Chapter 1: Ein ganz „normaler” Tag
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Der Morgen begann wie jeder andere auch an der Napola Allenstein, mit dem Klang einer Trillerpfeife und hektischen Bewegungen von übermüdeten Schülern. Albrecht erwachte in dem wuseligen Schlafraum, er war noch müde von gestern Abend, denn er hatte wie so oft noch gelesen.
Neben ihm, zwei Betten weiter war Christoph energisch seine Bettdecke am glatt streichen. Er wirkte tatsächlich ziemlich erholt, sogar so erholt, dass seine braunen Haare etwas abstanden, wobei sie bei weitem nicht so schlimm waren wie bei Friedrich.
Der Blondkopf hatte morgens ein regelrechtes Vogelnest auf dem Kopf hängen und seine extrovertierte Persönlichkeit war schon zu dieser frühen Stunde zu hören, dass lag daran das er sich lautstark mit Tjaden über Waffenkunde unterhielt.
Albrecht konnte sich ein schmunzeln nicht verkneifen, aber machte sich dann auch fertig. Immerhin ging es auch schon morgens in der Napola um Disziplin, Perfektion und Routine. Es waren schlicht und ergreifend die Grundbausteine, beim heranziehen der Elite, auch wenn sie in diesem Fall aus Betten machen, Haare richten und Stiefel polieren bestand.
Beim Frühstück saßen die drei wie üblich nebeneinander: Friedrich links, Albrecht in der Mitte und Christoph rechts.
Es gab die üblichen Gespräche und in der Gerüchteküche war auch nichts Neues, also sprachen die drei so über was ihnen in den Sinn kam. Friedrich, der sozialste under den drei, begann das Gespräch recht locker,“Habt ihr schon gehört, dass sie vorhaben, in der nächsten Zeit die Trainingseinheiten zu intensivieren?“
Albrecht und Christoph schauten etwas interessierter auf, jedoch antwortete nur Christoph,“Ja habe ich schon von Herrn Peiner gehört. Die Lehrkräfte erwarten anscheinend, dass sich unsere Ausbildung beschleunigt jetzt, da der unser Abschluss näher rückt… Aber unabhängig davon habt ihr gut geschlafen?“
Und mit weiteren alltäglichen und vergesslichen Gesprächen ging der Morgen langsam in den Tag über.
Der Tag verging mit Unterrichtsstunden, endlosen Vorträgen, über Vaterland, Ehre und Opferbereitschaft. Albrecht glänzte wie immer im Deutsch- und Geschichtsunterricht mit mehr Vorwissen und Verständnis als alle anderen. Christoph meldete sich oft, beantwortete Fragen im Matheunterricht, als ginge es um Leben und Tod. Andere Mitschüler tuschelten darüber, wie sehr die beiden sich hervortaten, es zog eine gewisse Unruhe mit sich wie die beiden sich beteiligten.
Am Nachmittag standen Sportübungen und Drill an. Friedrich schlug sich wie immer am besten beim Sportunterricht, dort ging er auf und war in seinem Element. Die Jungen rannten im Gleichschritt bevor es zum Dehnen und schlussendlich zum Ringkampf überging. Friedrich gewann jeden seiner Kämpfe, während Christoph ungefähr die Hälfte seiner gewann und Albrecht extreme Schwierigkeiten hatte seine nicht zu verlieren, Ringkampf war halt einfach nicht seine Stärke und man sah es seinen blauen Flecken an.
Erst beim Abendessen, als sie in Reihen in der Speisehalle saßen, spürte Albrecht eine seltsame Spannung in der Luft. Es war nichts was man greifen konnte. Auf der Oberfläche war auch nichts falsch Besteck klapperte, Stimmen vermischten sich in Gesprächen und Christoph war wie so häufig von Katharina abgelenkt.
„Ist sie nicht hübsch?“, Christoph stellte die Frage wahrscheinlich rhetorisch, jedoch lies es sich Friedrich nicht nehmen seinen Freund zu piesacken.
„Ja natürlich, aber hör auf zu starren sonst fängst du noch an zu sabbern“, neckte Friedrich den anderen.
Das Gespräch der beiden ging danach ein bisschen weiter hin und her. Albrecht beobachtete die beiden nur, manchmal fragte er sich auch, ob es so sinnvoll war, dass er zwischen den beiden saß, wenn er doch der ruhigste der dreien war.
„Albrecht bis wann müssen wir den Vortrag in Deutsch fertig haben?“, fragte Christoph nach einigen weiteren Minuten, obwohl es eher so wirkte als wolle er das Thema wechseln.
„Am fünfzehnten Oktober ist Abgabe, also hast du noch zwei Tage Zeit“, antwortete er dem anderen ruhig.
Friedrich schaute auf, Christophs Ablenkungsmanöver schien also geklappt zu haben,“Echt? Ich dachte wir haben mehr Zeit…“
„Naja wir haben ja schon den dreizehnten, was hast du denn gedacht?“, entgegnete Albrecht mit gerunzelter Stirn.
Dann, ohne Vorwarnung, flackerten die Lampen und erloschen. Komplette Dunkelheit. Ein Raunen ging durch den Raum, Besteck und Porzellan klirrten.
Erschrockenes einatmen und ein vereinzeltes „Was ist los?“ brachen die Stille. Irgendwo fiel auch noch ein Stuhl um.
„Zurück auf die Plätze! Ruhe bewahren!“, die Stimme des Schulleiters Herrn Dr. Klein hallte durch den Raum, der ältere Mann wirkte erbost über die Unruhe,“der Hausmeister Herr Köhler wird sich um den Stromausfall kümmern.“
Die Aufseher versuchten sofort Ordnung herzustellen, doch das Murmeln breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Albrecht spürte wie Friedrichs Schulter sich leicht anspannte.
„Nur ein technisches Problem…“, sagte der Blondkopf eher zu sich selbst, als zu seinen Freunden.
Doch die Minuten zogen sich und als das Licht einfach nicht wiederkam, wurde das Abendessen beendet und die Jungen in ihre Schlafsäle geschickt. Disziplin sollte auch im Dunkeln ablaufen.
Die einzelnen Schüler liefen in kleinen Grüppchen zu ihren Räumen, dabei passierte es jedoch mehr als einmal, dass sich einige Schüler verliefen, in falschen Schlafsälen landeten oder sogar kleinere Unfälle passierten.
Christoph, Friedrich und Albrecht waren die letzten die in ihrem Schlafsaal ankamen. Nur das fahle Mondlicht fiel durch die hohen Fenster. Tjaden hielt sich ein Taschentuch an die Nase und Wilhelm, der von allen nur Hefe genannt wurde, rieb sich sein Knie.
„Was ist denn mit euch passiert?“, die Worte rutschten Friedrich so schnell raus, dass er wohl selber nicht wusste ob lachen oder Mitleid haben sollte. Christoph und Albrecht waren auch milde interessiert an der Situation und dem ungewöhnlichen Anblick ihrer Stubengenossen.
Tjaden rollte seine Augen so stark, dass Albrecht es sogar in der Dunkelheit erkennen konnte,“Hefe ist die Treppe hochgefallen und hat mich umgerissen. Naja was habe ich auch sonst erwartet, du bist ja auch gebaut wie eine Heuballen.“
„Ach halt die Klappe, du hast sowieso die falsche Richtung vorgegeben Tajden“, protestierte Wilhelm etwas lauter und ab dem Punkt hörte Albrecht nicht mehr zu. Das Zanken seiner beiden Mitschüler interessierte ihn kein bisschen, stattdessen tastete er sich durch die Dunkelheit um sein Bett zu finden und einfach schlafen aufzuholen, der ihm fehlte.
Mit der Zeit wurden die Gespräche der anderen auch leiser, weil die Aufseher wieder ihre üblichen Patrouillen liefen. Das Flüstern zwischen den Betten wurde trotzdem nicht sofort unterbunden, vielleicht waren die Lehrer selbst noch zu beschäftigt mit den Ursachen des Stromausfalls und Wiederherstellung der Elektrizität.
„Eigentlich ist es doch merkwürdig, oder?“ Christophs Stimme hallte durch den Raum, obwohl sie leise war,“Ich habe sowas noch nie erlebt..“
Friedrichs Stimme war ruhig, fast verschwörerisch,“Vielleicht ist es eine Sabotage, in Waffenkunde haben wir doch gehört, dass die Briten und Sowjets solche Strategien benutzen“, murmelte er, doch ohne wirklich Überzeugung.
Albrecht lag still da, hörte zu und spürte die Unruhe unter der Oberfläche. Das ungute Gefühl von vorhin hatte sich nur weiter intensiviert in der Zwischenzeit. Es war nichts weiter als ein Stromausfall, dass redete er sich zumindest selber ein und doch lag eine Spannung in der Luft.
Da war etwas in der Dunkelheit und was auch immer es war, es würde kommen.
Chapter 2: Die Reiter
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Es musste schon fast Mitternacht sein, als Albrecht Stein noch wach in seinem Batt im Schlafsaal lag. Das ungute Gefühl in seiner Magengegend hatte sich seit dem Stromausfall nur verschlimmert, sodass er nun gar nicht mehr zur Ruhe kommen konnte.
Zwei Betten weiter von ihm lag Christoph, welcher recht tief zu schlafen schien und wahrscheinlich auch träumte, denn er murmelte ab und an den Namen von Katharina. In dem Bett neben Albrechts war Friedrich, dieser schien jedoch bei weitem nicht so gut zu schlafen wie Christoph. Der Blondschopf wandte und drehte sich schon die ganze Zeit in seinem Schlaf, ob er einfach nur unruhig schlief oder etwas träumte wusste Albrecht aber nicht genauer.
Der Schlafsaal war ruhig, nur das leise atmen, das Knarren von Dachbalken, das rascheln von Decken und das vereinzelte Schnarchen prägten die Atmosphäre.
Und plötzlich zerbrach die Stille wie Glas. Von draußen kam ein Schrei. Hoch. Panisch. Es war die Stimme von Herrn Köhler, dem Hausmeisters.
„RUSSEN! RUSSEN IM ANMARSCH!!“
Albrecht schreckte zusammen und für einen Augenblick schien die Welt still zu stehen. Er konnte nicht atmen, nicht denken, war festgefroren wie eine Statue.
Er war gefangen in einem kompletter Stillstand.
Im Gegensatz zum Rest des Raumes.
Die anderen schreckten hoch. Gerade waren sie noch am schlafen, nun waren sie desorientiert und in Todesangst versetzt, weil ein Angriff auf die Napola bedeutete sofortige Gefahr um Leib und Leben.
„RUSSE-“
Die Stimme des Hausmeisters wurde unterbrochen und noch ehe jemand reagieren konnte, folgte ein dumpfer Knall, nicht wie eine Granate oder eine Bombe, sondern etwas Näheres. Ein Gewehr. Und dann das Geräusch eines Körpers, der auf Pflastersteine schlug.
Die Dunkelheit machte alles schlimmer. Die blanke Panik der Jungen intensivierte sich, als man irgendwo draußen etwas hörte. Es war fast ein fernes rhythmisches Beben, aber kein Motor, kein Panzer. Sondern Pferde.
Aufpasser rannten auf den Fluren. Lehrer riefen Befehle, Schreie nach Ordnung.
„Zurück auf eure Zimmer!“
„Ruhe bewahren!“
„Keine Panik!“
Doch die Worte unterbunden die Unruhe nicht, sondern bewirken das Gegenteil, als hätten die Lehrer Öl in das Feuer der Panik geschüttet. Einige Jungen rannten, stolperten um sich ein Versteck zu suchen, andere suchten Halt bei ihren Freunden, beteten oder fluchten.
„Scheiße scheiße scheiße..“ Christoph raufte sich die braunen Haare und drückte sich zitternd gegen die Wand um nicht vom Fenster aus gesehen zu werden. Sein Atem ging schnell und schwer, Angstschweiß glänzte auf seiner Stirn und seine Muskeln spannten sich an.
Albrecht spürte wie Friedrich neben ihm nach seinem Arm griff, als suche der blonde ihn in dieser Dunkelheit. Inmitten des Chaos fühlte er nur die Enge in seiner Brust, die Angst die ihn lähmte und praktisch einfror.
Auf dem Flur wurde das panische Schreien immer stärker, als die Gefahr sich näherte.
Und dann war sie da.
Draußen im Hof wurde es laut. Hufschläge donnerten über die Pflastersteine, gleichmäßig und bestimmt, doch ohne Licht. Ein Bataillon von berittenen Pferden kam zum Stehen, die braunen Budjonnyhengste schnaubten und stampften etwas auf dem Stein, als die letzten ihrer Artgenossen sich einreihten. Die Reiter hatten ihre Gewähre geschultert.
Eines der vordersten Pferde stach heraus, es ragte etwas über den anderen und war heller, ein Goldglanz. Auf seinem Rücken saß ein schwarzhaariger junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig. Der Mann hielt die Zügel locker in der Hand. Er trug den gleichen grauen Mantel wie den Rest der Reiter, die Winteruniform der Sowjets, die Schüler kannten sie aus dem Waffenkundeunterricht.
Doch egal was sie im Unterricht gelernt hatten, es würde ihnen jetzt nichts mehr bringen.
Einige der Soldaten stiegen von ihren Pferden ab, als der schwarzhaarige Mann irgendwelche Befehle auf Russisch rief und man konnte plötzlich hören wie die Eingangstür des Internats aufgebrochen wurde.
Ein fernes Schreien hallte durch den Flur und ein Schuss folgte, im ihrem Schlafsaal zuckten die Jungen zusammen. Der Tod war näher an den Schülern als je zuvor.
Christoph war bleich, seine Hände zitterten fast schon panisch und er atmete flach. Er flüsterte fast schon aufgebracht,“Jemand muss doch die Unterstufe in Sicherheit bringen.“
Niemand rührte sich.
Albrecht sah den braunhaarigen nur ungläubig an, dass konnte doch nicht sein Ernst sein. Der Gedanke war der reine Selbstmord.
Die Geräusche wurden lauter. Doch unter den Stimmen waren nur die Erwachsenen, Lehrer und Ausbilder
„HILFE! BITTE NICH-“
Herrn Peiners Stimme.
Schuss.
„AUFHÖREN-“
Dr. Kleins Stimme.
Schuss.
Schreie hallten, Bitten um Gnaden, Befehle liefen ins Leere. Doch für die Sowjets gab es keine Erbarmen, nur taube Ohren für den Tod. Ein kurzes Kommando auf Russisch, dann der Knall eines Schusses.
Doch kein Kindergeschrei ertönte, kein einziges Mal.
Die Schüler waren wie versteinert. Hefe hielt sich die Ohren zu. Tjaden weinte lautlos. Friedrich versteckte sich schon fast hinter Albrecht. Christoph hatte sich gegen die Tür gepresst. Albrecht war einfach nur eingefroren.
Doch dann wurde es ruhiger und zum ersten Mal kehrte Licht in die Schule zurück, denn die sowjetischen Soldaten entzündeten Fackeln. Die Leichen der Lehrer wurden in den Hof gezerrt und abgezählt. Blut rann über die Pflastersteine.
Die Welt welche sie bis jetzt gekannt hatten war innerhalb einer Nacht zerbrochen.
Die restlichen Sowjets kehrten jedoch in die Schule zurück. Dann kam der Befehl, auf gebrochenem Deutsch.
„ALLE RAUS, AUFSTELLEN NACH ALTER!“
Die Stimmen der Soldaten hallten durch die Flure, ihre Stimmen hart, kalt, aber unmissverständlich. Sie wurden hinausgetrieben auf den Hof, das Flackern der Fackeln warf lange gebräuchliche Schatten über die Gesichter der Jungen.
Albrecht merkte gar nichts mehr, er hatte erst wieder etwas wahrgenommen wo sie draußen standen. Friedrich hatte ihn fast schon mit sich gezerrt um ihn nicht zurück zu lassen. Die Nachtluft war kalt und stank nach Schießpulver und Blut.
Neben Albrecht standen Friedrich und Christoph, die drei waren durchzogen von Todesangst und stiller Panik. Was würde nun passieren? Sie waren den Soldaten ausgeliefert.
In der Mitte des Hofes hielten die Offiziere Listen in den Händen, der schwarzhaarige war unter ihnen. Sie lasen Namen ab, einer nach dem anderen und verteilten Karten an die einzelnen Soldaten,
Und dann wurde der erste Name aufgerufen, doch das System welches sich ergab war erschreckend zu beobachten.
„Arthur Hoffmann“.
Einer der Unterstufenschüler.
Als der Name gerufen wurde, trat einer der Sowjets vor, packte den Auserwählten grob am Arm und führten ihn beiseite. Arthur war recht schmächtig und offensichtlich verängstigt, stumme Tränen kullerten seine Wangen hinunter. Dort wurden dem Jungen die Hände auf den Rücken gefesselt, grob und sichtbar schmerzhaft. Ein Stück Stoff wurde ihm über die Augen gebunden und er wurde mitgenommen zu einem der Pferde. Der Soldat zog den Jungen grob den auf das Pfefd. Dann verschwanden sie in der Nacht.
Der Rest passierte ganz schnell. Mehr Namen wurden aufgerufen, mehr Schüler aus den Reihen gezogen, mehr Verschleppte verschwanden in der Dunkelheit mit dem Tosen von Hufen.
Albrecht stockte der Atem, doch er rührte sich nicht. Das Knarren von Leder, das Schnauben der Pferde, die harten Kommandos in fremder Sprache all das mischte sich mit der blanken Panik und den immer kleiner werden Gruppen an Schülern.
Und dann geschah das unglaubliche, die ersten paar aus der Oberstufe waren schon aufgerufen worden doch der nächste Name änderte alles.
„Christoph Schneider.“
Christoph zuckte bei seinem eigenen Namen zusammen und riss die Augen auf. Er stand wie festgewurzelt, würde er nun mitgenommen werden, besiegelte das sein Leben.
Friedrich und Albrecht starrten ihren Freund an, der sich um keinen Millimeter bewegt hatte. Keiner der Jungen brachte ein Wort heraus, Freidrich rollten nur stumme Tränen die Wangen hinunter und Albrecht war wie festgefroren. Dieser Moment könnte ein Aufwiedersehen für immer bedeuten.
Doch dann blickte Christoph zu den beiden und lächelte schwach, er war offensichtlich nicht selber überzeugt doch nickte ihnen knapp zu. Das war das letzte was sie von ihm sagen bevor auch er weggezogen wurde.
Albrecht wollte ihm nachgehen und dann besiegelte sich auch sein Schicksal.
„Albrecht Stein.“
Friedrich griff nach ihm, seine Hände feucht von kaltem Schweiß, seine Augen und schwache Stimme waren flehend.
„Du nicht auch noch, bitte..“
Albrecht Herz drohte stehen zu blieben, dieser Moment schien still zu stehen. Er wollte nicht, doch seine Beine bewegten sich wie von selbst, stießen ihn nach vorne. Friedrichs Hand entglitt seiner und er kehrte sich ab. Der Hof wirkte endlos groß in diesem Augenblick.
Er konnte Friedrichs flehen nicht hören, nicht reagieren und er lief auf den Soldaten zu.
Vor ihm hielt der Goldglanz, das hellste der Pferde wurde an den Zügeln gehalten von einem der Sowjets. Es war der Soldat von vorhin aus dem Fenster. Der schwarzhaarige Reiter blickte auf ihn herab, seine blauen Augen funkelten wie Eis, verheißungsvoll und kalt. Seine Haltung war unerschütterlich, sein Blick ließ keinen Zweifel.
Dieser Abend würde Albrechts Ende einleiten.
Seine Stiefel halten auf dem Stein, als er näher kam und zog Albrecht bei Seite. Den Stoff, den er um Albrechts Kopf band, roch nach Schießpulver und der Gestank war gefolgt von sofortiger Dunkelheit. Dann folgten die fesseln wie Albrecht es bei den anderen gesehen hatte, sie schnitten scharf und beißend in die Haut.
Albrecht konnte den Namen des Mannes spüren, so nah war er. Dann hörte er die Stimme des Mannes, tief, rau mit einem hasserfüllten Akzent.
„Nicht wehren, Köter.“
Albrecht wurde hochgerissen, fast getragen, bis er das Schnauben eines Pferdes hören konnte und auf den Sattel gedrückt wurde.
Der Soldat rief noch einige Worte auf Russisch und setzte danach auch auf und der Ritt begann ruckartig.
Chapter 3: Keine Rückreise
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Die Zeit war wie stillgestanden. Die Dunkelheit hinter dem Stoff war unnachgiebig. Kein Fünkchen Licht drang durch, kein Hinweis, wohin sie ritten oder wie viel Zeit vergangen war. Nur das Dröhnen der Hufe, der Rhythmus des Pferdes, das Rauschen des Windes war wahrnehmbar. Die Stille des Reiters war so einschüchternd wie alles andere. Jedoch schienen sie alleine zu sein und nicht Teil eines festen Verbandes.
Der Zweck dieses Rittes war eine gewisse Art von Orientierungslosigkeit auszulösen, zumindest vermutete dies Albrecht.
Der Schüler fühlte, wie jeder Schritt des Tieres ihn durchrüttelte, bis er es in den Knochen spürte, wie die Fesseln an seinen Handgelenken tiefer und tiefer in die Haut schnitten.
An der Napola wurde immer Unnachgiebigkeit gelehrt. Stärke war das A und O des Alltags, doch gerade fiel es Albrecht schwer sich an diesen Prinzipien festzuhalten. Er wollte sich stark geben, die Zähne zusammenbeißen und einfach alles aushalten, doch so einfach war das gar nicht.
Die Stille setzte ihm zu.
Er war alleine mit seinen Gedanken und sich selbst, was die Situation deutlich verschlechterte.
Was würde mit ihm passieren? Was war mit Friedrich und Christoph? Wo waren sie? Würden sie sich jemals wieder begegnen? Was war mit dem Rest der Schüler passiert?
Und da ergab sich eine weite Fragen.
Was würde mit seinen Eltern sein? Würden sie erfahren was geschehen war?
Albrecht und seine Eltern hatten schon lange eine belastete Beziehung. Er fühlte sich oftmals nicht wahrgenommen von ihnen, vor allem von seiner Mutter. Selbst wenn er zuhause gewesen war schauten sie ihm nicht mal in die Augen. Es gab nur Kritik, Schweigen und Enttäuschung in seiner Beziehung mit seinen Eltern und doch sehnte er sich gerade nach einer gewissen Vertrautheit.
Oder vielleicht sehnte er sich einfach nur nach der Abwesenheit von Angst.
Doch dann wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Das Pferd beschleunigte auf einmal und Albrecht stieß gegen die Brust des Mannes hinter ihm. Der plötzliche Kontakt überraschte den jüngeren und schüchterte ihn auch gewissermaßen ein.
Der Körper des Reiters war angespannt, beherrscht, er hatte die Situation vollkommen unter Kontrolle. Albrecht spürte ihn erstmals körperlich, von dem älteren Mann ging ein Geruch von Wildleder, Zigarettenrauch und irgendetwas erdigem aus. Der Geruch stieg dem Schüler in die Nase, er war sehr einprägsam und brannte sich sofort in sein Gedächtnis ein.
Er erinnerte sich an die kalten Worte des Soldaten, „Nicht wehren, Köter.“ hatte er ihn angefahren auf aggressivem Deutsch. Es war so einfach gesagt, doch hatte schwer gesessen. Es war keine Drohung, kein Vorwurf, jedoch etwas viel schlimmeres und zwar purer Hass.
Es wurde kein Raum für Widerstand gegeben, kein Raum für Einspruch und Albrecht hätte sich auch nicht gewagt sich zu wehren.
Die Zeit zog sich fast ins Unendliche. Minuten dehnten sich zu Stunden und Stunden in Endlosigkeit. Der Schüler versuchte sich irgendwie zu orientieren, sich die Richtung einzuprägen, doch ohne Erfolg.
Und als Albrechts Gedanken wieder drohten abzustreifen, in blanke Verzweiflung und Angst, wurde er davon weggerissen von dem Mann der hinter ihm saß. Weder innerhalb noch außerhalb seiner Gedanken fühlte er sich sicher.
Jede Bewegung, jeder Atemzug verankerte ein Gefühl von vollkommener Machtlosigkeit in dem Jungen.
Panik und Überlebensangst fraßen sich durch Albrechts Gedanken und Körper, er war wie gelähmt.
Was war das Ziel dieser Verschleppung?
Wo würden sie enden?
Warum wurden sie getrennt?
Wohin ritten die einzelnen Reiter?
Woher hatten die Sowjets die Schülerlisten gehabt?
Wie hatten sie den Stromausfall verursacht?
Seine Gedanken sprangen dabei zurück an den Abend und wie alles abgelaufen war. Da wurde ihm plötzlich etwas klar, seine Intuition hatte Recht gehabt. Es war wirklich etwas falsch gewesen, doch er hatte nicht ahnen können wie viel schlimmer es werden würde.
Er erinnerte sich and die verängstigten Gesichter seiner Mitschüler. Manche von ihnen waren nicht älter als zwölf und nun waren sie genau so dem Schicksal, oder den Soldaten, unterlegen. Einige von ihnen hatten geweint, andere haben nur geschimpft oder still gebetet, die wenigsten von ihnen hatten geschrien. Doch kein Gott erhörte sie und Albrecht fühlte Schuld. Er war doch älter, reifer, stärker als die Jungen gewesen, doch er hatte sich nicht gewehrt, war nicht dazwischen gegangen, ob aus Angst oder anderem war nun egal.
Die Schüler waren mitgenommen worden und saßen nun auch gefesselt auf irgendwelchen Pferden in Richtung nirgendwo.
Und er war einer von ihnen.
Mit dieser bitteren Erkenntnis biss er sich auf die Zunge, er hatte den Impuls sich selber straffen zu müssen für sein Nichtstun. Sollte er doch leiden für sein schwaches Verhalten. Er hatte es regelrecht verdient zu sterben, er hatte seine Moral und seine Freunde hintergangen. Christoph hatte das richtige gedacht, er hatte die Jüngeren schützen wollen, doch Albrecht hatte nur seine eigene Haut retten wollen.
Er schämte sich in Grund und Boden. Es konnte doch nicht sein, dass er, Sohn des Gauleiters, der schwächste und ängstlichste von allen war.
Der gedankliche Teufelskreis von Schuld, Angst und ansteigendem Selbsthass fing an langsam aus der Kontrolle zu raten.
Doch auf einmal wandte der Reiter den Kopf, der Knochen knackte leise und riss Albrecht aus seinen Gedanken. Der jüngere konnte den Blick des Soldaten auf sich spüren, obwohl er durch die Augenbinde blind war.
Der Mann schien ihn zu mustern, seine Angst wahrzunehmen und seine Gedanken förmlich zu durchdringen.
Für einen Moment blieb Albrechts Atem stehen, er wagte es nicht zu atmen.
Doch da wurde das Pferd etwas langsamer und langsamer, es blieb fast stehen und der Mann lehnte sich nach vorne. Sein Oberkörper drückte sich gegen Albrechts Rücken. Der Atem des Soldaten war heiß und scharf an seinem Ohr, Albrecht konnte seine Körperwärme fast spüren.
„Hör auf zu zittern, Köter, wir sind bald da. Wer zu viel denkt fällt vom Pferd.“
Die Stimme war hart und war weiterhin unterlegt von einem leichten russischen Akzent. Doch dieser Begriff Köter hatte nicht seine erniedrigende Bedeutung verloren, es war wenn überhaupt nur schlimmer geworden.
Albrecht antwortete nicht verbal, er nickte nur schwach um seine Gehorsamkeit zu zeigen.
Er war sich nicht sicher, ob der Mann damit meinte das er ihn herunterwerfen würde, wenn er so weitermachte oder ob Albrecht von selbst die Balance verlieren würde.
Da hörte er auf einmal Weihern.
Waren sie doch nicht alleine?
Ihm blieb jedoch nicht viel Zeit um nachzudenken, denn das Pferd setzte sich wieder in Bewegung und der Ritt ging weiter. Der Junge stieß dieses Mal nicht so hart gegen die Brust des anderen und das Trommeln der Hufe wurde wieder stetig schneller.
Albrecht wollte schreien, flehen, betteln, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der Reiter hatte recht, sich zu wehren war und wäre sinnlos. Es blieb ihm nichts anderes, als abzuwarten und zu hoffen das er die Nacht überlebte.
Doch das Weihern aus der Ferne hatte seine Einschätzung der Situation verändert. Waren sie vielleicht doch Teil einer Kette, nur etwas weiter auseinander gezogen um mit Absicht die Geiseln einzuschüchtern?
Die Strategie hatte, wenn es sie denn wirklich gab, jedoch zweifellos bei Albrecht angeschlagen.
Die Bilder und Eindrücke des Abends liefen immerfort vor seinem inneren Auge unruhig hin und her. Die Schwärze des Stromausfalls, die Erschießung und Leichen der Lehrer, der Hof voller Pferde, Friedrichs letzter Blick in seine Richtung, doch unter all diesen Erinnerungen war da auch der Soldat, der gerade hinter ihm saß, eingebrannt.
