieben stehen und Alfred rief nach dem Professor:
»Herr Professor, warten Sie. Wir müssen uns ausruhen.«
Ungehalten drehte sich Professor Abronsius um und sagte ungeduldig:
»Wir dürfen nicht rasten, Junge. Willst du, dass der Bucklige uns findet? Wir müssen bis zum Tagesanbruch das Dorf erreichen. Nur dort kann ich die Bluttransfusion durchführen.«, er machte eine kurze Pause. Sein Blick huschte zu den kleinen Wunden an Sarahs Hals. »Und sie retten.«
Alfred sah den Zweifel in den Augen des Professors. Mit einem Mal war sein Mund trocken und die Kehle schnürte sich ihm zu.
»Bitte, Professor. Nur ein paar Minuten«, sagte Alfred nachdrücklich, »Sarah braucht einen Moment Ruhe. Wenn ich sie tragen muss, kommen wir noch langsamer voran.«
Widerwillig sah Professor Abronsius ein, dass sein Assistent recht hatte.
»Gut, einverstanden. Aber nur ein paar Augenblicke. Dann müssen wir weiter.«
Alfred spürte, wie Sarah zitterte. Ob vor Kälte oder Erschöpfung, vermochte er nicht zu sagen. Er sah sich um. Seine Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt. Im schwachen Licht des Mondes sah er nichts als Bäume und Schnee. Alfred war dankbar, dass es nicht schneite, denn die Fußspuren, die sie hinterließen, waren die einzige Möglichkeit zur Orientierung. In der klaren Nacht waren sie gut zu erkennen.
Wenigstens ein bisschen Glück, dachte er.
Ein Stück neben sich erkannte Alfred schemenhaft einen alten umgestürzten Baum. Unbeholfen fegte er etwas Schnee beiseite und ließ sich mit Sarah darauf nieder. Sie lehnte sich an ihn und Alfred zog sie an sich, um sie zu wärmen. So gut er es eben konnte – in einem verschneiten Wald mitten in Transsilvanien. Professor Abronsius hatte sich ganz in der Nähe auf einen verwitterten Stein niedergelassen und ihnen den Rücken zugekehrt. Trotzdem sah Alfred, wie der Alte sein Notizbuch zückte und sich eifrig Notizen machte. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte der Professor ausgerechnet jetzt an seine Forschungen denken, wo sie doch so knapp mit dem Leben davongekommen waren? Andererseits überraschte es ihn auch nicht.
Es war ihnen gelungen, Vampire zu finden, aber beweisen konnten sie ihre Existenz immer noch nicht. Bildhaft stellte sich Alfred vor wie die Königsbacher reagieren würden, wenn der Professor an die Universität zurückkehrte. Als Beweis – nur das Notizbuch in seinen Händen. Nicht umsonst nannten sie ihn den „alten Spinner“.
Erneut wandte er sich Sarah zu, die jetzt ruhiger atmete.
»Es wird alles gut. Dir wird nichts geschehen.« Das war eine glatte Lüge, aber Alfred wollte sie nicht beunruhigen. »Bald wird es Morgen.«
Noch eine Lüge, denn er konnte absolut nichts am Himmel erkennen, was auf den kommenden Morgen hindeutete. Nur der Mond schien hell und klar.
Leise flüsterte Sarah: »Es wird nun anders oder? Ich werde nie mehr eingesperrt sein.«
»Nein, das ist vorbei«
Sie schloss die Augen, und nach einer Weile sagte sie: »Du? Ich möchte jeden Tag baden. Jeden Tag.«
Dann kicherte sie leise, und Alfred schmunzelte.
Nach ein paar Minuten wurde er unruhig. Sie sollten dringend weiter. Immer wieder sah er in die Richtung der Fußspuren, als erwartete er Koukol durch das dichte Unterholz brechen zu sehen.
»Sarah?«
Sie reagierte nicht. War sie etwa eingeschlafen? Alfred schob sie sanft wieder nach oben und erschrak. Eiskalt lagen Sarahs Hände in seinen. Das Gesicht ungewöhnlich blass. Konnte das vom Blutverlust herrühren, oder war sie etwa vor Erschöpfung gestorben? Panik stieg in ihm auf, und er wollte den Professor herbeirufen. Aber im selben Augenblick kam wieder Leben in sie. Langsam hob sie den Kopf. Erleichtert atmete er aus.
»Gott sei Dank, ich dachte schon, du wärst …«
Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken. Zu groß war seine Angst, sie wieder zu verlieren. Alfred hob den Blick von ihren Händen – und schreckte zurück. Vor seinen Augen sah er ein Monster. Ein wunderschönes Monster mit gierigem Blick. Diesen Ausdruck hatte er schon einmal gesehen, und zwar in dem Moment, als sich der Sohn des Grafen auf ihn stürzte, um ihn auszusaugen. Zu spät. Er war zu spät. Sarah war zum Vampir geworden. Ihre Mission war auf ganzer Linie gescheitert.
»Professor?«, rief Alfred mit kratziger Stimme. Die Augen fest auf Sarah geheftet. Vorsichtig erhob er sich und ging mit zögernden Schritten rückwärts. Sie folgte ihm. Auch sie wandte den Blick nicht ab.
»Alfred, flieh!« Mit scharfen Verstand erfasste der Professor die Lage sofort und zog ihm am Arm. Endlich löste sich der Bann zwischen ihnen und er lief dem Professor hinterher.
Er rannte so schnell er konnte – und wusste gleichzeitig, dass es sinnlos war. Immer wieder warf er einen Blick über die Schulter. Erwartete, Sarah zu sehen, die ihm folgte. Aber da war niemand. Zögernd blieb er stehen und sah sich um. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf. Alfred wusste, dass er beobachtet wurde, aber er konnte niemanden sehen. Alles was er sah, war sein eigener Atem, der in kleinen, hektischen Dampfwolken nach oben stieg. Es lag eine unnatürliche Stille zwischen den Bäumen und auf dem Schnee. Plötzlich knackte es im Gebüsch, und erneut geriet er in Panik. Er rannte weiter. Ein gutes Stück voraus lief der Professor.
Ruckartig blieb Alfred mit dem Fuß an einer Wurzel hängen und stolperte. Er stürzte und rutschte einen tiefen Abhang hinunter. Verzweifelt versuchte er, Halt am Hang zu finden, doch nichts bremste seinen Fall. Immer wieder schlug er gegen Felsen und Bäume. Endlich blieb Alfred liegen. Vorsichtig versuchte er sich zu bewegen, doch sein ganzer Körper bestand nur noch aus Schmerz. Dann wurde es dunkel.
Alfred erwachte, als er eine kalte Hand auf sich spürte. Kurz wusste er nicht, wo er war, doch schnell kamen die Qualen zurück. Er stöhnte und öffnete vorsichtig die Augen. Sarah war neben ihm.
Wie wundervoll, dachte er, benebelt vom Aufprall und seinen Verletzungen.
Irgendwo in seinem Kopf regte sich ein Gedanke, dass es gar nicht wundervoll war, dass sie hier dicht bei ihm kniete. Doch er wusste nicht mehr, warum.
Sie ist so wunderschön, dachte Alfred, dann schloss er wieder die Augen.
Sarahs kalte Hand glitt über seine Seite. Sein Körper zuckte zusammen – Schmerz und Erschöpfung mischten sich mit Furcht.
»Bitte nicht!«, sagte er schwach.
Die Hand verschwand. Nun spürte er einen kalten Atem an seinem Hals. Wie seltsam.
Auf einmal erwachte ein Teil seines Verstandes, und er erkannte, in welcher Gefahr er sich befand. Sarah war ein Vampir! Aber es war zu spät. Zu spät, um zu fliehen. Von Krolocks Worte erklangen fern in seinen Ohren:
›Spür die Wollust, dich aufzugeben.‹
Während Alfred der Gedanke kam, fühlte er, wie sich Sarahs Zähne in seinen Hals gruben. Er schrie auf. Bemerkte, wie sie an ihm trank. Seine Gedanken kreisten nur um die brennenden Einstiche in seinem Hals. Kraftlosigkeit überkam ihn, Schwindel flutete sein Bewusstsein. Die Welt um ihn herum verschwamm zu einem dichten Wirbel aus unzähligen Farben. Er konnte sein eigenes Herz schlagen hören, und das gleichmäßige Pochen wurde immer langsamer. War das Sterben? Erneut wurde es wieder dunkel.
Es war wie ein Traum, den man nach dem Aufwachen zu greifen versucht und der einem doch immer mehr entgleitet. Aber Alfred konnte nicht sagen, was Wirklichkeit und was Einbildung war. In einem unaufhörlichen Strudel aus Farben glaubte er, den Professor zu erkennen. Dann hörte er das Lachen des Grafen. Schließlich glaubte er zu fliegen. Er schaukelte auf Wolken hin und her. Sein Körper brannte wie ein Feuer. Etwas Vergleichbares hatte er nie zuvor gefühlt. Für diesen Schmerz gab es keine Worte. Wenn er gekonnt hätte, hätte er laut geschrien, aber Alfred war sich nicht sicher, ob er noch eine Stimme hatte. Wieder griff die Dunkelheit nach ihm, und er ließ sich dankbar fallen.
Er schlug die Augen auf. Wo war er? War er tot? Aber fühlte sich so der Tod an? Vorsichtig bewegte Alfred Arme und Beine und stellte fest, dass er noch einen Körper besaß. Einen lebendigen Körper, der keine Spuren mehr seines Sturzes aufwies.
Mit dem Gedanken an den Sturz kehrten die Erinnerungen zurück: die Flucht aus dem Schloss, Sarahs Verwandlung, sein Fall, der Biss. Unwillkürlich griff er sich an den Hals und stellte fest, dass die Bisswunden verschwunden waren. Er horchte und erstarrte. Kein Pochen mehr in seiner Brust. Kein dumpfer Schlag, der ihm versicherte, noch am Leben zu sein. Stattdessen hörte er das Rascheln von Flügeln, weit entfernt, fast wie ein Flüstern durch den Stein. So nah, so deutlich, dass es ihm die Kehle zuschnürte.
Nein, dachte er.
Wenn Sarah ihn gebissen hatte, dann konnte das nur einen logischen Schluss bedeuten: Alfred war nun auch ein Vampir. Ein Untoter. Ein Blutsauger. Jenes Wesen, das er gemeinsam mit dem Professor so leidenschaftlich verfolgt hatte. Das durfte nicht sein. Das hatte er nicht gewollt. Zögernd griff Alfred sich in den Mund und fühlte die langen, spitzen Eckzähne. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube: Er war kein Mensch mehr.
Doch war es Einbildung oder fühlte sich seine Haut anders unter seinen Händen an? Er strich über sein Gesicht, ließ die Finger über seine Kleidung gleiten und dann über das Holz, auf dem er lag. Alfred fühlte alles. Jede Faser. Jede Unregelmäßigkeit. Fasziniert von diesen neuen Eindrücken geriet seine Panik in den Hintergrund.
Er setzte sich auf und sah sich um. Es war eine Art Kerkerraum in dem er sich befand. Die Wände bestanden aus kahlem Mauerstein, hoch oben befand sich ein vergittertes Fenster. Alfred erkannte, dass es dunkle Nacht war. Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange lag er hier?
Neugierig sah er sich weiter um und es war, als sähe er zum ersten Mal. Genau wie sein Tastsinn war auch sein Sehvermögen verstärkt. Jede Rille im alten Stein war für Alfred sichtbar. Er sah die Mauer nicht nur, er konnte sie riechen. Und schmecken. Er war sich sicher, dass er als Mensch kaum etwas von seiner Umgebung hätte erahnen können, aber nun nahm Alfred alles wahr. Es war wunderschön.
Wie war er hierhergekommen? Wo waren Sarah und der Professor? Er drehte sich um, als hoffe er, eine weitere Person zu sehen. Doch er war allein. Zögernd stand Alfred auf, unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte. Er entstieg dem Sarg in dem er lag und ging auf die Tür zu. Doch plötzlich hörte er Schritte dahinter. Für einen Augenblick war er vollkommen fasziniert von dem Geräusch. Dann klopfte es leise und die Tür öffnete sich.
Graf von Krolock trat ein. Unbewusst holte Alfred scharf Luft. Mit seinen neuen Sinnen erfasste er erst das volle Ausmaß seiner Schönheit und Faszination. Aber auch die Präsenz, die Alfred immer noch Angst einjagte. Der Graf lächelte ihn an und breitete die Arme weit aus, als wolle er ihn umarmen:
»Willkommen, Alfred. Willkommen im Traumland der Nacht.«
Chapter 2: Der Geschmack der Ewigkeit
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Der Graf stand mit weit geöffneten Armen vor Alfred und dieser fühlte sich in der Gegenwart des Vampirs zunehmend unwohl. Ein heilloses Durcheinander herrschte in seinem Kopf. Noch vor wenigen Stunden hatte Alfred ihn als seinen Todfeind gesehen. Der Graf spürte seine Unsicherheit, senkte die Arme und ergriff das Wort:
»Verwirrend, nicht wahr? Ich ahne, dass du einige Fragen hast, aber ich weiß auch, dass der erste Durst der schlimmste ist.«
Seine Augen verengten sich und fixierten Alfred.
Tatsächlich nahm der Durst, nun da von Krolock seine Aufmerksamkeit darauf lenkte, sämtlichen Raum in Alfreds Kopf ein. Unwillkürlich griff sich an die Kehle und spürte dort ein heißes, scharfes Brennen.
»Lästig. Aber dem können wir abhelfen«, sagte der Graf, und sein Mund verzog sich zu einem teuflischen Lächeln.
Alfred begriff, was das bedeutete. Gemeinsam mit dem Professor hatte er sich ein umfangreiches Wissen über Vampire angeeignet, aber niemals hätte er erahnen können, wie es sich wirklich anfühlen würde, einer zu sein. Doch der Gedanke an den Professor lenkte einen Teil seiner Aufmerksamkeit wieder ab. Es gab Dinge, die Alfred unbedingt erfragen musste.
»Wo ist Sarah?«, fragte er den Grafen.
Lag es an seinem verstärkten Gehör oder klang seine Stimme anders? Schöner? Reiner? Alles an ihm selbst kam Alfred fremd vor.
»Sie ist in Sicherheit«, antwortete von Krolock knapp, doch Alfred gab sich mit der Antwort nicht zufrieden. Unruhig trat er von einem Bein aufs andere. Ob seine Unruhe vom Blutdurst kam oder dem Gedanken an Sarah, konnte er nicht sagen.
»Sie befindet sich im Schloss und ist, wie bereits gesagt, außer Gefahr.«, sagte der Vampir ungeduldig. Nachfragen schien er nicht gewohnt zu sein.
»Sie ist ein Vampir«, sagte Alfred mit fester Stimme.
Das war keine Frage, aber er musste es aussprechen, denn noch kam ihm alles wie ein Alptraum vor.
Der Graf nickte leicht und antwortete: »So wie du.«
Wieder traf ihn die Erkenntnis wie eine schmerzliche Wahrheit. Es war kein Alptraum.
»Wo ist Professor Abronsius?«
»Entkommen«, antwortete von Krolock knapp und Alfred hörte in dem einzelnen Wort eine Wut mitschwingen.
Doch ihm genügte das nicht: »Was ist passiert, nachdem Sarah…?«
Die Frage lag ihm schon auf der Zunge, aber der Graf hob eine Hand, und gebot ihm Einhalt.
»Ich werde dir all deine Fragen beantworten, aber nun ist nicht die Zeit zum Reden. Die Nacht ist kurz, und dein Durst ist stark. Ich kann es fühlen.«
War er einfach nur leicht zu durchschauen, oder besaß der Graf Zugang zu seinen Gedanken? Es war Alfred unheimlich, dass er in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch. Doch er hatte ohne jeden Zweifel recht was Alfreds Durst betraf. Es brannte ein Feuer in seiner Kehle und seine Gedanken kreisten nur noch um diesen einen Punkt. Doch er wusste was Vampire taten, um den Durst zu stillen. Sie töteten!
Erneut ergriff der Graf das Wort: »Komm und folge mir.«
Bei Alfreds Ankunft am Schloss hatte er diese Bitte schon einmal an ihn gerichtet. In jener Nacht hatte er es nicht getan, doch nun ging er ihm nach. Denn da war etwas Neues in ihm, das keinen Widerspruch duldete. Oder war es etwas Altes, das vorher gut verborgen war?
Gemeinsam gingen sie durch die Gänge des Schlosses zu einer alten Holztür. Sie betraten den Innenhof des Schlosses. Der Anblick, der sich Alfred nun bot, war atemberaubend. Nie zuvor hatte er die Nacht in diesen Farben gesehen. Nie zuvor schien er überhaupt jemals richtig gesehen zu haben. Die Schlossmauern waren mit ihren alten, zerfurchten Steinen wie ein Gemälde. Die Büsche und Sträucher im Hof bewegten sich sacht in einer Brise, und es war wie Musik in seinen Ohren. Jetzt konnte Alfred das Mondlicht vom Sternenlicht unterscheiden und beides war jenseits von seinen alten Vorstellungen als Mensch.
Der Graf wandte sich ihm zu und sah seine Verzückung: »Wunderschön, oder?«
Alfred widersprach ihm nicht. Er nahm einen tiefen Atemzug der kalten Nachtluft und konnte diese förmlich schmecken. All diese Eindrücke berauschten ihn.
Zielstrebig gingen sie über den Schlosshof und steuerte auf ein altes Gebäude zu. Wohin würde der Vampir ihn führen? Alfred sah, dass das Gemäuer bereits am Verfallen war. Der kleine Turm auf dem Dach verriet, dass es sich wohl um die ehemalige Kapelle des Schlosses handelte. Plötzlich hob der Graf seine Hand und blieb stehen. Alfred tat es ihm gleich. Was würde nun geschehen?
Von Krolock sprach leise zu ihm: »Was riechst du?«
Alfred schloss die Augen, atmete ein und nahm einen modrigen, feuchten Geruch wahr. Das war die alte Tür der Kapelle. Doch da war noch etwas. Alfred öffnete die Augen. Dieser Geruch war so köstlich, so verführerisch, dass er sofort losstürmen wollte. Das Brennen in seiner Kehle verstärkte sich, und das Feuer loderte schlagartig umso heftiger.
»Gut so«, sagte der Graf triumphierend, »geh hinein! Dort wartet ein Geschenk.«
Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben ließ Alfred den Vampir stehen und trat durch die Tür in die Kapelle. Die alten Kirchenbänke waren achtlos zur Seite geschoben. Der Großteil der Möbel war der Zeit zum Opfer gefallen und verfault. Der Altar war verwüstet. Alfred erkannte, dass es keine Kruzifixe in der gesamten Kapelle gab. Die bunten Kirchenfenster waren zerschlagen, und das Mondlicht spiegelte sich in den wenigen Scherben, die noch herumlagen. Es war dunkel, und doch konnte Alfred alles sehen. Ein leises Rascheln ließ ihn aufhorchen. Es kam von der Frontseite des Kirchenschiffs. Er spähte um einen der Pfeiler und erkannte ein unförmiges Bündel. Dieses Bündel war die Ursache des verführerischen Geruchs. Dort musste er hin. Das Geschenk des Grafen – ein Mensch. Mit zwei langen Schritten war Alfred bei ihm. Es war ein Mann. Aber Alfred war es gleich. Wenn er nur endlich diesem Duft noch näher kommen könnte.
Die Arme und Beine des Mannes waren gefesselt, und er hatte ein Tuch als Knebel im Mund. Verzweifelt versuchte der Gefangene zu schreien, doch es kam nur ein dumpfes Geräusch über seine Lippen. Die blanke Angst war in dessen Gesicht geschrieben. Alfred konnte es sehen – und zum ersten Mal, egal ob als Mensch oder Vampir, handelte er, ohne dabei zu denken. Er kniete sich neben sein Opfer, ignorierte die schwachen Schreie durch den Knebel, den ebenso schwachen Versuch zu fliehen, der von den Fesseln verhindert wurde. Langsam, beinahe zärtlich, drückte Alfred den Kopf des Mannes zur Seite, und seine spitzen Zähne durchbohrten mühelos die Haut.
Nie zuvor hatte Alfred etwas Vergleichbares gekostet. Es war jenseits seiner alten, menschlichen Vorstellungskraft. Hastig trank er und konnte das wilde, klopfende Herz seines Opfers im Blutstrom fühlen. Je mehr Blut er dem Fremden nahm, desto schwächer wurde dessen Herzschlag. Schließlich versiegte das Blut im selben Moment, in dem auch das Herz aufhörte zu schlagen. Der Mensch war tot. Das wusste Alfred, aber begreifen konnte er es nicht.
Er hob den Kopf und betrachtete den Leichnam unter sich. Langsam konnte er seine Gedanken ordnen. Erleichtert bemerkte er, dass der Durst und auch das Verlangen schwächer geworden war. Sein Körper fühlte sich wärmer an, und ein Blick auf seine Arme verriet, dass seine Haut weniger blass war.
Widerstrebend betrachtete er den Toten unter sich. Dessen Augen starrten, ohne zu sehen. Sie schienen Alfred regelrecht zu durchbohren. Da traf ihn die Erkenntnis abermals: Er war kein Mensch mehr. Und schlimmer noch: Er hatte wie ein Tier gejagt. Aus vollkommen freien Stücken. Eine kalte Hand legte sich um das, was einmal sein Herz gewesen war. Mit großer Mühe wandte er den Blick ab und betrachtete den Rest des Körpers. Der Mann trug abgetragene, verdreckte Kleidung. In seinen schwarzen Haaren klebten einzelne Halme von Stroh.
Vielleicht ein Bauer? schätzte Alfred. Wie war er dem Grafen in die Hände gefallen?
»Wunderbar, Alfred. Das war sehr gut.« Die Stimme des Grafen riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich habe gewusst, dass du für dieses Leben bestimmt bist.«
Mit fast lautlosen Schritten betrat von Krolock die Kapelle und seine Augen funkelten ihn an. Alfred wandte den Blick von der Leiche ab.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: »Wird er sich nun auch verwandeln?«, fragte Alfred panisch. Dass es möglich war, dass er einen Menschen zur Unsterblichkeit verdammt hatte, beängstigte ihn mehr als alles andere.
»Nein«, antwortete der Graf, »er ist tot und was tot ist, kann nicht zurückkehren. Um einen Menschen zu verwandeln, darf man ihn nicht töten.«
Unwillkürlich dachte Alfred an seine eigene Verwandlung zurück. Von Krolock schien seinen Gedankengang nachzuvollziehen.
»Koukol hat euch überrascht. Sarah war, nun ja, nennen wir es, gründlich, und es war fast zu spät. Doch dein Herz war stark, und Sarahs Gift begann, dich zu verwandeln. Koukol trug dich zum Schloss zurück, und dort bist du nach einer Nacht wieder zu dir gekommen«, erklärte der Vampir.
Alfred dachte an die verschwommenen Minuten nach dem Biss. Er hatte geglaubt zu fliegen, das musste dann der bucklige Diener gewesen sein, der ihn getragen hatte. Aber warum hatte seine Verwandlung so viel länger als Sarahs gedauert?
»Sarah ist eine Neugeborene. Ihr Gift ist noch nicht so stark wie das meine. Ich bin ein sehr alter und sehr mächtiger Vampir.«
Alfred schluckte. Das klang fast wie eine Drohung.
»Aber wie konnte sich Chagal verwandeln? Er war tot, als die Holzfäller ihn fanden«, sagte Alfred. Vor seinem inneren Auge sah er den Wirt vor sich – mit Frost überzogen und voller Bisswunden.
Imposant drehte sich von Krolock um, ballte eine Faust, und Alfred hörte den Zorn, der in seiner Stimme lag:
»Das war mein Fehler. Ich habe von ihm getrunken. Der Narr verfolgte seine Tochter zu meinem Schloss und wollte meinen Plan durchkreuzen. Aber er kam gerade recht. Ich war durstig und hatte bereits lange nicht mehr Blut zu mir genommen. Hätten sich unsere Wege nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gekreuzt, wäre ich möglicherweise nicht in der Lage gewesen, bis zum Mitternachtsball zu warten. Also trank ich von ihm. Fälschlicherweise nahm ich an, dass ihn die Kälte endgültig töten würde, aber ich habe ihn unterschätzt.«
Alfred erinnerte sich an die Nacht im Wirtshaus. Professor Abronsius und er wollten den Wirt pfählen, doch sie waren zu spät gekommen. Statt dem Wirt hatte die rothaarige Magd aufgebahrt auf dem Tisch gelegen. Hatte Chagal sie gänzlich ausgesaugt oder hatten sie ihn bloß gestört? Möglicherweise war sie nun auch ein Vampir. Alfred rief sich den Mitternachtsball ins Gedächtnis, doch weder der Wirt, noch die Magd waren ihm dort aufgefallen. Ärgerlicherweise kamen ihm seine alten, menschlichen Erinnerungen grau und undeutlich vor. Als hätte er vor seiner Verwandlung nur eingeschränkt gesehen.
Der Graf hatte sich wieder gefangen und sich zu Alfred gewandt. Sein schönes Gesicht war starr wie eine Maske.
»Wie dem auch sei. Ein törichter Fehler meinerseits«, sagte er und sah zum Himmel hinauf, »lass uns ins Schloss zurückkehren. Es dämmert bereits.«
Angewidert blickte von Krolock auf die Leiche neben Alfred.
»Koukol wird ihn beseitigen.«
Alfred warf dem Bauern einen letzten Blick zu und stand auf. Das Hochgefühl, das er beim Trinken empfunden hatte, war nun endgültig verschwunden. Eine dumpfe Leere machte sich in ihm breit. Er fragte sich, ob es beim nächsten Mal wieder so köstlich schmecken würde. Beim nächsten Mal? Hatte er gerade wirklich so kaltherzig an den nächsten Mord gedacht? Gleichzeitig fühlte er sich schuldig, denn nur durch seine eigene Hand war dieser Mann gestorben. Er war ein Mörder. Ein Vampir. Verwundert stellte Alfred fest, dass er überhaupt empfinden konnte. Der Professor hatte ihm stets eingebläut, dass Vampire seelenlose Kreaturen seien, unfähig zu jeglicher Gefühlsregung. Wie gern hätte er dem Professor nun berichtet, dass diese Theorie zumindest nicht der Wahrheit entsprach. Das Gegenteil war der Fall: Jedes Gefühl in ihm schien sich verstärkt zu haben. Wut, Trauer, Schuld, Freude. Jede Empfindung erfüllte Alfred und machte ihn fast schwindelig. Alles strömte durch ihn hindurch wie ein Sturm – so heftig, dass es ihm fast den Atem raubte.
Wortlos drehte sich der Graf um, und Alfred folgte ihm. Zurück im Schlosshof sah er die Morgendämmerung über den Bergen der Karpaten heranziehen. Die Luft veränderte sich, und seine Sinne rieten ihm, sich in Sicherheit zu bringen. Er wollte sich erinnern, wie sich Sonnenlicht auf seiner Haut angefühlt hatte – aber da war nichts. Kein Bild, kein Gefühl, nur Dunkelheit.
Der Graf führte ihn durch die Gänge seines Schlosses zurück zu dem Zimmer, in dem Alfred erwacht war. Der Sarg stand dort immer noch mit geöffnetem Deckel und schien auf ihn zu warten. Zögernd sah er zu dem Grafen hoch.
»Särge sind unabdingbar, Alfred«, sprach dieser, »du wirst dich schon bald daran gewöhnt haben.«
Alfred öffnete den Mund, um den Grafen erneut zu fragen, wo Sarah war, doch dieser fiel ihm mit einem müden, aber auch unmissverständlichen Tonfall ins Wort:
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich all deine Fragen beantworten werde, aber nicht heute Nacht. Die Morgendämmerung ist nah, und wir haben noch sehr viele Nächte vor uns.«
Er brach in schallendes Gelächter aus, und Alfred lief es dabei eiskalt den Rücken herunter.
Mit einer Armbewegung wies er auf den Sarg und Alfred begriff, dass er keine andere Wahl hatte. Wie ein Mensch, der in ein Grab steigt und hofft, noch einmal daraus aufzuerstehen, stieg er zögernd in den Sarg und legte sich hin.
»Wir werden dir bald ein etwas gemütlicheres Zimmer suchen.«
Das Wort gemütlich unterstrich er mit einer Handbewegung, die wohl als großzügig zu deuten war.
Von Krolock beugte sich über ihn und sagte langsam: »Gute Nacht, Alfred.«
Seine kalten, grauen Augen funkelten und durchbohrten ihn. Alfred fröstelte es erneut, als der Deckel über ihm geschlossen wurde. Er wartete auf den Schlaf, der ihm für ein paar Stunden köstliches Vergessen schenken würde.
Chapter 3: Gefunden
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Als Alfred erwachte, starrte er ins Dunkle seines Sarges, und genauso schnell, wie der Schlaf gekommen war, kehrten nun auch die Erinnerungen zurück. Er hatte getötet. Da war nun etwas Dunkles, dass an ihm haftete. Als seine Gedanken an den Moment des Bisses zurückkehrten, schloss er unwillkürlich die Augen. Wozu war er nun noch fähig? Er war doch ein guter Mensch. Ein Mensch? Nein, nicht mehr. Verwirrt fuhr Alfred sich über das Gesicht und durch die braunen Haare. Er war noch nicht bereit dazu, den menschlichen Rest, der noch von ihm übrig war, aufzugeben.
Mit einem Seufzer auf den Lippen schob er den Deckel vom Sarg weg. Er sah hoch zu dem Fenster und erkannte, dass die Sonne bereits untergegangen war. Er stieg aus dem Sarg und verließ den Raum. Unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte, stand er ein wenig verloren auf dem Schlossflur. Alfred wollte endlich Sarah sehen. Er musste sich vergewissern, ob es ihr gut ging. Gleichzeitig hatte er Angst vor dieser Begegnung, denn die letzte Erinnerung, die er an sie hatte, waren ihre furchteinflößenden Augen – ihr gnadenloses Handeln, der Moment, in dem ihre Zähne seine Haut durchschnitten.
Wäre Koukol nicht gewesen, wäre Alfred jetzt tot. Vor seinem inneren Auge sah er wieder den Bauern mit starrem, kaltem Blick. Kurz fragte er sich, welches Schicksal das schlimmere sei, und ballte die Fäuste. Vor was eigentlich? Vielleicht vor Wut? Nun war in ein Leben gestolpert, das er nicht selbst gewählt hatte. Gefangen in einem Alptraum. Ja, es war Wut. Er dachte an Professor Abronsius, der ihm beigebracht hatte, sich stets nur mit den Tatsachen auseinanderzusetzen. Wie gern hätte er jetzt mit ihm gesprochen. Doch dann fiel ihm ein, dass der Professor und er nun Feinde waren – wenn er überhaupt noch lebte, denn der Graf war nicht sehr mitteilsam gewesen. Andererseits war der Professor zäh, und Alfred hoffte, dass der alte Mann in Sicherheit war.
Da war aber noch ein Gefühl was sich regte als er an seinen Mentor dachte. Zorn. Warum hatte er Alfred nicht geholfen? Warum war er geflohen ohne sich noch einmal umzudrehen? Verwirrt schüttelte Alfred den Kopf. Die Emotionen fluteten nicht nur seine Gedanken, sondern auch seinen gesamten Körper. Ein Vibrieren in jeder Nervenfaser.
Als er sich gerade zum Gehen wandte und die Gänge des Schlosses näher untersuchen wollte, hörte er Koukols schlurfenden Gang, noch bevor er den buckligen Diener sehen konnte. Hinter eine Ecke wäre er fast mit ihm zusammengestoßen. Fluchend fuchtelte dieser mit einer Lampe vor Alfreds Gesicht herum. „Du. Mitkommen!“, nuschelte Koukol kaum verständlich. Alfred nickte und hoffte, dass der Bucklige ihn zu Sarah brachte. Es war still im Schloss. Der Gang kam ihm plötzlich so bekannt vor und er stutzte. Hier war er schon einmal gewesen, da war er sich sicher. Vor allem die furchteinflößenden Bilder kamen ihm so vertraut vor. Koukol führte ihn in ein Zimmer – sofort erkannte er den Raum. Es war das Schlafzimmer, in dem er mit Professor Abronsius übernachtet hatte. Dort, an dem großen Himmelbett, stand der Graf, den Rücken ihnen zugewandt. Als er die Tür hörte, drehte er sich um.
»Alfred, du erkennst das Zimmer bestimmt. Ich dachte es wäre passend, wenn wir uns hier wiedertreffen. Schließlich sind wir uns hier schon einmal begegnet.«, sagte der Graf und seine Augen funkelten bedrohlich.
Alfred stutzte. Er dachte an die Nacht zurück, doch er war mit dem Professor alleine gewesen. Auf einmal fiel ihm sein Alptraum wieder ein. Ein sehr realistischer Alptraum. Dort hatte er Sarah beschützen wollen, wurde aber bei dem Versuch vom Grafen gebissen und in einen Vampir verwandelt. Schweißgebadet war er in dem Moment, als er Sarah biss und von ihr trank, aufgewacht. Eine grausame Ironie, wenn man die Wirklichkeit bedachte.
Der Traum war Alfred sehr wirklich vorgekommen, aber das hatte er auf dieses furchtbare Schloss geschoben. Oder hatte es sich nur wie ein Traum angefühlt? Hatte er das alles tatsächlich erlebt – auf eine Weise, die sich seinem Verstand entzog?
Der Graf musterte ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. Beobachtete gespannt was seine Worte in dem jungen Vampir auslösten. Trotzig hielt Alfred seinem Blick stand.
»Ihr sagtet, dass ihr mir meine Fragen beantworten würdet.«
»Ja, das sagte ich. Aber nicht heute Nacht.«
Alfred wollte widersprechen, doch von Krolock kam ihm zuvor:
»Ich dachte, du würdest Sarahs Gesellschaft der meinen vorziehen.«
Prüfend sah der Vampir ihn an. Inständig hoffte Alfred, dass es ihm diesmal gelang, seine Emotionen für sich zu behalten. Endlich ließ ihn der eisige Blick los, und sein Gegenüber wies mit seinem Arm auf eine weitere Tür. Dahinter lag das Badezimmer.
»Ich dachte mir, du würdest dich gerne vor dem Treffen etwas zurechtmachen wollen.«
Alfred sah an sich hinunter. Ihm wurde bewusst, dass er noch immer die rosa Jacke des Vampirs trug, den er im Ballsaal außer Gefecht gesetzt hatte. Von dem rosafarbenen Stoff war allerdings nicht mehr viel zu erkennen, denn die Jacke war voller Blut und an vielen Stellen auch zerrissen. Gedankenverloren betrachtete er die Flecken und fragte sich, ob es sein eigenes Blut war.
»Wir haben im Ballsaal deine Kleidung gefunden. Ich bin mir sicher, dass du dich freust, sie wiederzubekommen.« sagte der Graf. Auf dem Himmelbett lagen seine alten Kleider. Kleidung aus einem anderen Leben. Aber Alfred war tatsächlich froh, seine rote Jacke wiederzusehen. Langsam ging er zum Bett, nahm sie in seine Hände und roch daran. Schwach nahm er seinen alten, menschlichen Geruch wahr. Auf eine verwirrende Art und Weise beruhigte er ihn, wenngleich sich sein Durst bemerkbar machte. Er sah zum Grafen und wusste nicht recht, wie er sein Anliegen formulieren sollte.
Beinahe belustigt sah von Krolock Alfred an: »Du fragst dich, ob Vampire Wasser zum Reinigen benötigen?«
Betretend senkt er den Blick und nickte.
»Du bist nun unsterblich. Du darfst tun und lassen, wonach dir der Sinn steht. Nun ja, sagen wir, fast alles. Aber das besprechen wir in einer anderen Nacht. Ich werde dich nun alleine lassen.«
Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal zu Alfred um:
»Ich wünsche dir eine angenehme Nacht.«
Alfred schluckte. Warum konnte der Graf einfache Sätze wie eine Drohung klingen lassen?
Als die Tür ins Schloss fiel, atmete er erleichtert aus. Zögernd ging er durch die Tür in das angrenzende Badezimmer.
Dort, auf einer Anrichte, über der ein Spiegel befestigt war, stand eine Waschschüssel mit frischem Wasser. Alfred tauchte seine Hand hinein. Das Wasser fühlte sich angenehm warm an. Er fragte sich, ob Kälte ihm überhaupt noch etwas ausmachen würde. Gründlich wusch er sich das getrocknete Blut von der Haut. Dann sah er auf und wollte einen prüfenden Blick in den Spiegel werfen. Ein erschrockener Schrei kam aus seinem Mund und er ging unwillkürlich mehrere Schritte rückwärts, bis er an eine Wand stieß.
Da war kein Spiegelbild, nur eine Abbildung der Wand gegenüber. Unfähig, den Blick abzuwenden, sank er zu Boden und schlug sich die Hände vor das Gesicht. In der Nacht zuvor hatte er einen Menschen getötet, und doch war diese Begegnung mit seinem nicht mehr existierenden Spiegelbild auf seine eigene grausame Art und Weise sehr viel schlimmer. Eigentlich hätte Alfred darauf gefasst sein müssen, denn als Herbert mit ihm tanzte, hatte er nur sich im Spiegel gesehen. Vampire besaßen kein Abbild ihrer selbst mehr. Laut Professor Alibori, dessen Schriften er ausgiebig studiert hatte, verloren sie ihr Spiegelbild gemeinsam mit ihrer Seele.
Hatte er wirklich seine Seele verloren? War er verdammt worden, weil er ein hilfloses Mädchen retten wollte? Weil er das Richtige tun wollte? Er war doch der Gute in dieser Geschichte gewesen. Der Professor hatte das Schloss nur aufgesucht, um seine Reputation in Königsberg zu erlangen. Alfred hingegen wollte Sarah retten – und der Preis dafür war hoch gewesen. Nun war er verflucht. Verflucht, sich von Blut zu ernähren und Menschen zu töten. Denn tötete er sie nicht, verdammte er sie ebenfalls zur Unsterblichkeit. Alfred wurde übel.
Zum Zweiten Mal in dieser Nacht überkam Alfred die Wut und er spürte sie im ganzen Körper. Das hätte alles nicht passieren dürfen. Hätte Sarah auf ihn gehört und wäre mit ihm geflohen, dann wäre nun alles anders. Hätte er doch niemals den Professor begleitet.
Lange noch saß Alfred auf dem Boden und gab sich seiner Wut hin. Ließ sie in seiner Brust brennen wie zuvor die Blutgier. Plötzlich hörte er, wie die Schlafzimmertür geöffnet wurde und ein weiteres Mal ins Schloss fiel.
Er gab sich einen Ruck und stand auf. Bevor er das Badezimmer verließ, zog er sich seine rote Jacke wieder an. Ein vertrautes Gefühl überkam ihn, dass das Glühen in seinem Oberkörper ein wenig dämpfte. Er öffnete die Tür, und Sarah stand ihm gegenüber. Für einen Moment hörte alles in ihm auf – der Lärm, der Zorn, sogar die Zeit.
Sarah war schon als Mensch wunderschön gewesen, doch nun sah Alfred sie mit seinen Vampiraugen. Alle Vampire, die er bisher gesehen hatte, waren nach seinen Maßstäben überirdisch schön gewesen. Galt das nun auch für ihn selbst? War er jetzt einer von ihnen? Wirklich einer von ihnen? Nicht nur mit den Zähnen, sondern mit dieser unheimlichen Anziehung und diesem kalten Glanz?
Vorsichtig sah Sarah ihn mit ihren großen, grünen Augen an, und ihre Locken umspielten ihr schönes Gesicht. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und die roten Stiefel des Grafen. Auch sie sah Alfred nun mit neuen Augen – mit den Augen eines Vampirs. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch hierfür gab es keine Worte. Wie sollte man das Unbegreifliche erklären?
Aufgewühlt von der Begegnung mit dem Spiegel war Alfred nicht zum Reden zu Mute. Immer noch konnte er den Zorn in sich fühlen. Jetzt wollte er keine Entschuldigungen hören, die nichts ändern würden. Alles, was er wollte, war, dass sein Kopf so herrlich leer wie die Nacht zuvor wäre. So ging er einen zögerlichen Schritt auf Sarah zu. Abwartend, was sie tun würde. Sie tat es ihm gleich. Noch ein Schritt, dann war er bei ihr. Alfred ließ seine Hand über ihr Gesicht gleiten, fasziniert davon, wie sich die glatte, kühle Haut unter seiner Hand anfühlte. Wie würden sich ihre Lippen anfühlen? Vorsichtig ließ er die Hand unter ihr Kinn gleiten, hob es sacht an. Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Dann schloss er die Augen und senkte den Kopf. Als sich ihre Lippen berührten, zog er sie dicht an sich. Dankbar erwiderte Sarah den Kuss. Alfreds Wunsch ging in Erfüllung und für einen kostbaren Moment war sein Kopf leer.
Als sie sich lösten, sagte Sarah:
»Ich möchte dir gerne etwas zeigen.«
Dabei strahlte sie ihn mit ihrem schönsten Lächeln an, sodass Alfred gar nicht anders konnte, als zu nicken und das Lächeln zu erwidern.
»Komm.«
Zielstrebig führte Sarah ihn durch die Gänge des Schlosses, die ihm immer noch wie ein Labyrinth erschienen. Dann blieb sie vor einer großen Holztür stehen, und Alfred konnte schwach den Duft von alten Leinentüchern wahrnehmen. Gemeinsam traten sie ein. Erstaunt blieb Alfred im Türrahmen stehen, denn er war umgeben von unzähligen Leinwänden. Manche rochen nach frischer Farbe, andere waren bereits trocken, wieder andere noch unbemalt. Es waren ganz unterschiedliche Bilder, und doch glichen sie sich in ihrer Gestaltung. Alfred erkannte Sarahs Eltern, die in der Wirtschaft die Gäste bewirteten, dann ein großes Porträt vom Mitternachtsball – Sarah im roten Ballkleid in der Mitte, umringt von durstigen Vampiren, neben ihr der Graf.
Die Gemälde waren voller unzähliger Details, wie sie nur ein Vampir erfassen konnte. Die Farben waren so eingesetzt, dass die Werke fast lebensecht wirkten. Alfred schluckte, als er sich selbst auf einem der Bilder erkannte. Es zeigte ihn nach Sarahs Biss mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Waldboden. Er hätte nie gedacht, dass Schmerz sich einprägen ließ. Nicht nur ins Gedächtnis, sondern auf Leinwand. Es war grotesk.
»Wie findest du sie?«, fragte Sarah und sah von den Bildern zu Alfred und zurück.
»Sie sind wunderschön«, antwortete Alfred geistesabwesend.
Vollkommen gefesselt von seinem Abbild, das seine letzten Minuten als Mensch zeigte. In seinem Kopf blitzte der leere Spiegel wieder auf. Er schüttelte sich, um die grausame Erinnerung zu vertreiben. Alfred würde sich selbst nie wieder sehen. Ein Gedanke, der ihn nicht mehr losließ. Kurz fragte er sich, ob der Versuch von Sarahs Rettung es wirklich wert gewesen war.
»Du zeichnest?«, fragte Alfred stattdessen.
Da wurde ihm bewusst, dass er sie nicht wirklich kannte. Bei ihrer ersten Begegnung im Badezimmer des Wirtshauses hatte er sich sofort in sie verliebt. Aber danach waren sie kaum allein gewesen.
Nun ja, immerhin kannte er ihre Vorliebe fürs Baden, dachte Alfred.
Eine zynische Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er sein Leben für eine Frau aufgegeben hatte, die er nie wirklich kennengelernt hatte. Was, wenn ihre Schönheit nur ein Käfig war und er der Vogel, der hineinspaziert war, weil er das Gitter nicht sah? Unweigerlich ballte er die Fäuste, versuchte ruhig zu atmen und gleichzeitig sich zu beruhigen. Inständig hoffte er, dass er seinen inneren Konflikt vor Sarah verbergen konnte. Doch sie schien nichts zu bemerken.
Sie nahm Farben und Pinsel in die Hand, drehte sich zu einer weiteren Leinwand um, und Alfred erkannte darauf eine Skizze vom Schloss.
»Ja«, antwortete Sarah. »Als Vater mich einsperrte, fing ich an zu malen. Ich habe schon in der Schule gerne gezeichnet, aber in den unendlich langen Stunden in meinem Zimmer war es meine einzige Beschäftigung.«
Sie versuchte, ganz ruhig zu sprechen, doch Alfred nahm ein schwaches Flattern in ihrer Stimme wahr, als würde sie gegen Tränen ankämpfen. Vermutlich waren ihr ihre Gefühlsschwankungen ebenso unangenehm und fremd wie Alfred seine eigenen.
Das Zimmer in dem Sarah lebte unterschied sich kaum von seinem. Ein großes, dunkles, verstaubtes Himmelbett stand in der Mitte. Die alten, dunklen Holzmöbel waren unachtsam an den anderen Wänden platziert, und eine weitere Tür führte vermutlich in ein Badezimmer. Mittendrin, zwischen all den Leinwänden, stand ein Sarg. Alfred schluckte bei dem Anblick.
Fasziniert sah er Sarah beim Zeichnen zu. Sie war vollkommen in ihrer Arbeit vertieft, ein paar Haarsträhnen fielen ihr locker ins Gesicht.
»Warum hat dich dein Vater eingesperrt?«, fragte Alfred vorsichtig.
Er dachte an seine eigene Jugend zurück und fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, niemals nach draußen zu dürfen.
»Ich glaube, er hatte Angst um mich«, antwortete Sarah, »Als ich jünger war, besuchte ich die Schule im Dorf, und alles war wie bei anderen Familien. Doch dann wurde ich älter. Als die ersten Burschen aus dem Dorf vor der Tür standen und um Erlaubnis baten, sich mit mir zu treffen, veränderte sich alles. Zuerst durfte ich das Haus nicht mehr verlassen. Ich dachte noch, Vater könne das Verbot nicht ewig aufrechterhalten. Schließlich musste ich ja weiterhin zur Schule gehen. Aber er bestach den Dorflehrer.«
Alfred hörte den Zorn in Sarahs Stimme, als sie weitersprach:
»Unter seinem wachsamen Blick durfte ich anfangs noch in der Wirtschaft aushelfen. Doch als dann die ersten anzüglichen Worte der Männer fielen, sperrte Vater mich Tag und Nacht in meinem Zimmer ein. Meine Mutter ließ mich heraus, wenn er Besorgungen machte. Aber auch sie blieb hart – sie hielt sich an sein Wort. Die Tür nach draußen blieb verschlossen. So verging Jahr um Jahr.«
Sie hob den Kopf und sah Alfred an. »Bis er kam. Und mich eingeladen hat.«
Ohne dass Alfred es verhindern konnte, fühlte er den Stich der Eifersucht – dort wo mal sein Herz geschlagen hatte. Trotz all seiner Warnungen war sie dem Vampir gefolgt.
»Aber warum hast du das getan? Wusstest du nicht, was er war?«, fragte Alfred fassungslos.
Er war im aufgeklärten Königsberg aufgewachsen und dann in eine Welt geraten, in der man sich Knoblauch an die Tür hängte wie Talismane. Sarah hätte die Gefahr doch erkennen müssen.
»Wir wurden in ständiger Angst erzogen.«, versuchte sie zu erklären. »Es war nicht so, dass jemand mit uns darüber sprach. Jeder sagte gerade genug, um die Angst am Leben zu halten. Alle paar Monate verschwanden Menschen aus unserem und den umliegenden Dörfern. Niemand wusste, was mit ihnen geschehen war. Überall wurde von den Blutsaugern geflüstert, aber niemand sprach es laut aus. Einmal schlichen sich drei junge Männer nachts in den Wald. Eine Mutprobe. Niemand sah sie jemals wieder.«
Alfred dachte an den Bauern, den er getötet hatte. Erneut überkam ihn diese bleierne Schuld, die ihm die Kehle zuschnürte. Lebhaft stellte er sich vor, was mit all den Verschwundenen geschehen war.
»Also ja, ich wusste von den Vampiren. Es wurde auch von einem Schloss gesprochen. Vater sorgte dafür, dass ich nicht zu viel erfuhr und vor allem, dass ich Koukol nie zu Gesicht bekam. Aber das ist ihm nicht gelungen.«, trotzig sah sie Alfred an. »Als der Diener dann die roten Schuhe brachte… ich konnte einfach nicht anders. Als ich dem Grafen gegenüberstand, war es wie ein Bann. Ich bin ihm gefolgt, obwohl ich wusste, dass es falsch war.«
Sie wich Alfreds Blick aus. Doch auch er erinnerte sich an seine erste Begegnung mit dem Vampir – an die Macht, die von ihm ausging.
»Ich denke, ich weiß, was du meinst«, sagte er langsam und rieb sich betretend über den Nacken.
Dankbar lächelte sie an.
»Vater und Mutter machen sich bestimmt große Sorgen. Ich wünschte, ich könnte ihnen sagen, dass es mir gut geht«, sagte sie, nahm wieder den Pinsel zur Hand. Dann runzelte sie die Stirn, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen, »Was ist mit dir Alfred?«
Ihre Frage brachte ihn aus dem Konzept. Gerade hatte er sich die Worte zurechtgelegt, um Sarah von dem Schicksal ihres Vaters zu berichten. Nun wirbelte ihre Frage alles durcheinander.
»Warum bist du nach Transsilvanien gekommen?«, fragte Sarah und blickte ihn neugierig an, »Warum hast du nach Vampiren gesucht?«
Sein Mund wurde trocken und in seiner Kehle war nun ein dicker Kloß, der ihm das Sprechen erschwerte. Das Gesicht seines Bruders tauchte vor seinem inneren Auge auf. Emil, sein großer, starker Bruder. Mit seinen Geschichten über Vampire. Geschichten, die er sich ausgedacht hatte.
Nun, offensichtlich nicht, dachte Alfred.
Er räusperte sich:
»Ich war Student in Königsberg. Einer meiner Dozenten war Professor Abronsius. Nun ja, er war … berüchtigt. Wegen seiner Abhandlung über Untote.« Er lachte bitter auf, als er sich erinnerte. »Er verlor seinen Lehrstuhl an der Universität. Eines Tages suchte er unter seinen ehemaligen Studenten nach einem Freiwilligen, der ihn hierher begleiten sollte. Ich sagte zu.«
Er machte eine kurze Pause. »Genau genommen, war ich der Einzige.«
Sarah mischte Farben auf ihrer Palette zusammen. Kurz fragte sich Alfred, ob er auch als Mensch dazu in der Lage gewesen war, zwei fast identische Blautöne voneinander zu unterscheiden.
»Was ist mit deiner Familie? Machen sie sich keine Sorgen um dich?«
Da war er immer noch, der Kloß im Hals – und das Brennen in seinen Augen. Schnell wandte Alfred den Blick ab und fixierte den dunklen Stoff des Himmelbettes.
»Es gab nur meinen Bruder und mich.«, die Stimme wurde brüchig.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Ein Feuer.«, sagte Alfred knapp.
Emil war einem Fabrikbrand zum Opfer gefallen. Gnadenlos hatten die Flammen Alfred alles genommen was er noch hatte. Als der Professor gerufen hatte, war er bereitwillig gefolgt. Hauptsache er ließ Königsberg hinter sich.
Heimlich war da aber auch ein anderer Wunsch gewesen: Vampire zu finden. Emils letztes Vermächtnis.
»Es tut mir leid. Du musst ihn gerne gehabt haben.«
Alfred schluckte und nickte. Worte, die diesen Verlust beschreiben konnten, hatte er noch nicht gefunden. Aufmunternd lächelte Sarah ihn an.
»Ich vermisse meine Familie auch.«
Sie weiß es nicht, schoss es Alfred durch den Kopf. Er presste die Lippen aufeinander. Wie konnte er ihr sagen, dass das Zuhause, nach dem sie sich sehnte, nicht mehr existierte?
Behutsam begann er zu sprechen:
»Hat der Graf dir nichts von deinem Vater erzählt?«
Mit finsterer Miene schaute Sarah auf:
»Er spricht nicht mehr mit mir.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht. Koukol fand uns in der Schlucht, in die du gestürzt warst. Er riss mich von dir fort. Trug dich zum Schloss zurück.«
Sie wich seinem Blick aus. Es schien ihr schwerzufallen, über diese Nacht zu sprechen.
»Ich folgte euch. Am Schlosstor stand er und herrschte Koukol an, dich hineinzubringen. Er trat ein und Herbert heraus. Er brachte mich hierher. Seitdem habe ich den Grafen nicht mehr gesehen.«
Alfred spürte, wie sehr Sarah das Verhalten des Grafen verletzte und zugleich stach ihn wieder die Eifersucht. Er zwang sich, seine Gedanken zu ordnen. Warum hatte der Graf ihn gerettet? Hätte Sarah ihn getötet, wäre er aus dem Weg gewesen. Es musste einen Grund für seine Verwandlung geben. Einen Grund, der ihm bisher verborgen blieb. Zwischen den beiden Jungvampiren legte sich unangenehmes Schweigen.
»Wo ist Herbert eigentlich?«, fragte Alfred betont gleichgültig.
Er war nicht unglücklich darüber, dem Sohn des Grafen seit seiner Verwandlung noch nicht begegnet zu sein.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Sarah achselzuckend. »Er schien in Eile zu sein. Murmelte etwas vom Auftrag seines Vaters und verschwand.«
Er öffnete den Mund, um ihr eine weitere Frage zu stellen, da durchbrach ein Schrei die Stille des Schlosses. Erschrocken ließ Sarah Pinsel und Farben fallen. Gleichzeitig fuhr Alfred vom Bett hoch. Sie sahen sich an.
»Das war der Graf«, sagte Sarah verwirrt.
Gemeinsam gingen sie zur Tür hinaus, dem Schrei folgend. In der riesigen Eingangshalle angekommen, sahen sie von Krolock vor dem schweren Eisentor auf und ab gehen wie ein Tiger im Käfig. Wütend schleuderte er Flüche in einer fremden Sprache durch den Raum.
Alfred bemerkte, dass der Graf nicht allein war. Hinter ihm stand Herbert, in seinen schwarzen Umhang gehüllt, und beobachtete seinen Vater mit einer Mischung aus Spott und Belustigung.
»Bist du dir wirklich sicher?«, fauchte von Krolock seinen Sohn an.
»Ja, Vater.«, antwortete Herbert gelassen, beinahe gelangweilt. »Ich habe ihn verfolgt, soweit ich konnte. Aber er war mir immer einen Schritt voraus und reiste bei Tag. Er ist ein kluger alter Mann.«
Erleichtert atmete Alfred auf. Herbert sprach vom Professor. Also war ihm tatsächlich die Flucht gelungen. Vielleicht war er schon auf dem Weg zurück nach Königsberg. Wenn da nicht nur die Erleichterung, sondern auch die Wut, in ihm gewesen wäre. Der Graf schrie erneut auf, dann stürmte er davon, ohne Alfred oder Sarah eines Blickes zu würdigen. Mit etwas Abstand, langsamer und stiller, folgte ihm Herbert und auch er schenkte den beiden keine Beachtung.
Chapter 4: Ein Gespräch am Kaminfeuer
Chapter Text
Schnell merkte Alfred, dass die Zeit an Bedeutung verlor, wenn man unsterblich war. Die Nächte reihten sich aneinander, ohne dass er ihnen besondere Beachtung schenkte. Seine Sinne waren seit der Verwandlung geschärft, und er nahm ständig neue Eindrücke auf. So konnte es geschehen, dass ihn ein kompliziertes Muster auf einem der kostbaren Teppiche stundenlang fesselte, ohne je Langeweile aufkommen zu lassen. Manche Nächte verbrachte er damit, Sarah beim Malen zu beobachten, ganz gefangen vom leisen Kratzen der Pinselborsten auf der Leinwand. Wieder andere Stunden streifte er durch das Schloss und versuchte, sich in den endlosen Gängen zurechtzufinden.
Alfred war bemüht, an seinem neuen Leben Gefallen zu finden, und es gab Momente, da fühlte es sich beinahe gut an. Doch dann erinnerte er sich an den starren Blick des Bauern, und die Schuldgefühle suchten ihn heim. Er war ein Mörder, und obwohl der Durst fürs Erste bezwungen war, wusste Alfred, dass er bald wieder unerträglich werden würde. Davor fürchtete er sich, seitdem er erlebt hatte, wozu er fähig war. Aber er konnte nicht leugnen, dass es ihn nach Blut verlangte und dass ihn der Gedanke an diesen unbeschreiblichen Rausch erfüllte.
Mit seiner Verwandlung verschwanden auch Alfreds menschliche Bedürfnisse. Das Einzige, was aus seinem alten Leben als Mensch übriggeblieben war, schien das Verlangen nach Schlaf zu sein. Jeden Morgen begab er sich in seinen Holzsarg und verbrachte dort den Tag. Der Schlaf kam schnell und traumlos.
Seit der Rückkehr Herberts hatten Alfred und Sarah weder ihn noch den Grafen selbst zu Gesicht bekommen. Es bestand kein Zweifel daran, dass er sich im Schloss befand. Alfred konnte seine Präsenz spüren – fast so deutlich, als könnte er ihn berühren. Wenn er durch die Gänge strich, fühlte er sich stets beobachtet. Manchmal hatte er das Gefühl, die Blicke der gemalten Augen verfolgten ihn aus der Dunkelheit heraus. Allerdings war er erleichtert, dass er nicht auf Herbert traf, denn Alfred hatte ihre letzte Begegnung im Badezimmer noch sehr lebhaft in Erinnerung.
Er fragte sich, ob sich der Graf an sein Versprechen halten und ihm seine Fragen beantworten würde. Es war ihm immer noch ein Rätsel, warum er nicht zugelassen hatte, dass Sarah ihn tötete. Warum war ihm sein Überleben so wichtig gewesen?
Die nächste Nacht begann, wie Alfred es bereits gewohnt war. Er erwachte kurz nach dem Sonnenuntergang und schob den Deckel des Sarges zur Seite. Es war immer noch tiefer Winter, und eigentlich hätte Alfred seinen Atem als Dunstwolke sehen müssen, aber da sein Körper kalt war, war da kein heißer Luftzug mehr. Ihn selbst störte die Kälte nicht. Nachdem er den Bauern ausgesaugt hatte, wurde sein Körper für einige Zeit von dem fremden Blut erwärmt. Es erinnerte ihn an die kalten Winterabende in Königsberg, wenn er mit Emil vor dem Kaminfeuer im Wohnzimmer gesessen hatte. Er vermisste das Gefühl mehr, als er es sich eingestehen wollte. Sein Durst regte sich. Wie immer, wenn er an den Bauern dachte, aber noch konnte Alfred ihn beherrschen und seine Gedanken auf andere Dinge lenken. Doch er fragte sich, wie lange noch. Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken, und Koukol trat hinein.
»Graf! Mitkommen!«, nuschelte er, drehte sich um und humpelte davon. Kurz fragte sich Alfred, ob Koukol auch mehr als diese beiden Wörter in seiner Sprache beherrschte. Aufgeregt folgte er ihm und fragte sich gleichzeitig, was der Graf von ihm wollte.
Der Bucklige führte ihn in einen Teil des Schlosses, den Alfred bereits erkundet hatte. Vor einer großen, kunstvoll geschnitzten Holztür hielten sie inne. Gerade als er sie öffnen wollte, wurde sie schwungvoll aufgerissen, und Herbert stürmte heraus – offensichtlich verärgert. Mit unheilvoller Miene würdigte er weder Koukol noch Alfred eines Blickes und eilte davon. Verwirrt sah Alfred ihm hinterher. Was hatte das zu bedeuten? Der Diener des Grafen zuckte ungerührt mit den massigen Schultern und zog ihn unsanft am Arm, damit er ihm folgte.
Es war ein prachtvolles Zimmer, das zeigte, wie reich die Familie von Krolock einst gewesen war. Ein Raum, in dem sich der Staub des Reichtums vergangener Jahrhunderte zu sammeln schien. In der Mitte stand ein großer Tisch aus edlem, dunklem Holz mit passenden, ebenso edlen Stühlen. Der Boden war mit bunten und sehr kostbaren Teppichen ausgelegt. Die Wände waren, wie auch die Flure, mit großen Kunstwerken geschmückt. In den Ecken standen alte Ritterrüstungen aus vergangenen Tagen. Vor den großen Fenstern, die von dunklen Vorhängen gerahmt wurden, stand der Graf – furcht- und respekteinflößend wie eh und je. Mit einem dezenten Wink gab er Koukol zu verstehen, dass dieser zu gehen hatte. Dieser verneigte sich, so gut er eben konnte, verließ das prächtige Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Ohne eine erkennbare Regung stand von Krolock weiterhin am Fenster – wie eine Statue. Alfred wurde die Stille unangenehm. Denn mit der Stille kam eine Spannung im Raum auf. Eine angespannte Atmosphäre, die ihm gar nicht behagte. Er räusperte sich vorsichtig und trat ebenfalls ans Fenster, darauf bedacht, genügend Abstand zwischen sich und dem Grafen zu lassen. Alfred blickte hinaus. Als Erstes sah er den Vollmond, der groß und silbrig am Firmament stand. Doch der Graf achtete nicht auf den Himmel, sondern sah nach unten. Als er dem Blick folgte erkannte er, dass von Krolock den Friedhof betrachtete. Den Gleichen, den auch Alfred und Professor Abronsius einst von den Zinnen aus beobachtet hatten. Er erinnerte sich, wie sich die Grabplatten nach und nach gehoben hatten und unzählige Vampire ihren dunklen Gräbern entstiegen waren, um den Mitternachtsball zu besuchen. Es war noch immer eine gruselige Erinnerung – auch wenn er nun einer von ihnen war.
Jetzt lagen die Gräber unberührt dar, wieder dick eingeschneit, manche unter den weißen Flocken kaum noch zu erkennen. Als von Krolock das Wort ergriff, vibrierte seine dunkle Stimme in Alfreds ganzem Körper.
»Deine Brüder und Schwestern. Du wirst sie beim nächsten Mitternachtsball kennenlernen.«
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Brüder und Schwestern. Er konnte sich keinen Begriff davon machen, was ihn erwartete. Bilder stiegen in ihm auf: Bleiche Gesichter, stumme Gestalten in dunklen Gewändern, hungrige Augen, die sich auf ihn richteten. Der Mitternachtsball war mehr Gericht als Fest gewesen. Doch er spürte einen Anflug von Neugier. Was, wenn sie waren wie er? Was, wenn sie verstanden, was in ihm vorging?
»Ich habe dir versprochen, deine Fragen zu beantworten, und ich halte meine Versprechen. Wie ich sehe, hast du dich bereits an dein neues Leben gewöhnt?«
Alfred sah betreten zu Boden. Wie sollte er ihm begreiflich machen, dass er zwischen seinem alten Leben und seinem neuen als Vampir hin- und hergerissen war?
Doch der Graf schien ihn, einmal mehr, zu verstehen. »Du musst nicht antworten. Ich verstehe deine Zerrissenheit. Aber ich möchte dir sagen, dass du nur Frieden finden wirst, wenn du dein Schicksal annimmst. Dir wurde eine Gabe geschenkt.«
Bisher erschien Alfred die Unsterblichkeit eher wie ein Fluch. Ein Geschenk. So nannte der Graf es. Doch was hatte er erhalten? Kein Herzschlag mehr, kein Atem, kein Hunger, den ein warmes Brot stillen konnte. Stattdessen der Durst. Unberechenbar, fordernd, fremd. Er dachte an das Blut. Es hatte ihn berauscht und gewärmt, ja. Aber auch entmenschlicht. War das wirklich eine Gabe? Oder nur ein eleganter Name für etwas, das ihn Schritt für Schritt von sich selbst entfremdete?
Von Krolock wandte sich vom Fenster ab und ließ sich vor einem imposanten Kamin in einen Sessel aus rotem Samt nieder. Im Kamin loderte ein Feuer, das Wärme verstrahlte, die Alfred kaum wahrnahm, denn vom Grafen ging stets eine gewisse Kälte aus. Mit einer Armbewegung wieß er auf einen weiteren Sessel. Nach kurzem Zögern nahm er Platz.
»Ich habe dir bei deiner Ankunft vor dem Schloss gesagt, dass ich dich führen und leiten werde. Das habe ich nicht vergessen. Bitte verzeih, dass ich es bisher versäumt habe. Es gibt einige Dinge, die du wissen musst. Also, lass uns beginnen.«
Unsicher und voller Spannung hörte Alfred ihm zu.
»Zunächst beginnen wir mit dem Offensichtlichen. Ich bin mir sicher, dass dir Professor Abronsius ein guter Lehrer war und du bestens informiert bist. Aber ich freue mich, einige Wissenslücken zu füllen. Weder die Zeit, noch Krankheiten werden etwas anhaben können. Dein äußerliches Erscheinungsbild wird sich nicht mehr verändern. Mit deiner Verwandlung wurde der Alterungsprozess außer Kraft gesetzt. Allerdings sind wir Vampire nicht gänzlich unverwundbar, und wie alle Kreaturen auf dieser Erde können wir sterben.« Er grinste Alfred süffisant an. „Über die Wirkung des Pfählens muss ich dir sicher nichts erzählen, nicht wahr?«
Hätte Alfred noch erröten können, hätte er es jetzt sicher getan. Die missglückte Pfählung des Grafen hatte er nicht vergessen. Betreten sah er auf die Flammen im Kamin.
Der Graf tat es ihm gleich: »Feuer ist ebenfalls in der Lage uns zu zerstören. Auch überleben wir es nicht, wenn unser Kopf vom Körper abgetrennt wird. Das Sonnenlicht hat eine ähnliche Wirkung wie die Flammen. Sind wir ihm längere Zeit ausgesetzt, verbrennen wir unweigerlich. Wir können uns für eine sehr kurze Weile im Tageslicht aufhalten, aber da wir Kreaturen der Nacht sind, werden wir vom Licht geschwächt und sind verwundbarer als sonst.« Von Krolock sprach weiter: »Du bestehst immer noch aus Fleisch und Blut. Das bedeutet, dass du verwundet werden kannst. Dein Körper heilt Wunden jedoch sehr schnell.
Unsere Sinne sind schärfer als die eines Menschen, ebenso sind wir stärker und schneller. Wir sind Raubtiere. Geschaffen, um zu töten und zu herrschen.«
Gebieterisch erhob er sich aus dem Sessel und ging zurück an das Fenster. »Unseren Höhepunkt der Kraft erreichen wir, wenn wir jeden Tag frisches Blut zu uns nehmen.« Er leckte sich über die kalten, bleichen Lippen und schien für einen kurzen Moment mit den Gedanken weit weg zu sein.
Leicht angewidert fragte Alfred: »Jeden Tag? Aber das würde unzählige Tote bedeuten.«
»Vor einigen Dekaden kamen viele Reisende durch diese Wälder und wir lebten üppig und sorglos. Doch wir waren zu gierig. Wir wurden nachlässig und fingen an, Menschen zu verwandeln. Manche mit Absicht, andere aus Unachtsamkeit. So wuchs unsere Zahl und wir begannen aufzufallen. Hinter vorgehaltener Hand wurde von einem Fluch erzählt, der diese Gegend befallen habe, und die Reisenden mieden dieses Land.«
Er winkte Alfred zu sich heran. Er trat an seine Seite und sah wieder auf die Gräber.
»Die Kinder der Nacht. Meine Kinder. Wir waren zu viele, und so blieb mir nichts anderes übrig, als sie auf den Friedhof zu verbannen.«
»Sie sind nicht freiwillig dort?«
»Nein. Sie sind dort, weil ich das bestimmt habe. Sie stehen unter meinem Bann und erwachen nur, wenn ich es erlaube. Einmal im Jahr feiern wir zusammen den Mitternachtsball, und meine Kinder erhalten ein Geschenk für ihre Geduld: Sie dürfen frisches Blut zu sich nehmen.«
Alfred fröstelte. Der Gedanke, dass all diese Wesen einst Menschen waren. Menschen, mit Familien und Träumen. Nun lagen sie in dunklen Grüften, bis ihr Herr sie weckte. Ihm schnürte die Kehle zu. Einmal im Jahr durften sie erwachen. Der Graf nannte es ein Fest. Für Alfred klang nach einem Ritual. Mit einem Geschenk aus Blut erkaufte er sich ihren Schlaf. War das auch seine Zukunft? Wartete auch auf ihn ein Sarg, ein Jahreskreis aus Stille, Hunger und einer Nacht voller Jagd?
»Aber warum?«, fragte Alfred fassungslos.
Der Gedanke, dass der Graf so willkürlich über seine Nachkommen herrschen konnte, war ebenso beeindruckend wie beängstigend.
»Was glaubst du, was passieren würde, wenn wir zu viele Menschen aus den Dörfern nehmen? Sie würden sich gegen uns verbünden. Wir sind des Tages in unseren Särgen verwundbar. Daher müssen wir darauf achten, dass wir stets im Verborgenen bleiben. Die Furcht ist unser Verbündeter. Sie sorgt dafür, dass uns die Menschen meiden. Nun ja, in den meisten Fällen zumindest.«, sagte der Graf und schenkte Alfred ein spöttisches Lächeln. »Unter diesen Umständen wirst du sicher verstehen, dass es keine Jagd auf Lebende gibt, solange ich das nicht billige. Nur mit meiner Erlaubnis darfst du dir ein Opfer suchen. Ich weiß, dass es von einem neugeborenen Vampir, wie du einer bist, viel verlangt ist, aber du wirst dich dem fügen müssen.«
Plötzlich tobte es in Alfred. Wie sollte er sich ernähren, wenn er auf die Erlaubnis des Grafen angewiesen war? Wie konnte es möglich sein, dass dieser Vampir alles was in und um das Schloss herum passierte, kontrollierte?
»Aber wie konntet Ihr die Vampire in die Gräber verbannen?«, fragte Alfred, um den dunklen Teil in ihm, der gegen die Anweisung des Grafen rebellierte, abzulenken.
»Mein Machtbereich ist groß. Du musst wissen, dass unsere Kräfte mit wachsendem Alter zunehmen. Ich zähle bereits über 300 Jahre als Vampir. Ich kann Menschen, die einen einfachen Geist besitzen, beeinflussen und dazu bringen, das zu tun, was ich verlange. So habe ich auch eine gewisse Macht über die Vampire, die ich schuf. Bei deinem Mentor hatte ich nicht so ein einfaches Spiel. Der Professor ist ein abgeklärter Mensch, den meine Macht nicht erreichen kann. Aber du, Alfred – ein junger, kluger und offener Geist. Dich konnte ich in meinem Sinne lenken.«
Es dauerte einen Augenblick bis ihm die Tragweite dieser Worte klar wurde. »Also war ich Eure Marionette?«
Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Hatte er je einen eigenen Willen gehabt? Oder war jedes Zögern, jedes mutige Wort am Ende nur ein Echo der Stimme dieses Vampirs gewesen? Ein leiser Anflug von Ekel stieg in ihm auf – vor dem Grafen, aber auch vor sich selbst.
»Nein, denn ich sagte: lenken, nicht kontrollieren. Alles, was du hier erlebt hast, waren deine eigenen Entscheidungen. Meinst du nicht, dass der Mitternachtsball einen anderen Ausgang gefunden hätte? Ich habe deine Sichtweise gelegentlich ein wenig in meinem Sinne beeinflusst.«
»Habt Ihr so Sarah in Euer Schloss gelockt?«
»Ja, allerdings. Koukol hat sie für mich gefunden. Ihr närrischer Vater versuchte, sie vor der Welt zu verbergen, doch damit erregte er meine Aufmerksamkeit. Es war eine grausame Ironie, dass sie aus seinen schützenden Armen genau in meine lief und zu dem wurde, was er so sehr vermeiden wollte.«
»Was ist mit Chagal geschehen?«
»Ihn und seine junge Gespielin musste ich auch auf den Friedhof schicken. Vier junge Vampire sind eine zu große Gefahr für mein Unterfangen.«
Alfred schwirrte allmählich der Kopf. Also war die Magd tatsächlich zum Vampir geworden. Er sah wieder hinunter auf die eingeschneiten Gräber und versuchte sich vorzustellen, dort in einem erzwungenen Schlaf zu liegen. Doch warum hatte der Graf nicht auch ihn dorthin verbannt? Sein Interesse galt doch von Beginn an Sarah. Aber… tat es das wirklich?
Alfred erinnerte sich an ihre Worte. Von Krolock hatte keinen Kontakt mehr zu ihr gesucht, seit sie verwandelt war. Kein Blick, kein Wort, kein Zeichen von Interesse. Was also war sie für ihn gewesen? Nur ein Mittel zum Zweck? Ein Köder, um Alfred ins Schloss zu locken? Irgendetwas in seinem Inneren gefror zu Eis. All das was passiert war, die Warnungen der Dorfbewohner, die Begegnung mit Herbert, der Ball. War es nur ein Spiel gewesen, dessen Regeln nur der Graf kannte? Und hatte er, Alfred, blind mitgespielt?
Von Krolock wandte sich vom Fenster ab und setzte sich erneut an das Kaminfeuer. Alfred sah ihm nach – mit einem neuen, kalten Zweifel im Herzen.
»Du scheinst verwirrt?«, fragte der Graf und bedeutete Alfred mit einer Handbewegung, sich wieder zu ihm ans Feuer zu setzen. Alfred nahm Platz.
»Eure Exzellenz, warum bin ich hier?«
»Du musst wissen, dass Koukol für mich die umliegenden Dörfer ausspioniert und er berichtete mir von der Ankunft zweier gelehrter Männer. Endlich, nach so langer Zeit, kamen zwei Menschen von klarem Verstand in meine Ländereien. Daraufhin schmiedete ich einen Plan, um euch zum Schloss zu führen und euch zu einem der Meinen zu machen. Ich hoffte, dass euer Pflichtgefühl euch dazu bringen würde, Sarah aus meinen Fängen zu befreien und ihr ins Schloss zu folgen. Und dass du so starke Gefühle für sie hegst, machte es mir noch einfacher. Mein Plan schien aufzugehen, denn du und der Professor trafen bald hier ein.«
»Was genau sah Euer Plan für uns vor?«
»Natürlich solltet ihr als Mahlzeit für meine Kinder dienen, aber ich hatte vorgesehen, euch beide zu verwandeln.«
»Aber warum?« Es ergab keinen Sinn – nichts davon. Von Krolock sprach davon, dass es an diesem Ort zu viele Vampire gab, und wollte gleichzeitig neue Geschöpfe der Nacht erschaffen?
»Ich lebe, seit ich denken kann, hier in diesem Schloss. Ich bin es so leid.« Für einen Moment verrutschte die Maske des Grafen, und Alfred sah, wie sich jahrhundertealter Überdruss und Zorn auf seinem Gesicht abzeichneten. »Der Professor und du, ihr seid die Schlüssel zu unserer Freiheit. Mit eurer Hilfe wollte ich diesem Schloss, diesem Land entkommen und hinaus in die moderne Welt entfliehen.ֿ«
»M-mit unserer H-hilfe?«, stammelte Alfred fassungslos.
»Natürlich mit eurer Hilfe. Ich mag zwar stark und auch gelehrt sein, aber ich muss eingestehen, dass ich von der modernen Welt keine Kenntnisse besitze. Die Welt verändert sich, und wir müssen uns ihr anpassen.« Sein Blick wurde leer, und mit einem Mal schien von Krolock mit seinen Gedanken wieder weit weg zu sein. »Stell dir nur vor: kein Verzicht mehr. Blut, wann immer es uns danach dürstet. Es wäre ein Fest.«
»Aber Vampire würden in der Stadt doch ebenso auffällig sein wie hier auf Euren Ländereien. Bedenkt die Folgen.«
Vor seinem geistigen Auge erschien ein grauenhaftes Bild: eine dunkle Straße in der Nacht, menschenleer, und der Boden gesäumt von Leichen.
»Du hast Recht. Doch ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Der Professor wäre sicher eine große Hilfe bei meinen Überlegungen gewesen, aber er zog vor, uns zu verlassen. Er wäre eine willkommene Bereicherung für die langen, kalten Winternächte gewesen. Aber nun gut, er ist entkommen, und ich will nicht länger deswegen grämen. Ich bin mir sicher, dass du ihm nichts nachstehen wirst.«
»I-ich?«
»Natürlich. Du kennst dich in der Welt ebenso gut aus. Vielleicht sogar ein wenig besser als der alte Mann.«
»Bei was genau soll ich Euch behilflich sein?«
»Ich plane, die Vampire in den Untergrund zu schicken. Wir werden unerkannt in den Städten der Menschen leben.«
Es war unvorstellbar. Unaussprechbar. Vampire kannten kein Maß, nur Gier. Sie würden ganze Landstriche in kürzester Zeit verwüsten.
»Aber, wie stellt Ihr euch das vor? Wie wollt Ihr die Morde vertuschen, wie wollt Ihr die Vermissten erklären? Es gibt Legenden von Euresgleichen, die bis in die moderne Welt vorgedrungen sind. Glaubt Ihr, Eure Taten und die Eurer Kinder würden in den Städten und Dörfern nicht auffallen?«
»Die Menschen haben ein großes Talent, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Aber ich gebe dir Recht. Es ist ein riskantes Unterfangen. Wir werden mit Bedacht vorgehen. Zunächst führst du uns in die dunklen und düsteren Gassen von Königsberg. Dort, wo der menschliche Abschaum wohnt, den niemand vermisst. Als Erstes werden mein Sohn und ich dich begleiten. Ist unsere kleine Probe erfolgreich, holen wir deine Brüder und Schwestern nach.«
Er ist verrückt, dachte Alfred und versuchte, das Ausmaß dieser Idee zu begreifen.
Ganz wie es Professor Abronsius ihn gelehrt hatte, betrachtete er den Plan des Grafen zunächst logisch. Ja, es wäre möglich, dachte er. Verbrecher und das Gesindel zog es in die dunklen Winkel der Stadt. Die Orte, die rechtschaffene Bewohner mieden, wären für die Vampire mehr als einladend. Dort wurden täglich Menschen ermordet, und der ein oder andere Mord, der auf Kosten der Vampire ging, würde nicht auffallen. Die Leichen müsste man verschwinden lassen, denn früher oder später würden die Bisswunden auffallen. Ein schaler Geschmack legte sich auf seine Zunge und seine Gedanken rasten weiter.
Doch hier ging es nicht um zwei Vampire, die gelegentlich ein oder zwei Menschen töteten. Es war mehr. Viel mehr. Der Graf sprach von einer kleinen Armee, die er in die moderne Welt schicken wollte. Während der Vampir in ihm dem Grafen für diesen Plan Beifall zollte, dachten die menschlichen Überreste in ihm an die unzähligen Opfer. Tote. Verwandelte. Zerbrochene Leben. Das durfte er nicht geschehen lassen. Nie. Es durften nicht noch mehr Menschen dasselbe Schicksal erleiden wie er.
Von Krolock räusperte sich leise, da er merkte, dass Alfred in seinen Gedanken versunken war: »Du denkst darüber nach.«
Das war keine Frage, und er nickte geistesabwesend. Plötzlich stand der Graf auf, und seine ruckartige Bewegung holten Alfred aus seinen Gedanken zurück.
»Ausgezeichnet. Wir brechen auf, sobald die Vorkehrungen getroffen sind.«
Ihm wurde es mit einem Mal noch kälter zumute. Er erhob sich ebenfalls und trat dem Grafen gegenüber.
»Und wenn ich mich weigere, Euch zu helfen?« Einen winzigen Moment glaubte Alfred, Unsicherheit in den Augen von Krolock zu erkennen, doch dann war sein Blick wieder kalt und unbarmherzig.
»Ich habe dir die Unsterblichkeit gegeben, und ich kann sie ebenso wieder nehmen.« Die Stimme des Grafen klang bedrohlich, und er zweifelte nicht an seinen Worten. »Allerdings wäre es zweckmäßiger, Sarah das Leben zu nehmen, und du würdest ewig mit dieser Schuld leben müssen. Kannst du das, Alfred?«
Panik stieg in ihm auf. Würde der Graf Sarah töten, um seine Ziele zu erreichen? Natürlich würde er das. Mit einem Mal wurde ihm klar, warum sie beide hier waren. Von Krolock brauchte sein Wissen, und Sarah war das Druckmittel. Er hatte es von Anfang an geplant, und nun saß Alfred in der Falle. Weigerte er sich, würde Sarah sterben und er müsste für den Rest der Ewigkeit damit leben. Half er dem Grafen, machte er sich mit schuldig an tausenden Morden, Verwandlungen und unendlichem Leid. Trotz dieser Vorstellung war er nicht bereit, Sarah zu opfern. Er senkte den Kopf. Von Krolock lächelte triumphierend.
»Ich sehe, du hast verstanden. Nun geh in dein Gemach. Es dämmert bereits.«
Alfred warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass die Berggipfel schwach rot in der aufgehenden Sonne leuchteten. Er wandte sich zur Tür und wollte nur weg von dem Vampir und im Schlaf Vergessen finden. Unter großer Eile hastete durch die Gänge und war beinahe erleichtert, als er seinen Raum mit dem Sarg und dem Himmelbett erreicht hatte. Erleichtert hieß er Dunkelheit um sich herum willkommen, doch diesmal ließ der Schlaf lange auf sich warten.
Chapter 5: Die verbotene Jagd
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»Alfred, geht es dir gut?« Sarahs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Verwirrt sah dieser sich um und bemerkte, dass er sich in Sarahs Gemächern befand. Er konnte aber nicht sagen, wie und wann er dorthin gelangt war. Immer wieder spielte er in Gedanken die Unterhaltung mit dem Grafen durch.
Misstrauisch sah Sarah ihn an und wartete auf eine Reaktion. Alfred öffnete den Mund, um ihr von der Unterhaltung mit dem Grafen zu erzählen. Doch dann zögerte er. Wie sollte er ihr begreiflich machen, in welcher Gefahr sie beide schwebten? Sie waren bloß Figuren in einem perfiden Spiel - gelenkt von einem größenwahnsinnigen Vampir. Außerdem war da noch etwas: Er hatte Angst. Angst, dass Sarah ihm möglicherweise nicht glaubte. Er gestand es sich nur zögerlich ein, aber er befürchtete, dass Sarah noch immer Gefühle für den Grafen hegte. Was, wenn sie Alfred nicht glaubte? Würde sie Partei für von Krolock ergreifen und sich von ihm abwenden? Nein, er konnte ihr noch nicht von vergangener Nacht erzählen.
Ich brauche noch etwas Zeit dachte Alfred.
»Ja.«, antwortete er stattdessen und strich Sarah sanft über die Wange. »Natürlich.«
Er lächelte und hoffte, dass er Sarah überzeugen konnte. Er war kein besonders guter Lügner. Doch sie erwiderte sein Lächeln und wandte sich ab. Zum ersten Mal hatte er ein Geheimnis vor ihr. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass Sarah in dieser Nacht nicht zeichnete. Unruhig lief sie auf und ab, manchmal blieb sie stehen und sah lange aus einem der Fenster hinaus in die dunkle, kalte Nacht.
In den kommenden Nächten spürte Alfred eine Veränderung in sich. Es begann damit, dass seine Haut blasser wurde und er die Winterkälte spürte. Es fror ihn nicht wie einen Menschen, aber der Frost kroch unangenehm unter seine Haut. Unruhe packte ihn. Immer wieder zog es ihn durch das Schloss. Hatte er sich zuvor noch neugierig umgesehen, irrte er nun rastlos umher. In den endlosen, labyrinthartigen Gängen ging er unablässig auf und ab, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben.
Als nächstes begannen sich seine Gedanken und Gefühle zu wandeln. Zuvor spürte er tiefe Schuld, wenn er an sein erstes Opfer dachte. Nun blieb da nur noch der eine Moment, in dem er seine spitzen Zähne in den Hals des Bauern jagte. Stück für Stück verlor Alfred alles, was ihn ausgemacht hatte, bis nichts anderes mehr in ihm war als der Gedanke an Blut. Langsam bekam er eine Ahnung, was unstillbare Gier wirklich bedeutete.
Der Graf hatte ihm gesagt, der erste Durst sei der schlimmste gewesen. Doch da Alfred nun wusste, wie einfach er das Brennen in seiner Kehle lindern könnte, empfand er es dieses Mal weitaus qualvoller als nach seiner Verwandlung. Ganz ähnlich schien Sarah zu empfinden. Wie Alfred wurde sie von einer rastlosen Unruhe gepackt. Sie sprachen kaum miteinander – jeder litt in seiner eigenen Hölle.
Als er in der darauffolgenden Nacht erwachte und den Deckel beiseiteschob, stand Sarah bereits an seinem Sarg. Für einen Moment vergaß er das Brennen in seiner Kehle. Durchdringend sah sie ihn an. Die Augen dunkel vor Durst:
»Ich muss aus diesem Schloss raus! Sofort!«
Er stieg aus dem Sarg und wollte Sarah an sich ziehen, doch sie wich zurück und fuhr sich nervös mit den Händen durch ihr lockiges Haar.
»Du fühlst es doch auch«, sagte Sarah verzweifelt. »Ich sehe es dir an. Sag mir nicht, du spürst das Brennen nicht.«
Erneut versuchte Alfred sie an sich zu ziehen, doch wieder wich sie zurück. Seine Hand erstarrte in der Luft.
»Aber der Graf …«, versuchte er ihr halbherzig zu erklären. Die Anweisung war klar gewesen: Nur mit der Erlaubnis des Grafen durften sie jagen.
Sarahs Augen blitzten auf vor Wut, ihr Gesicht war zornerfüllt.
»Erwähne ihn nicht!«, schrie sie beinahe mit zittriger Stimme. »Dem Grafen sind wir völlig gleichgültig. Er hat uns verwandelt und kümmert sich nicht um uns. Es ist mir gleich, was er sagt oder gesagt hat.«
Einen Moment herrschte Stille. Ihre Brust hob und senkte sich schnell, als hätte der Zorn all ihre Kraft verbraucht. Dann wich die Spannung aus ihren Schultern, und ihre Miene wurde weicher. Langsam trat Sarah dicht an Alfred heran, ihre Hände zitterten leicht, als sie ihren Kopf an seine Brust schmiegte und flüsterte:
»Lass uns gehen. Jetzt!«
Sanft hauchte sie ihm einen Kuss auf die Lippen und Alfred wurde es heiß und kalt zugleich. Noch vor wenigen Tagen hätte er der Versuchung vielleicht widerstehen können, doch jetzt fiel es ihm leicht, ihr nachzugeben. Zu leicht. Er nickte. Erleichternd zog sie ihn zum Schlosstor.
Wie in jeder anderen Nacht ließen sich auch heute weder der Graf noch Herbert sehen, also nutzten die beiden Vampire die Gelegenheit und verließen das Schloss. Als Alfred draußen vor dem Tor stand, nahm er einen tiefen Atemzug der kalten Winternacht. Die Winter waren in diesem Teil der Welt lang und unbarmherzig. Er hatte die Burg noch nicht verlassen, seitdem er sich in einen Vampir verwandelt hatte. Überwältigt von der Schönheit der Finsternis hielt er den Atem an. Der Himmel war sternenklar. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Schnee und glitzerte genau so hell wie die Sterne über ihm. Wie konnte ihm das als Mensch alles entgangen sein?
Plötzlich stellten sich Alfreds Nackenhaare auf, ein ungutes Gefühl kroch in ihm hoch. Wurde er beobachtet? Er drehte sich zum Schloss um, doch die Fenster waren dunkel, und er konnte niemanden erkennen. Dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los. Doch Sarah zog ungeduldig an seiner Hand, und er wandte sich ihr zu. Sie ließ seine Hand los, rannte auf den Wald zu und verschwand darin. Alfred rannte ihr nach und spürte zum ersten Mal als Vampir pure Freude. Es war ein Genuss, seine neuen Kräfte auszuprobieren. Wie der Graf gesagt hatte, war er schneller und stärker als ein Mensch. Seine geschärften Sinne sorgten dafür, dass er sich in der Dunkelheit zurechtfinden konnte. Für Alfred jedoch war es nicht dunkel. Er sah klar, als wäre es Tag.
Sie jagten durch den Wald. Sarah, kleiner und flinker, lief voran, Alfred folgte dicht. Kein Graben war zu tief, kein Flussbett zu breit. Sie hatten das Schloss bereits weit hinter sich gelassen, als Sarah ihr Tempo verlangsamte. Ein Hauch von Rauch und Feuer stieg Alfred in die Nase. Sicherlich waren sie in der Nähe einer Siedlung. Er blieb stehen, atmete erneut tief ein. Der Duft von Menschen hing in der Luft und der Durst nach Blut wurde von Neuem entfacht.
Sarah war vorausgeeilt und stand auf einer kleinen Anhöhe. Mit einer knappen Geste bedeutete sie Alfred, zu ihr zu kommen. Als er neben sie trat, blickte er in ein kleines Tal hinab. Eine Ansammlung von Häusern lag dort, aus deren Schornsteinen dunkler Rauch in den Nachthimmel stieg. Nun, da ihre Beute in greifbarer Nähe war, wussten die beiden nicht so recht, wie sie weiter vorgehen sollten. Lautlos begannen sie, das Dorf zu umrunden auf der Suche nach einem unvorsichtigen Menschen. Vielleicht ein Betrunkener, der aus der Schenke taumelte?
Als sie die Hälfte der Häuser umrundet hatten, stießen sie auf einen kleinen Ausläufer des Waldes. Sie bahnten sich ihren Weg durch das dichte Unterholz, bis plötzlich das Bellen eines Hundes die Stille zerriss. Als sie aus dem Wäldchen traten, sahen sie die Quelle des Lärms: Eine kleine, abgelegene Hütte am Rand des Dorfes. Sie war in schlechtem Zustand. Einige Holzbretter der Wände waren verfault und das Dach sah aus, als würde es jeden Moment einstürzen. An der Seite befand sich ein kleiner Verschlag, vermutlich für Vieh, falls es dort welches gab. Aus dem Inneren der Hütte schimmerte schwach orangefarbener Feuerschein.
Der Hund bellte noch immer. Seine feinen Ohren hatte die Gefahr vor der Hütte längst wahrgenommen. Eine raue Männerstimme brüllte Worte in einer Sprache, die Alfred nicht verstand. Ein dumpfes Geräusch drang durch die Holzwand nach draußen, als hätte jemand etwas geworfen. Das Tier jaulte kurz auf, bellte aber weiter. Als nächstes polterte es in der Hütte, und die Tür flog auf. Ein Mann von üppiger Gestalt trat heraus. Hastig warf er sich einen dicken Mantel über und setzte sich eine Fellmütze auf. So ungepflegt wie sein Haus, war auch er. Wieder brüllte er etwas auf rumänisch. Doch Alfred sollte nie erfahren, was der Fremde gesagt hat, denn während er sprach, trat Sarah aus dem Schutz der Dunkelheit. Der Rest des Satzes blieb dem Fremden im Halse stecken.
Lebhaft hatte sich die erste Begegnung mit Vampiren in Alfred eingebrannt. Der Graf hatte ihn regelrecht hypnotisiert, und in Sarahs Augen hatte er sich verloren. Beides hatte er teuer bezahlt. Ähnlich schien es dem Kerl vor ihm nun auch zu ergehen. Regungslos starrte er Sarah an, unfähig, sich zu bewegen, obwohl er sich in tödlicher Gefahr befand. Alfred überließ sich ganz seinen Instinkten. Lautlos trat er hinter sein Opfer, genau gegenüber von Sarah. Wie zwei Raubkatzen begannen sie, ihre Beute zu umkreisen. Der Unglückliche stand noch immer still zwischen ihnen, ohne den Blick von Sarah oder Alfred abzuwenden. Kaum merklich spannte Sarah sich an - bereit zum Sprung. Da begann der Hund erneut zu bellen und brach den Bann. Der Fremde riss die Augen auf, Schrecken breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er begriff nun, in welcher Gefahr er schwebte. Mit letzter Verzweiflung stürzte er in den dunklen Wald. Er war groß, kräftig und legte für einen Menschen seiner Gestalt ein beachtliches Tempo vor. Das plötzliche Gebell hatte Alfred und Sarah für einen Moment abgelenkt. Sie warfen sich einen Blick zu und jagten los.
Erneut durchflutete Alfred diese unheimliche Freude: Jetzt, da die Beute floh, begann die Jagd erst richtig. Er erreichte den Flüchtenden zuerst und warf ihn mit einem Sprung zu Boden. Doch kampflos gab dieser nicht auf. Er trat und schlug nach ihm, doch gegen Alfred hatte er nicht die geringste Chance. Der Geruch des Blutes, das durch das Adrenalin nur noch schneller durch die Venen schoss, war überwältigend. Er drückte die Arme des Mannes zu Boden. Der Hals lag bloß und dort, wo der Puls pochte, drangen seine Zähne in die Haut. Als er die ersten Schlucke nahm, seufzte er. Genauso köstlich wie beim ersten Mal – und genauso berauschend. Doch diesmal war er nicht allein. Er musste teilen. Der Durst war stärker als jede Moral. Ein Knurren stieg in ihm auf, als Sarah sich in das Handgelenk des Opfers verbiss. Der Mann wand sich, versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien, doch seine Bewegungen wurden schwächer. Mit jedem Schluck ein wenig mehr. Sein Körper erstarrte. Dann verstummte das Herz.
Alfred und Sarah hoben langsam die Köpfe und mit blutverschmierten Lippen sahen sie sich an. Vorsichtig lächelte Sarah, und ebenso vorsichtig lächelte Alfred zurück. Das hier war falsch, doch warum fühlte es sich dann so gut an? Der Rausch, den er beim Trinken empfunden hatte, ließ nach, und er konnte wieder klar denken. Der Durst, der ihn in den vergangenen Nächten so gequält hatte, war vorerst gestillt, und er fühlte sich wieder wie er selbst – oder war zumindest sehr nah dran. Doch sie hatten die Regeln des Grafen gebrochen. Sie hatten gejagt und getötet. Ohne jeden Zweifel würde er sie bestrafen. Da kam Alfred ein Gedanke:
»Sarah?«, sprach er sie an, »Lass uns gehen.«
Sie waren schon so weit vom Grafen entfernt, und der neue Tag begann schon bald. Wenn sie sofort aufbrachen konnten sie noch einige Kilometer zwischen sich und das Schloss bringen, bevor sie sich einen Unterschlupf suchen mussten. Aber als Alfred in Sarahs Gesicht sah, kannte er die Antwort bereits.
»Es tut mir leid«, sagte sie mit ehrlichem Bedauern in der Stimme und sah ihn traurig an. Sie schüttelte den Kopf.
Mit einem Brennen in der Kehle, das dieses Mal nichts mit seinem Durst zu tun hatte, wich ihrem Blick aus und versuchte, seinen Schmerz zu verbergen. Alfreds Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Sie empfand immer noch genug für den Grafen, um zu bleiben. Bevor er sich beherrschen konnte, fragte er:
»Bin ich nicht gut genug?«
»Doch. Natürlich. Aber ich kann es trotzdem nicht. Es tut mir leid. Komm, lass uns zurückgehen.«
Alfred betrachtete Sarah wehmütig.
Sie will mich nicht, dachte er. Zumindest nicht so, wie ich sie will.
Insgeheim wartete sie auf ein Zeichen vom Grafen, und sie würde zu ihm gehen. Warum setzte er sich diesem Schmerz aus? Er sollte gehen, aber er konnte nicht. Etwas hielt ihn bei ihr.
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Alfred und nickte zu dem Toten, um das unangenehme Schweigen zu brechen.
Gemeinsam versteckten sie die Leiche im Unterholz, wohl wissend, dass sie früher oder später gefunden werden würde. Für eine bessere Lösung fehlte ihnen die Zeit. So ausgelassen sie auf dem Hinweg gewesen waren, so still und bedrückt waren sie auf dem Heimweg. Als sie das Schloss in der Ferne erblickten, legte sich eine kalte Hand um Alfreds Herz oder das was davon noch übrig war. Zunächst traten sie unbemerkt durch das Schlosstor, und er hoffte, dass ihr Verschwinden möglicherweise doch nicht bemerkt worden war. Doch als sie in die Eingangshalle traten, zerschlug sich diese Hoffnung. Dort, am Fuße der Treppe, stand von Krolok. In seinem Blick lag blanke Wut, und Alfred fragte sich, ob die Jagd diesen Zorn wert gewesen war. Still standen sie nebeneinander und warteten.
Chapter 6: Verloren
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Regungslos wie Statuen standen sie da. So still, wie nur Vampire es konnten. Die Wut des Grafen erfüllte die ganze Eingangshalle und die Spannung lag so dicht in der Luft, dass man sie greifen konnte. Von Krolock durchbohrte Alfred mit seinen eiskalten Augen, und dieser senkte den Blick. Er war sich seiner Schuld bewusst, denn das Gebot des Grafen war klar und unmissverständlich: Ohne seine Erlaubnis fand keine Jagd auf Menschen statt. Mehr als bereitwillig hatten Alfred und Sarah der Versuchung nachgegeben.
Auf ein unsichtbares Zeichen hin betrat Koukol den Raum und verbeugte sich ungeschickt vor seinem Herrn. Der Graf nickte ihm leicht zu, ohne den Blick von Alfred zu nehmen. Folgsam senkte der Diener sein Haupt als Zeichen dafür, dass er verstanden hatte, und humpelte mit seinem unverkennbaren Gang in die Nacht hinaus. Alfred vermutete, dass er den Toten beseitigen sollte, doch wie er ihn zu finden gedachte, blieb sein Geheimnis.
Plötzlich nahm er oben an der Treppe eine Bewegung wahr. Dort am Treppenabsatz stand Herbert, eingehüllt in seinen schwarzen Umhang. Herbert erwiderte Alfreds Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er nahm es als stumme Warnung, verhielt sich weiterhin still. Zum Zerreißen gespannt wartete er auf die Strafe, die unweigerlich kommen würde. Jede Sekunde dehnte sich wie eine Stunde. Alfred spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, bereit für den Schlag, den Befehl, das Urteil. Doch sie kamen nicht. Wortlos drehte sich der Graf um, trat die Treppenstufen hinauf und ging an seinem Sohn vorbei. Seine Schritte hallten leise durch die Gänge, bis eine Tür ins Schloss fiel. Alfred und Sarah sahen zu Herbert, der sie noch immer beobachtete. Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. Immer noch lagen seine Augen auf Alfred. Schließlich wandte er sich ebenfalls ab, ließ dabei seinen Umhang dramatisch schwingen und ging davon.
»Alfred?«, Sarah durchbrach als Erste das Schweigen. Beunruhig drückte er ihre Hand ein wenig fester. Er fürchtete sich, sie loszulassen, denn was würde geschehen? Jetzt, da sie dem Zorn des Grafen ausgesetzt waren? Sarah sah so verängstigt aus, wie er sich fühlte. Was sollten sie nun tun?
»Wir hätten gehen sollen. Du hattest Recht.«, flüsterte sie. »Jetzt ist es zu spät.«
Ein prüfender Blick aus dem Fenster reichte, denn die Morgendämmerung zog heran und die Wintersonne kroch langsam über die Bergwipfel der Karpaten. Sie mussten in den Schutz ihrer Särge, wenn sie nicht jämmerlich zu Staub zerfallen wollten. Eine Träne rollte Sarahs Wange hinab. Vorsichtig wischte Alfred sie weg, nahm Sarah in den Arm und sagte:
»Es wird alles gut!«
Seine Stimme war brüchig. Selbst er glaubte seinen Worten nicht und der Morgen zog unaufhaltsam heran.
»Ich muss gehen!«, sagte Sarah und trat einen Schritt zurück. Es klang entschieden, aber Alfred spürte, dass sie es nicht war. Sie wandte den Blick ab, als hätte sie Angst, dass ein einziger Moment Zögern sie zum Bleiben bringen könnte.
»Es wird Zeit.«, flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.
»Nein!«, sagte Alfred. »Ich traue ihm nicht.«
»Es wird mir nichts geschehen.«, sagte Sarah und lächelte. Doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Bevor Alfred sie aufhalten konnte, riss sie sich von ihm los und stürmte davon.
»Sarah!«, rief er ihr nach und wollte ihr folgen. Doch in diesem Moment fiel das erste zarte Tageslicht durch die Schlossfenster. Das helle Licht brannte in seinen Augen. Unwillkürlich legte er die Arme schützend über den Kopf. Ihm blieb keine andere Wahl, als sich in sein Zimmer zurückzuziehen. Er rannte durch die Gänge und erreichte schließlich seinen Sarg. Das Licht des neuen Tages war unerbittlich. Kroch über den Boden, tastete nach ihm wie ein Raubtier, das Beute witterte. Es zwang ihn in die Knie, trieb ihn fort wie etwas das man jagen konnte. Alfred spürte, wie der Tag Besitz von der Welt nahm und ihn dabei aus ihr verbannte. Eilig schob er den Sargdeckel auf, legte sich hinein und verschloss ihn sorgfältig von innen. Geschützt vor der Helligkeit, kam sein Geist nicht zur Ruhe. Was würde nun passieren? Was, wenn Sarah geradewegs in ihr Verderben gelaufen war? Und er hatte sie nicht aufgehalten.
Als Alfred erwachte, verlor er keine Zeit. Hastig schob er den Sargdeckel beiseite. Mit einem lauten Krachen fiel er zu Boden, doch er war schon zur Tür hinaus. Er rannte durch die Schlossgänge. Blieb erst stehen, als er sich vor Sarahs Zimmertür wiederfand. Alfred klopfte leise, doch erhielt keine Antwort. Ein ungutes Gefühl kroch in ihm hoch.
Er hämmerte energischer gegen die Tür und rief: »Sarah?«
Seine Stimme hallte hohl durch die Gänge, doch drinnen blieb es still. Er stieß die Tür auf und trat ein. Mit flackerndem Blick durchsuchte er den Raum, doch nirgends war sie zu sehen. Er schluckte. Wo war sie? Hatte der Graf ihr etwas angetan?
Ohne zu zögern machte er sich auf den Weg zu den Gemächern des Grafen. Als er schließlich vor der prächtig verzierten Tür stand, zögerte er. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Was, wenn er zu spät kam? Aber er konnte Sarah nicht dem Grafen überlassen. Der war ihnen beiden in jeder Hinsicht überlegen. Er lebte seit Jahrhunderten, während Alfred und Sarah selbst als Menschen noch kaum gelebt hatten. Zögernd hob er seine Faust, um anzuklopfen.
»Nicht!«, flüsterte eine Stimme hinter ihm. Er fuhr herum – Herbert stand dort, reglos. Wie lange war er schon da? Er legte einen Finger an die Lippen. Alfred hielt den Atem an und blickte ihm fragend in die blassblauen Augen.
»Geh!«, hauchte Herbert. Alfred schüttelte energisch den Kopf.
»Vertrau mir. Ihr wird nichts geschehen.«
Alfreds Blick verfinsterte sich. Was gab ihm das Recht, so etwas zu behaupten? Bisher hatte Herbert ihm keinen Grund gegeben, ihm zu vertrauen. Doch da war dieser Blick: Eindringlich, beinahe bittend. Wieder machte Herbert die Geste vom Morgen: ein leichtes Kopfschütteln, kaum mehr als ein Zucken. Frustriert und widerstrebend, wandte Alfred sich ab und ging den Gang zurück. Herbert folgte ihm nicht.
Unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte, irrte er durch das Schloss, bis er sich schließlich in der Bibliothek wiederfand. Der Raum roch nach Staub und altem Leder. Winzige Flocken tanzten im Licht und kitzelten seine Nase. Alfred seufzte und ließ sich in einen der alten Sessel sinken. Er schlug die Hände vors Gesicht. Immer wieder spielten sich in seinem Kopf Bilder ab. Furchtbare Szenen, die Sarah in der Gewalt des Grafen zeigten. Eine schrecklicher als die andere. Er hoffte inständig, dass es richtig gewesen war, Herbert zu vertrauen. Bis zum Ende der Nacht saß er dort und verlor sich in seinen Gedanken. Schließlich wurde es Zeit, sich in die Dunkelheit seines Sarges zurückzuziehen. Für einige köstliche Stunden vergaß Alfred all seine Sorgen. Oder betäubte sie nur?
Als er erwachte und seinem Sarg entstieg, klopfte es leise an der Tür.
Sarah, dachte er. Tatsächlich trat sie ein.
Mit wenigen Schritten war er bei ihr, nahm sie in die Arme. Für einen kostbaren Moment war er glücklich. Doch irgendetwas war anders. Sie erwiderte die Umarmung nicht, sondern ließ sie still über sich ergehen. Langsam löste Alfred sich von ihr und trat einen Schritt zurück. Sie schien unverletzt zu sein. Zumindest konnte er keine äußeren Verletzungen feststellen, doch das bedeutete gar nichts. Wunden verheilten bei Vampiren sehr schnell.
»Du bist hier.«, sagte er, und während er sprach, fühlte er, wie eine große Last von seinen Schultern genommen wurde. Sarah lebte, und seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich nicht bewahrheitet. Doch sie sah ihn nur an, kein Zucken in ihrem Gesicht, kein Licht in den Augen. Eine kalte Faust umklammerte sein Innerstes. Er schluckte und wartete auf eine Reaktion.
»Alfred«, begann sie, und im gleichen Augenblick wusste er, dass er sie verloren hatte. »Es tut mir leid.«
Unfähig zu sprechen, hielt er ihren Blick.
»Der Graf hat mir alles erklärt und mich um Verzeihung gebeten. Letzte Nacht haben wir lange gesprochen. Es tut mir leid.«, wiederholte sie.
Er öffnete den Mund, aber seine Stimme war fort, wie weggewaschen von einem Sturm, der durch ihn tobte. Erst nach ein paar Sekunden, zwang er die Worte hervor:
»Du entscheidest dich für ihn.«
Das war keine Frage, aber sie wich seinem Blick aus und ein brennender Stich durchzuckte seine Brust – als hätte man ein Messer hineingedrückt und langsam gedreht. Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Wenn er nicht still dagestanden hätte, hätte er geschrien. Für Sarah hatte er sprichwörtlich sein Leben gegeben. Doch ein Wort vom Grafen genügte und sie wandte sich von ihm ab. All die Zärtlichkeiten, jeder Kuss – wie Asche in seinen Händen. Mit gesenktem Kopf drehte sie sich zur Tür. Doch Alfred wusste: Wenn sie jetzt ging, riss das unsichtbare Band zwischen ihnen endgültig.
»Er benutzt dich doch nur!«, rief Alfred aufgebracht.
Sarah hielt inne, die Hand auf dem Türgriff.
»Was glaubst du ist mit den anderen Menschen passiert, die er verwandelt hat?«
Langsam drehte sie sich zu ihm um und sah ihn fragend an. Als spräche er eine Wahrheit aus, die sie zwar erreichte, aber gleichzeitig nicht hören wollte.
»Er wird dich auf den Friedhof schicken, wenn er deiner überdrüssig geworden ist. Denk an all die Vampire vom Ball. Sie liegen seinetwegen dort. Er und sein Sohn haben sie verwandelt. Jetzt schlafen sie, weil sie keine Verwendung mehr für sie haben.«
»Du lügst. Er hat gesagt, er liebt mich. Er wird mir die Welt zeigen und die Freiheit schenken.«
Wie ein trotziges Kind schob sie die Lippe leicht vor. In den Augen ein Ausdruck zwischen Sehnsucht und Zweifel.
»Sarah, er lebt hier seit Jahrhunderten. Er hat keine Ahnung von der Welt da draußen.«
Alfred wollte den letzten Rest seiner Würde behalten, doch seine Stimme wurde brüchig: »Bitte komm mit mir. Ich kann dir alles geben, was du dir wünschst. Ich kann dir die Freiheit schenken. Denk an Venedig. Bitte lass uns fliehen. Jetzt!«
Mit seinen letzten Worten trat er dicht an sie heran, nahm ihre Hände in seine und suchte in ihren Augen nach einem Rest Hoffnung. Doch er konnte nur Verwirrung und Schmerz erkennen. Sie löste ihre Hände.
»Ich kann nicht anders.«
Dann drehte sie sich um, war zur Tür hinaus und er konnte sie nicht mehr aufhalten. Sie war fort.
Lange stand Alfred still in seinem Zimmer. Seine Gedanken rasten in seinem Kopf: Sarah, der Professor, seine Freunde in Königsberg. Alles verloren. Er war allein.
Nun, dachte die Stimme in seinem Kopf, wenn ich allein bin, habe ich keinen Grund mehr, in diesem verfluchten Schloss zu bleiben.
Alfred spürte so etwas wie wenig Hoffnung und Widerstand: Er war frei und konnte gehen, wohin er wollte. Sollte der Graf doch sehen, wie er seine größenwahnsinnigen Pläne alleine verwirklichen konnte.
So schnell ihn seine Beine trugen, verließ er das Schloss. Er sah nicht zurück. Zu groß war die Gefahr, dass er dann bleiben würde. Er lief in den dichten, verschneiten Wald hinein. Dieses Mal konnte er die Schönheit der Nacht nicht sehen. Der Schmerz über die Zurückweisung saß tief. Aber es war ein gutes Gefühl, die Kraft in seinen Muskeln zu spüren. Er wusste nicht, wie lange er lief. Es hätten Stunden, aber auch nur Minuten sein können. Schließlich blieb er am Rand einer kleinen Lichtung stehen und ließ sich auf dem verschneiten Boden nieder.
Was jetzt? Wohin sollte er gehen? Alfred saß eine Weile gedankenverloren im Schnee, bis er spürte, dass er nicht allein war. Er konnte einen Herzschlag fühlen, doch keinen menschlichen. Dieses Herz schlug schneller. Alfred ging vorsichtig im Schutz der Bäume in Deckung. Ein Ast knackte, Schnee rieselte von den Zweigen. Dann betrat ein großer, grauer Wolf die Lichtung. Alfred stutzte. Es war das erste Lebewesen, das er seit seiner Verwandlung sah, das weder Mensch noch Vampir war. Bisher hatten ihn Tiere gemieden. Nicht einmal eine Ratte oder Maus hatte er im Schloss entdeckt.
Der Wolf war allein. Wo war sein Rudel? Alfred konzentrierte sich, doch er konnte nur diesen einen spüren. Der Wolf hinterließ tiefe Spuren im Schnee. Ein prachtvolles Tier. Plötzlich hielt es inne und sah in Alfreds Richtung. Fühlte es seine Anwesenheit? Das Tier duckte sich in Angriffsstellung, sträubte das Fell und knurrte tief. Ein wildes, kehliges Knurren, das durch Mark und Bein ging. Etwas in Alfred reagierte. Seine Wut, seine Enttäuschung. Wie ein roter Schleier legten sich seine Emotionen über seine Gedanken. Entschlossen trat aus der Deckung, erwiderte das Knurren, duckte sich ebenfalls zum Sprung bereit.
Einen Moment war alles still. Dann sprang der Wolf los. Alfred war zu langsam. Die Wucht des Aufpralls warf ihn zurück. Schleifte ihn über den Schnee. Er stürzte nicht, konnte den Angriff aber nicht abwehren. Der Wolf biss ihm in den Arm. Alfred brüllte vor Schmerz und drückte das Tier mit aller Kraft weg. Es flog über die Lichtung, landete hart im Schnee und jaulte auf. Doch im nächsten Moment war es schon wieder auf den Beinen. Es sprang erneut. Dieses Mal war Alfred schneller. Er duckte sich zur Seite, der Wolf flog an ihm vorbei. Jetzt!
Alfred erwischte ihn an der Schulter, drückte das Tier mit seiner ganzen Kraft auf den Boden. Der Schnee stob zu allen Seiten. Die Krallen des Tieres zerrissen seine Kleider, hinterließen tiefe Wunden in seiner Haut. Alfred schrie erneut auf. Der rote Nebel in seinem Kopf verzehrte alles. Ohne nachzudenken, bohrte er seine spitzen Eckzähne in den Hals des Wolfes. Das Tier jaulte auf, versuchte sich zu befreien – doch es war vergeblich.
Als Alfred den ersten Schluck Tierblut zu sich nahm, musste er den Impuls unterdrücken, es sofort wieder auszuspucken. Es schmeckte bitter. Nichts im Vergleich zum süßen Blut eines Menschen. Aus purem Zorn trank er weiter, bis das Herz aufhörte zu schlagen. Dann schob er den leblosen Kadaver angeekelt von sich. Und doch fühlte er einen Triumph. Der rote Schleier in seinem Kopf löste sich.
Plötzlich durchschnitt eine Stimme die nächtliche Stille: »Ich muss zugeben, das hat schon einen gewissen Reiz.«
Alfred fuhr herum. Dort, entspannt an einen Baum gelehnt, stand Herbert mit einem süffisanten Lächeln auf seinen Lippen.
Chapter 7: Der Sommer 1617
Chapter Text
Alfred starrte Herbert mit leicht geöffnetem Mund an. In seiner Wut hatte er nicht bemerkt, dass er ihm gefolgt war. Betreten senkte er den Blick – Scham machte sich in ihm breit. Herbert hingegen genoss sichtlich die Wirkung, die er auf den jungen Vampir hatte. Er ließ sein glockenhelles Lachen erklingen:
»Chéri, du bist ein offenes Buch. Sorge dich nicht, denn ich werde dir nicht zu nahekommen.«
Er zwinkerte Alfred kurz zu, und dieser fühlte sich alles andere als beruhigt.
»Warum bist du mir gefolgt?«
Mit gespielter Entrüstung antwortete Herbert:
»Aber ich konnte unseren Gast doch nicht in diesem aufgelösten Gefühlszustand alleine lassen.«
Seine Augen funkelten vor diebischer Freude. Alfreds Blick huschte kurz zu dem toten Tier, das regungslos und mit blutverschmiertem Fell auf dem verschneiten Waldboden lag.
Herbert folgte seinem Blick und rümpfte die Nase, als hätte er etwas Unangenehmes gerochen. Er beugte sich zu dem Kadaver herab und sagte tonlos:
»Es ist nicht so, wie es sein soll, nicht wahr?«
Er wusste, was Herbert meinte. Er sprach von dem Tierblut, und Alfred nickte. Der Rausch, den er beim Trinken von einem Menschen empfand, war ausgeblieben. Das Brennen in seiner Kehle war schwächer geworden, aber dennoch fühlte es sich falsch an.
Unmittelbar erhob sich Herbert und stand nun sehr viel dichter vor Alfred, als ihm lieb gewesen wäre. Er ging einige Schritte zurück, doch Herbert folgte ihm. Nun war es Alfred zu viel. Als Zeichen der Warnung knurrte er leise und straffte die Schultern. Herbert verharrte einen Moment, dann lachte er erneut hell und laut. Alfred beobachtete ihn argwöhnisch, denn er wurde nicht schlau aus diesem Vampir. War es möglich, dass er im Laufe der Jahrhunderte den Verstand verloren hatte? Als sich Herbert beruhigte, trat er ein paar Schritte zurück und Alfred atmete auf.
»Du warst interessant und begehrenswert als Mensch, aber als Vampir bist du farblos. So wie wir alle. Du hast nichts vor mir zu befürchten.«
»Ich bin nicht so wie ihr.« Alfreds Stimme bebte ein wenig.
»Nein? Wirklich nicht? Ich weiß genau, was du fühlst und denkst. Deine Kehle brennt vor Verlangen nach Menschenblut, weil der Wolf nur deinen Durst gestillt hat, aber nicht die Gier. Ich weiß, dass dein größter Wunsch ist, zurück ins Schloss zu eilen und dir deine Geliebte zurückzuholen, die mein Vater dir nahm.«
Es ärgerte Alfred, dass scheinbar alle genau wussten, was er fühlte. Nur er selbst nicht.
Ungerührt sprach Herbert weiter:
»Menschen sind interessant und unberechenbar. Nie kann man genau wissen, was sie denken oder als Nächstes tun. Sie betreten verfluchte Schlösser, nur um ein unbedeutendes und banales Mädchen zu retten.«
Wieder zwinkerte er Alfred zu.
»Sie sind faszinierend. Du warst faszinierend. Jetzt bist du einer von wenigen und doch so gewöhnlich.«
Auf einmal war seine Stimme voller Verachtung.
»Von Gier getrieben und besessen von einem Weib.«
Er spuckte das Wort mit solch einer Missachtung, dass Alfred zusammenzuckte.
»Ich bin nicht besessen.« Die herablassende Art des Vampirs machte ihn wütend und weckte seinen Trotz. Ein Echo des roten Schleiers breitete sich in seinem Kopf aus. »Ich liebe sie.«
Trotz allem was sie getan hat, dachte Alfred stumm.
Herberts Augen blitzten rot vor Zorn, und seine Stimme erhob sich:
»Was weißt du von der Liebe? Du bist ein Kind! Selbst gemessen an deinen Lebensjahren als Mensch bist du jung und unerfahren. Du weißt gar nichts.«
Herberts heftige Reaktion verunsicherte Alfred. Er spannte seinen Körper an, bereit zur Flucht, wenn es nötig wurde. Doch Herbert sank plötzlich in sich zusammen, und eine Träne rollte seine Wange hinab. Unbeholfen sah Alfred zu dem Vampir herunter. Was sollte er tun? Wenn es eine Gelegenheit gäbe, um das Schloss und seine Bewohner zurückzulassen, dann war sie jetzt gekommen. Doch immer noch waren Alfred seine menschlichen Werte wichtig und so gebot es der Anstand, den aufgelösten Sohn des Grafen nicht allein zu lassen. Da er nicht wusste, was er sagen oder tun sollte, stand Alfred einfach still da und wartete.
Plötzlich durchbrach Herbert die Stille:
»Es ist keine Liebe.« Er sah Alfred mit traurigen und geröteten Augen an und sprach tonlos weiter: »Du bist an deine Schöpferin gebunden. Euch verbindet ein Schwur. Besiegelt mit dem Blut, das sie dir genommen hat. Ebenso ist sie an dich gebunden. Ein Vampir ist für die, die er schuf, verantwortlich.«
Der Schnee knirschte leise unter seinen Stiefeln, während Alfred schwieg und wartete.
»Deswegen kannst du nicht fortgehen. Du fühlst es oder?«
Alfred spürte in sich hinein, und plötzlich machte es Sinn. Die Sehnsucht nach Freiheit, aber gleichzeitig das heftige Verlangen, in das Schloss zurückzukehren. Wie ein unsichtbares Band zog es ihn dorthin zurück. Neugierig geworden kapitulierte Alfred und ließ sich neben ihm in den Schnee sinken.
»Aber warum? Warum sind Vampire miteinander verbunden?«
»Warum? Wer weiß das schon? Wer weiß, was wir sind? Sind wir des Teufels oder ein Teil Gottes Plan?«
Herbert seufzte tief und ließ den Blick über die verschneiten Baumkronen gleiten, als könnte der Wald selbst eine Antwort bereithalten. Verblüfft sah Alfred zu Herbert. Er war beeindruckt, dass der Vampir von solch tiefen Gedanken sprach. Das hatte er ihm nicht zugetraut. Zugleich war er enttäuscht. Wenn ein Vampir in Herberts Lebensspanne keine Antwort auf diese Frage gefunden hatte, gab es dann überhaupt eine? Da kam Alfred ein Gedanke:
»Wenn ich an Sarah gebunden bin, dann ist sie an deinen Vater gebunden.«
»Wie klug du doch bist.«, antwortete Herbert, und Alfred merkte, dass seine Stimme wieder den üblichen spöttischen Ton angenommen hatte. Er sagte nichts, aber innerlich war er erleichtert. Es erklärte, warum Sarah so leichtfertig zum Grafen zurückgegangen war. Sie hatte keine Wahl. Herbert mochte ihm zwar weißmachen, dass Alfred keine Liebe empfand. Doch er hatte bereits als Mensch tief für sie empfunden, und so war er überzeugt, dass mehr zwischen ihnen war als der Blutschwur, der sie verband. Diese Hoffnung war alles, was ihm geblieben war. Die Hoffnung, dass sie sich erinnern würde. An ihre erste Begegnung im Wirtshaus. An das Lächeln. An den Abend im Badezimmer. An ihn. Wenn das verloren ging, blieb nur noch das Monster in ihm.
»Sind wir auf immer an ihn gebunden? An unseren Schöpfer, meine ich?«
»Nicht unbedingt. Es ist möglich, dieses Band zu lösen, wenn wir erfahren genug sind. Manche von uns leben lieber allein.«
»Bist du an deinen Vater gebunden?«, fragte Alfred neugierig.
»Uns verbindet nur das Band zwischen Vater und Sohn. Er war es nicht, der mich verwandelt hat. Ich nehme an, dies war deine eigentliche Frage.«
Alfred nickte leicht. Herbert verstummte. Sein Gesicht war kalt und glatt. Das Mondlicht schimmerte in seinen blassen Augen.
»Wer? Wer hat dich verwandelt?«
Aber Herbert antwortete nicht. Es war unnatürlich still, und Alfred konnte die Anspannung fühlen, die in der Luft lag. Doch er wollte mehr über die Existenz der Vampire erfahren.
»Was ist dir zugestoßen?«, fragte Alfred sanft, und Herbert seufzte tief auf. Sein Gesicht war plötzlich voller Trauer und Schmerz. Dann erzählte er seine Geschichte.
»Es geschah im Jahr 1617. Es war Sommer, doch er war bereits beinahe vorbei. Ich erinnere mich an die vollen Felder, reif für die Ernte. Ich erinnere mich an die Sonne, die auf meiner Haut brannte, wenn ich durch die Felder und Wälder ritt. Es fehlte uns an nichts. Mein Vater herrschte als Graf über seine Ländereien, und er war ein guter Herrscher. So brachten wir es zu beachtlichem Reichtum.
Gemeinsam mit unseren Bediensteten lebten mein Vater und ich auf dem Schloss. Meine Mutter war im Kindbett gestorben. Deshalb zog er mich alleine groß, und ich vergötterte ihn endlos. Er stellte Lehrer ein, die mich das Wissen unserer Zeit lehrten. Ich wurde zu einem würdigen Erben und zukünftigen Grafen. Vor mir lag eine strahlende Zukunft.«
Herbert machte eine Pause, seufzte tief, als schmerzten ihn die Erinnerungen.
»Alfred, du hast meinen Vater als Vampirfürst kennengelernt, der Kontrolle über alles stellt. Das war nicht immer so. Er war gütig und verständnisvoll. Als ich heranwuchs und die Gesellschaft der Männer der der Frauen vorzog, akzeptierte Vater es beinahe ohne Widerstand. Meine Neigungen waren gewiss nicht gesellschaftstauglich, weshalb nicht offen darüber gesprochen wurde – obwohl natürlich jedermann hinter vorgehaltener Hand darüber redete.«
Er lachte kurz auf, als hätte er eine heitere Bemerkung gemacht. Dann wurde seine Stimme hart, glatt und kalt wie Eis.
»Der Vampir kam in einer Spätsommernacht. Ein Unwetter lag in der Luft. Es regnete schon, als es laut gegen die Eingangstür klopfte. Einer unserer Diener ließ ihn ein, gerade noch rechtzeitig, bevor das Gewitter losbrach. Als wir ihm gegenüberstanden, waren wir gebannt von seiner Schönheit. Ein stattlicher Mann von großem Wuchs, mit einem Gesicht wie aus einer anderen Welt. Glatt und makellos. Nur die abgetragene Kleidung schien nicht zu ihm zu passen. Mein Vater bot ihm freie Kost und Unterkunft, solange es nötig war. So war es damals üblich. Wir sprachen nicht darüber, aber wir waren wie verzaubert von dieser imposanten Erscheinung. Gleichzeitig getrieben vom Wunsch, in seiner Nähe zu sein.«
Herbert schnaubte.
»Doch mit seinem Eintreffen geschahen seltsame Dinge. Am Tage bekamen wir den Fremden nicht zu Gesicht. Sein Essen stand unberührt vor der Tür. Nie rührte er eine Mahlzeit an. Es dürstete ihn nach etwas Anderem, aber das wussten wir nicht. Noch nicht. Dann, in der folgenden Nacht, verschwand der erste Diener. Zwei weitere folgten in der Nacht darauf. Und in der dritten Nacht geschah es.«
Herbert machte eine lange Pause und schien von den Erinnerungen vollkommen überwältigt. Dann sprach er endlich weiter:
»Ich wurde von einem Schrei geweckt – eine Frau, eine der Hilfsköchinnen, die Todesangst litt. Mein Kammerdiener stürmte in mein Zimmer, zu Tode erschrocken.
›Er kommt. Er kommt.‹
›Wer kommt? Von wem sprichst du?‹, fragte ich voller dunkler Vorahnungen.
›Der Vampir. Er kommt!‹
Ich war kein besonders abergläubischer Mensch gewesen, aber in dem Moment wusste ich, dass es stimmte. Gemeinsam versuchten wir, die Türen zu verbarrikadieren. Panisch sah ich mich um – es gab keinen anderen Ausweg. Mein Schlafgemach lag hoch oben in einem der Türme. Ein Sprung aus dem Fenster hätte den sicheren Tod bedeutet. Es war still, und wir konnten nur unseren Atem hören. Doch plötzlich ertönte ein grausames Lachen vor der Tür. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, als der Vampir meinen Namen rief. Die Stimme war sanft und doch kalt wie Eis. Dann brach er mit unmenschlicher Kraft die Tür auf. Die Möbel, die wir hastig davorgeschoben hatten, flogen umher, als wären sie Spielzeug.
Etwas traf mich. Ich ging zu Boden. Mein Kopf schmerzte, und ich fühlte warmes Blut über mein Gesicht rinnen. Der Vampir trat zu mir, beugte sich herunter. Sein schönes Gesicht ganz dicht an meinem. Mein Herz schlug bis zum Hals. Der Fremde sog den Duft des Blutes ein, als wäre es ein betörendes Parfum. Seine Augen waren dunkel vor Durst, und er entblößte seine langen, spitzen Zähne. Ich bettelte um mein Leben, doch der Vampir lachte nur, und ich spürte seinen kalten Atem an meiner Kehle. Ich sprach ein letztes Gebet, schloss die Augen und hoffte, dass es schnell vorbei sein würde. Doch er biss nicht zu. Stattdessen vernahm ich plötzlich dumpfe Schläge. Verwirrt öffnete ich die Augen und sah, dass mein Kammerdiener mit allem warf, was er greifen konnte – Vasen, Kerzen. Er bewarf den Vampir, um ihn irgendwie von mir abzulenken. Natürlich war es nutzlos. Nichts davon hätte ihm schaden können. Aber ich begriff, was er tat: Er lenkte den Vampir von mir ab. Und opferte sich selbst. Im selben Moment, als ich es erkannte, war der Vampir schon bei ihm und riss ihn zu Boden.
Hastig suchte ich nach einer Waffe. In meinem Nachttisch lag ein Kukri-Messer. Mit letzter Verzweiflung griff ich danach und stürzte auf den Vampir zu. Er war so sehr von seinem Opfer eingenommen, dass er mich nicht bemerkte. So glaubte ich zumindest. Kaum hatte ich den Arm erhoben, bereit, das Messer in seinen Rücken zu jagen, stand er plötzlich dicht vor mir, ohne dass ich eine Bewegung wahrgenommen hatte. Dann schlug er mich nieder.«
Alfred zuckte zusammen. So sehr war er in Herberts Erzählung vertieft, dass er sich vor Anspannung auf die Lippen gebissen hatte. Er konnte das Blut schmecken und schluckte es hinunter. Als er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, war die Wunde bereits verheilt. Herbert war ein guter Erzähler und legte die Pausen gezielt ein, um die Spannung in die Höhe zu treiben.
Doch Alfred entging nicht, was Herbert verschwieg. So war er sich sicher, dass dieser tiefere Gefühle für den Kammerdiener gehegt hatte. Es war nur eine Ahnung, doch sie fühlte sich zu eindeutig an, um bloß Zufall zu sein. Taktvoll stellte er keine Fragen über das Schicksal des Bediensteten.
Lange sah Herbert hinauf zum Mond, der den Wald in ein geheimnisvolles Licht tauchte. Schließlich sprach er weiter:
»Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich auf dem Boden des Salons. Ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin. Wir waren nicht allein. Vater war da. Blass, aber scheinbar unverletzt. Er stand still und gefasst dem Vampir gegenüber.
›Was wollt ihr von uns?‹, fragte Vater mit fester Stimme.
Der Vampir lachte und antwortete:
›Alles! Deine Ländereien, deine Schätze, dein Schloss. Überschreibe mir deinen Besitz und ich lasse euch am Leben.‹
Diese Worte sprach er mit solch einer verführerischen Stimme, dass ich Vater beinahe angefleht hätte, Feder, Papier und Tinte zu holen. Wie dumm ich war. Der Vampir hatte niemals die Absicht, uns gehen zu lassen. Er genoss es, das grausame Spiel zu verlängern.
›Nein!‹, sagte mein Vater knapp und bestimmt.
Sofort stürzte sich der Vampir auf ihn und grub seine langen Zähne in Vaters Hals. Ich schrie erneut, aber es kümmerte das Monster nicht. Ich lag immer noch auf dem Boden, unfähig, den Blick von der Szenerie abzuwenden. Mit letzter Kraft rappelte ich mich auf und stolperte zur Tür. Ich hatte durch die Wunde am Kopf viel Blut verloren. Alles um mich herum drehte sich. Ich verlor das Gleichgewicht, fiel auf einen Tisch, der scheppernd zu Boden fiel. Plötzlich ertönte ein metallisches Klirren: mein Kukri-Messer. Der Vampir musste es mitgenommen haben. Ich nahm es wieder in die Hand und ging auf den Fremden zu. Es war absolut gleichgültig, was ich tun würde. Der Vampir würde mich so oder so töten. Doch es war nutzlos. Noch bevor ich überhaupt nah genug war, um ihn zu verletzen, drehte er sich zu mir um. Er ließ Vater fallen, der leblos mit einem dumpfen Schlag zu Boden ging. Tot, dachte ich. Die Wunden an seinem Hals waren klein und blutverschmiert, aber seine Haut war unnatürlich grau. Er regte sich nicht.
Jetzt kam der Vampir auf mich zu. Sein Blick war fest auf meine Stirnwunde geheftet, die durch den Sturz auf den Tisch wieder zu bluten begonnen hatte. Plötzlich warf er mich zu Boden. Seine Bewegungen waren zu schnell für meine schwachen, menschlichen Augen. Ohne zu zögern schlug er mir seine Zähne in den Hals. Ich schrie vor Schmerzen, aber es kümmerte ihn nicht. Er trank von mir. Ich versuchte, ihn wegzudrücken, aber der Vampir war zu stark. Schließlich gab ich meinen Widerstand auf und wartete auf den Tod. Doch ich starb nicht. Der Vampir ließ von mir ab und ich konnte ihn röcheln hören. Es war ein widerwärtiges Geräusch. Ich öffnete die Augen und brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was ich da sah. Der Vampir: steif und verkrampft, halb aufgerichtet, mit blutverschmierter Fratze. Die Augen vor unglaublichem Entsetzen weit aufgerissen. Während ich noch versuchte zu verstehen, was geschehen war, zerfiel der Vampir vor meinen Augen zu Staub. Er war fort. Plötzlich war es still.
Dann sah ich meinen Vater. Er war nicht tot, wie ich gedacht hatte. Mit letzter Kraft hatte er sich zu dem Vampir geschleppt und das Messer, das mir zu Boden geglitten war, in dessen Rücken gerammt. So tief, dass er das Herz durchbohrt hatte. Das war das Letzte, was ich sah, dann griff das Grauen nach mir, und mir schwanden auf lange Zeit die Sinne.
Ich habe in den Jahrhunderten meiner Existenz viel Zeit darauf verwendet, zu verstehen, wieso Vater den Vampir töten konnte. Er hatte in dieser Nacht Dutzende Menschen getötet und von ihnen getrunken. Möglicherweise war er in einen Rausch gefallen und seine Sinne waren vernebelt – wie bei einem Betrunkenen. Vielleicht war es auch nur ein Zufall.«
Herbert zuckte mit den Schultern.
»Und als du erwachtest, warst du ein Vampir?«
»Nein, noch nicht. Aber ich fühlte mich sonderbar, obwohl ich es damals nicht benennen konnte. Als ich erwachte, war die Nacht vorbei. Die Sonne stand hoch am Himmel. Ich war schwach, aber nicht so schwach, wie man es nach so einem großen Blutverlust erwarten würde. Mein Körper schmerzte, und die kleinen Bisswunden am Hals brannten. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand glühende Nadeln durch die Haut gestoßen. Mein Vater kam mit einem Stöhnen zu sich. Auch ihm schien nichts Ernsthaftes zu fehlen. Vom Vampir hingegen war nichts übrig – nur ein kleiner Haufen Asche. Wir durchsuchten das Schloss, doch niemand außer uns hatte überlebt. Sie waren alle tot.«
Herberts Stimme wurde immer leiser.
»Vater und ich trugen die Toten in den Schlosshof und verbrannten sie dort. Zu groß war unsere Angst, dass einer von ihnen als Vampir auferstehen könnte und uns ein weiteres Mal heimsuchen würde. Nichts blieb von ihnen zurück. Nur Asche und Staub.«
»Hast du nichts gespürt?«, fragte Alfred atemlos. Er dachte an seine eigene Verwandlung zurück. Der Schmerz hatte sich tief in sein Gedächtnis gegraben. Herbert hob nach einer Ewigkeit den Kopf und sah Alfred an, als hätte er vergessen, dass er nicht allein war.
»Nein, zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wenn ich etwas spürte, dann brachte ich es mit dem Massaker in der Nacht in Verbindung. Aber ich erinnere mich, dass die Helligkeit mir weiterhin zusetzte. Ich zog mich ins Innere des Schlosses zurück. Vater hatte zu jener Zeit eine Geliebte, die in einem der umliegenden Dörfer lebte. Seine Sorge galt vor allem ihr, aber auch den Menschen, die unter seiner Herrschaft standen. Wir wussten nicht, ob der Vampir schon vorher sein Unwesen getrieben hatte. Er musste die Menschen warnen. Als er schließlich mit dem schnellsten Pferd im Stall ausritt, senkte sich gerade die Sonne. Mit dem Sonnenuntergang begannen die Schmerzen.
Heute weiß ich, dass mein Körper starb und ich als Vampir wiedergeboren wurde. Damals war ich kurz davor, den Verstand zu verlieren. Als die Schmerzen endlich nachließen, konnte ich mit den Augen eines Vampirs sehen. Alle meine Sinne waren geschärft, und ich war vollkommen davon eingenommen.
Dann hörte ich Hufgetrappel. Vater kam zurück. Ich stolperte durch das Schloss zum Tor. Meine Beine zitterten, als hätte der Boden aufgehört, mich zu tragen. Dann roch ich es: Blut. Frisches Blut. Der Duft schien durch mich hindurch zu kriechen, direkt unter meine Haut. Wie konnte ich ihn je nicht bemerken? Dann erkannte ich die Quelle.
Vater stieg vom Pferd und wandte sich zu mir. Als ich ihn sah, erschrak ich und wich unwillkürlich zurück. Er war blutüberströmt. Es war überall – auf seiner Kleidung, an den Händen, an den Lippen. Mein erster Gedanke war, dass der Untote zurückgekehrt war, doch dann sah ich seine langen, spitzen Zähne. Ich erkannte, was aus ihm geworden war: Er war ein Vampir. Seine Geliebte war sein erstes Opfer geworden. Das hat er nie vergessen. Und so erkannte ich, dass auch ich verdammt war. Noch in derselben Nacht trank auch ich zum ersten Mal Menschenblut. So wurden wir zu Vampiren.«
Herbert seufzte und sah zum Mond hinauf.
»Die ersten Jahre waren die schlimmsten. Wir wussten nicht, was mit uns geschehen war. Es war niemand mehr da, der uns etwas hätte lehren können. Der einzige Vampir, den wir je kannten, war tot. Wir waren auf uns gestellt – und wir erlagen der Gier mit Haut und Haaren.
Wir tranken. Wir mordeten. Wir machten aus den Ländereien ein Grab. Bis wir erkannten, dass nichts unsere Gier stillen konnte, und wir unser Reich in unwiderrufliche Dunkelheit stürzten. Als wir wieder zu Sinnen kamen, verbannten wir unsere Nachkommen auf den Friedhof. Sie wurden widerspenstig, stellten Fragen, wollten in die Welt hinaus. Aber was wissen wir schon von der Welt?«
Nun wandte sich Herbert wieder direkt an Alfred.
»Wir wollen hinaus. Wir wollen Antworten auf unsere Fragen. Wir wollen wissen, woher der Vampir kam, der uns verwandelte. Gibt es noch mehr von uns? Was ist der Grund für unser Dasein?«
Alfred war dankbar, dass Herbert ihm seine Geschichte erzählt hatte. Für eine Weile war die Maske gefallen. Er fühlte sich nicht mehr ganz allein im Strudel der Zeit. Doch nun hatte Herbert wieder dieses gerissene Funkeln in den Augen, und das süffisante Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. Die kurze Vertrautheit war vorbei.
»Wir brauchen dich.«, sprach Herbert nun sanft. »Hilf uns, einen Weg in die Welt hinaus zu finden.« Seine Arme legten sich um Alfreds Schultern.
»Ich kann das nicht tun.«, Die Äußerung galt mehr ihm selbst als Herbert. »All die unschuldigen Menschen.«
Er schüttelte die Berührung des Vampirs ab und wich vor ihm zurück.
»Das ist der Mensch in dir, der da spricht. Erkenne deine wahre Natur. Du wirst erst Erfüllung finden, wenn du dein Schicksal annimmst.«
Alfred wandte den Blick ab. Er konnte ihn nicht ertragen, denn er wusste, dass Herbert Recht hatte. Seit seiner Verwandlung war er hin- und hergerissen, und Herbert wusste um seine Schwachstelle. Dieser sprach nun leise und sanft, mit der Stimme eines Verführers:
»Denke darüber nach. Stell dir nur vor: Vater wird Sarah überdrüssig werden, wenn er endlich dieses Land verlässt und sich neuen Genüssen hingibt. Und dann, wenn das Band zwischen den beiden endgültig gelöst ist, gehört sie dir alleine.«
Alfred biss sich auf die Lippen, unsicher, was er antworten sollte. Es klang zu schön, um wahr zu sein. Doch konnte er es wirklich tun? Unschuldige Leben opfern, damit er mit Sarah zusammen sein konnte?
Herbert erhob sich mit einer einzigen, fließenden Bewegung und streckte ihm die Hand entgegen.
»Denke darüber nach. Bitte.«
Er blickte auf die Hand, dann sah er hoch in Herberts Gesicht. Es verdeckte den Mond. Der Schein legte sich wie ein Heiligenschein um seine Züge, während Gesicht und Ausdruck im Dunkeln verborgen blieben. Alfred ergriff die Hand und zog sich hoch. Herbert klatschte in die Hände und rief freudig:
»Wunderbar!«
Dann stemmte er die Hände in die Hüften, ließ den Blick prüfend an ihm emporgleiten. Einen Moment zu lange verharrte er an seiner Körpermitte. Alfred knurrte leise. Herbert hob beschwichtigend die Hände und sagte:
»Aber zuerst besorgen wir dir neue Kleidung.«
Seine Kleidung war fast vollständig zerfetzt. Der Kampf mit dem Wolf hatte Spuren im Stoff hinterlassen, während seine Haut bereits fast geheilt war. Nur noch feine Narben zeugten von der Auseinandersetzung mit dem Tier. Sie würden bald verschwunden sein.
»Aber keine Rüschen«, murmelte Alfred leise, und gemeinsam machten sich die beiden Vampire auf den Rückweg.
Chapter 8: Ein Buch und ein Klavier
Chapter Text
Verärgert sah Alfred von den Schriften des Aristoteles auf. Er musste den Störenfried nicht lange suchen. Herbert saß an einem stattlichen, schwarzen Flügel und hatte bis vor wenigen Sekunden eine ruhige Melodie gespielt, während Alfred in dem alten Buch las. Doch plötzlich hatte der Sohn des Grafen ein heiteres Stück angestimmt, und die lauten Töne rissen Alfred aus seiner Konzentration. Verärgert sah er zu Herbert hinüber, in dessen Augen lag ein spöttisches Funkeln – wie immer, wenn er Gelegenheit hatte, seine Späße mit Alfred zu treiben. Als Herbert seine aufgebrachte Miene bemerkte, rollte er mit den Augen und kehrte zu einem ruhigeren Takt zurück. Zufrieden wandte sich Alfred wieder dem vergilbten Buch zu. Herbert seufzte laut und theatralisch.
Sie waren ein seltsames Gespann. Seit der Nacht, in der Sarah Alfred verlassen hatte, war ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen entstanden. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, fast so, als gäbe es eine Art von Freundschaft unter Vampiren. Herbert war ein guter Erzähler. Er berichtete Alfred aus seinem menschlichen Leben und ebenso aus seinem Dasein als Vampir. Manchmal verlor er sich allerdings zu sehr in Details. Er sprach von Zusammenkünften mit anderen Männern, die Alfred erröten hätten lassen, wäre er noch in der Lage dazu gewesen. Oder er schilderte genüsslich, wie er Menschen gequält und wie eine Katze mit ihnen gespielt hatte, bevor er sie tötete. Dann verließ Alfred ihn meist wortlos, durchquerte mit schnellen Schritten die Gänge des Schlosses und suchte das Weite. Doch stets hallte das glockenhelle Lachen des Vampirs in seinen Ohren nach.
Trotz allem lenkte ihn Herberts Gesellschaft von Sarahs Fortgang ab. Alfred schob den Gedanken an sie weit weg. Zu tief saß der Schmerz. Dafür dachte er umso häufiger an die Bitte des Grafen. Immer öfter ertappte sich Alfred bei dem Gedanken, gemeinsam mit den anderen Vampiren des Schlosses in seine Heimat zurückzukehren. Seit der Nacht der verbotenen Jagd hatte der Graf ihn nicht mehr zu sich rufen lassen. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Alfred entscheiden musste. Ein Leben in der modernen Welt – aber als Monster. Oder blieb er standhaft und trug die Konsequenzen? Ein Dahinvegetieren auf dem Friedhof. Oder Schlimmeres.
Nach seinem Kampf mit dem Wolf hielt Herbert sein Versprechen und besorgte Alfred neue Kleidung. Die schwarze Hose und das schlichte Hemd waren unauffällig genug, doch die blutrote Jacke ließ Alfred frösteln. Der Stoff war kühl auf der Haut, der Schnitt zu eng an den Schultern. Er wusste nicht, ob er sich mehr vor dem Gedanken ekelte, wem sie vorher gehört hatte, oder vor dem Gefühl, dass sie ihm erstaunlich gutstand.
Vampire hatten offenbar eine Vorliebe für Rot und Schwarz – als wollten sie ihre Natur nicht nur leben, sondern auch zur Schau stellen. Herbert jedoch bildete die schillernde Ausnahme: sein hellblauer Anzug, übersät mit Pailletten, wirkte wie eine Provokation gegen alles, was das Schloss zu verbergen versuchte. Doch Herbert war mehr als ein guter Erzähler und Gastgeber. Er war ein begnadeter Pianist. Alfred war sich sicher, dass er bereits als Mensch ein beeindruckendes Talent besessen hatte. Nun, als Vampir, entlockte er dem Klavier Melodien, die nicht von dieser Welt zu stammen schienen. Sie erreichten etwas tief in ihm. Oft fragte er sich wie diese Stücke wohl in den Ohren eines Menschen klangen, wenn sie ihn, einen Vampir, bereits so tief berührten.
Alfred war hingegen mit keinem musikalischen Talent gesegnet. Ihn interessierte die Welt der Bücher und des Wissens. Einige Nächte nach dem Kampf mit dem Wolf zog es ihn erneut in die Bibliothek, wo er den Raum genauer betrachtete. Die alten, dunklen Holzregale reichten bis zur Decke. Sie waren über und über mit kostbaren Büchern vollgestellt. Es musste mehrere Lebensspannen gekostet haben, diese Sammlung aufzubauen. Ehrfürchtig ging Alfred durch die Reihen und sog den Duft nach Staub und altem Papier ein. Er betrachtete die verstaubten Einbände. Manche Bücher waren weniger verdreckt als andere. Vor seinem geistigen Auge tauchte der Professor auf, wie er enthusiastisch durch die Gänge lief, hier und dort Bücher aus den Regalen zog und sie Alfred in die Arme legte. Alfred musste schmunzeln, als er daran dachte. Es schien bereits Jahre her zu sein, dass er der tollpatschige Assistent des Professors gewesen war, doch in Wahrheit waren nur wenige Monate vergangen.
Er ließ seinen Blick über ein Regal schweifen, ignorierte dabei den Ratgeber für Verliebte, den Herbert scheinbar wieder sorgfältig zurückgebracht hatte. Nur zierten jetzt zwei kleine Löcher den braunen Einband. Alfred zog ein anderes Buch heraus und vertiefte sich in den Text. Von nun an war er fast jede Nacht damit beschäftigt, zu studieren und sich einen immensen Schatz an Wissen anzueignen. Mit der Verwandlung hatte sich nicht nur sein Körper angepasst, auch sein Verstand schien erweitert, und so sog er das Wissen auf wie ein Schwamm.
Immer wieder glitten seine Gedanken zum Professor, denn es gab so viele Texte, die er gerne mit ihm besprochen hätte. Eines Nachts teilte er in einem unüberlegten Moment seine Sehnsucht mit Herbert und bereute es sofort. Denn Herbert fing gleich an zu lachen:
»Du bist ein Narr!«, sagte er mit spöttischem Ton in der Stimme. »Lass den Menschen in dir endlich los.«
Alfred wandte sein Gesicht ab, damit Herbert nicht sehen konnte, dass ihn seine Worte getroffen hatten.
»Es ist dumm, sein Herz an vergängliche Dinge zu binden«, sagte Herbert ruhig und kalt in die Stille. »In ein paar Jahren sind alle tot, die du einst kanntest.«
Alfred stutzte. Während für ihn Zeit keine Rolle mehr spielte und er für den Rest seines Daseins im Körper eines 21-jährigen Mannes gefangen war, würden alle anderen altern und schließlich sterben. Hatte er daran überhaupt jemals gedacht? Er wollte es nicht zugeben. Dass er sie so leicht hinter sich gelassen hatte. Seine Freunde, sein Leben in Königsberg. Sie waren nicht gestorben, aber in seinem neuen Leben hatten sie keinen Platz mehr. Der Gedanke ließ ihn zusammenzucken. War das der Preis für die Unsterblichkeit? Herbert seufzte wieder einmal hörbar laut.
»Für einen Unsterblichen bist du ein ziemlicher Trauerkloß!«
Er stand auf, ging zu einem kunstvoll geschnitzten Schreibtisch und öffnete eine der Schubladen. Er nahm ein kleines schwarzes Buch heraus und warf es Alfred zu. Mit den unfehlbaren Reflexen eines Vampirs fing er es sicher und sah hinein. Es war leer.
»Lass den Menschen in dir sagen, was er zu sagen hat, und dann schließe ihn fort.« Mit diesen Worten wandte sich Herbert ab und ließ ihn alleine.
Lange betrachtete Alfred das kleine Buch, dann gab er sich einen Ruck. Am großen Schreibtisch nahm er Platz, suchte nach Feder und Tinte und begann zu schreiben. Von dieser Nacht an wurde das schwarze Buch zu einem treuen Begleiter. Alfred schrieb über seine Verwandlung, seine körperlichen Fähigkeiten und seine übermenschlichen Sinne. Er berichtete von der Gier nach Blut, seinem Jagdverhalten und dem Band, das zwischen zwei Vampiren mit der Verwandlung entsteht. Er schrieb auch über die tödliche Wirkung von Feuer und Tageslicht auf Vampire. Alfred bestätigte Aliboris Reflexionstheorie und widerlegte die Annahme, dass Knoblauch für Vampire schädlich sei. Es stimmte zwar, dass der Geruch abstoßend auf ihn wirkte, aber nicht so sehr, dass es ihn davon abgehalten hätte, einen Menschen zu beißen. Dass Vampire keine Kreuze in ihrer Nähe ertragen können, hatte er bereits als Mensch bewiesen.
Alfred schrieb all seine Gedanken in das Buch, die er innerhalb des Schlosses niemandem mehr anvertrauen konnte. Er notierte sich Überlegungen zu wissenschaftlichen Texten und stellte eigene Theorien auf. Mit jeder Nacht wurde das kleine Buch ein wenig voller. Alfred gab es nicht zu, aber er war Herbert für dieses Geschenk dankbar. Es fühlte sich fast so an, als hätte er im endlosen Strudel der Zeit wieder eine Aufgabe gefunden. Sein Dasein erschien ihm nicht mehr ganz so sinnlos.
In einer weiteren Nacht lief Alfred durch die Gänge der Bibliothek und hielt einen kleinen Stapel Bücher im Arm, als er plötzlich ein Kichern hörte.
»Sarah!«, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen.
Die Bücher ließ er achtlos zu Boden fallen und ging ans Fenster. Er schob die alten, zerschlissenen Vorhänge zur Seite und spähte in den Schlosshof hinunter. Dort stand Sarah, und sie sah genauso wunderschön aus wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Sie trug immer noch das schwarze Kleid, und ihre rotbraunen Locken hatte sie zu einem unordentlichen Zopf zusammengeflochten. Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht und umspielten ihre grünen Augen. Neben ihr stand er. Der Graf. Er wirkte bedrohlich in seinem etwas altmodischen, aber dennoch imposanten Anzug, aber Sarah schien seine Ausstrahlung nicht zu bemerken. Sie kehrten dem Schloss den Rücken und liefen in Richtung des Waldes. Ein Blinzeln von Alfred, und sie waren verschwunden. Lange noch musterte er die Stelle, an der sie gestanden hatten. Sein Körper blieb reglos, aber der Schmerz in ihm war echt.
»Sieh an! Vater geht jagen«, flüsterte Herbert, und Alfred zuckte zusammen.
Er wusste weder, wie lange er am Fenster gestanden hatte, noch wann Herbert aufgetaucht war. Vielleicht hatte er ihn schon eine ganze Weile beobachtet und dabei mehr gesehen, als Alfred lieb war. Er ballte die Hand zur Faust, um die Emotionen in sich unter Kontrolle zu halten.
»Es scheint so«, sagte er mit tonloser Stimme.
»Der Frühling kommt«, sprach Herbert, geistabwesend. »Es wird Zeit.«
Alfred runzelte die Stirn und betrachtete die dunkle Landschaft ein weiteres Mal. Herbert hatte Recht. Die Natur war im Wandel. An den Fensterscheiben liefen kleine, feine Wassertropfen hinab. Der Schnee auf den Zinnen und Dächern begann zu schmelzen. Unten auf dem Gelände konnte man die ersten grünen Grasflecke erkennen, dort, wo der Schnee bereits geschmolzen war. Die Ländereien um das Schloss sahen aus wie ein grünweißer Flickenteppich. Der Winter endete, und der Frühling kam in diesen Teil der Welt.
Alfreds Durst nach Blut erwachte einige Nächte später. Es begann wie beim letzten Mal. Doch er spürte es früher. Ein Prickeln zog durch seine Gliedmaßen, als würden sich die Nervenbahnen unter der Oberfläche neu sortieren. Seine Haut wurde noch blasser als gewöhnlich, die Adern traten hervor und zeichneten seltsame Muster auf seinem Körper. Eine eisige Starre legte sich über seinen Brustkorb, etwas in ihm schien zu erstarren, dass längst keine Wärme mehr kannte. Die Hitze hingegen sammelte sich in seiner Kehle und brannte dort wie ein Feuer. Immer wieder rieb er über den Hals, wo der Schmerz am stärksten war. Als würde dort etwas erwachen, das nicht zu ihm gehörte. Dann verschärften sich seine Sinne und trieben ihn langsam in den Wahnsinn. Alfred ertrug es nicht mehr, in der Bibliothek zu sein. Der Staub schmerzte in seiner Nase, feine Fasern legten sich unangenehm auf seine Zunge.
So saß er wieder einmal mit Herbert im Salon und versuchte den Aufruhr in seinem Innern zu ignorieren. Vergeblich. Er nahm sich die Feder zur Hand, um in sein Buch zu schreiben, doch das Kratzen der Federspitze auf dem dünnen Papier klang unnatürlich laut in seinen Ohren, als würde er mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzen. Unruhig stand Alfred auf und ging zum Fenster. Herbert spielte eine ruhige und traurig anmutende Melodie, doch seine Blicke verfolgten ihn. Draußen war kaum etwas zu erkennen, denn die Fensterscheibe war dicht mit Regen bedeckt. Erst nach einigen Augenblicken nahm Alfred die Umrisse der Landschaft wahr. Ein Unwetter wütete. Der Regen prasselte wie kleine Geschosse gegen das Glas. Die Bäume im nahen Wald bogen sich unter den Böen, und der Sturm hämmerte in seinen empfindlichen Ohren. Die Natur wirkte genauso aufgewühlt wie Alfred selbst.
Immer mehr Empfindungen strömten auf ihn ein. Das Licht spiegelte sich in den Tropfen, wurde verzerrt zurückgeworfen und blendete ihn schmerzhaft. Er schloss die Augen und presste die Hände auf die Ohren – wie ein Kind, das sich der Welt entziehen will. Doch die Reize blieben. Alles drehte sich. Herberts Spiel riss ihn nicht weniger mit. Jeder Ton, den er dem Flügel entlockte dröhnte in Alfreds Ohren wie ein Glockenschlag.
»Hörst du endlich mit diesem Krach auf!«, schrie er unvermittelt und begann unruhig auf und ab zu laufen. Sofort hielt Herbert inne und ließ das Klavier verstummen.
»Komm! Wir gehen jagen.«, sagte er betont fröhlich. »Du brauchst Blut, und ich bin auch nicht abgeneigt.« Gelangweilt sah er auf seine Fingernägel und wartete auf Alfreds Reaktion.
»Aber dein Vater?«
»Es hat gewisse Vorzüge, der Sohn des Grafen zu sein«
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen ging er zur Tür. Alfred zögerte. Bisher hatte er alleine oder gemeinsam mit Sarah gejagt. Es war ein intimer Moment, und der Gedanke, ihn mit Herbert zu teilen, war ihm unangenehm. Doch was hatte er für eine Wahl? Beim Grafen war er in Ungnade gefallen, und sein Sohn war seine einzige Chance, an Blut zu gelangen, ohne sein Leben gänzlich zu verwirken. Also folgte er ihm. Als sie am schweren Schlosstor ankamen, drehte sich Herbert noch einmal um und sagte unvermittelt:
»Ich habe eine Kleinigkeit vergessen. Warte einen Augenblick.«
Dann lief Herbert die Treppen hinauf in die oberen Stockwerke und kam wenige Minuten später zurück. Alfred stutzte, denn Herbert hatte seine edlen Kleider abgelegt und war nun wie ein einfacher Bauer gekleidet. Die langen, blonden Haare sorgfältig unter einer dunklen Kappe verborgen.
»Herbert, was zum…?«, begann Alfred zu sprechen. Doch Herbert legte ihm den Zeigefinger an den Mund und antwortete:
»Das erfährst du früh genug, Chéri.« Und mit diesen Worten drückte er das Tor auf und ging nach draußen. Verwirrt ging Alfred ihm nach und betrag das Schlossgelände. Das Unwetter war in vollem Gange, und Alfred war augenblicklich bis auf die Haut durchnässt. Doch der Regen fühlte sich seltsam heilsam an und schien seine Sinne zu beruhigen. Alfred nahm einen tiefen Atemzug, und er konnte den herannahenden Frühling förmlich riechen. Hier gehörte er hin: nach draußen in die Freiheit der Nacht.
Er begann zu lachen und konnte gar nicht mehr damit aufhören. Alfred wusste nicht einmal, wann er zuletzt überhaupt gelacht hatte. Aufgekratzt vergaß er, dass er nicht allein war. Herbert tippelte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und fingerte an seinem groben Leinenhemd herum.
»Können wir?«, fragte Herbert verstimmt. Er mochte es nicht zu warten. Alfred grinste und nickte. Gemeinsam verschwanden sie in die Dunkelheit der Nacht.
Chapter 9: Ein Schritt zu weit
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Herbert schien eine ungefähre Ahnung davon zu haben, wo er hinwollte. Sie liefen in westlicher Richtung vom Schloss fort und durchquerten einen dichten, dunklen Wald. Vor ihnen erhoben sich die mächtigen Gipfel der Karpaten. Gnadenlos wütete das Unwetter weiter. Die Bäume bogen sich unter dem Sturm und wurden von den Elementen hin- und hergeworfen. Der Wind war laut. Er rauschte in Alfreds Ohren und übertönte alle anderen Geräusche. Herbert rannte voraus. Mit etwas Abstand folgte er ihm. Noch immer voller Freude, dass er endlich aus dem Schloss heraus war. Keine Mauern mehr, die ihn gefangen hielten. Kein Graf, der ihm im Nacken saß. Keine Sarah, die er auf schmerzlichste vermisste. Hier draußen zählte nur er.
Herbert wurde langsamer und suchte sich einen Weg durch das dichte Unterholz. Alfred verringerte ebenfalls das Tempo und nahm einen tiefen Atemzug. Neben den Gerüchen der Natur lag da noch etwas anderes in der Luft. Ein süßer Duft, der ihn magisch anzog. Blut. Das Feuer in seiner Kehle flammte auf. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er den Aufruhr in sich beruhigen konnte – zumindest für eine kurze Zeit.
Herbert war im Dickicht in Deckung gegangen. Auch er war bis auf die Haut durchnässt. Alfred fragte sich noch immer, was genau der Vampir mit seiner Maskerade bezweckte. Nun, er würde es bald erfahren. Mit einem knappen Nicken gab Herbert ihm ein Zeichen, näher zu kommen. Als er neben ihn trat, betrachtete er die seltsame Szene, die sich ihm bot, als er einen Blick durch das Geäst warf.
Vor ihm erstreckte sich eine Straße. Oder zumindest etwas, das einer Straße am nächsten kam. Ein breiter, unbefestigter Weg, den das Unwetter in eine riesige Schlammpfütze verwandelt hatte. Als Nächstes entdeckte Alfred die Kutsche – ein einfaches Gefährt aus Holz. Eines der großen Wagenräder war tief im Matsch eingesunken und gebrochen. Hinter dem Wagen drückten sich zwei Menschen, ein Mann und eine Frau in der landesüblichen Tracht, verzweifelt gegen dessen Rückwand. Doch der Wagen bewegte sich kein Stück. Ein Pferd war weit und breit nicht zu sehen.
Vermutlich durchgegangen, dachte Alfred.
Ein Blitz durchzuckte die nächtliche Dunkelheit, und die beiden Menschen warfen einen ängstlichen Blick nach oben. Dabei lauerte die viel größere Gefahr hinter ihnen im Gebüsch. Unruhig wanderten ihre Augen durch die Umgebung.
Kein Wunder, dachte Alfred. Niemand hielt sich nach Einbruch der Dunkelheit in dieser Gegend draußen auf. Leise flüsternd unterhielten sich die beiden auf Rumänisch. Er verstand die Worte nicht, doch die Angst und Anspannung waren in jedem Ton hörbar. Er sah zu Herbert hinüber, dessen Augen diabolisch aufblitzten:
»Haben wir ein Glück! Zwei auf einmal.« Das Regenwasser tropfte von seiner Kappe. »Komm mit.«
Er ging einige Meter von dem Wagen weg und brachte Abstand zwischen sich und die beiden Fremden. Argwöhnisch folgte Alfred ihm. Er sog die Nachtluft noch einmal ein. Es roch nach Schlamm, nassem Holz und Angst. Ein weiterer Blitz erhellte den Nachthimmel, und für einen Moment war es taghell. Ein flüchtiges Echo dessen, was Alfred verloren hatte. Mit einem Windstoß war da wieder der Duft. Verlockend süß und viel zu nah. Das Feuer in seiner Kehle loderte erneut. Drängender als je zuvor. Wenn es so leicht war, dem nachzugeben wie sollte er jemals wieder damit aufhören? Wollte er das überhaupt? Oder war der Wunsch, standzuhalten, längst nur noch eine Lüge, die er sich selbst erzählte? Unvermittelt blieb Herbert stehen und drehte sich zu ihm um:
»Spiel mit!«, sagte er. Alfred starrte ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf.
»Herbert, was soll das?«, zischte er in die Dunkelheit.
»Spiel mit!«, wiederholte er nachdrücklich und zwinkerte ihm zu. Dann verschwand er ohne ein weiteres Wort und brach durch das Geäst auf die Straße.
»Bei allen guten Geistern, was treibt er da?«, fluchte Alfred und versuchte, Herbert im Auge zu behalten. Der Gedanke, sich einfach umzudrehen und in die Dunkelheit zurückzulaufen, blitzte in ihm auf. Doch er war längst zu tief verstrickt. Einen Schritt zu weit gegangen, um sich selbst noch zu retten. Worum zum Teufel ging es Herbert? Wobei sollte Alfred mitspielen?
Herbert rannte die Straße hinunter genau auf das Paar zu. Die Kappe tief ins Gesicht gezogen, seine Kleidung durchnässt und schmutzig wie die der beiden vor ihm. Mit einer panischen Stimme, die so gar nicht zu ihm passte, schrie er auf Rumänisch:
»Strigoi! Strigoiule! El e un strigoi!«
Panisch hob der Mann zuerst den Kopf und schob seine Frau hinter sich. Er antwortete in seiner Landessprache. Wieder schrie Herbert, und seine Stimme überschlug sich:
»Strigoi!« Sein ausgestreckter Arm deutete auf die Schatten am Waldrand, dorthin, wo Alfred stand. »El e un strigoi.«
Jetzt standen sie zu dritt auf dem schlammigen Weg, umgeben von Dunkelheit, Sturm und prasselndem Regen. Ihre Blicke suchten das Geäst ab, in das Herbert zeigte und dann trat Alfred aus der Dunkelheit. Ein dritter Blitz erhellte die Nacht und die unheimliche Szenerie. In dem Moment, als Alfred die Straße betrat, geschah etwas in ihm. Er verstand es nicht, aber es gefiel ihm. Seine Erscheinung war eine Mischung aus Mensch und etwas Anderem. Die Haut war blass, die braunen Haare klebten ihm vom Regen an der Stirn und seine Augen funkelten. Der Ausdruck in den Gesichtern der Menschen, eine Mischung aus Erstaunen und Furcht, berauschte ihn. Mit einem Lächeln, das er nie gelernt hatte, ließ er seine spitzen Eckzähne blitzen und genoss die Reaktion der beiden Fremden. Die Frau schrie auf, der Mann schob sich noch weiter vor sie, mit weit aufgerissenen Augen. Gleichzeitig brachte er sie damit in die unmittelbare Nähe von Herbert. Es war so sinnlos, aber das wusste der Fremde nicht. Noch nicht.
Alfreds Nerven vibrierten vor Lust und das Feuer in seiner Kehle brachte ihn fast um den Verstand. Aber noch wartete er. Die Menschen begriffen, noch nicht alles, aber genug, um zu wissen, dass sie in tödlicher Gefahr waren. Wegen ihm. So fühlte es sich also an, wenn sie ihn fürchteten. Wenn er nicht mehr Alfred, der Assistent war. Nicht mehr Alfred, der Mensch. Sondern Alfred, der Vampir.
Er sah zu Herbert. Der hatte sich längst unauffällig dicht an die Frau geschoben. Er legte seine kalte Hand auf ihren Mund, erstickte damit ihre Schreie. Ihr Blick traf auf Alfreds – aber da war kein Mitleid. Ein Lächeln stahl sich auf Herberts Gesicht. Er nickte Alfred zu. Dieser erwiderte das Nicken kaum sichtbar. Dann versenkte Herbert seine Fangzähne in den Hals der Frau. Sie stieß einen erstickten Laut aus. Der Mann drehte sich zu ihr um und erkannte die tödliche Falle, in die sie getappt waren. Sofort wandte er sich wieder Alfred zu. Noch immer wartete dieser. Alfred wollte es sehen: Diesen einen Moment, in dem seinem Opfer klar wurde, dass sein Leben, und das seiner Frau, verwirkt waren. Ihre Blicke trafen sich und die Augen des Fremden suchten nach Hilfe, nach einem Ausweg. Doch sie fanden nur ihn. Alfred lief los und als seine Zähne die Haut am Hals durchschnitten, war da nur noch Dunkelheit in ihm – und nichts was mehr nach Licht verlangte.
Der Regen ließ nach, und in der Ferne konnte Alfred ein schwaches Donnergrollen hören. Das Unwetter war fast vorbei. Er kniete auf dem schlammigen Waldboden, doch seine Gedanken waren weit entfernt, und er nahm seine Umgebung kaum wahr. Alles, was er spürte, war der Frieden in ihm. Die Hitze in seiner Kehle schien endlich gebändigt. Zwei Hände glitten behutsam über seine Schultern. Er ließ es zu. Die Berührung war unerwartet sanft und erinnerte ihn an Sarah. An das, was einmal gewesen war. Für einen Moment durfte er vergessen. Für einen Moment war er nicht das, zu dem er geworden war. Dann spürte er Herberts Atem dicht an seinem Ohr und hörte seine leisen Worte:
»Jetzt bist du einer von uns.«
Ein Satz, der in Alfred widerhallte, als hätte jemand eine Glocke in seinem Inneren zum Schwingen gebracht.
Ja.
Hatte er es gedacht oder laut ausgesprochen? Er wusste es nicht. Doch mit diesem kleinen Wort traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag, und er riss die Augen auf. Er hielt die Leiche immer noch im Arm. Eine verzerrte, grausame Version einer zärtlichen Umarmung. Die Hände krallten sich fest in den Stoff der Jacke des Toten. Der Kopf hing grotesk zur Seite, und die roten Bisswunden am Hals stachen unheimlich aus der grauen Haut hervor. Dann sah er die Frau. Sie lag einige Meter weiter im Matsch, die leeren Augen genau auf ihn gerichtet. Ohne zu sehen, starrte sie ihn an, doch Alfred glaubte, eine stumme Anklage zu erkennen. Er ließ den Mann los, sprang auf und taumelte rückwärts. Mit einem übelkeitserregenden Geräusch fiel die Leiche bäuchlings in den schlammigen Boden. Alfred sah zu Herbert hinüber und in seinem Gesicht stand nichts als Triumph.
»Ich hatte meine Zweifel, ob du mitmachst. Aber das habe ich nicht erwartet!« Er lachte auf.
Vollkommen aufgelöst geriet Alfred ins Stottern, als er sich an die letzten Minuten erinnerte.
»Ich… Ich wollte das nicht!« Er wandte sich ab. Ihm wurde übel.
»Oh, doch! So kann es immer sein«, säuselte Herbert zärtlich an seinem Ohr. Er war wieder dicht hinter ihn getreten und erneut legte er seine Hände auf Alfreds Schultern. »Du musst uns nur hier raushelfen. Sie werden dich fürchten – wie heute Nacht.«
»Ich kann das nicht. Ich will nicht so sein.«
Nun war es mit Herberts Geduld vorbei. Er riss Alfred an den Schultern, drehte ihn grob zu sich herum. Packte ihn am Kragen und stieß ihn mit voller Kraft gegen die Rückwand der Kutsche. Alfred prallte dagegen. Er konnte spüren, wie die morschen Bretter unter seinem Rücken splitterten. Vor Schmerz brüllte er auf und funkelte Herbert an. Der brüllte zurück, seine Stimme hallte durch den Wald:
»Sag es!« Er schüttelte Alfred. »Sag, dass du es genossen hast. Sag, dass du es wolltest!«
»Ja!«, kam es aus Alfreds Mund, bevor er es verhindern konnte. »Ja, ich … ich wollte es.«
Etwas zerbrach in ihm, als er die Wahrheit aussprach. Er hätte ein gnädiger Tod sein können, aber das war er nicht gewesen. Er hatte gewartet, bis alle Hoffnung verloren war, und die Macht in sich aufgesogen wie das Blut. Bewusst hatte Alfred das grausame Spiel in die Länge gezogen und jede Sekunde davon ausgekostet. Herbert verstärkte den Griff um seinen Kragen:
»Wenn du nicht endlich anfängst, dich wie ein Vampir zu verhalten, dann bin ich nicht mehr so geduldig mit dir. Dann ist mir Vaters Bitte herzlich egal. Du bist kein Mensch mehr. Akzeptier es endlich.«
Seine Stimme wandelte sich in ein wütendes Zischen. Alfred versuchte, sich seinem Griff zu entwinden, aber der Vampir war zu stark.
»Und noch etwas: Wenn du uns nicht aus diesem gottverdammten Land holst, bringe ich dich höchstpersönlich auf den Friedhof und warte auf den nächsten Trottel, der dumm genug ist, in unser Schloss zu laufen!«
Endlich ließ er Alfred los, und dieser sackte für einen Moment in sich zusammen. Dann sammelte er sich und richtete sich auf. Atemlos fragte er:
»Was meintest du mit ›Vaters Bitte‹?«
»Er hat mich auf dich angesetzt!«, antwortete Herbert knapp.
Alfred verstand nicht sofort.
»Aber Alfred.« Langsam und übertrieben verständnislos schüttelte er den Kopf. »Hast du es noch immer nicht begriffen? Es war Vaters Plan. Alles. Er wusste, dass weder du noch Sarah euch an seine Vereinbarung, keine Menschen zu jagen, halten würdet. Kein neugeborener Vampir kann widerstehen. Und so musste er nur warten, bis es soweit war. Als ihr dann zurückkamt, ertappt und voller Schuld, waren nur ein paar Worte nötig, um Sarah wieder zu ihm zu ziehen. Ich würde meine Auswahl noch mal überdenken, wenn ich du wäre.«
Eine kalte Faust legte sich um das was mal Alfreds Herz gewesen war.
»Dann kam ich ins Spiel. Als du am Boden warst, gab ich dir Hoffnung. Dass euch der Blutschwur verbindet. Dass es eine Aussicht darauf gibt, euch beide wieder zu vereinen. Du musstest nur endlich deine Moral über Bord werfen. Und wie man sieht...«
Er ließ die Arme über die beiden Leichen im Schlamm schweifen.
»Auch das ist möglich. Ich habe dich beobachtet. Du quälst dich selbst mit deinen Vorstellungen von Gut und Böse. Dabei bist du genauso ein Monster wie wir alle. Nimm es endlich so hin. Ich sollte dir zeigen, wie schön die Unsterblichkeit sein kann. Wie Macht schmecken kann. Genau das habe ich getan.«
Alfred hatte geglaubt, seine Menschlichkeit behalten zu können. Nun wurde ihm klar, dass das niemals eine Option gewesen war. Denn die Wahrheit war: Jedes Mal, wenn er von einem Menschen trank und ihn tötete, gab er ein Stück mehr von sich auf. Danach belog er sich selbst, dass er es ja gar nicht gewollt hatte. Oh doch – und wie sehr er es gewollt hatte. Aber fast genauso schwer traf ihn die Erkenntnis, dass die Gesellschaft von Herbert niemals echt gewesen war. Dabei hatte er Trost in seiner Gegenwart gefunden. Einen Trottel hatte Herbert ihn genannt. In der Tat, das war er.
»Wenn das hier ein Plan von deinem Vater sein soll, warum verrätst du mir dann alles?«, fragte Alfred mit unverhohlener Wut in der Stimme.
»Die Ewigkeit ist ein Spiel.«, antwortete Herbert ruhig und mit verengten Augen. »Ich ändere nur ein wenig die Spielregeln und warte ab, was passiert.«
Eine bedrückende Stille legte sich über die Straße. Das Unwetter war nun endgültig vorbei.
»Und nun komm!«, sagte Herbert knapp. »Koukol wird das hier beseitigen.«
Er stupste eine der beiden Toten angewidert mit dem Fuß an. Dann wandte er sich ab und ging in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren.
Alfred ließ ihm einen langen Vorsprung. Der kurze Frieden war verflogen. Er war eine Schachfigur, und jeder schob ihn über das Spielfeld, wie es ihm beliebte. Der Graf brauchte ihn für seine Pläne. Herbert verfolgte seine eigenen Absichten. Und für Sarah war er... ein Ersatz gewesen. Wenn die Ewigkeit wirklich ein Spiel war, dann wurde es langsam Zeit, dass er mitspielte. Doch alleine gegen den Grafen und Herbert hatte er keine Chance. Es gab nur noch eine Person, die ihm helfen konnte. Und um mit ihr zu sprechen, musste er nach Königsberg.
Chapter 10: Eine Kiste für Königsberg
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»Ich bin einverstanden. Ich helfe Euch, Transsilvanien zu verlassen.«, sagte Alfred mit fester Stimme.
Er war wieder im prunkvollen Arbeitszimmer des Grafen. Das Feuer im Kamin brannte, aber es wärmte nicht. Es war bloß Kulisse – wie alles hier. Vor dem Kamin saß Herbert, den Rücken den beiden Vampiren zugekehrt. Der Graf hatte am Schreibtisch Platz genommen, den Blick fest auf Alfred gerichtet.
»Das freut mich zu hören.« Die Stimme des Vampirs war ruhig und kontrolliert. Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen.
»Aber ich habe zuvor eine Bedingung«, warf Alfred ein.
Für einen kurzen Augenblick flackerte ein Schatten von Unsicherheit über das Gesicht des Grafen. Dieser legte die langen Finger aneinander, sodass sich die Fingerkuppen in der Mitte trafen. Er schürzte die Lippen:
»Ich bin ganz Ohr. Fahre fort.« Mit einer Handbewegung gab er Alfred zu verstehen, dass er weitersprechen sollte.
»Ich reise allein nach Königsberg und töte den Professor.« Er beeilte sich weiterzusprechen, bevor ihn jemand unterbrach. »Abronsius ist die letzte Verbindung zu meinem alten Leben. Lasst mich Rache nehmen und diese Brücke einreißen. Danach gehöre ich ganz Euch.«
Der andere Vampir antwortete nicht. Es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Dann öffnete er den Mund und sagte:
»Nein!«
»Nun, bei allem Respekt, von Krolock«, antwortete Alfred, und ein kleines Hochgefühl mischte sich in seine Stimme, »Ihr habt keine Wahl. Entweder Ihr kommt meiner Bitte nach, oder Ihr verbannt mich auf den Friedhof und wartet auf den nächsten Trottel, der dumm genug ist, in dieses Schloss zu spazieren.«
Er vermied es, Herbert anzusehen, als er die Worte aus der Unwetternacht wiederholte. Doch aus dem Augenwinkel erkannte er eine plötzliche Bewegung im Sessel.
Der Graf erhob sich, und einen Moment standen sich beide Vampire gegenüber. Alfred bewegte sich nicht und wartete. Von Krolock wendete sich ab, trat an den Kamin und legte eine Hand auf die Lehne des Sessels, in dem Herbert saß:
»Ich werde darüber nachdenken. Geh!«
Alfred verließ das Zimmer und brachte schnell einige der vielen verwinkelten Gänge hinter sich, bis er sicher war, außer Hörweite zu sein. Es war still im Flur. Nur das ferne Knacken des Kaminfeuers hallte noch in seinen Gedanken nach. Er lehnte sich gegen die Wand, die kalten Steine im Rücken, schloss für einen Moment die Augen und hielt den Atem an.
Alfred hatte dem Vampir ins Gesicht gelogen – mit einer Ruhe, die ihn selbst erschreckte. Wie glatt die Worte über seine Lippen gekommen waren. So überzeugend, dass er sich selbst geglaubt hatte. Niemand, nicht einmal Herbert, hatte ihn unterbrochen. Als hätte sich ein anderer seiner bemächtigt. Eine Seite in ihm, die stärker und dunkler war. Eine Seite, die ihn entweder in die Freiheit oder geradewegs ins Verderben führen konnte.
Er blinzelte. Da war sie wieder: die Frau mit den toten Augen. Sie starrte ihn an. Wie vor einigen Nächten im Schlamm. Die Nacht war vergangen, die Bilder blieben – und brannten sich jedes Mal ein wenig tiefer ein. Mit den Bildern kamen die Gefühle: diese Macht, diese Hitze, der Taumel am Abgrund. Die Leere, nachdem alles vorbei war. Das Wissen, dass er in jenem Moment nicht mehr Alfred gewesen war – sondern etwas anderes. Ein Monster vielleicht. Was, wenn er diese Rolle nicht mehr ablegen konnte? Oder gar nicht mehr wollte? Vielleicht war sie nur deswegen so überzeugend, weil das Schauspiel kein Schauspiel mehr war. Er öffnete die Augen wieder. Ein Luftzug zog durch den Gang und roch schwach nach kaltem Stein und Asche. Er zwang sich zu einem Schritt, dann zum nächsten. Tief in seinem Inneren war etwas Neues erwacht: ein Plan. Und die Hoffnung, dass es noch einen Weg zurück geben könnte. Nicht zu dem, was er gewesen war. Aber vielleicht zu dem, was er sein wollte. Plötzlich hörte er jemanden hinter sich im Gang. Schritte, leicht schleppend, dann schneller werdend. Er drehte sich um und erkannte Herbert. Der ging einfach an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen – aber mit schneidender Stimme sagte er:
»Ich sehe, du hast es endlich verstanden.«
Als er um die Ecke bog, rief er laut, so dass seine Stimme durch die Gänge hallte:
»Viel Glück, Alfred!«
Es vergingen einige Nächte, in denen der Graf Alfred eine Antwort schuldig blieb, doch damit hatte er gerechnet. Alfreds Bitte war forsch gewesen, aber er war sich sicher, dass der Graf zustimmen würde. Er war seine Fahrkarte. Von Krolock würde nicht noch einmal 300 Jahre warten. Durch Alfred schien die moderne Welt zum Greifen nah. Nein, er war sich sicher: Der Graf konnte nicht ablehnen. Und so wartete er.
Alfred hielt sich kaum mehr im Schloss auf. In manchen Nächten hatte er das Gefühl, dass die Mauern immer näherkamen und ihn erdrückten. Die Bibliothek, einst Zufluchtsort, erinnerte ihn nur noch an Herberts falsches Spiel – und daran, dass er so blind in die Falle getappt war. Alfred erkundete die Ländereien, die sich weit um das Schloss erstreckten. Bei einem seiner Streifzüge wagte er sich tief in die Karpaten vor. Dort fand er natürliche Höhlen, bewohnt von Braunbären. Der Winter war endlich vorbei, der Frühling hatte Einzug gehalten – und die großen Tiere erwachten aus ihrer Winterruhe. Alfred dachte an den Wolf im Schnee zurück. War es möglich, sich ausschließlich von Tierblut zu ernähren? Die kalten Augen der Frau tauchten erneut vor seinem inneren Auge auf. Gab es einen Weg, dem Blutdurst und der Mordgier zu entgehen? Als er an den Geschmack des Tierbluts dachte, rümpfte er unwillkürlich die Nase. Es war nicht ansatzweise mit dem süßen Blut eines Menschen vergleichbar. Aber es schien eine Chance zu sein, die Kontrolle zu behalten. Er beobachtete die Bären noch eine Weile und spürte dabei, wie die feuchte, moosige Kühle der Höhle sich auf seine Haut legte.
Als die kommende Nacht begann, klopfte Koukol und wies ihn mit einem Wink seines massigen Arms an, ihm zu folgen. Als Alfred hinter dem humpelnden Diener durch die Gänge schritt, zwang er sich ruhig zu bleiben. Er konnte es nur nach Königsberg schaffen, wenn er den Grafen überzeugte. Er durfte sich keinen Fehler erlauben – keinen einzigen Moment der Schwäche. Dieses Mal waren sie allein. Koukol schürte das Feuer, legte einen Holzscheit nach und verließ das Zimmer. Der Graf bot Alfred den Sessel vor dem Feuer an, und genau wie in einer lang zurückliegenden Nacht nahm er Platz. Von Krolock setzte sich zu ihm und ergriff das Wort:
»Ich habe über dein Anliegen nachgedacht, und ich frage mich: Was garantiert mir, dass du zurückkehrst?«
»Das Blutband!«
»Woher weißt du von dem Band?«, fragte der Graf offensichtlich verärgert.
»Euer Sohn erzählte mir davon.« Die Information war wohl nicht für ihn bestimmt, dachte Alfred. Ob von Krolock ahnte, dass sein Sohn schon lange damit begonnen hatte, eigene Pläne zu schmieden?
Der Graf war für eine kurze Zeit still, als würde er seine nächsten Worte wohl überlegen:
»Wenn das so ist, dann bin ich einverstanden. Du reist alleine nach Königsberg. Gelingt dein Unterfangen, werden wir nach deiner Rückkehr die Ausreise von uns anderen planen.«
Erleichterung durchfuhr Alfred und gleichzeitig versuchte er seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Mit ruhiger Stimme antwortete er:
»Das freut mich zu hören.«
»Aber eines frage ich mich.« Von Krolock sprach wieder ohne jegliche Regung. »Warum der Professor? Mein Eindruck war, dass du deinen Mentor recht gerne hattest.«
»Ich habe lange darüber nachgedacht – und er trägt die Schuld. Die Schuld an meinem neuen Leben, das ich niemals so geplant habe.«
»Wirklich nicht?«, fragte der Graf langsam.
Alfred ließ sich für einen Moment aus seiner Rolle reißen.
»Nein. Natürlich nicht.« Seine Stimme war höher, als er es beabsichtigt hatte.
»Aber warum hast du dann dem Unterfangen überhaupt beigewohnt? Irgendetwas muss dich zu dieser Suche nach Vampiren bewogen haben.«
Er musste schlucken, sein Mund war trocken. Er antwortete nicht.
»Oh, verstehe mich nicht falsch, Alfred. Ich kann das Motiv der Rache sehr gut nachempfinden. Sie ist süß. Fast so süß wie Macht. Oder wie Blut.«
Er sah ihm für einige Augenblicke fest in die Augen, dann stand er auf, ging zum Fenster und drehte Alfred den Rücken zu.
Angespannt schloss er für einen Moment die Augen.
Reiß dich zusammen, dachte Alfred.
»Nun gutdein Entschluss steht fest, und mein Einverständnis hast du. Dann erkläre mir deinen Plan. Ich hänge an deinen Lippen.«
Irgendwo zwischen Panik und Sicherheit, atmete Alfred tief ein.
»Wir tarnen meine Reise als einen Kunsthandel.«
Der Graf verstand nicht, und Alfred setzte zu einer längeren Erklärung an:
»Euer Name ist in den westlichen Ländern unbekannt. Es wird kein Aufsehen erregen, wenn ein Graf von Krolock Kunsthandel in fremden Ländern betreibt. Ihr könntet eine große Skulptur kaufen. Was es genau ist, ist unerheblich. Es muss nur groß genug sein, dass ich in der Kiste, in der sie transportiert wird, Platz finde. Koukol kann sicher eine Kiste bauen, die mich vor dem Tageslicht schützt. So kann ich das Land ungesehen verlassen.«
Ohne seine Neugier zu verstecken, setzte sich von Krolock zu ihm ans Feuer.
»Wenn Ihr die Bestellung im Voraus bezahlt und Euch großzügig mit der Bezahlung zeigt, wird niemand Fragen stellen. Kunsthandel ist unter dem Adel und reichen Bürgern eine alltägliche Sache. In der Zeit, in der die Bestellung verladen wird, kann ich meinem Anliegen nachkommen«, er räusperte sich. Einen Mord als Anliegen zu bezeichnen gehörte wohl zu den Dingen, die für einen Menschen abstoßend, aber für einen Vampir erschreckend normal waren. »Anschließend reise ich samt Statue in der Kiste wieder zurück zu Euch. Wenn nichts schiefgeht, können wir den gleichen Ablauf mit ein wenig zeitlichem Abstand wiederholen. Mit Euch, Eurem Sohn – und Sarah.«
Bei Sarahs Namen geriet seine Stimme kurz ins Wanken. Ein Bild blitzte auf: ihr Lächeln im Mondlicht, das letzte, bevor sie dem Grafen folgte. Er blinzelte es weg – nicht jetzt. Ein Grinsen, das Alfred erschaudern ließ, schlich sich auf das Gesicht des Grafen. Nicht triumphierend, aber wissend. Als hätte er Alfred durchschaut. Noch bevor er sich selbst ganz verstanden hatte.
»Ich sehe, ich habe doch die richtige Wahl getroffen. Nun gut, Alfred. An Gold soll es nicht scheitern. Du wirst den Schriftverkehr übernehmen?«
Natürlich, weil du überhaupt keine Ahnung hast, wie du einen geeigneten Handelspartner finden sollst, dachte Alfred.
»Ja, ich denke, ich kenne eine gute Adresse. Kann Koukol die Briefe über das Wirtshaus verschicken? Das Wirtshaus gibt es doch noch, oder?«
Er dachte an die üppige Wirtin zurück. Wie es ihr wohl ergangen war, seitdem Mann und Tochter verschwunden waren?
»Das lässt sich herausfinden. Kümmere du dich um die Formalitäten, und ich hole Erkundigungen ein.«
Noch in der gleichen Nacht setzte Alfred ein Schreiben auf. Er kannte einen Kunsthändler in Königsberg, der in Frage kam. Der Graf notierte seine Bestellung und übergab sie Alfred in einem versiegelten Umschlag. Das Grinsen, das der alte Vampir dabei auf den Lippen hatte ließ Alfred nichts Gutes vermuten. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend legte er den Umschlag seinem Schreiben bei. Bis die Formalitäten erledigt waren, konnte er nur warten – und hoffen, dass sein Plan funktionieren würde. Koukol brachte die Bestellung auf den Weg und begann, die Kiste zu bauen. Alfred jagte Bären. Nicht aus Hunger, sondern aus Vernunft. Die Reise würde lang werden – zu lang für leere Venen. Das Tierblut nährte ihn, stillte jedoch weder die Gier noch das Verlangen.
Als der Juni kam, traf die Antwort des Kunsthändlers ein. Man hatte eine Statue im Sortiment, die genau den Wünschen des Grafen entsprach. Mit Freuden würde man sie nach Transsilvanien versenden. Alfreds Abreise rückte näher. Einige Tage zuvor betrachtete er den Behälter, den Koukol gebaut hatte. Er war überrascht vom handwerklichen Geschick des buckligen Dieners. Bald würde diese Kiste sein Sarg, sein Transportmittel – und seine letzte Hoffnung zugleich sein. Zerbrechlich hatte Koukol in ordentlichen, großen Lettern an die Seite geschrieben.
Wie passend, dachte Alfred.
Am Abend vor der Abreise ließ von Krolock ihn ein letztes Mal zu sich rufen. Wie immer betrat Alfred das Arbeitszimmer mit einem unguten Gefühl, als würde sich eine kalte Faust um sein Herz legen. Der Raum war dunkel, nur das Kaminfeuer erhellte ihn. Der Vampir saß an seinem Tisch, und das Licht ließ Schatten über sein Gesicht tanzen. Er wirkte bedrohlicher als je zuvor.
»Morgen ist es soweit. Die große Reise.«
Seine Stimme war weich wie Samt, doch Alfred zuckte zusammen, als hätte ihn ein Messer getroffen. »Königsberg. Eine Stadt voller Versuchungen, könnte ich mir vorstellen. Ich muss sagen, ich bewundere deinen Mut.«
Alfreds Kehle schnürte sich zu, und ein kalter Schweißfilm bildete sich in seinem Nacken. Er wollte etwas erwidern, doch da waren wieder die Bilder: die leeren Augen der toten Frau, der Blick des Mannes, als Alfred ihm jede Hoffnung genommen hatte.
»Ich werde damit zurechtkommen«, antwortete er leise und presste die Lippen aufeinander.
»Oh, ich bezweifle nicht, dass du es willst. Aber ich frage mich … kannst du es?«
Die kalten, grauen Augen durchbohrten Alfred.
Er versuchte, seiner Stimme wieder einen festen Klang zu geben, doch er hörte selbst die Unsicherheit:
»Es gibt Alternativen, um uns zu ernähren.«
»Du meinst das Blut der Bären? Wir alle denken es – und wir alle scheitern daran. Um den Hunger nach Blut zu stillen, gibt es keine Alternativen.«
»Ich kann es kontrollieren«, sagte Alfred heiser.
»So wie du es konntest, als du gewartet hast? Gewartet, bis er wusste, dass er sterben wird?«
Alfreds Erinnerungen kehrten zurück wie ein Faustschlag.
»Ich verstehe dich, Alfred. Macht schmeckt süßer, wenn sie auf Widerstand trifft. Und der Moment … bleibt.« Seine Stimme wurde leiser. »Du wirst nie wieder derselbe sein. Und du willst es auch gar nicht.«
Alfred atmete scharf ein. Er wollte widersprechen. Ihm entgegenschleudern, dass er noch immer derselbe war wie in jener Nacht, als er in dieses Schloss gestolpert war. Aber sein Körper erinnerte sich schneller als sein Kopf: das Brennen in der Kehle, der Rausch, das Vibrieren in jeder Faser seines Körpers. Er war nicht mehr der, der er einmal gewesen war. Und das wahre Grauen war: wie sehr es ihn erfüllte.
»Aber ich mache mir keine Sorgen. Du wirst Wort halten – denn Sarah ist hier.«
Der Graf trat auf Alfred zu. So nah, dass dieser am liebsten zurückgewichen wäre. Sein Magen zog sich zusammen.
»Du bist an sie gebunden. Das Blutband wird dich nach Hause holen. Wäre es nicht tragisch, wenn ihr etwas zustieße, während du fort bist?«
Als Alfred den Raum verließ, atmete er flach, als hätte der Graf ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Da war nur noch ein Gedanke:
Oh Gott, was habe ich getan?
Aufgewühlt von der Unterhaltung fand er sich vor Sarahs Gemächern wieder. Er musste mit ihr sprechen. Die Zeit lief ihm davon. Er klopfte sachte und trat ein. Sarah stand inmitten ihrer Leinwände, mit dem Pinsel in der Hand. Alfred schluckte, als er sie nach der langen Zeit wieder sah. Sie sah wunderschön aus – mit ihren zarten Locken und den Farbklecksen auf der Wange.
»Du bist es.« Ihre Stimme klang verärgert und beinahe enttäuscht.
Für einen kurzen Moment fragte sich Alfred, ob sie auf jemand anderen gehofft hatte. Ob sie auf den Grafen gewartet hatte? Der Gedanke stach wie ein Dorn, den er schnell wieder beiseite schob.
»Ich wollte mich nur verabschieden. Ich reise morgen ab.«
Sarah runzelte die Stirn.
»Abreisen? Aber wohin?«
»Es ist eine Art Auftrag des Grafen. Ich kann dir nicht mehr darüber sagen, aber ich werde für eine Weile das Land verlassen.« Alfred fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Aber bevor ich gehe, muss ich dir noch etwas sagen.«
»Ich weiß es!«, hastig unterbrach Sarah ihn.
Alfred sah sie verständnislos an.
»Ich weiß, dass der Graf meinen Vater verwandelt hat. Bald wird er ihn erwecken.«
»Das freut mich, Sarah«, sagte Alfred vorsichtig. Er hatte schon sehr lange nicht mehr an Chagal gedacht. »Aber es geht um etwas anderes.«
Sie legte den Pinsel beiseite und setzte sich auf ihr Bett. Alfred zögerte kurz, dann ließ er sich neben ihr nieder. Ihre Nähe war verwirrend – und anziehend zugleich.
»Du bist an den Grafen gebunden. Durch den Biss entsteht zwischen Vampiren ein Band. Herbert hat mir davon erzählt. Sie nennen es das Blutband. Der Nachkömmling eines Vampirs bleibt mit seinem Schöpfer verbunden.« Aufmerksam hörte sie zu, sagte aber nichts. »Du hast mir damals vor dem Wirtshaus gesagt, dass dein größter Wunsch die Freiheit ist. Solange dieses Band besteht, kannst du nicht frei sein. Nicht wirklich. Es wird dich immer wieder zu ihm ziehen. Ob du willst oder nicht.«
Sie schaute zu Boden, betrachtete ihre Füße – als hätte er etwas ausgesprochen, das sie tief in ihrem Inneren längst wusste. »Herbert sagte auch, dass es möglich ist, dieses Band zu lösen.«
Sie zog die Knie an die Brust, als wollte sie sich schützen.
»Und was, wenn es längst zu spät ist?«
»Es braucht Erfahrung und Willensstärke – aber es ist möglich. Sarah, ich habe dir damals die Freiheit versprochen. Du verdienst sie. Ich dachte, du solltest es wissen.«
Nach einer langen Pause stand Alfred auf. »Ich werde jetzt gehen. Bis bald.«
Er wandte sich zur Tür. Gerade als er sie öffnen wollte, sagte Sarah:
»Es tut mir leid.«, sagte sie schnell, aber aufrichtig.
Alfred wandte sich ein letztes Mal um. Ihre Blicke trafen sich. »Ich habe dir keine Wahl gelassen. Ich habe dich an mich gebunden und dir ein Leben geschenkt, das du nie haben wolltest.«
Müde lächelte Alfred. Ihre Worte hallten in ihm nach, leise und schwer. Für einen Augenblick spürte er, was hätte sein können, wenn alles anders verlaufen wäre. Doch der Moment verging. Dann verließ er das Zimmer und ließ die Tür ins Schloss fallen.
Chapter 11: Zug um Zug
Chapter Text
Am nächsten Abend stand Alfred mit einem flauen Gefühl in der Magengegend vor dem Karren, den Koukol in den Schlosshof gefahren hatte. Es war ein einfaches Gefährt, gebaut für den Transport schwerer Lasten. Ein gutmütig aussehendes, wuchtiges Kaltblut war davor gespannt. Es schien sich an der Anwesenheit eines Vampirs nicht zu stören – entspannt ließ es den Hals hängen und versuchte mit den Zähnen die Grasbüschel zu erreichen, die in Reichweite lagen. Auf der Pritsche stand die Kiste, die Koukol mühevoll angefertigt hatte – Alfreds Transportmittel nach Königsberg. Nun, da es so weit war, erschien ihm sein Plan völlig wahnwitzig.
Er hoffte, dass der Bucklige wirklich Sorgfalt hatte walten lassen. Wenn die Kiste unterwegs bei Tageslicht beschädigt würde, wäre alles, was in Königsberg noch ankäme, ein Haufen Asche. Ein nervöses Lachen stieg in ihm auf – er schluckte es hinunter. Die Vorstellung war zu absurd.
»Rein«, nuschelte Koukol in seiner undeutlichen Sprache und fuchtelte hektisch mit den Armen.
Alfred sah sich noch einmal um. Bedrohlich stand das Schloss auf den Klippen. Beinahe war er froh, dass niemand zum Tor gekommen war. Hätte er Sarah noch einmal gesehen – vielleicht hätte er den Mut verloren. Aber er fühlte erneut den kalten Stich der Eifersucht. Das Gespräch mit ihr hatte ihn noch lange beschäftigt. Befreien konnte er sie nicht, solange das Band zwischen dem Grafen und ihr bestand. Dennoch hatte er alles getan, was möglich war, sie der Freiheit näherzubringen. Der Rest lag allein bei Sarah.
Gerade als er auf den Karren klettern wollte, hörte er das laute Rumpeln der Eingangstür. Herbert trat hinaus, und Alfred wappnete sich innerlich. Leicht würde Herbert ihm den Abschied nicht machen, da war er sich sicher.
»Vater lässt sich entschuldigen. Er ist beschäftigt!«, sagte Herbert mit Spott in der Stimme, als er bei Alfred und Koukol angekommen war. »Sarah auch.« Ein boshaftes Funkeln lag in seinen Augen.
»Natürlich«, antwortete Alfred und nickte leicht. Er konnte den Zorn in sich aufsteigen fühlen und ballte die Fäuste.
»Ich bin neidisch.« Herbert grinste. Alfreds ballte die Fäuste ein wenig fester. »Du darfst in die große Stadt ein wenig spielen gehen. All die Menschen, all diese Möglichkeiten. Ich bin neugierig: Was wirst du mit dem alten Mann machen? Wird es schnell und schmerzlos?«
Schamlos trat er näher und flüsterte Alfred ins Ohr: »Oder wirst du es genießen?«
Erneut kamen die Bilder und Gefühle zurück: Das Unwetter. Die kalten Augen. Das Gefühl von Macht. Alfred blinzelte sie entschlossen weg. Nicht noch einmal. Nicht vor ihm.
»Keine Sorge. Ich habe mir meinen nächsten Zug gut überlegt«, antwortete Alfred kalt.
Herbert lachte laut auf. Sein glockenhelles Lachen klingelte in Alfreds Ohren.
»Ich werde dich vermissen.«
Wortlos wich Alfred zurück und kletterte in die Kiste. Die Dunkelheit schlug ihm entgegen wie ein Vorhang aus Stein. Kein Licht, kein Luftzug – nur die Gewissheit, dass es keinen Weg zurück mehr gab. Als der Diener den Deckel zunagelte, hörte er Herberts Stimme dumpf durch das Holz:
»Pass gut auf, Koukol. Der Inhalt dieser Kiste ist zerbrechlich! Vor allem sein Ego!«
Dann, als Koukol die Nägel in das Holz schlug und der Deckel fest verschlossen war, schrumpfte Alfreds Welt auf ein paar Quadratmeter Finsternis zusammen. Die Räder rumpelten über den unbefestigten Weg, aber lauter als alles war sein eigener Atem. Er war allein.
Im Geiste ging er die Reiseroute wieder und wieder durch. Wie ein Rettungsanker hielt er sich an jedem Ortsnamen fest. Erst brachte ihn der Bucklige mit der Kutsche an den Bahnhof von Brașov. Der Zug fuhr nach Budapest, von dort ging es nach Wien, schließlich nach Berlin – und von dort mit der Kutsche nach Königsberg. Brașov, Budapest, Wien, Berlin, Königsberg.
Königsberg. Seine Heimat. Der Ort, wo alles begann. War er aufgeregt, die Stadt nach all den Monaten wiederzusehen – oder einfach nur froh, Transsilvanien zu verlassen? Die Wahrheit lag wohl irgendwo dazwischen. Doch die Reise war riskant. Was, wenn ein Zollbeamter die Kiste öffnete? Würde sein Blutdurst so lange schweigen? Sieben, vielleicht acht Tage in dieser Dunkelheit. Er schluckte und schloss die Augen.
Die Nacht schritt voran, und die Kutsche holperte über die schlechten Straßen der Provinz um Brașov. Alles in allem war es eine ungemütliche Reise, dachte Alfred. Aber nicht schlimmer als der Schneesturm, in den er mit dem Professor geraten war, als sie damals in dieser Gegend ankamen. Wieder einmal malte er sich aus, wie der Professor reagieren würde, wenn er ihn wiedersah. Was, wenn er ihn nicht mehr erkannte? Er wusste ja selbst nicht, was vom ehemaligen Studenten noch übrig war – äußerlich wie innerlich. Aber er musste das Risiko eingehen. Denn wenn er Abronsius nicht überreden konnte, ihm beizustehen, dann war er wirklich allein. Alfred mochte zwar nicht mehr derselbe sein, aber vielleicht würde der Professor etwas in ihm erkennen, das noch nicht verloren war.
Seine Gedanken wanderten zum Grafen. Es war das Naheliegendste gewesen, ihm und auch Herbert etwas von Rache zu erzählen. Jeder Vampir verstand Rache. Doch hinter der Fassade, die er aufgebaut hatte, lag Hoffnung. Verzweifelte, ja – aber Hoffnung. Und da war noch etwas – ein heißes, brennendes Gefühl, das er nicht loswurde. Wut. Nicht nur auf das, was passiert war. Sondern auf den einen Menschen, von dem er geglaubt hatte, er würde ihn nie allein lassen. Abronsius hätte ihn beschützen müssen. Stattdessen hatte er ihn im Wald verlassen, im entscheidenden Moment, als alles zerbrach. Er hatte es gewusst. Hatte gewusst, was aus Sarah geworden war. Und Alfred? Er war noch immer dieser treue Schüler, der sich nicht traute, den Professor zu hassen. Aber genau das war es, was in ihm gärte. Wut – und Schuld. Er hatte es sich schon oft vorgestellt: das Zusammentreffen nach all der Zeit. Als sie aufgebrochen waren, um Vampire zu finden, standen sie auf derselben Seite. Jetzt war Alfred ein Vampir und damit das, was der Professor so leidenschaftlich jagte.
Der aufziehende Tag machte seinen Gedanken ein Ende, und der Vampirschlaf griff nach ihm. Als er wieder zu sich kam, war das Erste, was Alfred spürte: Die Erschütterungen waren verschwunden. Sein geschärftes Gehör nahm das regelmäßige Rollen vieler Räder wahr. Er hatte es in den Zug geschafft. Die erste Hürde war genommen.
Die Stille und Hitze in der Kiste machten die Dunkelheit um ihn herum noch beklemmender. Er begann, seine Atemzüge zu zählen, tastete nach den Wänden der Kiste, nur um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren. Wie weit war Königsberg wohl noch entfernt? Ein Atemzug. Noch einer.
Plötzlich war da ein Duft, der nicht in diese Kiste passte. Kein Schweiß, kein Staub. Knoblauch. Ein Hauch nur, doch sofort war da wieder das Bild: Sarah, im Badezimmer in Chagals Wirtshaus, mit dem Schwamm in ihrer Hand. Barfuß, mit einem frechen Lächeln auf den Lippen, als sie ihm sein heißes Bad streitig gemacht hatte. Der Geruch von Knoblauch hatte damals das ganze Haus durchdrungen. Er war längst verschwunden. Doch brannte er jetzt wieder in seiner Nase.
Was hast du gesucht, Alfred? Hatte ihn der Graf gefragt.
Eine gute Frage. Was hatte er gesucht? Professor Abronsius war nicht erst als alter Spinner verschrien, seit er seine Abhandlung über Vampire veröffentlicht hatte. Aber danach wurde alles schlimmer. Am Ende verlor er seinen Lehrstuhl an der Universität. Alle hatten ihn ausgelacht. Alfred hingegen nicht. Seinen Kommilitonen hatte er erzählt, er wolle den alten Mann nicht allein aufbrechen lassen, als dieser nach Unterstützung für seine Reise nach Transsilvanien suchte. Aber in Wahrheit war es anders. Er dachte an Emil. Seinen Bruder. Seinen großen Bruder, der ihm als Kind von Vampiren erzählt hatte. An die Nächte, in denen sie unter der Bettdecke lagen, während draußen der Regen gegen die Fensterscheibe peitschte. Emil hatte mit gedämpfter Stimme erzählt – von Burgen auf Klippen, von Augen, die im Schatten leuchteten. Alfred hatte mit angehaltenem Atem gelauscht, den Kopf an Emils Schulter gelehnt.
›Aber die trinken doch Blut?‹, hatte er einmal geflüstert.
Emil flüsterte zurück: ›Nur, wenn du nicht aufpasst.‹
Er war ein guter Geschichtenerzähler gewesen. Alfred hatte ihm geglaubt. Vielleicht ein bisschen zu sehr. Er dachte an das Feuer, das Emils Leben ein jähes Ende gesetzt hatte. Als der Professor von seiner Mission sprach, wusste Alfred, dass er die Vampire finden wollte. Nein – musste. Tief in ihm brannte die Hoffnung, dass Emil sich das alles nicht nur ausgedacht hatte. Eine Sehnsucht nach dem Unbekannten hatte ihn nach Transsilvanien gezogen. Alfred hatte die Vampire gefunden. Er wünschte, er hätte es nicht.
Die Stunden, Tage und Nächte verschwammen, und Alfred wusste nicht mehr, wie lange er bereits unterwegs war. Oder wo genau er sich befand. Zeit und Raum hatten ihre Bedeutung verloren. Die ewige Dunkelheit hielt ihn gefangen. Das Einzige, was er außer dem gleichmäßigen Rattern des Zuges hörte, war das leise Rascheln der Ratten.
»Alfred?«
Nur ein Flüstern. Doch es war da. War es die Dämmerung zwischen Tag und Nacht, die ihm Stimmen vorgaukelte? Oder war da wirklich jemand? Sarah? Der Professor? Der Graf? Oder das Monster in ihm? Er schluckte. Nichts antwortete.
»Was ist mit der Kiste?«, fragte eine Stimme.
Alfred erwachte schlagartig. Er konnte spüren, wie man die Kiste anhob und trug. Ihm zog sich der Magen zusammen. War es Tag oder bereits Nacht? Er wusste es nicht. Vielleicht öffneten sie jeden Moment den Deckel, um den Inhalt zu kontrollieren. Wäre es Tag, würde er verbrennen. Wäre es Nacht – was würde er tun? Die Menschen in seinem Waggon töten? Alfred atmete ein, und da war der Duft, vor dem er floh. Süß und wieder einmal viel zu nah. Nach dem bitteren Blut der Bären verführerischer denn je. Was für eine dumme Idee, Tiere zu jagen, wenn er das hier haben konnte.
Sein Körper reagierte sofort. Jeder Muskel spannte sich an, alles in ihm vibrierte. Bereit zur Jagd. Das Monster in ihm wusste, was zu tun war. Alfred schlug sich die Hände vor Nase und Mund. Er durfte nicht noch einmal die Kontrolle verlieren. Nicht hier drin. Nicht jetzt.
»Das ist für Berlin. Kunstkiste aus Siebenbürgen. Irgendein reicher Sack hat was in Königsberg bestellt. Geht in ein paar Tagen wieder zurück.«
Eine dunkle Stimme antwortete dem Fragenden. Er ächzte unter der Last der Holzkiste.
»So viel Geld hätte ich auch gern mal!«, sagte der Erste und lachte bitter auf.
Unsanft wurde Alfred hin- und her geschüttelt, als sie Kiste fallen ließen.
Verschwindet einfach. Bitte.
Das Brennen in seiner Kehle wurde stärker.
»Das war die Letzte! Lust auf ein Bier?«
»Joa!«
Alfred hörte, wie sich Schritte entfernten und eine Tür zugezogen wurde. Die Stimmen wurden leiser. Er nahm die Hände von Nase und Mund. Er atmete vorsichtig ein. Der Geruch nach Menschen und Blut war noch da, aber deutlich schwächer. Erleichtert lösten sich seine angespannten Muskeln. Wie sollte er jemals damit leben, was in der Unwetternacht passiert war? Wie er sich gefühlt hatte? Er dachte an Herbert, der genau wusste, was nötig gewesen war, um Alfreds Moral von allen Ketten zu lösen. Hatte er ihm vielleicht einen Gefallen getan? Akzeptier es endlich, waren Herberts Worte gewesen. Er war kein Mensch mehr – würde nie wieder einer sein. Dann war da auch ein Teil von ihm, der diese Nacht gar nicht vergessen wollte. Der die Stärke genoss, die durch seinen Körper geströmt war. Der die Furcht der Menschen bejubelte. Das Entsetzliche für Alfred war, dass er nicht sagen konnte, wie groß dieser Teil mittlerweile geworden war. Oder ob er schon immer dagewesen war, und er sich nur erfolgreich eingeredet hatte, noch immer der Gute zu sein. Ein guter Vampir. Gab es so etwas? Nun, er würde es bald herausfinden. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Alfred dachte nach. Die beiden Männer hatten Deutsch gesprochen. Das bedeutete, er war seiner alten Heimat bereits viel nähergekommen.
Er erwachte von einem scharrenden Geräusch, als seine Kiste über den Boden geschliffen wurde. Dieses Mal unterhielten sich die Arbeiter nicht, aber er konnte ihr schweres Schnaufen hören. Er konnte ihren Schweiß riechen, ihre schmutzigen Klamotten – und das Blut. Er legte wieder die Hände vor das Gesicht und versuchte, so flach wie möglich zu atmen. Bald war er zu Hause. Zu Hause? War Königsberg überhaupt noch seine Heimat? Als er aufgebrochen war, war er ein anderer gewesen. Ein anderer Alfred.
Er erinnerte sich an seine Studentenzeit. An die Wärme eines Sonnenstrahls auf der Haut. An Stimmen in Vorlesungssälen, das Rascheln von Papier. An Licht, das durch Bibliotheksfenster fiel. Damals hatte er geglaubt, das Leben läge noch vor ihm. Jetzt war er ein Wesen der Schatten. Doch brannte in ihm noch ein Rest dieser Sehnsucht, nicht nach Blut, sondern nach Menschlichkeit. Aber wo er einst Licht suchte, trug er nun Dunkelheit in sich.
Dann setzte sich die Kiste wieder in Bewegung. Aber er war nicht mehr im Zug, sondern auf einer Kutsche. Das Hufgetrappel verriet es ihm. Doch die Straßen rund um Königsberg waren in deutlich besserem Zustand als die in Transsilvanien. Aber das Pferd, das die Kutsche zog, war unruhig. Alfred konnte das aufgeregte Schnauben des Tieres hören – die Hufschläge unregelmäßig. Es spürte die Gefahr, die es transportierte. Das Tier zögerte, als würde es spüren, dass es etwas trug, das nicht mehr ganz von dieser Welt war. Menschen sahen, was sie sehen wollten. Ein Pferd hingegen roch das Unheimliche. Es hörte den Herzschlag, den Alfred nicht mehr hatte. Es spürte die Leere dort, wo einst Leben trommelte.
Vielleicht hattest du mich eher erkannt als ich selbst, dachte Alfred.
Der Kutscher hatte alle Hände voll zu tun, um das Tier im Zaum zu halten. Alfred war aufgeregt. Ein tiefer Atemzug durchströmte seine Lunge. Er versuchte dabei den Geruch des Kutschers zu ignorieren. Stattdessen roch er die Bäume und die Natur um sich herum. Viele Gerüche vermischten sich – viel mehr als in Transsilvanien. In der Ferne hörte er Musik. War die Stadt schon so nah?
Das Lagerhaus, zu dem die Kiste transportiert wurde, lag in Stufen, einem Stadtteil westlich vom Zentrum. Hier lebten und arbeiteten Kunsthändler und Kaufleute. Von dort wollte er sich zum Professor durchschlagen, der im Stadtteil Burgfreiheit lebte. Alfred hoffte inständig, dass es bereits Nacht war. Jäh blieb die Kutsche stehen, und er hielt den Atem an.
»Hey«, rief der Kutscher. »Eine Lieferung. Aus Transsilvanien.«
Er hatte Mühe, den Namen richtig auszusprechen.
»Bisschen spät, oder?«, sagte ein Zweiter.
»Der Zug hatte mal wieder Verspätung. Und der Gaul hier macht ein furchtbares Theater. Keine Ahnung, was der heute hat«, antwortete der Kutscher verärgert.
Das Pferd ließ ein schrilles Wiehern hören und Alfred spürte wie der Wagen leicht zitterte.
»Komm, hilf mir! Ich will nach Hause.«
Zum letzten Mal wurde Alfred getragen, dann mit einem lauten Krachen abgestellt. Der Kutscher hatte es wirklich eilig, und schnell entfernten sich die beiden Menschen. Dann war es still um Alfred. Er hatte es geschafft. Königsberg.
Chapter 12: Die Stadt der Versuchungen
Chapter Text
Vorsichtig drückte er den Deckel von innen auf, und zum ersten Mal seit Nächten verließ er die Kiste. Draußen rumpelte ein Karren vorbei, das metallische Klirren von beschlagenen Pferdehufen hallte in seinem Schädel. Stimmen drangen durch die geschlossenen Fenster. Er zuckte zusammen. So viel Leben, so viel Lärm. Zu plötzlich, viel zu hell. Er blinzelte. Nach der langen Zeit in der Dunkelheit mussten sich seine Augen erst an das schwache Licht gewöhnen.
Der Raum roch nach Holzspänen und altem Stein. Er war in einer Mischung aus Werkstatt und Lagerhalle abgeladen worden. Überall standen halbfertige Skulpturen. Kisten, so groß wie seine, waren achtlos an die Wände gestapelt. An der Stirnseite des Raumes befand sich ein großes Tor, vermutlich jenes, durch das er hineingetragen worden war. Er rüttelte probeweise am Griff. Verschlossen. Alfred suchte nach einem anderen Ausgang, fand ein Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes und öffnete es. Die Geräusche, die er eben noch dumpf gehört hatte, wurden nun noch lauter. Transsilvanien war still und dunkel gewesen. Hier war es laut und hell. Alfred sog die warme, lebendige Nachtluft ein. Er warf einen prüfenden Blick nach unten. Es war nicht sehr hoch, für einen Vampir kein ernstzunehmendes Hindernis. Also sprang er. Er rief sich den Stadtplan ins Gedächtnis. Angekommen in Hufen, musste er durch die Innenstadt, über den Fluss, dann war er fast in Burgfreiheit.
Er durchquerte einige schmale Gassen und trat auf die Hufenallee, eine breite Straße, gesäumt von prächtigen Bäumen und großen Villen. Als Alfred früher hier vorbeigelaufen war, hatte er die Menschen bestaunt, die in solchen Häusern lebten. Nun lagen sie nicht weniger beeindruckend in der Dunkelheit der Nacht. Hinter manchen Fenstern brannte noch Licht. Gelächter drang durch die Ritzen der Türen. Alfred beobachtete die tanzenden Schatten, betrachtete die kunstvollen Fassaden. Das Kopfsteinpflaster unter seinen Stiefeln, der Wind in den Bäumen. Es war ein Fest für seine geschärften Sinne. In der Ferne hörte er Musik. Er hätte die ganze Nacht dort verbringen können. Aber er musste weiter.
War er der erste Vampir in Königsberg? Herbert und der Graf hatten nie andere Vampire getroffen – außer jenen, die sie selbst erschaffen hatten oder dem, der sie verwandelt hatte. War es möglich, dass es noch mehr gab? Versteckt in abgelegenen Winkeln der Welt? Oder lebten sie längst unerkannt unter den Menschen – so, wie der Graf es plante?
Die Straßenlaternen leuchteten mit künstlichem Licht, und es blendete Alfred nach den dunklen Monaten im fernen Transsilvanien. Nur noch eine schmale Gasse trennte ihn von der Hauptstraße. Er hörte jedes Lachen. Jeden Tritt auf dem Pflaster. Jede kleine Erschütterung unter seinen Sohlen. Die Stadt vibrierte und er mit ihr. Inständig hoffte er, den Blutdurst im Zaum halten zu können. Dann betrat er das Herz der Stadt.
Obwohl es schon spät war, war die Stadt voller Leben. Alfred schluckte, als er all diese Menschen sah, und wünschte sich ins einsame Transsilvanien zurück. Dorthin, wo er die Versuchungen suchen musste – und nicht sie ihn. Es war ein warmer Sommerabend, und Alfred spürte die Hitze, die in den Straßen hing, von den Häuserwänden abstrahlte und durch die Menschen zusätzlich angeheizt wurde. Er nahm einen Atemzug – und bereute es sofort. Die Stadt roch nach Leben. Nach Haut und Schweiß, nach Parfum und Brot, nach Maschinenöl und Sommerregen. Aber es waren nicht die Essensgerüche, die ihn lockten. Der Duft nach frischem Brot hätte ihm früher das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Nun ließ er ihn kalt. Es war der Geruch der Menschen selbst. Jeder Duft eine Verlockung, jede Stimme ein Summen in seinem Kopf, dass ihm das Denken erschwerte. Er zwang sich weiterzugehen. Die Straße war dieselbe, über die er vor ein paar Monaten als Student gelaufen war. Doch war sie es nicht mehr. Wo früher der Duft nach Kaffee und Kuchen aus der Konditorei gedrungen war, war jetzt nur noch Kälte und dunkle Fenster. Der Buchladen, in dem Alfred gerne gestöbert hatte, war geschlossen. Alles war geblieben. Nur er war gegangen. Nun erkannte er die Stadt nicht wieder. Oder sich selbst nicht?
Plötzlich fing ein paar Meter entfernt ein Straßenmusiker an zu spielen. Alfred riss den Kopf herum. Ein schepperndes Klavier, laut wie eine Kirchturmglocke. Ein paar Straßen weiter spielte ein Akkordeon. Irgendwo ein Streit – kurze, scharfe Stimmen. Dann ein Knall. Ein Lachen. Jedes Klirren, jedes Geräusch, jede Stimme ging durch seinen ganzen Körper. Es war zu viel. Zu laut. Er versuchte sich in Erinnerung zu rufen, warum er hier war. Der Professor. Er musste nur noch über den Fluss, dann war er fast da. Er wollte weitergehen, da wurde er angerempelt.
»Entschuldigung«, sagte eine tiefe Männerstimme. Schon war der Mann in der Menge verschwunden, ehe Alfred ihn wirklich erkennen konnte. Nur einen roten Schal sah er in den Augenwinkeln aufblitzen – und spürte den Puls des Mannes. Fast wäre er ihm gefolgt. Nein. Er musste über den Fluss. Bis zur Brücke waren es nur noch ein paar hundert Meter. Doch schien der Weg endlos.
Eine Gruppe junger Männer in Anzügen und mit Hüten in den Händen taumelte lärmend und angetrunken über die Straße. Zwei Frauen mit Körben drängten sich an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Menschen kamen und gingen. Viele gleichgültig, manche warfen ihm einen Blick zu. Vielleicht erfassten sie die Dunkelheit, die an ihm haftete. Oder seine Schönheit. Den geheimnisvollen Glanz, den Vampire umgab. Aber Alfred bemerkte sie alle. Der Puls der Stadt schlug laut in seinem Kopf.
Hinter ihm stürzte ein Kind. Das Weinen schnitt durch seine gereizten Ohren. Alfred roch das Blut, bevor er die Schürfwunde sah. In seiner Kehle loderte das Feuer. Er sog tief die Luft ein. Und wieder. Noch ein Atemzug – und er würde nicht mehr aufhören können. Mit einem unterdrückten Keuchen drehte er sich um, stolperte die letzten Meter zur grünen Brücke, die über den Pregel führte. Alfred hastete über die morschen Planken. Das Holz unter seinen Stiefeln klang hohl, fast klagend, als wüsste es, was er war. Der Fluss rauschte träge und grau unter ihm. Auch hier kamen ihm Menschen entgegen. Er rannte. Flog wie ein Schatten, der nicht gesehen werden wollte. Auf der anderen Seite bog er in eine dunkle Seitengasse. Sie war leer, bis auf zwei Mülleimer und eine ausgetretene Türschwelle. Die Feuchtigkeit kroch an den Wänden hoch. Hier war der Lärm der Stadt nur noch ein dumpfes Murmeln. Alfred lehnte sich an die Wand. Dann gaben seine Knie nach. Der Durst war überall. In seinem Körper, in seiner Kehle – und vor allem in seinem Kopf.
»Was hast du dir nur gedacht?«, flüsterte er zu sich selbst.
Sein Plan, der ihm in Transsilvanien so klug durchdacht erschienen war, kam ihm nun verrückt vor. Er hatte geglaubt, stark genug zu sein. Aber er war es nicht. Ein Vampir ohne Erfahrung. Und das Monster, das er in der Unwetternacht geweckt hatte, flüsterte ihm zu: Noch ein Atemzug. Nur noch einer.
Alfred schlug die Hände vors Gesicht.
Er blieb einige Zeit in der Gasse, ließ sich von der Dunkelheit einhüllen wie in einen Mantel. Die Stadt atmete um ihn herum weiter – unbeeindruckt von seinen inneren Kämpfen. Er dachte an die Vampire, die er in Transsilvanien zurückgelassen hatte. Ob der Graf und Herbert mit den Verlockungen der Stadt zurechtkommen würden? Sie waren ihm einige Hundert Jahre voraus, aber Alfred konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein Vampir dieser Ansammlung von Leben standhalten konnte. Vielleicht, dachte er, gab es auch nur sie. Und der Vampir, der 1617 das Schloss des Grafen heimgesucht hatte, war ein grausamer Scherz der Natur.
Langsam erhob er sich und prüfte, ob seine Beine ihn wieder trugen. Sie waren schwer, als hätten sie vergessen, wofür sie da waren. Er schob sich an der Wand entlang, tiefer in die Gasse hinein. Das Pflaster unter seinen Stiefeln war uneben, aber merkwürdig vertraut. Zwischen alten Mauern, an denen Efeu wuchs, und Straßenlaternen, die runde Lichter auf den Boden warfen, kam ihm die Umgebung bekannt vor. Plötzlich erkannte er es: das alte, kleine Gasthaus ›Zur goldenen Feder‹.
Hier hatte er mit seinen Kommilitonen gesessen und über die Professoren geschimpft. Sie hatten gestritten, gelacht und gesungen. Ausgelassen hatte er mit Emil billigen Wein getrunken und auf seine erste Prüfung angestoßen. Er hatte sich zurückgelehnt und das Leben genossen.
Der warme Sommerabend lockte die Menschen nach draußen. Sie saßen an Tischen und Bänken, die Fenster standen weit offen, ließen Gelächter, Licht und Leben nach draußen. Alfreds Blick glitt über die Menge. Er erkannte niemanden. Erleichtert atmete er aus. Dann sah er sie. Ein junges Mädchen, vielleicht neunzehn Jahre alt. Ihr rotbraunes Haar war zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen ihr ins Gesicht. Sie trug ein schlichtes, dunkelgrünes Kleid, die Ärmel hochgekrempelt, und schrieb etwas auf einen Zettel oder in ein Buch. Die Kerze, die vor ihr auf dem Tisch stand, tauchte ihr Profil in warmes Licht. Sein Atem stockte.
Sarah?
Der Gedanke war schneller als der Zweifel. Im selben Moment, in dem er den Namen gedacht hatte, drehte sie den Kopf in seine Richtung. Sah ihm direkt in die Augen. Dort, wo er sich eingebildet hatte, stark zu sein, rührte sich etwas. Dort, wo noch Licht gewesen war. Er zog sich in den Schatten der Hauswand zurück. Es war nicht Sarah. Natürlich nicht. Er hörte ihr Lachen. Sie wandte sich einem anderen zu, der ihr einen Krug reichte. Ein Fremder. Alles hier war fremd. Es war nicht Sarah – und doch hätte sie es sein können. Der gleiche neugierige Blick. Der Hunger auf die Welt in den Augen. Alfred hätte weitergehen können. Es war nicht mehr weit bis zum Professor. Nur der Dom trennte ihn noch von seiner Straße. Alfred hätte weitergehen können. Aber er tat es nicht.
Hin und wieder ließ das Mädchen den Blick in seine Richtung schweifen. Als ob sie ihn suchte – oder vielleicht auch seine Anwesenheit spürte. Still beobachtete Alfred sie, und als sie ›Die goldene Feder‹ alleine verließ, in einen dünnen Mantel gehüllt und mit einem Notizbuch unter dem Arm, da wollte er sich nur vergewissern, dass sie gut nach Hause kam. Nur deswegen ging er ihr nach.
Nun war die Stadt wie ausgestorben und hatte sich endlich zur Ruhe begeben. Sie gingen über das ausgetretene Kopfsteinpflaster – das Mädchen voran, Alfred in einigem Abstand dahinter. Der Geruch von Bier und Kaminfeuer hing in der Luft. Unvermittelt bog sie in eine kleine Gasse ab, kaum mehr als ein breiter Flur zwischen zwei Häusern. Alfred zögerte. Er sollte weitergehen und den schmalen Durchgang vergessen.
Er trat in die Dunkelheit. Das Licht der Straße war nur noch ein fahler Schein hinter ihm, und doch konnte er sie sehen. Er wusste nicht genau, wann er aufgehört hatte, nachzudenken. Das Mädchen drehte sich um und sagte unvermittelt in die Stille:
»Sind Sie mir gefolgt?«
Keine Angst lag in Ihrer Stimme – nur Neugier. Sie erschrak nicht, weil er schön war. Und weil das Monster in ihm es auch war. Alfred antwortete nicht. Die Welt war endlich wieder still geworden. Bis auf das Pochen ihrer Halsschlagader. Das Feuer in seiner Kehle brannte, als hätte ihm jemand einen glühenden Schürhaken in den Rachen geschoben.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie. »Kann ich … kann ich Ihnen helfen?«
Geh. Bitte geh.
Der Gedanke war schwach – und hielt Alfred nicht mehr auf. Er trat einen Schritt auf sie zu. Und wusste, er würde sich dafür hassen. Er tat es trotzdem. Seine Stimme war rau:
»Du solltest nicht hier sein.«
Sie sah ihn an und lächelte.
»Du auch nicht.«
Sie kicherte. Alfred trat noch einen Schritt näher. Verzückt sah sie ihn an, als hätte sie noch nie etwas Schöneres gesehen. Vielleicht war es auch so. Er hob die Hand, berührte ihr Gesicht. Seine Finger glitten über warme, menschliche Haut. Er schob die Hand unter ihr Kinn, hob es an. Dann neigte er sich vor und sie öffnete bereitwillig ihre Lippen für ihn. Als würde sie auf das hören was das Monster in Alfred von ihr verlangte. Obwohl er ihre Leidenschaft spürte, viel mehr als einer jungen Frau in dieser Situation zugestanden hätte, war der Kuss nicht echt. Er war das Echo von etwas Echtem. Die Auswirkung seiner übernatürlichen Anziehungskraft. Doch Alfred war es egal und er schob alle Bedenken beiseite. Nur ein Gedanke blieb: Der Kuss war eine Entschuldigung. Eine Entschuldigung für das, was gleich passieren würde. Alfred zog sich sanft zurück, ließ seine Lippen dicht über ihren Hals gleiten, dorthin, wo der Blutstrom am lautesten war und das Leben am stärksten pulsierte. Als seine spitzen Zähne beinahe sanft die Haut durchschnitten, atmete sie scharf ein – aber schrie nicht. Ihr Körper spannte sich und erschlaffte kurz darauf. Wie ein kostbares Geschenk hielt Alfred sie fest, während er trank. Als es vorbei war und ihr Herz verstummt, legte er sie sacht auf den Boden des engen Weges. Das Dröhnen in seinem Kopf war endlich still. Sein Körper ruhig. Das Feuer in seiner Kehle – für einen Moment unter Kontrolle. Die Gasse lag immer noch still in der Dunkelheit. Der Lärm der Stadt drang nicht bis hierher. Alfred betrachtete das Mädchen. Sie sah beinahe friedlich aus. Die Augen waren geschlossen, und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. So, als wäre ihr letzter Gedanke ein schöner gewesen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Alfred.
Doch es war niemand mehr da, der es hören konnte. Er lehnte sich an die Mauer und ließ sich von der Kälte umarmen. Dieses Mal war das Monster in ihm nicht ausgebrochen. Er hatte es freigelassen. Nun konnte er sich nicht mehr verstecken. Nicht hinter dem Grafen, der ihm sein erstes Opfer auf dem Silbertablett serviert hatte. Nicht hinter Sarah, die ihn gedrängt hatte, mit ihr zu jagen. Nicht hinter Herbert, der ihn verführt hatte. Er war es.
Mit einem letzten Blick auf das Mädchen zwang er sich aufzustehen. Er kehrte ihr den Rücken zu – und ging weiter. Zurück auf die Straße. Zurück ins Leben der Stadt. Als er am Dom angekommen war, hielt er inne. Die mächtigen Mauern des Gebäudes ragten in die Höhe, wie ein mahnender Zeigefinger. Als er den Kopf in den Nacken legte und seinen Blick emporklettern ließ, vorbei an den bunten Fenstern, da begriff er den wahren Horror. Das, was ihn wirklich erschreckte, war nicht die Tat. Sondern die Stille danach. Die Ruhe in seinem Inneren. Das Fehlen der Gewissensbisse. Sein Blick glitt fort vom Dom – über die Häuser um ihn herum. Hinter manchen Fenstern brannte noch Licht. Alfred hatte einmal dazugehört. Jetzt gehörte er woandershin.
Cat_the_cactus on Chapter 6 Sat 06 Sep 2025 08:22AM UTC
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Senka1 on Chapter 6 Mon 08 Sep 2025 05:19AM UTC
Last Edited Mon 08 Sep 2025 05:20AM UTC
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Turtlelly05 on Chapter 12 Mon 13 Oct 2025 07:46PM UTC
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Senka1 on Chapter 12 Tue 14 Oct 2025 06:54AM UTC
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