Chapter 1: tranquillitas ante tempestatem
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— 1508 —
»Disziplin ist ein wertvolles Gut, erkauft mit Blut und Schweiß. Verloren in nur einem Wimpernschlag will die Disziplin beständig genährt werden, auf dass sie nicht falle vom fahlen Fleisch der Faulenzerei!«
Der sechsjährige Junge, an den die Worte gerichtet waren, stand artig auf und sprach sie nach. Er mochte den alten Hauslehrer, auch wenn dieser sich oft in Rage redete und seine alten Lehrsprüche wiederholte.
In einem etwas milderen Tonfall fuhr der grauhaarige Angestellte fort.
»Euer Durchlaucht, so gut ihr auch die Kurrentschrift beherrscht, ohne die angemessene Konzentration beim Abschreiben ist auch die schönste Handschrift wertlos.«
»Herr Muntean, ich habe dieses Gedicht nun schon unzählige Male abschreiben müssen. Wenn ich ein anderes wählen dürfte, könnte sich meine Aufmerksamkeit darauf steigern.«
Vlarad wusste, dass Herr Muntean es wohl nicht leicht mit ihm hatte. Der Mann hatte bereits seinen Vater, Graf Dragomir Fiodor Veaceslav Fürst von Dragocz, in den Grundlagen der Literatur und Geschichte unterrichtet, doch der junge Vlarad war anders. Er war zu wissbegierig, hinterfragte zu viel, war einfach zu weit für einen Sechsjährigen.
»Verschieben wir diese Angelegenheit doch besser auf morgen. Es ist gleich Mittag, und euer Durchlaucht will doch sicherlich mit seiner Familie zu Tisch sitzen?«
»Habt Dank Herr Muntean!« Vlarad wollte schon aufstehen, doch da gab ihm sein Hauslehrer noch den Gedichtband in die Hände.
»Sucht euch bitte einen der lyrischen Texte aus und schreibt ihn bis übermorgen ab, ja?«
Der blasse Junge nickte und schlüpfte aus dem Lehrzimmer. Schon auf dem Korridor zum Speiseraum roch er, dass das Mittagessen wohl längst angerichtet war.
Er hatte recht, seine Eltern saßen bereits zu Tisch. Neben der langen Tafel stand ein kleines Babybett, in dem die vor einem Jahr geborene Viorica Alexandra Evdochia schlief.
»Vlarad, wir wollen speisen. Nimm Platz!« rief die Mätresse Parascovia Galina Ecaterina über den Tisch hinweg.
»Verzeiht die Verspätung, Mutter!« antwortete Vlarad und setzte sich.
Während der Mahlzeit spielte der dürre Junge immer wieder mit seiner kleinen Schwester, seine Eltern unterhielten sich so oder so über höhere Themen.
»Die Magd erfuhr bei ihren Einkäufen in Suceava, dass es erneute Kämpfe mit den Polen gab. Meinst du, wir müssen uns bald ebenfalls am Krieg beteiligen?« fragte Vlarads Mutter besorgt.
»Der Blinde wird Moldau noch kaputt kämpfen. Erneut werden Gerüchte laut, er wolle bald uns alle zur Treue und zu Steuern verpflichten!«
»Wie recht du hast. Unter Fürst Ștefan wäre es sicherlich nicht so weit gekommen.«
Vlarad versuchte, sich sein Interesse nicht anmerken zu lassen, doch sein Vater durchschaute wie immer seine betont abgelenkte Miene.
»Höre ruhig zu Vlarad, die Politik geht uns alle etwas an. Und sitz gerade, mein Junge! Wenn du dich eines Tages in meiner Position befindest, könnte der Krieg um Pokutien deutlich schlimmer werden, daher ist es wichtig, so früh wie möglich das Tragen von Verantwortung zu erlernen.«
Der Junge hörte Graf Dragomir mit großen Augen zu, bis die kleine Viorica zu schreien begann.
»Darf ich mich erheben?« fragte Vlarad, der in dem kleinen Baby eine Chance sah, dem Gespräch zu entfliehen.
Er war zwar interessiert an politischen Themen, doch seit seine schulische Ausbildung begonnen hatte, fühlte Vlarad sich zunehmend unter Druck gesetzt.
So überdurchschnittlich schnell er auch Fremdsprachen wie Deutsch oder Latein lernte, ein Graf war er noch lange nicht.
Die Mätresse nickte und er hob Viorica vorsichtig aus ihrem Kinderwagen, um sie in ihr Zimmer zu bringen.
Als er in dem kleinen Kinderzimmer stand, war seine Schwester bereits in seinen Armen eingeschlafen. Vlarad sah durch den Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen in die Sonne.
Hoffentlich würde es bald einfacher werden. Wenn er den Gesprächen seiner Eltern über die Unruhren im Land lauschte, kamen ihm seine eigenen Sorgen beinahe lächerlich unbedeutend vor.
— 1513 —
»Was machst du da?«
»Können wir mitmachen?«
»Willst du mit uns Verstecken spielen?«
Vlarad seufzte. Eigentlich versuchte er seit etwa einer Stunde, ein deutsches Buch zu lesen, doch seine Schwestern hatten wohl andere Pläne.
»Dil Ulenspi- Ulenspiegel« las Viorica angestrengt den Titel der Seiten. Die Sechsjährige hatte erst vor einigen Wochen mit dem Lesen begonnen und hatte nun riesige Freude daran, alles nur mögliche laut vorzulesen.
Ana, die jüngste Tochter des Hauses, mit vollem Namen Ana Nadejda Mariana genannt, sah staunend zwischen ihrem lesenden Bruder und ihrer grinsenden Schwester hin und her.
Sie würde in einigen Monaten schon ihren fünften Geburtstag feiern und Vlarad wunderte sich fast täglich, dass sie so schnell wuchs.
»Komm schon Vlarad, begleite uns in die Ställe!« unterbrach Viorica da seine Gedanken.
»Ich kann nicht. Vater möchte, dass ich morgen meinen Schulstoff für diese Woche abgeschlossen habe. Übermorgen werde ich dafür wieder mit euch spielen, versprochen.«
»Was musst du denn morgen noch wichtiges tun?« fragte Viorica enttäuscht.
»Vater wird mir die Handhabe über Steuerzahlungen beibringen. Er meint, jetzt, wo auch unsere Familie im letzten Jahr zu Steuern verpflichtet wurde, muss ich so etwas wissen.«
»Nagut. Aber danach spielen wir ganz sicher Verstecken!« rief Ana und hopste aus Vlarads Gemächern.
Ihre ältere Schwester folgte ihr, doch nicht ohne ihrem Bruder vorher ans Ohr zu schnipsen.
Vlarad tat empört, lächtelte jedoch, nachdem die beiden Mädchen das Zimmer verlassen hatten.
— 1515 —
Vlarad duckte sich unter einer umgestürzten Tanne. Er hörte näher kommende Schritte und machte sich bereit, schnell loszurennen.
»Ich sehe dich!«
Er sprang vorwärts und lief so schnell er konnte tiefer in den dichten Nadelwald hinein. Die Geräusche hinter ihm wurden immer lauter, bis er den harten Stoß einer flachen Hand im Rücken spürte.
Durch den kleinen Schubser geriet Vlarad ins Straucheln und fiel mit dem Oberkörper voraus auf den weichen, von Tannennadeln gepolsterten Waldboden.
Im Fall drehte er sich geschickt um und zog seine Verfolgerin mit auf den Boden.
»Hey!« rief Viorica überrascht, bevor sie sich sofort wieder aufsetzte. Lachend zog sie sich eine Nadel aus den schwarzen Haaren und bewarf ihren Bruder damit.
»Ist ja gut, ich kapituliere! Du hast mich gefangen, aber ich dich auch. Also hat Ana gewonnen!«
»Ana! Zeige dich, das Fangspiel ist vorbei!« rief Viorica in den Wald hinein.
Die beiden sahen, wie Ana in einiger Ferne vorsichtig von einem Baum herunterkletterte. Sie kam jedoch nicht näher, sondern starrte nur vorwurfsvoll zu ihren älteren Geschwistern.
»Schnell, kommt zurück! Ihr seid viel zu weit in den Wald gerannt!«
Vlarad sah sich erschrocken um. Sie hatte recht: die Mätresse hatte ihnen eingebläut, nie weiter als bis zum Bach zu gehen. Jener, der in diesem Moment zwischen Ana und den beiden älteren Kindern floss.
Viorica lachte. Sie stand auf und ging einige Schritte rückwärts, in das schattige Waldstück hinein.
Ihr Bruder seufzte leise. Sie war zwar erst acht Jahre alt, besaß allerdings mindestens so viel Sturheit wie das älteste Pferd im Zuchtstall ihres Vaters.
»Nun komm schon!« zischte er und zog seine kleine Schwester am aufgerissenen Ärmel zurück. Diese wehrte sich zum Glück kaum und grinste nur.
Die beiden sprangen über den Bach, der so schmal war, dass ein erwachsener Mensch wohl nur einen etwas größeren Schritt machen müsste, um ihn zu überqueren.
Als Vlarad wieder nach vorne blickte, stand noch jemand anderes neben der kleinen Ana. Er erkannte leider sofort die hagere Gestalt des Forstaufsehers Nicolae.
Mit verschränkten Armen und missmutigem Gesicht wartete der junge Mann stumm darauf, dass die beiden Adelskinder zurück zum Waldrand kamen.
»Mir war bisher nicht bewusst, dass der Graf seinem Nachwuchs seit neuestem gestattet, in die unüberschaubaren Teile des Waldes hinein zu streunen.« empfing er die beiden bissig.
Vlarad sah schuldbewusst zu Boden, doch Viorica hielt Nicolaes Blick stand.
»Es war ein Versehen! Niemals beabsichtigten wir, den Bach zu überqueren.«
Der junge Mann seufzte. Er mochte verärgert sein, doch wer konnte zwei Kindern und einem Dreizehnjährigen schon lange böse sein?
Er wandte sich ab und bedeutete den Geschwistern, ihm zu folgen.
»Ich selbst bin nicht nachtragend und der liebe Gott ist es sicher ebenfalls nicht. Doch was der Herr Graf zu eurem Regelbruch sagen wird, vermag ich nicht vorherzusehen.«
Die drei Kinder des Grafen Dragomir trotteten dem Forstaufseher hinterher bis in das geräumige Arbeitszimmer ihres Vaters.
Nachdem Nicolae von Vlarads und Vioricas Regelverstoß berichtet hatte, sah der Graf die beiden streng an.
»Viorica, wie oft muss man dir noch sagen, dass es sich nicht ziemt als die, die du nun einmal bist, ständig durch den Wald zu stromern und herumzuturnen?«
Vlarads jüngere Schwester sah beschämt aus, wenn man allerdings genauer hinsah, erkannte man nach wie vor einen Funken von Trotz in ihren Augen.
»Und ihr, Vlarad, Ana. Wie kommt es, dass ihe euch so einfach zu solch leichtsinnigen Vorhaben mitreißen lasst?«
Als der Graf als Antwort lediglich zwei Augenpaare erhielt, die seinen Blick stur mieden, setzte er sich resigniert an seinen Arbeitstisch.
»Mir scheint, ihr fühlt euch in eurer schulischen Erziehung nicht genügend ausgelastet. Ich schlage daher vor, ihr schreibt einige Psalme ab. Vlarad und Viorica jeweils fünf, Ana zwei.«
Vlarad stöhnte kaum hörbar auf. Das Gespräch war beendet, und so nahm er Ana an die Hand, um sie mit in das Bibliothekszimmer zu nehmen.
Viorica folgte den beiden, ihrem Gesichtsausdruck nach wohl noch genervter als Vlarad.
Auf dem Weg zu ihrer Strafarbeit erzählten die drei sich gegenseitig, was sie mit dem Nachmittag lieber angestellt hätten.
Ana hatte eigentlich geplant, mit der Magd ein Brettspiel zu spielen. Viorica nörgelte, wie gerne sie nun auf ihrem Zimmer geübt hätte, mit ihrem Halbschwert umzugehen.
Vlarad dachte wehmütig an Bücher, die er für deutlich interessanter als die Bibel erachtete.
Es war nicht so, als sei er nicht gläubig. Doch insgesamt fand er, dass die Erwachsenen viel zu viel Zeit mit dem Gedanken an ein Konzept verbrachten, das in Vlarads Augen höchst unwissenschaftlich war.
Allerdings war es auch nicht so, als würde er solcherlei Gedanken jemals laut aussprechen. Lieber schrieb er so schnell es ging die Psalme ab, um danach bis spät in die Nacht hinein zu lesen.
— 1519 —
Die Sonne war schon fast hinter den Bäumen versunken, als Vlarad über den Innenhof des Anwesens eilte.
Es war noch nicht ganz dunkel, obwohl die Uhr des Kirchturms längst neun geschlagen hatte. Jetzt im Sommer waren die Tage deutlich länger, was vor allem die Bauern in der Umgebung freute.
Vlarad hatte soeben kurz vor Torschluss in Suceava ein neues Buch erworben und war danach zu Fuß nach Hause spaziert. Doch nun beeilte er sich, vor dem Eintreten der Dunkelheit sicher anzukommen.
In den letzten Jahren hatte er sich immer tiefer in Bücher und Schriften vergraben. Je mehr politische Anteilnahme von ihm verlangt wurde, desto gestresster fühlte er sich.
Vor zwei Jahren hatte seine Mutter außerdem begonnen, seine Bereitwilligkeit, Verantwortung zu übernehmen, mit dem neuen Fürsten von Moldau zu vergleichen.
›Fürst Ștefăniță ist erst elf Jahre alt, führt schon das ganze Land, während du nicht einmal Interesse an dem Krieg vortäuschst, der uns alle angeht‹, hieß es oft.
Es war nicht so, als wollte Vlarad nicht all seine Pflichten als zukünftiger Graf erfüllen, doch für die ewigen Konflikte konnte er sich nicht begeistern.
Bevor er das schwere Tor zur Eingangshalle hinter sich schloss, sah er noch einmal auf den Hof und die dahinter hervorragenden Bäume.
Es dämmerte und zwischen den Säulen der Durchgänge war es schon stockfinster.
Er wollte sich gerade abwenden, da beschlich Vlarad das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Angestrengt blickte der inzwischen siebzehnjährige Junge in die Schatten.
Tatsächlich sah es so aus, als stünden dort gleich mehrere dunkle Gestalten.
Beunruhigt fixierte Vlarad die Stelle, an der er die Bewegung wahrzunehmen geglaubt hatte, doch es blieb alles ruhig.
Wahrscheinlich war er lediglich müde.
Im Laufe des Sommers glaubte Vlarad noch einige Male, merkwürdige Schatten in der direkten Umgebung des Anwesens zu sehen, vor allem spät in der Nacht. Doch nie konnte er für länger als einen Augenblick Personen ausmachen, daher ignorierte er die Gestalten meist.
Als es allerdings mit dem Beginn des Herbstes früher dunkel wurde, hielt er es für sicherer, Viorica und Ana Abends drinnen zu behalten.
Die zwölfjährige Viorica gehorchte ihrem Bruder widerwillig und verlagerte ihre Fechtübungen und sonstige Turnereien einfach auf die Flure vor ihren Gemächern.
Ana hatte Vlarad leider sofort angesehen, dass ihn etwas beunruhigte, was sie wiederum zum Anlass nahm, ständig in seiner Nähe zu bleiben.
In den letzten Wochen hatte Vlarad das Gefühl, dass er immer öfter merkwürdige Schatten sah.
Einmal las er Ana eine Geschichte zum Einschlafen vor und sah dabei aus dem naheliegenden Fenster.
Ana war mit ihren zehn Jahren zwar eigentlich zu alt für die kindlichen Reime, doch Vlarad wusste, dass sie sich seit seinen Erzählungen nachts fürchtete.
Bei einem kurzen Blick nach draußen in den Innenhof stockte ihm der Atem. Hinter nahezu jeder Säule stand eine dunkle Gestalt.
Diesmal sah er ganz deutlich, dass es Personen waren. Sie alle trugen schwarze Umhänge und standen stocksteif da, als wären es Statuen.
Sie alle sahen ihm unter den langen Kapuzen direkt in die Augen.
»Vlarad, wer sind diese Leute?« fragte Ana, die neben seinen Stuhl getreten war.
Das war der Moment, in dem Vlarad Angst bekam. Bis jetzt hatte er sich stets einreden können, er bilde sich das alles bloß ein. Doch nun sah Ana die Gestalten ebenfalls.
Er zog seine kleine Schwester an sich. »Ich weiß es nicht. Es ist besser, wenn du jetzt schläfst.«
Liebend gerne würde er Ana beruhigen, ihr sagen, alles sei in Ordnung. Doch er konnte nicht.
Die Kapuzenträger hatten zwar bisher nur herumgestanden und ihn angestarrt, doch ihre bloße Anwesenheit fühlte sich bedrohlich an.
Leise löschte er die Kerze im Zimmer und schlich in sein eigenes Bett. Schlafen konnte er nicht.
Chapter 2: nox formidinis
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— 1519 —
Vlarad lag in seinem Bett und las. Es war bereits so spät nachts, dass wahrscheinlich schon der nächste Tag, also der fünfte September, angebrochen war.
In den letzten Tagen hatte er keine weiteren Schatten innerhalb der Schatten entdecken können, weshalb er sich zumindest teilweise entspannen konnte.
Gerade überlegte er, ob es Zeit war, die Kerze auszublasen und sich zur Ruhe zu legen, doch ihm fehlten nur noch wenige Kapitel, um das Buch zu beenden.
Plötzlich hörte er ein dumpfes Geräusch aus Richtung des Erdgeschosses, fast so, als wäre die schwere Eingangstür gewaltsam aufgebrochen worden.
Stocksteif saß der junge Vlarad aufrecht in seinem Bett, das Buch sofort vergessen. Angestrengt lauschte er, ob auf den lauten Knall noch weitere Geräusche folgten, oder ob vielleicht doch einfach nur etwas heruntergefallen war.
Ein paar Sekunden lang war es vollkommen still.
Dann gellte ein spitzer Schrei durch die Flure, der selbst durch die geschlossene Zimmertür hindurch viel zu laut klang. So schrie niemand, der sich einfach nur erschreckte, ganz klar.
Vlarad stand leise auf und nahm den Kerzenständer gleich mit. Er wusste, wessen Stimme er vernommen hatte, es war zweifellos die Magd Iulia, die geschrien hatte.
Dennoch führte sein Weg ihn direkt zu den Gemächern seiner Schwestern. Er schlich so leise es ihm möglich war den breiten Gang entlang und öffnete lautlos die Tür zu Anas Schlafraum.
Sofort spürte er, dass sich das kleine Mädchen an ihn drückte. Sie war wohl von dem Schrei aufgewacht, denn anders als Vlarad, der noch in seiner gestrigen Alltagskleidung gelesen hatte, trug Ana ihr weißes Nachthemd.
Vlarad legte den Zeigefinger auf seine Lippen und nahm seine kleine Schwester vorsichtig an die Hand. Doch als er sich umdrehte, stand dort jemand auf dem Flur.
Ana wollte schon aufschreien, doch Vlarad hielt ihr schnell die Hand vor den Mund.
»Leise!« zischte er, »Das ist Viorica!«
Viorica trat näher an das schwache Licht der einzelnen Kerze und offenbarte, was sie mit sich trug: ihr geliebtes Halbschwert.
»Vlarad, da sind mehrere Fremde im Erdgeschoss! Hörst du die vielen Schritte?«
Vlarad wollte gerade antworten, da durchzogen weitere Schreie die Stille. Diesmal waren es gleich drei verschiedene Stimmen, doch der hochgewachsene Junge erkannte weitere Bedienstete des Anwesens.
Ana blickte schockiert ins Leere und klammerte sich noch fester an den Arm ihres Bruders. Auch ihre älteren Geschwister waren mehr als nur beunruhigt.
Durch den nun kaum endenden Lärm flüsterte Vlarad schnell sein Ziel in die Runde.
»Lasst uns in den Ostflügel fliehen! Dort schlafen Mutter und Vater, ich bin mir sicher, dass wir uns dort am besten verstecken können.«
Viorica nickte ernst. Die drei gaben sich nun weniger Mühe, möglichst leise zu sein, durch die schrecklichen Geräusche von unten waren sie so oder so nicht zu hören.
Das Anwesen des Grafs von Dragocz beschäftige gerade einmal elf Bedienstete, doch diese Menge reichte scheinbar aus, um minutenlang Ausrufe der Todesangst durch die Hallen klingen zu lassen.
Hin und wieder klangen auch die Geräusche von Schwertern durch das Gewölbe, doch die drei Kinder des Grafen eilten unbeirrt zu ihren Eltern.
Viorica stoß die Tür des Schlafzimmers auf und Vlarad schloss sie wieder, nachdem er Ana hindurchgescheucht hatte.
In dem großen Raum standen der Graf und die Mätresse schon wach im Raum, die Angst klar und deutlich in ihren Augen erkennbar.
Graf Dragomir hatte sich eine der alten Fackeln angezündet, die sie schon länger nicht mehr benutzt hatten. Nun hielt er wie eine Waffe sie in der Hand und schwang sie prüfend hin und her.
»Kinder!« rief Parascovia besorgt und drückte sie alle drei an sich.
Doch während kurz niemand etwas sagte, fiel Vlarad plötzlich auf, dass es vollkommen still war.
Keinerlei qualvolle Rufe, keine klirrenden Klingen. Bloß die schnell lauter werdenden Schritte mehrerer Personen.
»Schnell, versteckt euch im Wandschrank! Eure Mutter und ich werden versuchen, die Räuberbande abzuwehren, macht schon!«
Der Vorschlag des Grafen gefiel niemandem so richtig, doch Vlarad beeilte sich, seine beiden kleinen Schwestern in den breiten Wandschrank zu ziehen.
Dieser erstreckte sich über die gesamte Breite des Raumes, war von innen aber leider recht schmal.
Viorica klammerte sich nach wie vor an ihr kurzes Schwert, doch Vlarad zog sie trotzdem zusammen mit Ana an sich.
Fest umarmten sich die drei Geschwister, während sie den polternden Schritten auf der Treppe lauschten.
Vlarad war sich sicher: noch nie zuvor hatte er solch eine Angst verspürt.
Er wusste ganz genau, dass dies keine Räuberbande war. Niemals würden einfache Diebe sich die Mühe machen, sämtliche Bedienstete aufzuwecken, wenn sie auch still und heimlich hätten stehlen können.
Es war zwar nur ein Gefühl in der Magengegend, aber Vlarad spürte, dass dies die Kapuzenträger aus den Schatten waren, die ihn selbst und das gesamte Anwesen nun schon seit Monaten beobachteten.
Nun waren sie hier, hatten all den Personen, mit denen Vlarad aufgewachsen war, Schlimmstes angetan und waren auf dem Weg zu seiner engsten Familie.
Er konnte nicht anders, als sich Vorwürfe zu machen. Hätte er nicht doch seinen Eltern oder Herrn Muntean von den merkwürdigen Leuten mit schwarzen Umhängen erzählen sollen?
Vlarad war nicht dumm. Er hatte gehört, was unten vor wenigen Minuten geschehen war. Ihm war daher mehr als bewusst, dass sein Vater die brutalen Eindringlinge mit seiner einen Fackel auf keinen Fall besiegen konnte.
Er hatte nicht erwartet, so früh in seinem Leben zu sterben. Doch was ihn fast noch mehr schmerzte als die Erwartung seines Schicksals, waren seine Schwestern.
Sie waren gerade einmal zwölf und zehn Jahre alt, viel zu jung für den Tod.
Alle Gedanken an vertane Momente, jemandem von seinen Sorgen zu erzählen, verflüchtigten sich mit dem selben Ruck, der die Tür des Raumes aus den Angeln warf.
Sowohl Vlarad als auch Viorica starrten angestrengt durch die Schlitze des Holzschranks, doch der Eingang war außerhalb ihres Sichtfelds.
Da erkannten sie, dass ein etwa fünfzigjähriger Mann in die Mitte des Raumes schritt. Von der Seite sah es fast so aus, als würde er lächeln.
Wie gelähmt nahm Vlarad zur Kenntnis, dass das weiße Hemd unter dem schwarzen Mantel des Mannes blutüberströmt war.
»Verschwinden Sie sofort von diesem Grundstück!« rief der Graf, doch offenbar glaubte er selbst nicht mehr, dass seine Worte befolgt werden könnten.
Graf Dragomir versuchte, sich mit der Fackel auf den Fremden zu stürzen, doch blitzschnell waren ein weiterer Mann und eine Frau neben ihm aufgetaucht und hielten ihn fest.
Zu dritt beugten sich die Eindringlinge über den Grafen und Vlarad musste sich abwenden. Er hörte auch ohne das passende Bild viel zu genau, was vor dem Schrank geschah.
Die Mätresse Parascovia schrie und weinte, doch zwei neue Gestalten schritten langsam auf sie zu. Wie viele Schwarzmäntel waren noch hier?
Ana hielt die ganze Zeit über ihre feuchten Augen fest geschlossen, doch Viorica sah wie erstarrt durch den Spalt im Holz.
Kurzerhand schob Vlarad ihr die Hand vor die Augen. Viorica wehrte sich nicht.
Diese Fremden waren keine bloßen Einbrecher, nicht einmal gewöhnliche Mörder. Vlarad sah und hörte überdeutlich, wie die fünf Schatten vor allem auf die Hälse des Grafen und der Mätresse abzielten.
Fast wie aus Freude schlitzten die brutalen Einbrecher immer neue Körperteile auf, bissen mehrfach in Kehle und Schultern der beiden Adeligen.
Parascovia schrie als hinge ihr Leben davon ab, was offensichtlich auch stimmte. Der Graf erschlaffte hingegen langsam, übel zugerichtet glitt er aus den Fängen der drei ersten Umhangträger und schlug hart auf dem Holzboden auf.
Während Vlarad wie gebannt versuchte, den ganzen Raum zu überblicken, trat eine sechste Person in den Raum. Der etwas jüngere Mann stand für einen kurzen Moment einfach nur da.
Plötzlich richteten sich schwarze Augen direkt auf den kleinen Schlitz, durch den Vlarad schaute. Schnell trat er einen kleinen Schritt zurück und hoffte, dass der Blick des Mannes nur zufällig über den Schrank geglitten war.
Doch obwohl die drei Geschwister ihre Augen fest geschlossen hielten, hörten sie die langsam näher kommenden Schritte überdeutlich.
Das Licht, das durch den Schlitz in den Schrank schien, wurde verdunkelt. Ganz kurz war es vollkommen still.
Dann hörte Vlarad den schlaffen Körper seiner Mutter auf den Boden fallen.
Das Geräusch war wie ein Startsignal. Obwohl Vlarad sie festhielt, riss Viorica sich los und riss entschlossen die Schranktür auf.
So schnell, dass Vlarad fast nur einen blitzender Wischer sah, stach ihr Halbschwert in die Schulter des Fremden.
Dieser schrie getroffen auf und riss die silberne Klinge schnell aus seiner Schulter. Heraus spritzte zwar Blut, es war aber seltsam dunkel und überhaupt nicht rot.
Noch während Vlarad den jüngeren Schwarzmantel anstarrte, hatte dieser sich von dem Stich des Schwerts erholt und Viorica fest an den Armen gepackt.
Vielleicht war es besser so, doch in diesem Moment konnte sich Vlarad nichts Schlimmeres vorstellen als das, was sich nun vor ihm abspielte.
Der Mann hatte Vioricas Arme mit einer Hand hinter ihrem Rücken fixiert und griff mit der anderen nach seinem langen Schwert. Ihr zappeln und kreischen ignorierte er dabei vollkommen.
»Nein!« rief Ana, das Geräusch zeriss Vlarad gleich ein zweites Mal das Herz.
Vor ihnen hob der Fremde sein blutverschmiertes Schwert und trennte in nur einem Wimpernschlag Vioricas Kopf von ihrem Körper.
Ein dumpfes Geräusch ertönte, als der schwere Kopf auf den Dielen aufschlug und langsam vor Vlarads Füße rollte.
Er war wie gelähmt, konnte nichts sagen, nichts schreien, nicht seine Tränen wegwischen. Nur Ana ganz fest halten.
Diese schrie und weinte, doch sie versuchte nicht mehr länger, sich von ihrem Bruder zu lösen. Stattdessen kniff sie fest die Augen zu, um nicht mehr länger in Vioricas verzerrtes Gesicht sehen zu müssen.
Plötzlich stand ein weiterer hochgewachsener Mann neben dem Henker und beide musterten die Geschwister interessiert.
Vlarads Sicht war verschwommen und seine Gedanken vernebelt, doch wie durch Watte hindurch spürte er, dass er aus dem Schrank herausgezogen wurde.
Neben ihm hatte der erste Einbrecher sein Schwert wieder weggesteckt und packte nun Ana recht unsanft an den Schultern.
Nur noch halb bei Bewusstsein musste Vlarad mit ansehen, wie er seiner Schwester die blitzend spitzen Zähne direkt in den schmalen Hals rammte.
Noch während er innerlich gegen seine eigene Benommenheit kämpfte, spürte er selbst einen stechenden Schmerz auf seiner rechten Seite, zwischen Schulter und Hals.
Dann empfingen ihn die dunklen Arme der Bewusstlosigkeit.
Chapter Text
— 1519 —
Vlarad erwachte in einem ihm völlig fremden Raum. Ohne den Kopf zu heben versuchte er, sich verstohlen umzusehen.
Es war zweifellos eine Art Kerker, mit modriger Erde und kalten Steinwänden. Weit oben erkannte er ein kleines Fenster, auf der gegenüberliegenden Seite eine schwere Eisentür.
Dann entdeckte Vlarad in einer Ecke eine große, dunkle Gestalt, die ihm direkt in die Augen sah.
Vlarad richtete sich auf, spürte aber Schmerzen im ganzen Körper, die ihn daran hinderten, vollständig aufzustehen.
Der Mann vor ihm trat aus den Schatten. Es war… sein Vater?
Graf Dragomir war nicht nur anders angezogen als in Vlarads Erinnerungen, er hatte auch eine gänzlich andere Ausstrahlung.
»Vater? W-was ist geschehen?« fragte Vlarad atemlos.
Der Graf lächelte kalt. »Ich bin nicht dein Vater. Ich bin Oberstleutnant Tudor. Aktuell verfüge ich lediglich über die Gestalt des lieben Herrn Grafen.«
Vlarad sah den fremden Mann, der für ihn äußerlich so vertraut wirkte, verwirrt an. Wie konnte das sein? Eine andere Gestalt? Der Mann hatte sogar die Stimme seines Vaters!
Doch bevor er nachhaken konnte, wurde ihm leicht schwindelig. Ihm fiel auf, dass er den Mann dafür, dass es so dunkel war, ziemlich deutlich sehen konnte.
Er blickte erneut quer durch den Raum und entdeckte noch etwas, genau auf der anderen Seite des Raumes.
»Ana!« rief er besorgt, und stürzte zu seiner Schwester.
Sie sah mieserabel aus. Man sah ihr nach wie vor an, dass sie geweint haben musste, doch das schlafende Mädchen hatte außerdem spürbar heißes Fieber.
Tudor hatte sich nicht bewegt, erhob nun aber seine Stimme. »Noch ist sie bewusstlos. Eigentlich rechneten wir damit, dass auch du noch um einiges länger schlafen würdest.«
»Wozu das alles? Was hat meine Familie euch getan?« fragte Vlarad verzweifelt.
Der Mann, der auf unheimliche Art und Weise wie sein Vater aussah, sah ihm direkt in die Augen. »Gar nichts, Herr Graf. Obwohl, bald doch hoffentlich Gefreiter, nicht wahr?«
»Was?« Normalerweise waren Vlarad kurz angebundene Fragen und alleinstehende Wörter zutiefst zuwider, aber zu viel prasselte gerade auf ihn ein.
Und hatte Tudor ihn gerade Graf genannt? Er war doch noch gar nicht—
»Es war nicht persönlich gemeint, keine Sorge. Das Vampirkaiserreich sucht immerzu würdige neue Soldaten. Ein Adelssohn im besten Alter innerhalb unseres Herrschaftsgebiets war einfach zu verlockend.«
»Warum sollte ich Soldat werden für ein Reich, das auf keiner Karte existiert?«
Der große Mann stieß eine Art Fauchen aus. »Auf keiner menschlichen Karte! In der Zwischenwelt kennt und fürchtet jedes Wesen die stetig nach außen wandernden Grenzen des Kaiserreichs!«
Vlarad war ein wenig zurückgewichen und musterte den angeblichen Oberstleutnant. Das Aussehen seines Vaters verriet ihm zwar nicht viel über den Fremden, doch Tudor wirkte ganz und gar nicht wie jemand, der Späße machte.
Er meinte das alles todernst. In diesem Moment wurde Vlarad bewusst, dass er die Existenz von Vampiren erst einmal glauben musste.
Dennoch war er noch nicht bereit, darüber nachzudenken, was diese Erkenntnis für seinen eigenen Zustand bedeutete.
Vlarad hatte insgeheim nie viel von Religion gehalten. Trotzdem behagte es ihm überhaupt nicht, nun einer Person gegenüber zu stehen, die als vermeintlicher Vampir den direkten Feind des Christentums verkörperte.
Doch bevor er sich noch weiter in seinen Gedanken verlieren konnte, erhob Tudor erneut die Stimme.
»Nun, Gefreiter Vlarad. Wach genug scheinst du ja zu sein, wir werden die Restnacht also nutzen. Ich kehre in wenigen Minuten zurück.«
Mit diesen Worten verschwand er aus der Zelle, hinter ihm fiel die schwere Tür laut krachend ins Schloss.
Neben Vlarad zuckte Ana zusammen. Langsam öffnete sie ihre Augen und setzte sich auf.
»Vlarad? Wo sind wir hier? Was ist geschehen?«
Vlarad nahm seine Schwester fest in den Arm.
»Es wird alles gut, keine Sorge Ana. Wir müssen jetzt stark sein, aber du schaffst das.«
»Wo sind wir?«, fragte Ana erneut, diesmal etwas ängstlicher. »Wo ist Viorica?«
Zum ersten Mal seit Jahren konnte Vlarad nicht verhindern, dass seine Augen feucht wurden. Er erinnerte sich viel zu genau, er wusste, warum Viorica nicht mit ihnen hier war.
Ihm war völlig klar, dass Dragomir und Parascovia die letzte Nacht auf keinen Fall überlebt hatten. Oder war es überhaupt letze Nacht gewesen?
Je länger er darüber nachdachte, desto weniger konnte er eigentlich einschätzen, wie lange sie bewusstlos gewesen waren. Waren es nur ein paar Stunden? Oder mehrere Tage?
»Viorica ist—«
Bevor Vlarad seinen Satz vervollständigen konnte und bevor er überhaupt wusste, was er Ana erzählen wollte, öffnete sich die Eisentür erneut.
Ana starrte entgeistert auf die beiden Gestalten, die den kühlen Raum betreten hatten. »Mutter? Vater?«
Oberstleutnant Tudor, der nach wie vor die Gestalt des Grafen von Dragocz besaß, lachte kurz auf.
»Nein, kleines Mädchen, zu meiner rechten steht Leutnant Viktor in der Hülle deiner Mutter.«
Ana guckte ziemlich verwirrt, doch Vlarad zog sie enger an sich. »Das sind nicht unsere Eltern, glaube ihnen.«
Der Vampir, der ihnen als Viktor vorgestellt wurde, seufzte genervt. »Tudor, uns fehlt die Zeit für all dies.«
Vlarad durchzuckte ein Schauder, als der Leutnant sprach. Er sah nicht nur aus wie die Mätresse Parascovia, er klang außerdem identisch zu ihr.
Es war nicht leicht, das Erscheinungsbild seiner Mutter von dem Fremden zu entkoppeln, doch solange er Ana im Blickwinkel sah, konnte er die abstruse Wirklichkeit einigermaßen erfassen.
Da erhob Tudor erneut die Stimme. »Sollte diese Unterredung positiv ausfallen, werdet ihr in wenigen Minuten diesen Raum verlassen dürfen.«
Vlarad richtete sich auf. Auch Ana stand etwas zittrig auf und sah ängstlich zu den beiden Fremden in vertrauter Gestalt.
»In ein paar weiteren Stunden wird eure Verwandlung zu Vampiren vollständig abgeschlossen sein. Als solche ist es eure Bestimmung, das Vampirkaiserreich zu schützen.«
Schützen? Vlarad zweifelte noch immer an der Legitimität dieses Kaiserreichs, doch er wusste, dass ein ‘nein‘ in dieser Situation bestenfalls unklug war.
»Wir befinden uns nun schon seit einigen Jahren im Krieg mit den Sippen der Werwölfe. Sie griffen uns an und missachteten unsere Grenzen.«, warf Leutnant Viktor ein.
»Wir sind die legitimen Herrscher der Zwischenwelt, die Werwölfe und Wiedergänger sind uns Vampiren natürlicherweise unterlegen.«
Oberstleutnant Tudor nickte zustimmend. »Ihr seid nun Teil der Familie des Vampirkaisers. Sprecht mir nach, Gefreiter Vlarad und Gefreite Ana.«
Die beiden Geschwister sahen ihn erwartungsvoll an.
»Alles Blut der Welten und ewige Nacht für das Vampirkaiserreich.« sprach der ältere Vampir würdevoll.
Die beiden wiederholten den Ausruf. Es war offensichtlich die beste Option, um den modrigen Kerkerraum verlassen zu dürfen.
Tudor und Viktor lächelten beide und für einen kurzen Augenblick sahen sie tatsächlich so aus wie der verstorbene Graf und seine Mätresse. Vlarad musste blinzeln, um die Illusion aus seinem Kopf zu vertreiben.
»Folgt uns«, sagte Tudor nun deutlich freundlicher und schritt aus dem Raum heraus.
Vlarad nahm seine Schwester sofort an die Hand. Nicht nur, um sie zu trösten, sondern auch, weil sie noch immer wackelig auf den Beinen stand.
Ihm selbst ging es körperlich überraschend gut, obwohl sein Hals nach wie vor ein wenig schmerzte.
Sie wurden mehrere dunkle Gänge entlanggeführt, die allesamt so aussahen, als hätte man sie direkt in den Fels geschlagen.
An ein paar Eckpunkten hingen Fackeln, doch viele der unzähligen Flure waren in vollständige Dunkelheit gehüllt.
Seltsamerweise sah Vlarad trotzdem jede Unebenheit im Boden oder an den Wänden. Und auch Ana schien keine Probleme damit zu haben, sich durch das Schwarz zu tasten.
Nach mehreren Minuten, die sich durch den eintönigen Weg wie Stunden angefühlt hatten, betraten sie einen riesigen Saal, der in schwaches Mondlicht gehüllt war.
Dieser Raum war seit der Kerkerzelle der erste, der über Fenster verfügte. Das war allerdings die einzige Gemeinsamkeit, die die extravagante Halle mit dem kleinen Raum hatte.
Ana klammerte sich ängstlich an Vlarad, als sie den Saal durchschritten.
Die eindrucksvolle höhlenartige Halle mit modernen Fenstern war fast vollständig leer, bis auf eine kleine Gruppe ganz am Ende.
Dort saß eine dunkle Gestalt auf einer Art Thron, um die Person herum mehrere Vampire, die sich alle große Mühe gaben, wichtig auszusehen.
Viktor, der bei näherer Betrachtung schon leicht größer aussah als Parascovia es war, trat einen Schritt vor.
»Vampirkaiser«, rief er ehrfürchtig und deutete eine Verbeugung an.
Ana und Vlarad beeilten sich, es ihm gleichzutun und schauten neugierig zu der Gestalt mit der Kutte auf.
Diese rührte sich kaum. »Ihr wart also erfolgreich?«
Vlarad spürte, wie seine kleine Schwester neben ihm zuckte. Die Stimme dieses Kaisers war überraschend laut durch den Raum gehallt.
»Hauptgefreiter Viorel ist leicht verletzt. Außerhalb dessen war unser Ausflug überaus ertragreich.« antwortete Tudor und deutete ausladend auf die Geschwister.
Die beiden konnten die Augen des Vampirkaisers nicht erkennen, doch sie spürten auch so, wie er sie interessiert musterte.
Einer der Männer, die um den Thron herumstanden, schaltete sich ein. »Ich gehe davon aus, dass die Familie nicht überlebt hat?«
Plötzlich sah Viktor nicht mehr ganz so selbstbewusst aus, doch Tudor blieb völlig ruhig.
Der weißhaarige Fremde sah die beiden Kinder abschätzig an.
»Die zwei sind beinahe zu jung, vor allem das Mädchen. Bis sie erwachsen sind, eignen sie sich nicht zum Kämpfen mit den anderen Soldaten.«
»Es sind Adelskinder, nicht wahr, Oberstleutnant?« fragte der Vampirkaiser.
Tudor nickte, auch er konnte nicht vollständig überspielen, dass er sich unwohl fühlte.
»Immerhin. Dann werden sie für die Zeit ihrer restlichen Kindheit im Schloss bleiben. Die wenigen Menschenjahre sind ein geringer Preis für zwei zukünftige Truppenführer.«
Eine der Vampire neben dem Kaiser wirkte überrascht. »Gebissene Vampire in Führungspositionen? Adelstitel hin oder her, erscheint euch das ratsam?«
Der Kaiser drehte leicht seinen Kopf. »Die Zeiten, in denen wir uns den Verlust von hochwohlgeborenen Vampiren leisten können, sind längst vorbei. Die zwei werden eine ihres Titels würdige Behandlung erhalten.«
»Wie Ihr wünscht. Wir werden sofort die nötigen Schritte einleiten.« antwortete Viktor und bedeutete Vlarad mit einem strengen Blick, ihm zu folgen.
Dieser zog Ana nur allzu gerne aus dem großen Saal heraus und zurück in die unübersichtlichen Gänge. Keine weitere Minute wollte er unter den kritischen Augen des Kaisers und seiner Vertrauten beurteilt werden.
Nur kurze Zeit später wurden die Flure breiter und besser ausgeleuchtet. Zum ersten Mal entdeckte Vlarad Türen an den Seiten der groben Steinwände und sah andere Leute an ihnen vorbeieilen.
Als die kleine Gruppe an zwei unscheinbaren Holztüren anhielt, hatte Vlarad bereits jegliches Zeitgefühl verloren.
Viktor deutete vage auf die Eingänge. »Hier werdet ihr schlafen. Der Morgen graut, hütet euch also davor, herumzustromern. Nach Sonnenuntergang hole ich euch zwei hier wieder ab.«
Vlarad merkte sich still, dass Vampire wohl wirklich eher lichtempfindlich waren.
Er umarmte die kleine Ana fest, bevor die beiden in ihre getrennten Räume eintraten.
Sein Raum war etwas kleiner als sein Gemach zuhause, aber immerhin konnte er von innen einen Riegel vor die Tür schieben.
In dem Raum befanden sich ein schlichtes Bett ohne Matratze oder Decke, ein Schreibtisch und ein Kleiderschrank.
In diesem lagen sorgfältig gefaltet ein schwarzer und ein violetter Mantel, sowie mehrere Garnituren an uniformartiger Kleidung.
Obwohl es höchstens zwei Stunden her sein konnte, dass er aufgewacht war, fühlte sich Vlarad müde und fiebrig.
Erschöpft legte er sich auf das unbequeme Holzbett. Genauso gut hätte er sich auch auf den Boden legen könnten, dachte er.
Er hoffte, dass Ana ebenso schnell wie er selbst einschlief.
Vlarad schreckte hoch. Er konnte nicht genau sagen, was ihn geweckt hatte, doch nun saß er hellwach auf dem brettartigen Bett.
Der blasse Junge war selbst überrascht, dass er keine Rückenschmerzen durch das Liegen bekommen hatte, doch es ging ihm sogar ziemlich gut.
Er zog sich nur leicht widerwillig die Kleidung an, die er am Morgen bereits im Schrank gefunden hatte.
Je genauer er sich seine eigenen Sachen ansah, desto sicherer war er, dass selbst eine gründliche Wäsche die Blutflecken wohl nicht entfernen konnte.
Gerade, als Vlarad sich fragte, ob er wohl nach Ana sehen durfte, klopfte es energisch an der Tür.
»Aufwachen, Gefreiter!« tönte eine Stimme aus dem Flur, die sich nur noch entfernt weiblich anhörte.
Sofort öffnete er die Tür und bemerkte zufrieden, dass Leutnant Viktor wohl überrascht war, dass er so schnell auf den Beinen war.
Rechts neben ihm tappte Ana verschlafen aus ihrer Tür. Zum Glück hatte auch sie die frische Kleidung gefunden und trug nicht mehr ihr blutiges Nachthemd.
Viktor musterte die beiden prüfend. »Eure Verwandlung müsste inzwischen abgeschlossen sein. Folgt mir.«
Die beiden trotteten dem Leutnant brav hinterher und Vlarad bemerkte erleichtert, dass Ana in dieser Nacht deutlich gesünder aussah. Der Schlaf hatte ihr wohl gut getan.
Diesmal dauerte es nicht ganz so lange, bis sie ihr Ziel erreichten. Der türlose Raum wirkte wie eine Art Aufenthaltsort, in dem schon ein paar andere Personen standen.
Interessiert bemerkte Vlarad, dass der Raum in etwa wie ein Speisesaal eingerichtet war, allerdings ohne Tische oder Stühle.
»Ihr zwei seid bestimmt hungrig, nicht wahr?« fragte Viktor vorsichtig.
Sein Tonfall ließ Vlarad sofort aufhorchen. Er klang so, als würde er sie schonend auf etwas vorbereiten wollen.
Da traten zwei der stehenden Personen hervor, die bei näherem Betrachten irgendwie komisch aussahen.
Sie trugen zwei edel wirkende Weingläser, die mit einer dunkelroten Flüssigkeit gefüllt waren.
Vlarad ahnte sofort, was sich in den Gläsern befand und wich leicht zurück.
Der Leutnant hatte dies zwar sehr wohl bemerkt, sagte aber nichts.
Eigentlich hatte der Siebzehnjährige befürchtet, sofort dazu gezwungen zu werden, das offensichtliche Blut zu trinken, doch nichts dergleichen geschah.
Nur wenige Sekunden später wurde ihm allerdings klar, warum der Vampir, der nur noch entfernt an seine Mutter erinnerte, keinen Zwang für nötig hielt.
Er roch selbst aus etwa zwei Metern Entfernung zu den Gläsern die rote Flüssigkeit.
Vielleicht lag es daran, dass er wahrscheinlich tagelang nichts gegessen hatte, doch noch nie zuvor hatte etwas in seinem Leben so appetitlich gerochen.
Es kostete ihn sehr viel Überwindung, dem jungen Mann vor ihm nicht sofort das Glas aus der Hand zu reißen.
Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, griff Ana neben ihm zu und trank ihr Weinglas in einem Zug aus.
»Das schmeckt anders, als alles, was ich bisher probieren durfte! Was ist das?« fragte sie neugierig.
Offenbar hatte sie nicht dieselben Schlussfolgerungen wie ihr Bruder gezogen, denn sie wirkte kein bisschen angewidert.
Viktor lächelte. »Keine Sorge, Gefreite Ana, du wirst in nächster Zeit noch öfter in den Genuss kommen.«
Dann sah er erwartungsvoll zu Vlarad.
Dieser hatte das ganz dringende Gefühl, dass hier für ihn eine Grenze erreicht war. Außerdem war er sich recht sicher, dass sie sich an einem Punkt befanden, an dem er keine weitere Folter zu befürchten hatte.
»Erst einmal nicht, danke.« sein Tonfall war so eindeutig, dass Viktor sofort verstand.
»Das stellt kein Problem dar. Sage uns einfach Bescheid, solltest du deine Meinung ändern.«
Irgendetwas an Viktors Unbeschwertheit ließ Vlarad vermuten, dass dieser Fall durchaus eintreten könnte. Aber er war genauso fest entschlossen, von seiner Abneigung nicht abzuweichen.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte Ana da einen der Männer mit Gläsern in der Hand.
Auch Vlarad fiel plötzlich auf, dass alle fünf Personen seltsam ausdruckslos ins Leere starrten.
»Sie können nicht antworten,« erklärte Viktor mit einem leichten Grinsen im Gesicht, »Sie reagieren nur auf Befehle.«
Als er Anas überraschten Blick bemerkte, redete er schnell weiter. »Das sind Diener der vampirischen Blutorder. Sorgt euch nicht, es geht ihnen gut.«
Damit bedeutete er den beiden, ihm aus dem Raum heraus zu folgen, und das Thema war beendet.
In den nächsten Nächten geschah überraschend wenig. Sie bekamen verschiedene Räume und Gänge gezeigt, lernten weitere Soldaten kennen und durften sich draußen sogar die Berge ansehen.
Vlarad kam sich nicht mehr ganz so sehr vor wie ein Gefangener, aber das wohlriechende Blut lehnte er nach wie vor ab.
Außerdem, obwohl er einige der Vampirsoldaten sogar ganz nett fand, hielt er es für höchst bedenklich, dass Ana so schnell Vertrauen fasste.
Trotzdem hörte er sie nachts im Raum nebenan weinen. Inzwischen war auch ihr klar geworden, dass ihre Eltern und ihre Schwester nicht mehr am Leben waren.
Als großer Bruder wollte er sie unbedingt trösten, wusste aber nicht, wie. Immerhin war der Verlust der Eltern etwas völlig anderes als eine verlorene Puppe oder Bauchschmerzen.
Außerdem litt er selbst von Tag zu Tag mehr. Während Ana brav ihre Blutrationen trank, hatte Vlarad sich nach wie vor geweigert, auch nur einen Schluck in seine Nähe zu lassen.
Nun waren sie schon eine ganze Woche lang in der Festung des Vampirkaisers, und schon in der Abenddämmerung ging es Vlarad gar nicht gut.
Er tappte aus seinem kleinen Zimmer, stolperte allerdings fast über die Türschwelle. Nicht nur fühlte er sich so schwach wie nie zuvor, er sah seine gesamte Umgebung wie durch einen blutroten Tunnel.
Nun stand er auf wackeligen Beinen vor Oberstleutnant Tudor, der ihn und Ana streng musterte.
Wahrscheinlich hatte der mittelalte Vampir mit etwas anderen Ergebnissen gerechnet.
Doch jetzt standen vor ihm ein kleines Mädchen mit so roten und tiefen Augenringen, dass darin vielleicht sogar Spinnen nisten konnten und ein fast erwachsener Junge, der sich kaum auf den Beinen halten konnte.
»Genug von Viktors netten Schubsern, so wird das nichts. Kleine Ana?«
Ana schaute ihn müde an. Obwohl sie sich deutlich mehr anstrengte, den Vampiren alles recht zu machen, als Vlarad lieb war, sah man ihr den Kummer deutlich an.
Tudor setzte ein freundliches Lächeln auf, das seine Eckzähne im Fackelschein blitzen ließ. »Du wirst heute die Grundlagen des Schwertkampfes erlernen. Ein wenig sportliche Betätigung wird dir guttun.«
Sie nickte brav und wartete, was der Oberstleutnant ihrem Bruder auftrug.
»Gefreiter Vlarad. Das hier«, er deutete auf die drei Vampire, die hinter ihm aufgetaucht waren, »sind Majorin Evghenia, Hauptmann Mihail und Feldwebel Stefan.«
Die drei rührten sich nicht, sahen Vlarad aber stumm an.
Dieser hatte Mühe, seinen Blick auf ihre Gesichter zu fokussieren, hörte aber konzentriert zu.
»Ihr kennt sie bereits aus eurem Eigenheim.« erklärte Tudor schmunzelnd, doch nur Ana sah ihn erschrocken an.
»Diese drei werden dich an die Mauern der nächstgelegenen Stadt begleiten. Wer kein Blut aus Gläsern annimmt, der muss wohl anders lernen.«
Vlarad war bei dem Wort ‘Blut’ hochgeschreckt, hatte aber keine andere Wahl, als den fremden Vampiren eine neue Treppe hinauf zu folgen.
Feldwebel Stefan stützte ihn netterweise auf den letzten Stufen, dann standen sie im Freien.
Würde er sich nicht so unfassbar krank fühlen, hätte Vlarad den nächtlichen Ausblick auf die Berge sicherlich zu schätzen gewusst.
»Also dann. Gefreiter, sieh mich an.« befahl die ranghöchste der drei Vampire ihm.
Evghenia musterte den siebzehnjährigen Vlarad mitleidig. »Hast du dich in der letzten Woche schon einmal in eine Fledermaus verwandelt?«
»W- was?« fragte dieser bloß heiser.
Die Majorin seufzte. »Nun gut, dann versuchen wir es jetzt. Konzentriere dich auf dein Innerstes und stelle dir vor, wie sich alles außerhalb dessen wandelt.«
In Vlarad regte sich Trotz. Er konnte sich kaum selbst auf den Beinen halten, wie konnte diese Frau nun von ihm erwarten, etwas völlig neues mal eben so zu schaffen?
Stefan ließ ihn los und Vlarad taumelte kurz. Dann versuchte er mit aller Kraft, ihre Worte umzusetzen.
Es klappte nicht.
»Halt, du versuchst es zu sehr. Schau mir zu, vielleicht hilft das.« mischte sich Hauptmann Mihail ein.
Wenn Vlarad sich richtig erinnerte, war das der Mann, der ihn vor sieben Tagen gebissen hatte. Er sah aus, als wäre er etwa mitte vierzig, obwohl das bei Vampiren wahrscheinlich etwas anders ablief.
Da stoß der Hauptmann einen unmenschlichen Schrei aus. Auf seiner blassen Haut wuchs schwarzgraues Fell und sofort rissen seine Kleider.
Seine Arme wandelten sich zu ledrigen vierteiligen Flügeln und er wuchs mindestens einen ganzen Meter in die Höhe.
Nur wenige Sekunden später hockte an Mihails stelle eine riesige Vampirfledermaus, die ihn mit ihren schwarzen Augen ausdruckslos anstarrte.
»Gut gemacht, Hauptmann. Hole dir doch bei unserer Rückkehr eine neue Kleidergarnitur aus unserem unendlichen Speicher an Uniformen.« kommentierte Evghenia säuerlich.
Stefan sammelte die Fetzen ein und schob sie neben die in den Felsen gehauene Tür. »Er wollte dem Gefreiten doch nur zeigen, wie es aussieht.«
»Hoffentlich nicht umsonst. Versuch es nochmal, Gefreiter!«
Vlarad schloss die Augen, um nicht mehr länger von seiner verschwommenen Sicht abgelenkt zu werden.
Er versuchte, sich vorzustellen, wie sich die übergroßen knochigen Flügel anfühlten. Wie seine Haut von Fell verdeckt werden könnte.
Es war deutlich schmerzhafter als erwartet. Bei Mihail hatte die Verwandlung einigermaßen entspannt ausgesehen, doch Vlarad spürte jeden einzelnen Knochen, der sich neu formte.
Dann hatte er es geschafft. Er kauerte auf den schwarzen Steinen und bemerkte, dass auch Stefan und Evghenia als ähnlich große Fledermäuse neben ihm hockten.
Der Feldwebel hatte einen Sack zwischen den Klauen, den Vlarad nicht richtig einordnen konnte.
Doch da erhoben sich Evghenia und Mihail schon in die Luft und flatterten in einer ungeheuren Geschwindigkeit nach Osten.
Ohne wirklich eine Wahl zu haben, schlug Vlarad testweise ein paar Mal mit den Schwingen.
Zusammen mit Feldwebel Stefan hob er ab und folgte den beiden ranghöheren Vampiren.
Dss Fliegen war deutlich anstrengender als erwartet. Als Kind hatte er sich oft gefragt, wie Vögel wohl flögen, aber so stressig war es in seinen Träumereien nie gewesen.
Dennoch konnte er sich irgendwie oben halten, obwohl er sich kraftloser denn je fühlte.
Außerdem sah er kaum etwas. Er hatte einmal einen Schrei ausgestoßen, um sich so zu orientieren, wie Fledermäuse es für gewöhnlich taten, doch so hoch zwischen den Wolken war er völlig orientierungslos und konnte bloß den anderen folgen.
Nach nur wenigen weiteren Sekunden verloren sie rasch an Höhe. Mihail — oder war es Evghenia? — führte das Quartett zu einer Art Felsvorsprung, der erschreckend nah an einigen Häusern lag.
Die Landung war hart, aber nicht besonders schmerzhaft. Noch bevor Vlarad sich überlegen konnte, wie er sich nun zurückverwandelte, öffnete Stefan mit den scharfen Krallen zielsicher seinen Sack.
In ihm befanden sich mehrere Garnituren Kleidung, wie Vlarad verschwommen erkannte.
Eine der anderen beiden Fledermäuse fischte unbeholfen eines der Bündel aus dem Haufen heraus und stakste hinter einen knorrigen Baum.
Nur wenige Sekunden später trat die Majorin in vollständiger Uniform vor ihnen und zog sich ihre schwarze Kapuze über den Kopf.
»Na los, einer nach dem anderen. Wir haben nicht viel Zeit.«
Nachdem auch die anderen beiden Vampire rückverwandelt und umgezogen an der Felskante kauerten, zog sich Vlarad endlich hinter die paar wenigen Bäume zurück.
Glücklicherweise ging die Rückverwandlung deutlich einfacher vonstatten als die Aktion vor der Festung, sodass er recht schnell zu den anderen dreien stieß.
Obwohl er wieder den roten Tunnel vor Augen hatte, erkannte Vlarad die Stadt vor ihm. Sie waren offenbar innerhalb von wenigen Sekunden aus einem Berg in den Karpaten heraus bis hin zum Stadtrand von Suceava geflogen.
»Wozu sind wir hier?« fragte Vlarad leise in die Runde.
Evghenia sah ihn genervt an. »Wir sind hier, weil der feine Fürstensohn sich zu lange geweigert hat, zu akzeptieren, dass er für sein Überleben Blut trinken muss.«
Vlarads Kopf hämmerte, doch er verstand so langsam. »Aber… Warum sind wir dann hier und nicht in dem Raum mit den Blutgläsern?«
»Du bist vollkommen ausgehungert. Denkst du wirklich, eine der kleinen Rationen aus dem Schloss würde in deinem Zustand ausreichen?« fragte Mihail belustigt.
Da schlenderte ein Mann aus der Häusergruppe heraus. Seiner Kleidung nach zu urteilen war er mindestens arm, wenn nicht sogar obdachlos.
»Still jetzt! Der ist perfekt.« zischte Evgehnia.
Ganz leise schlich die Gruppe zwischen die Bäume.
Stefan sah aufmunternd zu ihm herüber. »Nun denn, Verweigerer vor.«
Vlarad wollte protestieren, doch da war der Mann schon etwas zu nah an seiner Deckung entlang gelaufen.
Der frisch gebackene Vampir konnte sich nicht daran erinnern, jemals so intensiv einen Menschen gerochen zu haben.
Er hörte das Blut im Körper des Fremden rauschen, sah die Ader am Hals pulsieren, spürte den Drang danach, sich auf ihn zu stürzen.
Der Mann war nur noch etwa eine Armlänge von Vlarad entfernt, als dieser zupackte.
Mit einer Geschwindigkeit, die er selbst nicht von sich erwartet hätte, hatte er bereits einen Arm und den Kopf gelegt.
Direkt vor ihm lag der Hals des Mannes frei, fast wie eine Einldung.
Vlarad biss instinktiv zu. Seine messerscharfen Eckzähne glitten direkt durch die Haut und durchbohrten die Halsschlagader.
Sofort schmeckte er Blut und fühlte sich so erfrischt, dass er den Schmerzensschrei des Landstreichers vollständig ausblendete.
Später würde der junge Vampir die Erfahrung seines ersten Bisses als eine Art sprudelnden Rausch bezeichnen. Er war wie in Trance, während er an der tiefen Halswunde saugte und saugte, bis der Mann verstummte.
Etwas außer Atem löste sich Vlard von dem blutleeren Körper und sah dabei zu, wie sich die roten Umrisse in seinem Sichtfeld langsam klärten.
Dann sah er hinunter auf den Toten und zuckte zurück. Ganz kurz flackerte in seinem Kopf das Bild seiner Eltern auf, wie sie ebenfalls zu Boden geglitten waren.
Wie konnte es ihm gleichzeitig so viel besser und so viel schlimmer gehen?
Hauptmann Mihail trat neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter. »Gut gemacht. Als hättest du nie anders gespeist.«
»Sorge in Zukunft dafür, dass man solche Schreie nicht hört. Wir müssen nun schnell von hier weg.« merkte die mittelalte Majorin missbilligend an.
»Einen Moment noch.« bat Mihail und hob den toten Körper hoch.
Er zog mit der freien Hand sein silbernes Schwert und durchtrennte mit nur einem zielsicheren Hieb den Hals des armen Mannes.
Vlarad wandte sich ab. Obwohl er zugeben musste, dass das konsumierte Blut ihm neue Kraft einflößte, kämpfte er mit seinem Würgereiz.
Stefan sah ihn mitleidig an. »Gewöhne dich lieber an den Anblick. Die Quote von euch vollständig ausgesaugten Menschen, die später als Vampire aufwachen, ist relativ hoch.«
»Um das zu verhindern, hilft nur ein abgetrennter Kopf.« ergänzte Evghenia.
Sie sah Vlarad scharf an. »Haben wir unsere Lektion gelernt, Gefreiter?«
Kurz schwieg Vlarad. Doch unter dem scharfen Blick der Majorin erkannte er schnell, dass seine Situation vollkommen auswegslos war.
»Ja, haben wir.« antwortete er matt.
»Gut. Dann lasst uns zurückfliegen.«
Mihail verscharrte die blutleere Leiche unter etwas Laub, kaum dass er wieder zur Riesenfledermaus wurde. Vlarad mochte kaum hinsehen, so schuldig fühlte er sich.
Die vier waren längst zurück in den Tiefen der Karpaten, als der Tote entdeckt wurde.
In den folgenden Wochen und Monaten bevorzugte Vlarad soweit er konnte die edlen Blutgläser in der Vampirfestung.
Doch er selbst und auch Ana kamen nicht umher, hin und wieder in den umliegenden Dörfern und Städten den ein oder anderen Menschen zu jagen.
Ihnen wurde beigebracht, nach jedem Opfer das Mal der Vergeltung zu hinterlassen — drei daumenlange und fingerkuppentiefe Krallenkratzer.
Vlarad fühlte sich nach wie vor schrecklich dabei, doch lieber befolgte er die Befehle der Vampire, als noch einen solchen Ausflug mit der Majorin antreten zu müssen.
So verging Monat um Monat und die zwei Geschwister gewöhnten sich nicht nur vollständig ein, sondern wurden auch zu einem festen Bestandteil der Reservearmee des Vampirkaiserreichs.
Sie trugen nun die offiziellen Uniformen des Kaisers und erhielten beide ein eigenes Silberschwert.
Obwohl sie bisher noch keinen einzigen Werwolf gesehen hatten, waren diese die erklärten Hauptfeinde des Kaiserreichs und deswegen galt es, für den Kampf gewappnet zu sein.
— 1522 —
Vlarad schlich kurz vor dem winterlichen Sonnenaufgang durch die verworrenen Gänge der inzwischen vertrauten Festung, als ihm das Geräusch von Fußstapfen entgegen schallte.
In den letzten drei Jahren hatte er große Teile des Bergs erforscht und kannte nun die meisten Vampire namentlich, doch um diese Uhrzeit waren die Wege für gewöhnlich wie leergefegt.
So weit entfernt von jeglichem Tageslicht die tief in den Stein gehauenen Flure auch waren, niemand wollte das Risiko eingehen, von einem Sonnenstrahl getroffen zu werden.
Da marschierten gleich vier Vampire in den Schein der Fackeln.
Drei davon erkannte er als Unteroffiziere, die hin und wieder bei Schwertübungen erschienen waren, doch die vierte Vampirin begegnete ihm nun zum ersten Mal.
Sie sah etwa zwanzig Jahre älter aus als er selbst, doch er hatte gelernt, dass Alter bei Vampiren eine komplexe Angelegenheit war.
Doch viel auffallender war, dass sie, anders als die drei Vampire neben ihr, keine Soldatenuniform anhatte. Stattdessen trug sie ein edles Kleid mit aufwendigen Stickereien.
Sofort wurde Vlarad klar, dass diese Frau wohl eine Angehörige des vampirischen Hochadels war, der dem Vampirkaiser nahe stand. Er hatte sich schnell zusammengereimt, dass diese ausgewählte Gruppe als Vampire geboren worden waren.
Es war zwar alles andere als unüblich, dass auch gewöhnliche Soldaten des Kaiserreichs von adeliger Anstammung waren, doch zählten diese in der Regel nicht zu dem kleinen Personenkreis, der sogar politischen Einfluss hatte.
Er machte dem kleinen Grüppchen Platz, in Erwartung, dass die vier Vampire einfach an ihm vorbeimarschieren würden.
Stattdessen hielt die Frau mit der ungewöhnlichen Kleidung direkt vor ihm an und musterte ihn.
»Wer ist das?« fragte sie die anderen drei Vampire, ohne den Blick von Vlarad abzuwenden.
Einer, Vlarad meinte, er hieße Friederich, antwortete leicht nervös. »Obergefreiter Vlarad. Der ist jetzt schon seit drei Jahren hier—«
Die Adelige hob die Hand. »Genug, es wird bald hell.« Lächelnd wandte sie sich noch einmal zu Vlarad. »Ihr solltet euch beeilen, wir brauchen unsere Soldaten vollständig und unverbrannt.«
Vlarad lief ein Schauer über den Rücken. Die kleine Gruppe war schon um die Ecke gebogen, als er selbst weiterlief.
Diese Vampirin war ihm nicht geheuer.
— 1525 —
Der Krieg zwischen Vampiren und Werwölfen war von Monat zu Monat weiter vorangeschritten.
Vlarad und Ana waren nach wie vor nicht aus der Festung herausbestellt worden, doch sie sahen die Auswirkungen der zahlreichen Konflikte deutlich.
Fast täglich wurden schwer verletzte Soldaten durch die Tore in den Berg hineingetragen, teilweise sogar noch in Fledermausgestalt.
Der einzige Grund, warum sie bisher keine Toten gesehen hatten, lag wohl darin, dass Vampire sofort zu Staub zerfielen, sollten sie sterben. Die Verstorbenen blieben also am Ort des Geschehens.
Ana war inzwischen fest entschlossen, eines Tages auch für das Kaiserreich in die Schlacht zu ziehen, was ihr großer Bruder mit Sorge zur Kenntnis nahm.
Trotz Anas Eifer hoffte Vlarad inständig, sie würden noch länger im Schloss bleiben dürfen.
Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Es war eine bewölkte Halbmondnacht im Oktober, als Tudor die Geschwister in voller Montur auf den Landeplatz beorderte.
»Eine der kleineren Werwolfsippen der Umgebung ist im Westen tief in unser Reich eingedrungen. Der Moment ist für euch gekommen, euch als Soldaten zu beweisen!«
»Wir schaffen das!« rief Ana enthusiastisch. Sie war erst sechzehn Jahre alt, doch in den letzten Jahren deutlich aus sich selbst herausgekommen und strahlte nun vor Tatendrang.
Gemeinsam mit etwa hundert weiteren übergroßen Fledermäusen flatterten Ana und Vlarad also durch die Karpaten, bis die Gruppe eine Talsenke ansteuerte.
Schon von weitem entdeckte Vlarad die struppigen Werwölfe, die unverwandelt auf der Lichtung umherschlichen.
Obwohl sich die Sippe von fünfzig Werwölfen zur aktuellen Mondphase nicht ohne weiteres verwandeln konnte, sahen sie trotzdem furchterregend und gefährlich aus.
Dann ging alles sehr schnell.
Natürlich hatten die wölfischen Untoten die dunklen Schatten am nächtlichen Himmel entdeckt, doch die Vampire landeten trotzdem fast alle hinter den vereinzelten Bäumen um das Tal herum.
Innerhalb von nur wenigen Sekunden hatten sie sich zurückverwandelt und angezogen, um gleichzeitig unter der Führung von Majorin Evghenia hervorzustürmen.
Mit gezücktem Silberschwert rannte Vlarad einen Hügel hinab, genau auf die gegnerischen Werwesen zu.
Im Augenwinkel achtete er immerzu auf Ana, doch da traf zwischen ihnen ein Vampir auf einen riesigen Werwolf.
Nur im Vorbeirennen sah Vlarad, wie ein beharrter Arm durch die Luft flog.
Für ein paar Momente war er vollkommen orientierungslos. Von überall drangen Kampfschreie an seine empfindlichen Ohren und um ihn herum sah er Untote, die sich in irrer Geschwindigkeit bekämpften.
Direkt vor ihm raste Tudor auf einen Mann mit stechend gelben Augen zu. Dieser holte aus, um dem Oberstleutnant die langen Klauen überzuziehen, doch er kam nicht dazu.
Schon hatte Tudors Silberschwert das Herz des Werwolfs durchbohrt und der Mann fiel schlaff zu Boden.
Da traf Vlarad ein hieb von rechts, der ihn mehrere Meter wegschleuderte. Blind schwang er sein Schwert in die ungefähre Richtung, erwischte aber nur den Mantel eines Werwolfs.
Als er sich wieder orientiert hatte, entdeckte er Ana direkt neben sich, wie sie konzentriert auf einen großen Mann starrte, der ihr den Rücken zugekehrt hatte.
Er stellte sich neben sie und nickte ihr zu. Wie abgesprochen stürzten sich beide gleichzeitig auf den Hünen, der unter ihrem gemeinsamen Gewicht gerade mal zuckte.
Ein unmenschlicher Schrei entwich dem Mann und er versuchte, die beiden abzuschütteln.
Ana traf mit ihrem Schwert immer wieder die Schultern des Ungetüms, doch diese waren von eisernen Schutzpanzern bedeckt.
»Von vorn, Ana!« rief Vlarad ihr zu, der sich etwas neben ihr an dem buschigen Fellmantel festkrallte.
Genau gleichzeitig schnitten ihre silbernen Klingen durch die Brust des Fremden. Er fiel glücklicherweise nach vorne, sodass die zwei nicht unter dem großen Mann begraben wurfen.
Erstaunt starrte Vlarad auf den toten Werwolf. Sie hatten ihn tatsächlich gemeinsam besiegt!
Doch noch bevor er seine Gedanken sammeln konnte, wurde er von einem ihm entfernt bekannten Vampir angerempelt, der gerade einen fliehenden Wolfsmenschen verfolgte.
Schnell wich er zur Seite und suchte nach einer neuen Aufgabe.
Doch gerade, als ihm auffiel, dass er nun signifikant weniger Werwölfe erspähte, ertönte ein schriller Fledermausachrei.
»Flieht nur, Gesocks!« rief die Majorin den restlichen Männern nach, die in Richtung Osten rannten.
Nur wenige Augenblicke nachdem der letzte Werwolf das Tal verlassen hatte, brach Jubel unter den Vampiren aus.
Ana grinste ihren Bruder weit an. »Wir haben es geschafft!«
Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile lächtelte Vlarad zaghaft. Die vielen Leichen im Gras bemerkte er kaum.
Notes:
Das längste Kapitel bisher, hups :,D aktuell schreibe ich an Kapitel 9 und kann schonmal entwarnen (oder entschuldigen, je nach dem xD), dass die nächsten Kapitel erst einmal wieder kürzer werden!
Chapter 4: omnis sanguis mundorum nox aeternaque
Chapter Text
— 1525 —
Die zahlreichen Konflikte um die Karpaten herum hatten kein Ende genommen. Inzwischen munkelte man sogar, Wiedergänger würden sich an dem Krieg beteiligen wollen.
Bisher hatte sich diese größte Gruppe von Untoten aus den Auseinandersetzungen zwischen Vampiren und Werwölfen herausgehalten, doch einige Späher wollten zuletzt Zombies auf den Schlachtfeldern gesichtet haben.
Doch trotz dieser Gerüchte ließen die Schlachten nicht nach, ganz im Gegenteil.
Es war also nicht unüblich, dass Vlarad und Ana nun in einer dunklen Ecke des Schwarzwaldes kauerten und auf Mihails Signal zum Angriff warteten.
Die beiden waren nach wie vor alles andere als kampferfahren, doch nachdem sie die ein oder andere Schlacht überstanden hatten, waren sie nun fester Bestandteil der kaiserlichen Truppen.
Vlarad starrte konzentriert durch die Sträucher hindurch, in der Hoffnung, einen der Werwölfe zu erspähen, die zwei vampirische Gefreite ermordet haben sollten.
Besorgt blickte er dabei auch auf den Vollmond, der den tiefen Schnee beinahe zum leuchten brachte. Die Bedingungen für einen Kampf waren wirklich ungünstig.
Da sah er mehrere riesenhafte Schemen durch die Schneedecke pflügen. Mindestens zwanzig verwandelte Werwölfe, die sich entgegen ihrer Natur auch an Vollmond zusammengeschlossen hatten.
Trotz ihrer Überzahl bezweifelte Vlarad, dass dies ein einfacher Kampf werden würde.
Noch während er nachdachte, hörte er einen fledermausartigen Schrei aus einer der Baumkronen.
Kaum eine Sekunde später hatte sich eine ganze Schar von gigantischen Fledermäusen aus den Schatten der Wipfel geschält und war auf die Werwölfe zugerast.
Sie landeten nicht auf dem Boden, sondern stachen und kratzten nur, bevor sie wieder aufstiegen und erneut zum Angriff ausholten.
Während die beharrten Wolfsungetüme noch wütend nach den Fledermäusen schlugen, stürmten die restlichen Vampire aus dem Unterholz.
Die silbernen Schwerter und Lanzen hatten es nicht leicht gegen das dicke Fell der verwandelten Werwölfe, doch von irgendwo her konnte Vlarad schon erstes Blut riechen.
Er schlug mal hier und mal dort zu, schaffte es aber nie, einen der Wölfe hart zu treffen.
Da hörte er Ana seinen Namen rufen.
»Vlarad, sieh her! Ich habe ihn ganz alleine bezwungen!« schrie sie stolz und deutete auf den toten Werwolf zu ihren Füßen, der auch in diesem Zustand noch riesig aussah.
Doch bevor Vlarad sich für sie freuen konnte, entdeckte er einen weiteren struppigen Wolf, der sich ihr schnell von hinten näherte.
»Pass auf Ana!—«
Es war knapp, doch sie hatte den Feind rechtzeitig bemerkt. Flink wich sie zur Seite und lächtelte Vlarad stolz an.
Dieser wollte sich gerade entspannen, als Anas Miene sich wandelte.
Ein weiterer verwandelter Werwolf hatte sich an sie herangeschlichen und ihr mit einem gezielten Prankenhieb in den Brustkorb geschlagen.
Nach einer kleinen Schocksekunde, in der die Zeit stillzustehen schien, riss der Wolf seine Tatze wieder heraus, Anas Herz fest in seinen Krallen.
Das Mädchen schwankte leicht, bevor sie zur Seite kippte.
»NEIN!—« schrie Vlarad, als er den Aufprall mit dem Boden hörte. Vor seinen Augen wurde ihr Gesicht bereits grau, einzelne Haare brachen, als wären sie nichts als grauer Sand.
Schneller, als er selbst mitdenken konnte, war er die mehreren Meter zu ihr gerast. Er machte erst hinter dem gigantischen Wolf halt, der nun ebenfalls taumelte.
Wie durch einen Nebel stürzte er sich auf den zweiten Werwolf, stach mit seinem Schwert tief in den Nacken des Ungetüms, bis es vorne herausstach.
Zusammen mit dem toten Wolfsmenschen stürzte er zu Boden und konnte sich nur schwer wieder aufrappeln.
Da sah er im Augenwinkel, wie Ana leicht zuckte.
Vlarad humpelte zu seiner Schwester und beugte sich über sie.
Zitternd öffnete sie ihre Lippen und Vlarad hatte es nur seinem vampirischen Gehör zu verdanken, dass er sie durch die Kampfesschreie neben ihm hören konnte.
Sie hustete, bekam jedoch ein paar letzte Worte hervor. »Alles Blut der Welten und ewige Nacht für das Vampirkaiserreich.«
Vlarad liefen Tränen aus den Augenhöhlen, als er antwortete. »Alles Blut der Welten und ewige Nacht für das Vampirkaiserreich.«
Vollkommen leer beobachtete er, wie Anas Leiche sich immer gräulicher färbte, bis sie schließlich zerfiel und nur noch Asche und Staub auf dem Schnee lag.
»Vorsicht!« hörte er Stefan brüllen, der ihn zur Seite stieß, nur wenige Sekunden bevor ein Wolf seine Schulter abgerissen hätte.
Da erklang ein ohrenbetäubender Schrei von oben. Eine der Fledermäuse hatte das Signal zum Rückzug gegeben.
Trotz ihrer geringen Anzahl hatten die Werwölfe sich nicht besiegen lassen und die vampirischen Truppen hatten zahlreiche Verluste zu melden.
Auf dem Rückflug fühlte Vlarad sich, als wäre auch ein wichtiger Teil von ihm selbst im Schnee geblieben.
Chapter 5: inanis sepulchrum
Chapter Text
— 1526 —
Es waren mehrere Monate vergangen, bis Vlarad auch nur die Zeit gehabt hätte, ernsthaft um Ana zu trauern.
Als er endlich einmal eine ganze Nacht ohne den allgegenwärtigen Krieg oder Tod verbringen durfte, flog er alleine in östliche Richtung.
Selbst in Fledermausgestalt erschauderte er, als das ehemalige Anwesen seiner Familie sich unter ihm ausbreitete.
Es war offensichtlich, dass sich nach der schicksalhaften Nacht vor sieben Jahren niemand mehr groß um die Festung gekümmert hatte. Selbst nach so kurzer Zeit gab es bereits erste Anzeichen von Verfall.
Er landete im überwucherten Innenhof und zog sich schnell an. In der Mitte der freien Fläche entdeckte er fünf grob gehauene Steine, an die er sich nicht erinnerte.
Als er näher trat, musste Vlarad schlucken. Der hintere Stein zeigte elf filigran gemeißelte Namen, die er schnell als die Bediensteten des Anwesens identifizieren konnte.
Die vorderen vier Grabsteine waren nicht so dicht beschrieben, sie hatten jeweils nur einen Namen auf ihrer glatten Vorderseite.
Jeder von ihnen stand für eines seiner verstorbenen Familienmitglieder. Seine Eltern, Viorica, Ana… und eines für ihn selbst.
Betreten starrte er auf die Gräber. Er wusste, dass zwei von ihnen leer waren, dennoch tat der Anblick weh. Zu sehen, dass die Person Vlarad für die Welt der Menschen vor sieben Jahren gestorben war.
Doch seine Aufmerksamkeit galt vor allem Anas Grabstein. Auch ihr Todesdatum war zu früh angesetzt, aber der Stein sagte die Wahrheit über ihr Verbleiben aus.
Vlarad hatte es zu seiner eigenen Überraschung schnell geschafft, nicht mehr dauernd an seine Eltern und Viorica zu denken. Wahrscheinlich, weil sich dabei zwangsweise die Gesichter von Tudor und Viktor vor sein Auge schoben.
Anas Tod jedoch war frisch. Sie war seine letzte Erinnerung an sein vorheriges Leben gewesen, sein Anker inmitten der tiefen Dunkelheit des Kaiserreichs.
Erneut dachte er an ihre letzten Worte. Sie hatte ihn aufgefordert, weiterzukämpfen. Für ihre neue Familie, der Ana viel schneller als er selbst ihr Vertrauen geschenkt hatte.
Und was blieb ihm anderes übrig?
Ein letztes Mal betrachtete der inzwischen erwachsene Vampir den Innenhof und die überwucherten Fassaden. Er würde wohl nicht noch einmal die Gelegenheit haben, herzufliegen.
Seufzend verwandelte er sich zurück und machte sich auf den Rückweg zu seinem neuen Zuhause.
— 1530 —
Alles um Vlarad herum war laut. Neben ihm zerfleischte ein riesenhafter Zombie einen Werwolf, hinter ihm kämpften mehrere Vampire gegen schreiende Poltergeister.
Es war kein Geheimnis mehr, dass der Krieg zwischen Vampiren und Werwölfen zu etwas Größerem geworden war. Die gesamte Zwischenwelt sprach inzwischen ganz offen von einem Werweltkrieg.
Einer, an dem sich auch Wiedergänger beteiligten und allen Seiten zahllose Verluste bescherten.
Auch in dieser Nacht fand sich Vlarad in einer Schlacht gegen diverse andere thaumaturgische Wesen wieder und erstach Werwolf um Werwolf.
Nach einem weiteren geschickt gesetzten Stich mit seiner Silberklinge gegen einen struppigen Werwolf versuchte er, sich einen Überblick zu verschaffen.
Wo war Stefan? Der Hauptfeldwebel hatte sich in den letzten Jahren als tapferer Mitstreiter herausgestellt, der Vlarads Angriffe perfekt ergänzte.
Er entdeckte seinen Verbündeten mehrere Meter entfernt, umzingelt von schicksalsgebundenen Gespenstern.
Obwohl Emergia keine feststofflichen Wesen waren und deswegen keinen Vampir physisch verletzen konnten, waren sie dennoch gefährliche Gegner.
Gerade wirkte einer der leicht durchsichtigen Erscheinungen eine Art Fesselzauber, der dem Hauptfeldwebel sichtbare Schmerzen zufügte. Parallel dazu flackerten die anderen vier Geister um ihn herum, verwirrten seine Augen und blendeten ihn.
»Stefan!« schrie Vlarad, während er sich durch die Menge der kämpfenden Wesen hindurchdrängelte. Er hatte längst gelernt, dass nicht jede tödliche Gefahr von purer Muskelkraft ausgehen musste.
Er war zu spät. Noch bevor er einen Weg durch das Gerangel gefunden hatte, schlang sich die grünliche Kette immer enger um den Hals seines Kameraden.
Mit einem unschönen Geräusch schnitt sie schließlich durch Stefans Hals, sodass sein Kopf kurz in die Luft flog und daraufhin im schlammigen Boden landete. Dort löste er sich nach nur wenigen Sekunden in Asche auf.
Verzweifelt rannte Vlarad die letzten Meter zum Ort des Geschehens. Die gesamte Situation kam ihm unangenehm vertraut vor. Doch dieses Mal weinte er nicht.
Stattdessen funkelte er die nebulösen Emergia wütend an. »Das hier ist nicht euer Krieg! Ihr bringt nichts als Verderben, Wiedergänger!«
Der Emergus, der den Kettenzauber gewirkt hatte, lachte schallend. »Typisch Vampir, keinerlei Verständnis für die Vergangenen.«
Da sprang Vlarad auf den Geistermann zu, der sich selbstverständlich nicht rührte. Vlarad sah nach wie vor nicht allzu alt aus, was sollte dieser Jungvampir ihm schon anhaben?
Und mit dieser Annahme lag er richtig. Vlarad hatte es bisher noch nie fertiggebracht, außer Blut auch untote Lebensenergie zu saugen.
Doch er hatte es auch noch nie versucht. Der Vampir öffnete leicht den Mund und konzentrierte sich auf die thaumaturgische Macht direkt vor ihm.
Schneller, als er selbst begriffen hatte, was er genau tat, begann der Emergus vor ihm, immer blasser zu werden.
Gleichzeitig spürte er einen Energieschub tief in sich, der ihm neue Kraft gab.
Der Geist war mit einem schmerzerfüllten Schrei vollkommen verblasst, ohne dass Vlarad ihn auch nur berührt hätte. Er hatte es wohl endlich geschafft, untote Lebensenergie von thaumaturgischen Wesen zu beziehen.
Überrascht sah er sich um und erkannte, dass die übrigen Emergia mehrere Meter zurückgewichen waren.
Er lächelte, auch wenn ihm ganz und gar nicht danach zumute war. »Verschwindet! Das Vampirkaiserreich herrscht hier!«
Tatsächlich flogen die durchsichtigen Wesen blitzschnell davon und verschwanden zwischen den grauen Wolken.
Traurig sah Vlarad kurz auf den Haufen Staub, der bis vor wenigen Momenten noch ein Untoter gewesen war. Doch wie so oft fehlte ihm die Zeit, sich ernsthaft mit dem Tod seines Freundes zu beschäftigen.
Stattdessen stürzte er sich erneut in die tobende Schlacht, um seinen übrigen Kameraden zur Hilfe zu eilen.
— 1532 —
Vlarad hockte auf einem Baum und ärgerte sich. Er war gereizt, dass seine Truppen den Befehl erhalten hatten, sich zu verstecken, bis eine bestimmte Werwolfssippe zufällig diese Route einschlug.
Es war nicht so, als hätte er persönlich ein Problem damit, länger in einem Baum auszuharren, auch wenn Stabshauptmann Viktor der Meinung war, so etwas sei unter der Würde eines Vampirs.
Nein, ihn ärgerte es, dass sie nun seit über drei Stunden warteten, obwohl er selbst einen viel sinnvolleren Schlachtplan entworfen hatte. Niemand konnte garantieren, dass die Werwölfe überhaupt von nördlicher Richtung aus kommen würden.
Gerade, als er sich resigniert von dem hohen Nadelbaum fallen lassen wollte, hörte er ein leises Knacken. Ein menschliches Ohr hätte wohl nichts vernommen, doch Vlarad bemerkte gleich mehrere Geräusche aus der völlig falschen Richtung.
Schnell gab er einem untergeordneten Vampir im Baum neben ihm ein Handzeichen und sämtliche Anwesenden zogen vorsichtshalber ihre Schwerter.
Das trappelnde Geräusch von näherkommenden Schritten wurde immer lauter, bis sie schließlich die Wolfssippe erspähen konnten.
Viktor war bereits drauf und dran, sich hinunter auf einen Wolfsrücken zu stürzen, als Vlarad ihn telepathisch kontaktierte.
‘Halte ein! Da stimmt etwas nicht!‘
Zum Glück hielt der ältere Vampir inzwischen viel von seiner Meinung, sodass er ruhig in dem Geäst hängen blieb und wartete.
Vlarad beobachtete die rennenden Werwölfe angestrengt. ‘Sie bemerken uns nicht, fast so als würden sie vor etwas fliehen.‘ telepatierte er.
‘Wovor sollten die sonst so furchtlosen Sippen der Werwölfe denn fliehen?‘ fragte Viktor, ebenfalls auf telepathischem Wege.
Einige Sekunden lang beobachteten die Vampirsoldaten die auf dem Waldboden rennenden Werwölfe. Dann war es kurz sehr ruhig.
»Ich rieche Blut« flüsterte der Gefreite neben Vlarad.
Dieser konzentrierte sich und bemerkte ebenfalls einen leicht metallischen Duft, der sich immer deutlicher von den üblichen Gerüchen des Waldes abhob.
Da hob sich plötzlich eine weiße Gestalt vom Nachthimmel hervor und näherte sich mit einem ungeheuerlichen Tempo.
»Weg hier!« brachte Viktor hervor und zerfetzte seine Uniform, indem er sich im Sprung in seine Fledermausgestalt verwandelte.
Vlarad folgte ihm ebenso schnell wie die knapp fünfzig anderen versteckten Vampire in dieselbe Richtung, in welche die Werwölfe bereits geflohen waren.
Noch während des Flugs arbeitete Vlarads Gedächtnis fieberhaft. Was war das für eine Erscheinung?
Er hatte durch seine allmorgendlichen Begutachtungen der privaten Büchersammlung des Vampirkaisers eine gewisse Ahnung, aber noch hielt er es für zu absurd, an eine himmlische Erscheinung zu denken.
Trotz ihrer schnellen Geschwindigkeit spürte er, dass ihnen das weiße Wesen dicht auf den Fersen war.
Unter sich erblickte der Fledermausschwarm ein kämpferisches Gewusel. Die Werwölfe waren genau in die zweite Truppe der Vampire gelaufen und mussten sich nun gegen silberne Schwerter und spitze Zähne wehren.
Verzweifelt stürzte Vlarad sich zusammen mit den anderen Fledermäusen hinunter, um ihre unwissenden Kameraden vor dem weißen Wesen zu warnen.
Zu ihrem Unglück waren diese gerade vollauf damit beschäftigt, die Werwolfssippe zu bekämpfen, die nun ebenso aggressiv zurückschlug.
»Hört uns zu!« schrie Viktor, der seinen Kopf teilverwandelt hatte, doch sein Ruf verhallte zwischen all den anderen Schlachtschreien ebenso sehr wie Vlarads »Ein weißer Dämon verfolgt uns!«
Denn so sehr es ihm auch Angst bereitete: Was sonst sollte es sein? Leider würde er mit seiner Vermutung Recht behalten.
Nur wenige Augenblicke nachdem Vlarad, nach wie vor in Fledermausgestalt, dem brutalen Prankenhieb eines Werwolfs auswich, ertönte eine blecherne Stimme von weit oben.
»Untotes Ungeziefer, ich wurde gesandt um über euch niedere Kreaturen des Teufels zu richten!«
Wie in Schockstarre beobachteten die Untoten, wie der Gesandte Elias‘ auf dem Erdboden landete, das blutige Schwert gezückt.
»Ein weißer Dämon!« rief ein fremder Werwolf, in seiner Stimme schwang Angst mit. Vlarad konnte die Panik der Wölfe gut verstehen: seit Jahrhunderten waren keine himmlischen Heerscharen mehr gesichtet worden.
Und dass eine Begegnung mit christlichen Himmelsdämonen für untote Wesen meist mit dem Verlust der eigenen Seele endete, sorgte nicht gerade für Beruhigung.
Seit Vlarad von diesen brutalen Wesen gelesen hatte, graute es ihm vor einer Begegnung mit einem von ihnen.
Er hatte seinen christlichen Glauben schon vor langer Zeit abgelegt, dennoch fühlten sich diese von Engeln geschickten Henker wie für ihn persönlich entworfen an. Um ihn für sein untotes Dasein zu richten.
Doch er hatte keine Gelegenheit dazu, sich diesen Gedanken hinzugeben. Stattdessen stieß er einen ohrenbetäubenden Fledermausschrei aus, um den übrigen Vampiren zu bedeuten, bloß von dem Gesandten fernzubleiben.
Diese starrten allerdings wie hypnotisiert auf das Blut, welches nach wie vor von der Klinge des Dämonen tropfte.
Auch Vlarad roch die Verführung, doch gemeinsam mit etwa fünf anderen Fledermäusen flog er nun hoch genug, um hoffentlich außerhalb der Reichweite der Blutmagie zu sein.
Da entsprang ein kleiner Funken aus der Hand der weißen Gestalt mit tiefschwarzen Augenhöhlen. Es dauerte nicht einmal eine volle Sekunde, bis das gesamte Schlachtfeld in Flammen stand.
Sogar in ihrer beachtlichen Flughöhe mussten Vlarad und seine Kameraden noch einige Meter höher aufsteigen, um nicht von den züngelnden Flammen versengt zu werden.
Schmerzensschreie von Werwölfen und Vampiren breiteten sich aus, mitten in dem Feuer eine flackernd weiße Gestalt, die schrill lachte.
’Wir müssen fliehen! Sofort!‘ telepatierte Vlarad den übrigen Gefreiten. Er wusste, dass Viktor und die meisten anderen Vampire des Einsatzes gerade direkt unter ihm verbrannten.
Doch die Furcht war zu groß. Ihm war sofort klar gewesen, dass aus dieser Feuersbrunst niemand mehr zu retten war.
Gemeinsam mit den spärlichen Überlebenden kehrte er zurück in die Berge, um die Wiederkehr der weißen Dämonen zu verkünden.
Nach ihrer niederschmetternden Rückkehr begab sich Vlarad sofort in sein Gemach. Über die Jahre hatte er es geschafft, einen etwas größeren Raum mit wunderschönem Schreibtisch einzurichten und setzte sich nun an genau diesen.
Vlarad hatte genug davon, sich niemals sicher zu sein, was für einer Gefahr er zunächst direkt in die Arme fliegen würde.
Außerdem hatte er Angst vor dem Vergessen. Viktor war bei weitem nicht der einzige ihm näher bekannte Vampir gewesen, der in diesem Krieg gefallen war.
Ihm war aufgefallen, dass er bei manchen verlorenen Seelen kein klares Gesicht mehr vor Augen hatte. Selbst die Antlitze seiner Eltern verschwammen immer mehr vor seinem geistigen Auge.
Vlarad schlug die erste Seite eines leeren Buches auf und tunkte seine schwarze Schreibfeder in das Tintenfass daneben. Er würde ein Notizbuch anlegen. Um sich jederzeit an wichtige Namen und Wesen zu erinnern.
In schönstem Kurrent begann er mit den Namen seiner Familie, sowie seinem eigenen.
— 1539 —
Stocksteif stand Vlarad neben einem hochwertigen Holztisch. Als Oberstabsfeldwebel war er dazu berufen worden, dieser Verhandlung mit einem der größten Werwolfshäuptlingen beizuwohnen.
Dass der Vampirkaiser einen geheimen Plan hatte, wussten die fünfzehn anwesenden Werwölfe noch nicht.
In diesem Moment schlug Fürst Gorzshczynskolev auf den Tisch. »Ausgeschlossen! Die südlichen Berge und die dazugehörigen Dörfer sind seit jeher Teil des Vampirkaiserreichs!«
»Ihr meintet seit dreißig Jahren, nicht wahr?« knurrte der Häuptling der südlichen Werwolfssippen, Lucian, und sah den weißhaarigen Vampir misstrauisch an.
»Wir überließen Euresgleichen bereits die Täler dahinter. Der Fluss vor den Dörfern zieht eine natürliche Grenze.« ertönte die schneidende Stimme des Vampirkaisers.
Wie immer war er nichts als eine dunkle Gestalt, ohne auszumachendes Gesicht. Vlarad hatte einmal gehört, der Kaiser würde von dem Vampirgeschlecht derer von Krähenfels stammen, doch sicher war er sich nicht.
Gerade saß er vor Kopf an der edlen Tafel im Anwesen eines seiner engsten Vertrauten. Die Werwölfe hatten sich dagegen ausgesprochen, eine Verhandlung im Schloss des Kaisers durchzuführen.
Der Vampirkaiser hatte natürlich nicht wirklich vor, auch nur einen Meter der mühsam eroberten Gebiete an die Werwölfe abzutreten. Sein Plan war riskant, aber noch konnte er gelingen.
»Die Dörfer gehörten schon seit Ewigkeiten zum Territorium der Werwölfe, wir können sie unmöglich dem Kaiserreich überlassen.« erklärte der Häuptling gerade bestimmt.
Der Kaiser seufzte in gespielter Betroffenheit. »Dann müssen wir die Verhandlungen an dieser Stelle leider beenden.« sagte er und spreizte die Finger seiner Hand, die auf der Tischplatte ruhte.
Das war das Zeichen.
So schnell sie konnten zogen Vlarad und die übrigen anwesenden Vampire ihre Schwerter und stürzten sich auf die Vertreter der Werwölfe.
Auch diese hatten jedoch ähnlich schnelle Reflexe und der hochgewachsene Werwolf, der direkt neben seinem Häuptling stand, sprang mit einem gewaltigen Satz über den Tisch.
Bevor irgendeine Vampirwache ihn aufhalten konnte, hatte er den Vampirkaiser höchst selbst am Kopf gepackt und ihn wenige Augenblicke später abgerissen.
Schreie wurden laut, Vlarad ließ von der Werwolfswache ab, die er soeben niedergeschlagen hatte, um gerade noch zu beobachten, wie dem Wolf der Kopf aus den Händen fiel.
Denn nicht einmal einen Herzschlag nach der Köpfung des Vampirkaisers rammte Fürst Gorzshczynskolev dem mörderischen Werwolf seine Fangzähne tief in den Nacken.
»Anscheinend wollten die verräterischen Vampire diesen Krieg niemals ernsthaft beenden. Wir verbleiben mit den Bergen als vorläufige Grenze!«
Mit diesen Worten richtete der Häuptling sich auf und verließ mit den überlebenden Werwölfen den Saal. Die Vampire ließen die Gruppe ziehen, zu tief saß der Schock um die schnellen Geschehnisse.
Der Vapirkaiser war tot. Selbst nach seinem finalen Ableben fiel es Vlarad schwer, die Augen des Mannes auszumachen.
Der weißhaarige Fürst begutachtete den schlaffen Körper des zum zweiten Mal gestorbenen Vampirs. »Wir müssen unverzüglich einen Notstand ausrufen.«
»Was geschieht nun mit dem Kaiserreich?« fragte ein Oberleutnant nervös.
Vlarad sah, wie der Fürst kurz zögerte. »Das Reich braucht Stabilität. Vorerst werde ich persönlich die vorübergehende Führung übernehmen, damit das Vampirkaiserreich nicht in Chaos versinkt!«
Entschlossen hob Fürst Djargomucz Gorzshczynskolev die Faust. »Alles Blut der Welten und ewige Nacht für das Vampirkaiserreich!«
»Alles Blut der Welten und ewige Nacht für das Vampirkaiserreich!« echoten die anwesenden Vampirsoldaten.
Chapter 6: lingua serpentis
Chapter Text
— 1552 —
Der Notstand des Vampirkaiserreichs dauerte bereits ganze dreizehn Jahre an.
Es war eine unausgesprochene Tatsache, dass Fürst Gorzshczynskolev dauerhaft den Platz des Vampirkaisers eingenommen hatte, nur ohne den dazugehörigen Titel.
In dem noch immer andauernden Krieg gab es jedoch schlichtweg wichtigere Probleme als ein Fürst, der stellvertretend für den verstorbenen Kaiser sprach.
Vlarad selbst war inzwischen General und zu einem engen Vertrauter des Fürsten in strategischen Fragen aufgestiegen.
Dieser schätzte den kritischen, wachen Verstand des hochgewachsenen Generals sehr und erfragte oftmals seine Meinung, wenn es um Schlachtpläne oder politische Probleme ging.
Der Fürst plante seit einigen Monaten gemeinsam mit Vlarad und Tudor ein Ende des langwierigen Krieges und suchte nach Möglichkeiten, die Werwölfe endlich in die Enge zu treiben.
Vor einigen wenigen Jahren war Vlarads Alterungsprozess entgültig zum Stillstand gekommen, sodass er sich seitdem wie in Eis eingefroren fühlte. Zu merkwürdig war das Gefühl, auch das letzte Überbleibsel von Menschlichkeit verloren zu haben.
Durch seine Nähe zum Fürsten Gorzshczynskolev hatte Vlarad außerdem immer häufiger mit dessen Tochter, Gräfin Ludmilla zu tun.
Seine Begegnungen mit ihr hinterließen ihn jedes Mal in tiefem Zwiespalt zwischen ernsthaftem Respekt und Verstörtheit. So selbstbewusst die Gräfin auch war, ihre Feldzüge galten selbst unter Vampiren als besonders brutal.
So hatte er in den Fluren Gemunkel über ihre vierte Legion gehört, die im Parzentann angeblich mehr als zehntausend Untoten das Leben genommen hatten.
In offiziellen Besprechungen hieß es lediglich, die dortigen Nornen hätten eine große Gefahr für das Kaiserreich dargestellt und ihre Armee aus Waldbewohnern hätte jederzeit angreifen können.
Vlarad selbst war der Auffassung, selbst nur so viel Gewalt wie nötig einzusetzen. Natürlich war es im Krieg unvermeidbar, hin und wieder etwas brutaler vorzugehen und einige wenige Unbeteiligte zu töten, nicht wahr?
Es war besser, nicht zu sehr über zivile Opfer nachzudenken. Sie hatten sich gegen das Vampirkaiserreich gestellt, also traf ihn keine Schuld.
Auch in diesem Moment stach er mithilfe seines Silberschwerts gezielt durch das Herz eines Werwolfs hindurch, während er seinem Regiment telepathische Befehle erteilte.
Auf diesen, von der Mondsichel beschienenen Feldern wüteten ganz besonders viele Wiedergänger, die Werwölfe und Vampire gleichermaßen überranten.
Eine ganze Armee an wandelnden Leichen in unterschiedlichen Verwesungszuständen rannte überraschend geschickt zwischen den Kämpfenden umher, schlugen dabei in sämtliche Richtungen.
»Es sind viel zu viele Zombies! Das schaffen wir nicht!« schrie Evghenia ihm zu, die ihre Untergebenen bereits um sich sammelte, bereit für einen schnellen Rückzug.
Vlarad sah, dass sie recht hatte. Dennoch war er noch nicht bereit, die Felder kampflos zu verlassen. »Wir müssen es schaffen! Andernfalls verlieren wir mehrere Hektar Land an die Wiedergänger!«
»Wenn wir noch länger bleiben, können wir die restliche Westseite des Kaiserreichs nicht mehr verteidigen!«
»Seit wann kämpfen Wiedergänger so zielgerichtet?« antwortete er ihr fragend, ohne den Blick von den Zombiegruppen zu nehmen.
Ihre Augen rollten panisch hin und her, noch öfter in die falsche Richtung, als es bei Wiedergängern üblich war. Sie wirkten beinahe ferngesteuert, als würde eine höhere Macht sie lenken.
Gerade, als Vlarad seine Beobachtungen abschließen und sein Regiment zum Rückzug befehligen wollte, zeichnete sich ein riesenhafter Schemen am nebeligen Horizont ab.
Unter seinen Stiefeln spürte er Erschütterungen bei jedem Schritt, mit dem die gigantische Gestalt auf sie zustampfte.
Ein überwältigend großes Wesen schritt stur geradeaus und zermalmte dabei dutzende Kämpfende. Das Geschöpf trug nichts als Fetzen, die sich kaum von seiner ledrig grauen Haut abhoben.
Noch bevor Vlarads Verstand vollständig verarbeitet hatte, dass tatsächlich eine Thursenhexe das Schlachtfeld betreten hatte, vernahm er ihre Stimme wie einen viel zu lauten Glockenschlag im Kopf.
»NEBEL, NACHT UND BLUT AUF BODEN
DIE SCHREIE MICH HIERHER GEZOGEN
ICH BEFEHLE EUCH, UNTOTE WESEN
STERBET NUN, IHR SOLLT VERWESEN!«
Es fühlte sich an wie ein Surren. Eine dröhnende Vibration gegen seine Schädeldecke, die ihn anschrie, sich selbst auf schnellstem Wege mit seiner eigenen Klinge zu köpfen.
Vlarad konnte nach wie vor klar denken und sah, wie Untote um ihn herum sich in Massen selbst und gegenseitig erdrosselten. Doch er sah sich für einen schmerzhaft langen Moment nicht dazu imstande, gegen diesen Drang anzukämpfen.
Direkt neben ihm rammte Evghenia sich selbst ihr silbernes Schwert mitten in ihren offenbarten Hals und sackte kurz darauf zu Boden.
Seine eigene Hand griff bereits nach dem Schwert an seinem Gürtel, obwohl Vlarad sich mit aller Kraft dagegen stämmte.
Er wusste, dass ihm nur noch wenige Momente blieben, bis er den gereimten Befehl der Thursenhexe ausgeführt haben würde.
Diese zwölf urmagischen Wesen hatten die vollständige Kontrolle über untote Wesen, und gerade eben spürte er die Macht dieser Fähigkeit in vollem Ausmaße.
Als er den Schwertgriff fest in seiner Hand hielt, atmete er tief durch, um all seine Kräfte zu sammeln. Er würde nicht kampflos sterben, obwohl seine Situation nahezu vollständig aussichtslos war.
Nach dieser kurzen Pause begann Vlarad, sich zu konzentrieren. Mit all seiner aufwendig zusammengekratzen Willenskraft wehrte er sich gegen das magische Surren, das seine Bewegungen blockierte.
Schreiend versuchte er seine Finger zu lösen, irgendwie seine Füße vom Erdboden zu erheben. Wie in Zeitlupe schaffte er es tatsächlich, die Hand weg von seinem Schwert zu bekommen.
Obwohl die Thursenhexe inzwischen mitten auf dem Schlachtfeld stand und weitere Reime brüllte, schöpfte Vlarad aus dieser kurzen Bewegung des Widerstands neue Hoffnung.
Es war also doch möglich, sich den Befehlen der urmagischen Riesen zu widersetzen! Noch entschlossener als zuvor stemmte Vlarad sich gegen das Surren und verwandelte sich unter Schmerzen in eine riesenhafte Fledermaus.
Vlarad konnte sich sehr glücklich schätzen, dass die Thursenhexe sich wohl nicht für eine einzelne magische Fledermaus interessierte und lieber weiter die Massentode unter ihr beobachtete.
So konnte er trotz nach wie vor wiederhallenden Reimen nahezu ungestört davonfliegen, sodass auch das Surren nach einiger Entfernung verschwand.
Bestürzt landete Vlarad auf einem toten Baum und stellte fest, dass er allem Anschein nach als einziges untotes Wesen entkommen war.

Pansexual_Octopus on Chapter 1 Sat 01 Nov 2025 07:39PM UTC
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zhorcaj on Chapter 1 Sun 02 Nov 2025 11:09AM UTC
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