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Traum im Kopf

Summary:

2. Juni 2015: Der Hamburger SV hat das Relegations-Rückspiel beim Karlsruher SC mit 2:1 gewonnen und damit in letzter Sekunde den Klassenerhalt in der Bundesliga geschafft. Seinen Teil dazu beigetragen hat auch der 19-jährige Martin, der gerade seine erste Saison im Profibereich hinter sich hat. Er ist entschlossen, alles dafür zu tun, mit seinem Verein in der kommenden Spielzeit nicht noch einmal in Abstiegsnöte zu geraten. Doch in der Sommerpause wird seine Konzentration auf den Fußball gestört: Als er sich in London das Musical „Love Never Dies“ ansieht, verliebt er sich in Ramin, den Darsteller des Phantoms. Der bewegt sich in den Londoner Schwulenklubs genauso sicher wie auf der Bühne – und nicht nur Martin, der im NLZ des HSV mit dem Wissen die Jahrgänge nach oben geklettert ist, seine Sexualität verstecken zu müssen, fällt es schwer, die Welt des anderen zu akzeptieren …

Chapter 1: Vorbei

Chapter Text

  1. Kapitel: Vorbei

 

Die Sonne ging gerade auf, als der Bus wieder aufs Gelände am Volksparkstadion rollte. Ich blinzelte in die hellen Strahlen, die durch die Bäume schienen und lange Schatten auf Asphalt und Rasen malten. Die Grashalme glänzten im Morgenlicht, die Vögel verkündeten fröhlich den neuen Tag. Ich schloss die Augen noch einmal und ließ den Kopf an die Lehne zurücksinken. Kein Stress mehr. Keine Angst. Endlich frei.

Was für ein Kontrast zum letzten Abend, den letzten Wochen, zur kompletten Saison. Es war so knapp gewesen. So knapp. Und wir hatten so viel Glück gehabt. Auf dem Platz in Karlsruhe gestern hatte ich das noch nicht realisiert. Da war ich voll im Tunnel gewesen, immer überzeugt, dass wir es noch schaffen konnten. Auch nach Celos Freistoß, dem Last-minute-Ausgleich zum eins zu eins, war nicht wirklich Anspannung abgefallen, nicht mal nach Nicos Führungstreffer in der Verlängerung. Ich war die ganze Zeit nur fokussiert gewesen, auf den nächsten Pass, den nächsten Zweikampf, das nächste Kopfballduell. Gewinnen, gewinnen, gewinnen. Das war alles, was gezählt hatte. Wirklich kapiert, was da gestern Abend im Wildpark passiert war, hatte ich erst irgendwann auf der Reise zurück: Wir hatten das Relegationsrückspiel gegen den KSC nach einem eins zu eins im Hinspiel mit zwei zu eins gewonnen. Nach Verlängerung, nach einem Ausgleich in der Nachspielzeit der regulären Spielzeit. Und damit war es vorbei. Wir waren nicht abgestiegen. Wir waren immer noch der Bundesliga-Dino.

Ich atmete, langsam und tief. Die Morgensonne schien durchs Fenster und wärmte mein Gesicht. Es war vorbei. Vorbei, vorbei, vorbei. Jetzt kam kein nächstes Training mehr, kein nächstes Spiel, dass wir wieder gewinnen mussten, weil wir sonst keine Chance mehr haben würden. Jetzt hatten wir es geschafft. Mal wieder. Wir waren frei.

Ich öffnete die Augen, blinzelte und grinste schwach. Als Joe Zinnbauer im September, kurz nachdem er Cheftrainer geworden war, zu mir gesagt hatte, „Martin, du kommst mit nach oben“, hatte ich mir meine erste Profisaison ganz sicher nicht so vorgestellt. Von Anfang an nur Abstiegskampf, und als Bruno Mitte April unser Trainer geworden war, waren wir Letzter gewesen. Es hatte aussichtslos ausgesehen. So oft waren wir eigentlich schon weg gewesen. In der Saison, während eines Spiels, auch in der Relegation. Aber jetzt hatten wir es doch noch geschafft.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und ließ im Sitz sanft die Schultern kreisen. Wie sehr der Druck mich belastet hatte, war mir erst irgendwo zwischen Karlsruhe und Hamburg klar geworden. Jetzt, wo er weg war, fühlte ich mich, als sei die riesige Bronzereplik von Uwe Seelers Fuß, an der wir eben vorbeigefahren waren, endlich von meinem Rücken heruntergewuchtet worden, aber ich war auch völlig platt. Ich wollte nur noch heim und schlafen. Am besten eine ganze Woche lang.

Der Bus rollte in die Halle im Bauch des Stadions, und die Türen öffneten sich. Meine Mitspieler um mich herum, die alle in einem ähnlichen schlafartigen Dämmerzustand wie ich gewesen waren, wurden lebendig. Wir quälten uns aus den Sitzen und verließen nacheinander den Bus. Bruno stand an der Tür und verabschiedete uns alle per Handschlag. Als ich vor ihm stand, legte er mir die Hand auf die Schulter. „Martin, ruh dich jetzt aus. Fahr runter, schalte komplett vom Fußball ab. Dann kannst du wieder frisch zurückkommen. Es war eine ganz schön harte erste Saison.“

Ich brachte nur ein müdes Lächeln zustande. Oh ja. Das war es gewesen.

Gähnend wankte ich hinüber zu unserem Zeugwart Miro, der mir meine Sporttasche in die Hand drückte. Ich nickte ihm zu und verabschiedete mich von den Jungs. Lewis und Maxi versuchten, für den Abend einen Feiertrupp zusammenzukriegen, aber ich wimmelte die beiden ab. Ich wollte nur noch heim.

Ich trat aus der Bushalle, suchte mit den Augen den Parkplatz ab und wurde sofort fündig. Ich lächelte. Auf Finn war einfach Verlass. Nachdem ich die Sporttasche in den Kofferraum gewuchtet hatte, öffnete ich die Beifahrertür und ließ mich auf den Sitz fallen. Tür zu. Durchatmen.

Finn musterte mich. „Bist du okay?“

Ich ließ den Kopf gegen die Lehne sinken, schloss die Augen und nickte. „So langsam, ja.“

„Kaffee trinken? Oder willst du heim?“

„Nach Hause. Aber so was von.“

„Dachte ich mir.“

Er startete den Motor. Auf der Fahrt sprachen wir kein Wort. Finn kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich jetzt nicht reden wollte.

Er war achtzehn, ein Jahr jünger als ich. Wir hatten uns auf dem Internat kennengelernt, dort ein Zimmer geteilt und wohnten seit knapp einem Jahr zusammen in einer WG. Bis letztes Jahr hatten wir gemeinsam in der U19 gespielt, aber dann war ich in der Sommervorbereitung in die zweite Mannschaft, die U23, die in der Regionalliga Nord spielte, gewechselt, und als mein Trainer Joe Zinnbauer zum Profichefcoach befördert worden war, hatte er eine ganze Gruppe Talente mit hochgezogen, auch mich. Unter ihm hatte ich mich festgespielt, und als Bruno Trainer geworden war, hatte ich auch unter ihm meine Spielanteile bekommen. In die Sommerpause ging ich jetzt mit einem Dreijahresvertrag bis 2018 und als festes Mitglied des Profikaders. Ich hatte den Sprung geschafft, und auch bei Finn würde es sicher nicht mehr lange dauern. Vielleicht durfte er ja schon in diesem Sommer mit ins Trainingslager fahren. Leider hatte er in letzter Zeit sehr viel Pech mit Verletzungen gehabt.

Obwohl wir im letzten Jahr in verschiedenen Mannschaften gespielt hatten, blieb Finn mein bester Kumpel – und seit meine Mutter vor zwei Jahren an Krebs gestorben war, war er auch der Einzige, der wusste, dass ich schwul war. Sonst hatte ich es niemandem erzählt. Profifußball und Homosexualität war keine gute Kombination. Aber Finn hatte ich es gesagt, als ich mich mit sechzehn zum ersten Mal verliebt hatte, und ich hatte es nie bereut. Es tat gut, wenigstens einen Menschen zu haben, der mich ganz kannte, und über Thomas, der damals achtzehn gewesen war und mit dem ich tatsächlich zusammengekommen war, hatte ich auch mit ihm sprechen können. Vier Monate hatte die Beziehung gehalten, aber dann war er nach seinem Abitur zum Studieren nach München gegangen und wir hatten es beide für vernünftiger gehalten, uns zu trennen. Der Rausch, in dem ich am Anfang gewesen war, war da schon wieder verflogen, und außerdem hatte ich damals vor meinem zweiten Jahr in der U17 gestanden und hatte auch immer wieder in der U19 trainieren und spielen sollen. Und je näher ich dem Herrenbereich kam, desto vorsichtiger hatte ich werden müssen. Wir hatten uns im Guten getrennt und in den ersten Wochen danach noch ein bisschen geschrieben, aber dann war der Kontakt eingeschlafen. Ich dachte gerne an die Zeit zurück, denn seitdem herrschte an der Beziehungsfront Funkstille, und manchmal fehlte es mir schon sehr. Aber ich war jetzt Profi, und das machte alles, was sich in diese Richtung eventuell mal entwickeln könnte, zum Pulverfass. Ich wollte mein Leben nicht als Eremit verbringen, aber ich musste eben vorsichtig sein.

Auf der Fahrt zu unserer Wohnung kamen wir an einigen schwarz-weiß-blau gekleideten Fans vorbei, die die Nacht offensichtlich in diversen Kneipen verbracht hatten. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als eine Gruppe sturzbesoffener Anhänger den Fangesang „Sechsmal Deutscher Meister, dreimal Pokalsieger, IMMER ERSTE LIGA! HSV …“ nicht mehr richtig zusammenbrachte: „Dreimal Deutscher Meister, sechsmal erste Liga, IMMER POKALSIEGER! HSV …“

„Ich wusste noch gar nicht, dass das Pokalfinale von Berlin nach Karlsruhe verlegt worden ist.“

„Klar.“ Finn bog in unsere Straße ein. „Wird jetzt auch durch Hin- und Rückspiel entschieden.“

Ich gähnte.

Finn grinste breit. „Du siehst auch aus, als hättest du durchgefeiert.“

„Haben wir auch, bis Mannheim. Aber im Flieger war dann Schluss. Zum Glück.“

Von Mannheim waren wir nach Hannover geflogen, und von dort die letzten zwei Stunden nach Hamburg noch mal Bus gefahren. Die stundenlange Reise hatte mir komplett den Rest gegeben. Ich schaute aus dem Fenster, auf die vertraute Straße mit ihren Bäumen, Laternen und der Bushaltestelle genau an den richtigen Orten, und da vorne das Haus, in dem unsere Wohnung lag. Ich atmete ein. Endlich zu Hause.

Finn parkte und stellte den Motor ab. Ich stieg aus und ging zum Kofferraum, um meine Sporttasche zu holen, aber Finn kam mir zuvor. „Lass mal, du siehst aus, als könntest du auf der Stelle umkippen. Ich mach das schon, du gehörst ins Bett.“

„Du bist echt ein Engel, weißt du das?“ Stufe für Stufe schleppte ich mich die Treppen in den dritten Stock hinauf. Es gab zwar einen Aufzug, aber den nahm ich nicht – Sportlerehre.

„Nicht quatschen, laufen!“ Finn hielt mich gerade noch so am Arm fest, bevor ich stolpern und einfach umkippen konnte. „Ehrlich, Martin, du siehst aus, als hättest du eine Woche lang nicht geschlafen!“

„Spiel du mal eine Relegation. Dann siehst du nachher auch so aus.“

„Danke, ich verzichte.“

Er schloss die Wohnungstür auf. Unter gütiger Mithilfe der Wände fand ich den Weg in mein Zimmer, wo ich mich bis auf die Boxershorts auszog und ins Bett fiel. Ich hörte noch, wie Finn hinter mir die Tür schloss, dann schlief ich ein.

***

Titelreferenz (gesamte Geschichte): „Traum im Kopf“ – Lied aus dem Album „Unabsteigbar“ von Michael Kröger / Elvis (2015).

 

Disclaimer:

Bis auf die Hauptfigur weisen nahezu alle Figuren in dieser Geschichte hinsichtlich ihres Namens, ihres Aussehens und mehr oder weniger detailgetreu ihres beruflichen Werdegangs Übereinstimmungen mit realen Personen auf. Die Persönlichkeiten aller Figuren sind dennoch, gleichgültig, ob sie auf die oben beschriebene Weise Übereinstimmungen mit realen Personen aufweisen oder nicht, frei von mir erfunden. Zu keinem Zeitpunkt und auf keine Weise möchte ich mit dieser Geschichte irgendeine Aussage oder auch nur eine Andeutung über die Persönlichkeiten der realen Personen machen, deren Namen, Aussehen und ggf beruflichen Werdegang ich mir für die Figuren in der Geschichte geliehen habe. Alles, was in dieser Geschichte steht, ist zu jeder Zeit ausschließlich im Kontext der Geschichte zu lesen und ausdrücklich nicht auf die Welt außerhalb der Geschichte anwendbar. Die einzige reale Person, über die aus der Figurencharakterisierung in dieser Geschichte irgendwelche Rückschlüsse gezogen werden können, bin ich – der Autor. Sonst niemand.

AN:

Ich begrüße jeden ganz herzlich, der es bis hierher geschafft hat :D

„Traum im Kopf“ ist meine erste fertiggestellte längere Geschichte. Sie hat 34 Kapitel. Die ersten sieben lade ich auf einmal hoch, damit die Geschichte hier auf demselben Stand ist wie auf FF.de, danach kommt das neue Kapitel im Wochenrhythmus immer am Mittwoch. Die Geschichte spielt überwiegend während der Saison 2015/16 – das ist zwar schon ein bisschen her, aber ich hoffe, ihr findet euch trotzdem schnell zurecht. Und das Hauptthema der Geschichte hat seine Aktualität leider noch nicht verloren, eher im Gegenteil. Auf meinem Profil findet ihr einen ausführlichen Kommentar zur Geschichte, die wichtigste Information gebe ich euch kurz und knapp auch hier (ausführlicher im Profil):

Ich habe die Geschichte in zwei Sprachen verfasst. Einige Figuren sind englischsprachig, und die Dialoge mit und zwischen ihnen habe ich auch auf Englisch geschrieben. Hochladen werde ich die Geschichte in zwei Versionen, jeweils in zwei parallel geposteten Kapiteln: zuerst das Original und ggf. (wenn englischsprachige Stellen vorhanden sind) die deutsche Übersetzung (im Kapiteltitel gekennzeichnet durch ein "D"). Nähere Informationen und Erläuterungen für diese Vorgehensweise findet ihr auf meinem Profil.

Ohne meine Betaleserinnen une chat noire und neonchocolatemilk könnte ich die Geschichte heute nicht hochladen. Sie haben mir beide, jede auf ihre eigene Weise, unfassbar geholfen, mich weitergebracht, bestärkt, an den richtigen Stellen kritisiert und die Geschichte dabei mit jeder Anmerkung besser gemacht. Wie froh ich bin, euch an meiner Seite gehabt zu haben, kann ich nicht in Worte fassen. Ein Danke ist zu wenig. Trotzdem bekommt ihr es hier. Ihr wisst ja, was dahintersteckt.

Liebe Lesende, ich hoffe, euch hat das erste Kapitel gefallen und ihr lest weiter – und über einen Kommentar würde ich mich wahnsinnig freuen!