Chapter Text
"Das Netteste, was man über den Stock sagen kann, ist,
dass die verrottenden Körper nicht lange in den Straßen liegen."
Retholien, Githzerai
Vierter Leeretag von Nihilum, 126 HR
Über Síkhara neigten sich die mehrstöckigen Häuser gegeneinander, als würden sie der unter ihnen liegenden Straße auch noch den letzten Rest Licht rauben wollen. Nur an wenigen Eingängen flackerten kleine Laternen wie trostlose Glühwürmchen. Die Gassen des Stocks waren seit jeher ein Gewirr aus Armut, Gewalt und Hoffnungslosigkeit, und das hatte sich auch in den paar Jahren von Síkharas Abwesenheit nicht geändert. Seit ihrer Rückkehr war sie wieder regelmäßig hier unterwegs, einerseits durch ihre Aufträge als Blutjägerin und andererseits, weil sie sich während des Fluges mit dem Barrakuda mit Leuten angefreundet hatte, die fast alle im Stock lebten. Da im Grunde alles beim Alten war, bewegte sich die Feuergenasi mit geübter Sicherheit durch dieses Labyrinth. Ihre lederne Rüstung knirschte leise bei jedem Schritt und der Geruch von verrottendem Müll, billigem Schnaps und ungewaschenen Körpern hing schwer in der Luft. Síkhara nahm ihn jedoch kaum wahr - sie war an Schlimmeres gewöhnt. Sie war auf dem Weg, sich mit Krystall zu treffen, in der Hoffnung dass die Anarchistin durch ihre guten Verbindungen auch außerhalb des Stocks ihr bei der Lösung ihres neuen Auftrags helfen konnte. Ein Mann namens Zramag war ihr Auftraggeber, ein Githzerai vom Zeichen des Einen. Sie hatte den exzentrischen Künstler über einen selbst geschriebenen Aushang gefunden und in seinem chaotischen Atelier im Kuratorenbezirk aufgesucht. Überall hatten Pergamente, Pinsel und Skizzen verstreut gelegen und Zramag war nervös auf und ab gelaufen, während er mit zitternder Stimme von seinem gestohlenen Schatten berichtet hatte. Er hatte erzählt, wie er eines Morgens mit dem Gefühl aufgewacht war, etwas Entscheidendes verloren zu haben. Erst später hatte er dann bemerkt, dass sein Schatten verschwunden war. Er hatte einen kalten Windhauch beschrieben und ein Gefühl der Leere, das ihn seitdem verfolgte. Dann hatte er Síkhara eine hohe Summe geboten, wenn sie ihm seinen Schatten zurückbrachte. Denn dieser, so hatte er beteuert, sei ein Teil seiner Seele ohne den er nicht mehr richtig arbeiten könne. Sie hatte den Fall angenommen. Nicht allein der Bezahlung wegen, sondern auch, weil Zramag ein verzweifelter Mann war und die Vorstellung, dass jemand ihm zusammen mit seinem Schatten einen Teil seiner Seele gestohlen hatte, Síkhara zutiefst beunruhigte. Ein Schatten war gewissermaßen ein Beweis für die eigene Existenz. Nun gut, Zamakis mochte das anders sehen, aber Síkhara hätte auf ihren Schatten auch nicht verzichten wollen, vor allem, wenn offenbar auch noch etwas anderes damit verbunden war.
Endlich erblickte die Feuergenasi das Schild zur Rostigen Klinge . Es handelte sich um ein gezacktes Breitschwert, das seine besten Tage schon lange hinter sich hatte - daher der Name der Taverne, der in kruden Buchstaben ungelenk auf die Klinge gemalt war. Die Waffe hing über einer schmutzigen Tür, die aussah, als wäre sie ein Portal in die Höllen und als hätten bereits Dutzende von Scheusalshorden sie wenig rücksichtsvoll durchschritten. Doch sollte sie ein Portal sein, so war zumindest nichts darüber bekannt und der Zustand der Tür somit einfach auf Alter, Vernachlässigung sowie rüpelhafte und betrunkene Gäste zurückzuführen. Auch das eine oder andere Messer-Wurfspiel mochte dazu beigetragen haben. Der Ort war bekannt als Treffpunkt für Halunken, Hehler und andere, die am Rande der Gesellschaft lebten. Perfekt, um Informationen zu beschaffen – oder zu verschwinden, wenn man die falschen Fragen stellte. Als Síkhara die quietschende Tür aufstieß und die Kneipe betrat, war die Luft war so dick, dass man sie mit einem Messer hätte schneiden können und der Gestank schlug ihr entgegen wie eine Faust – eine Mischung aus abgestandenem Bier, ranzigem Fett, Tabakrauch und dem süßlichen Geruch von billigem Parfum. Das Licht war gedämpft, kaum mehr als ein Flackern von ein paar rußgeschwärzten Kerzen an den Wänden. Síkhara vernahm das Knarren von maroden Stühlen, das Klimpern einer verstimmten Laute, raues Gelächter und Flüche in verschiedenen Sprachen. Sie suchte den Raum nach Krystall ab und entdeckte sie rasch an einem Tisch in einer dunklen Ecke. Die Anführerin der Klingenengel war schwer zu übersehen, selbst in einer solch zwielichtigen Spelunke. Ihr federgeschmückter Hut, die rote Weste und das Rapier an ihrer Seite machten sie zu einer unverkennbaren Erscheinung.
Krystall begrüßte die Blutjägerin mit einem Lächeln, das in dieser Umgebung wie ein unerwarteter Sonnenstrahl wirkte. „Síkhara! Schön, dich zu sehen. Setz dich, ich hab einen Stuhl für dich freigehalten.“
Die Feuergenasi erwiderte das Lächeln und nahm Platz. „Danke, Krystall. Kannst du ein Getränk empfehlen? Am besten was Starkes.“
Die Anführerin der Klingenengel lachte und winkte der Kellnerin zu. „Verstehe. Dann für uns beide einen Drachenatem. Brennt die Kehle frei und betäubt die Sinne.“
Die Bedienung, eine hagere Frau mit misstrauischem Blick, nickte und verschwand hinter der Theke. Während sie warteten, ließ Síkhara ihren Blick über den Raum schweifen. An einem Tisch würfelten ein Mensch und zwei Tieflinge, zwei Gnome feilschten um den Preis für ein mechanisches Gerät und ein einsamer Barde zupfte auf einer Leier und sang ein trauriges Lied über verlorene Liebe. Die Spelunke war ein Ort der Hoffnungslosigkeit, aber auch der Widerstandsfähigkeit. Ein Ort, an dem viele Schlucker versuchten, das Beste aus ihren miserablen Umständen zu machen. Als die Kellnerin zurückkehrte, stellte sie zwei dampfende Krüge vor ihnen ab. Der Geruch ließ auf Rum, Zimt und Chili schließen.
Krystall hob ihren Krug und prostete Síkhara zu. „Na dann … Auf deine Jagd nach den Schatten.“
„Auf die Schatten“, erwiderte die Blutjägerin. „Und auf die, die in ihnen wandeln.“
Dann nahm sie einen vorsichtigen Schluck. Der Drachenatem brannte in ihrer Kehle wie flüssiges Feuer – für Síkhara ein durchaus angenehmes Gefühl.
Krystall musterte sie nun neugierig. „Also, wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist dein Auftraggeber ein Mann, der sagt, man habe ihm seinen Schatten gestohlen. Das ist ungewöhnlich, selbst für Sigil.“
„Genau.“ Síkhara stellte ihren Krug ab. „Es handelt sich um einen Githzerai namens Zramag. Ein Künstler und Mitglied beim Zeichen des Einen.“
Die Anführerin der Klingenengel runzelte die Stirn. „Und der wohnt hier im Stock?“
„Nein, nein“, meinte Síkhara. „Er lebt im Kuratorenbezirk. Hat einen privaten Aushang gemacht, den ich zufällig entdeckt hab, als ich auf dem Weg zum Großen Basar war.“
Krystall lehnte sich zurück und legte ihre Füße auf den Stuhl neben sich. „Und darf ich fragen, warum er damit nicht zu den Dickschädeln gegangen ist? So als Kerl aus einem der oberen Bezirke?“
„Kam mir vor, als hätte er eine natürliche Abneigung gegen die Philosophie und die Überzeugungen des Harmoniums“, erklärte Síkhara. „Er meinte, er sieht sie als repressive Kraft, die die Individualität unterdrückt und er glaubt nicht, dass das Harmonium wirklich an der Lösung des Problems interessiert ist. Er befürchtet, dass sie ihn nur halbherzig ausfragen und seine Zeit verschwenden würden.“
„Hm.“ Krystall schmunzelte. „Und er ist sicher ein Zeichner? Vielleicht solltest du ihn mal bei uns vorbeischicken.“
„Ich hab es mir gerade so verkniffen, das zu sagen“, erwiderte die Blutjägerin grinsend.
Lachend nahm die Anführerin der Klingenengel noch einen Schluck Drachenatem, dann wurde sie wieder ernster. „Aber er ist nicht der Einzige, stimmt’s? Ich hab von ähnlichen Vorfällen gehört, hauptsächlich im Kuratorenbezirk.“
Síkhara nickte. „Richtig, und das ist der Punkt, den ich nicht so ganz verstehe. Das ist der Bezirk der Gelehrten, der Schreiber, der Bürokraten und viele Orte sind gut bewacht. Warum agieren die Schatten-Diebe gerade dort, wenn sie hier im Stock viel leichtere Beute machen könnten? Das ist kein Zufall, sag ich dir. Und es ist mehr als nur Diebstahl. Da steckt etwas Größeres dahinter.“
Die Anführerin der Klingenengel nickte zustimmend. „Wahrscheinlich hast du recht. Also gut, ich sag meinen Leuten, sie sollen die Augen aufhalten. Vielleicht bringen wir etwas in Erfahrung, das dir weiterhilft.“
„Danke, Krystall“, erwiderte Síkhara. „Darauf hatte ich gehofft.“ Sie stießen erneut an und die Blutjägerin nahm einen tiefen Schluck, ehe sie ihren Krug abstellte. „Dann lass mal hören, was der Rest der Barrakuda-Crew so treibt. Ich hab sie zu lange nicht gesehen.“
„Tja, Krixxi und Figaro basteln an irgendwas herum, von dem ich keine Ahnung hab, was es mal werden soll. Zamakis gibt derzeit Kurse im Leichen Balsamieren, Schwarzhuf organisiert den Aufbau einer neuen Suppenküche und Rakalla war eine Weile zu Besuch in ihrer Heimatstadt Pelateia. Ist aber seit einigen Tagen wieder zurück. Ach ja, und ...“ Krystall dämpfte nun ihre Stimme. „ … und sie hat Haer'Dalis von der Prophezeiung erzählt.“
Síkhara nickte. „Ja, das wusste ich tatsächlich schon. Da sie erwähnte, dass ich auch davon weiß, haben er und ich kürzlich ein wenig darüber gesprochen.“
Krystall musterte die Blutjägerin eingehend, als sie den Tieflingsbarden erwähnte. „Du hattest nur gesagt, dass ihr beide euch von früher kennt. War da mal was zwischen euch?“
Eine gute Beobachtungsgabe hatte die Anführerin der Klingenengel, das musste Síkhara ihr lassen. „Nun ja ...“ Sie schmunzelte. „Ist eine Weile her. Aber du vermutest richtig. Inzwischen sind wir aber nur noch gute Freunde. Also, meistens.“ Sie zwinkerte Krystall bei diesen Worten kurz zu und war sicher, dass die andere Frau verstand, was sie meinte.
Die Anführerin der Klingenengel nickte grinsend. „Auch nicht das Schlechteste. Und was die Prophezeiung angeht, so können ein paar Verbündete nicht schaden. Aber jetzt sind erst einmal die Schatten-Diebstähle dran.“
„Ja.“ Síkhara nickte entschlossen. „Hoffen wir, dass wir der Sache auf den Grund gehen können.“