Chapter 1: Drunk on Happiness
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Mai 2019/POV Julian
Wir haben es geschafft! Wir spielen nächstes Jahr in der Champions League! Das ist das erste, woran ich denke, sobald ich den Abpfiff des Schiedsrichters höre. Nachdem wir die ganze Saison dafür gekämpft haben, es dieses Jahr in die Champions League zu schaffen, hat unsere Leistung dieses Mal wirklich gereicht. Es scheitert nicht mehr an der Tordifferenz. Dieses Jahr haben wir es rein mit den Punkten geschafft, die Champions-League-Plätze zu erreichen.
Sobald ich den Abpfiff höre, renne ich auf Kai zu. Und er tut dasselbe.
»Wir haben es geschafft!«, ruft er, Erleichterung in seinem Gesicht zu erkennen. Er bleibt kurz vor mir stehen, legt seine Arme um mich und zieht mich in eine Umarmung. Er lässt seinen Körper fast schon etwas gegen mich fallen und hält mich fest.
»Ja! Wir haben es geschafft!«, murmle ich gegen seine Brust, »Und nächstes Jahr holen wir uns den Henkelpott!«
»Klar, was sonst?!«, lacht Kai, als wir uns langsam wieder aus der Umarmung lösen und ich stimme in sein Lachen mit ein. Um uns herum sind alle unsere Teamkollegen und alle Fans am Feiern.
Wir laufen auf sie zu. Sofort halten Sam und Mitch ihre Hände zu uns, um mit uns einzuschlagen.
»Wir haben das wirklich durchgezogen. Wir sind in der Champions League«, schaut Sam mich begeistert an. Ich nicke nur und kann es immer noch nicht glauben. Nachdem es letztes Jahr so knapp war, haben wir es dieses Jahr wirklich geschafft und können in der nächsten Saison gegen die besten Teams Europas spielen.
Danach stellen wir uns zu den beiden dazu und beklatschen mit dem ganzen Team unsere Fans und bedanken uns für den Support für die Saison. Währenddessen schaue ich immer wieder zu Kai, den ich schon lange nicht mehr so glücklich gesehen habe. Dieser Tag ist so wichtig für das ganze Team und jeder ist einfach ausgelassen am Feiern. Sowohl wir Spieler als auch die Fans, die in den Rängen stehen und wild klatschen Vereinsgesänge singen.
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Ein paar Stunden später steige ich gemeinsam mit Jannis aus dem Taxi aus und wir machen uns auf den Weg zu dem Club, in dem wir gleich mit dem ganzen Team das erfolgreiche Saisonende feiern wollen. Mein Bruder ist für das letzte Spiel der Saison extra mit nach Berlin gereist und wollte danach noch mit zur Party gehen.
Wir betreten erst nur die Garderobe, doch schon von hier konnte ich den dumpfen Bass und die Musik hören. Jannis und ich geben unsere Jacken ab und dann folge ich ihm durch einen kleinen Eingang in das Innere des Clubs.
Die Musik ist sofort um einiges lauter und ich kann den Bass spüren. Der Raum ist mit dunklen lilanen und blauen Lichtern beleuchtet und die Luft ist etwas stickig, aber nicht unangenehm stickig. Um uns herum sind meine Teammitglieder mit Freunden und Familie. Einige tanzen, einige sitzen auch nur an Tischen, trinken reden und lachen gemeinsam.
»Ich hol mir erstmal was zu trinken«, Jannis dreht sich zu mir um, »Willst du auch was?«
»Ja, ich komme mit«, rufe ich ihm über die laute Musik entgegen und hoffe, dass er mich überhaupt versteht.
Er nickt und wir laufen gemeinsam Richtung Bar. Ich quetsche mich durch die Menschenmengen, in dem eigentlich viel zu kleinen Raum.
»Hey Jule«, hält mich Jona kurzzeitig auf, ich drehe mich zu ihm, »Gutes Tor heute.« Er nickt mir anerkennend zu.
»Danke«, erwidere ich mit einem leichten Lächeln, »Ebenfalls gutes Spiel. Gute Vorlage.«
Er nickt dankend, »Genau das, was das Team gebraucht hat heute. Die Champions League Teilnahme wird alle nochmal extra motivieren und dann können wir nächstes Jahr noch besser spielen.«
»Hoffentlich«, ich streiche mit meiner Hand durch meine Haare, »Ohne den Pokal gehen wir nächstes Jahr nicht heim.«
Er muss lachen, so wie Kai zuvor auf dem Platz, aber trotzdem hat sich Kais Lachen echter angefühlt. Irgendwie wärmer. Aber vielleicht lag das auch daran, dass ich vorher 90 Minuten lang Leistungssport gemacht habe und ich gerade eben erst aus der kühlen Frühlingsluft hier reingegangen bin. Bestimmt liegt es daran.
»Ich muss jetzt dann aber weiter, Jannis wartet schon auf mich«, fällt mir wieder ein, dass ich eigentlich mit meinem Bruder etwas zu trinken holen wollte, »Aber wir sehen uns bestimmt nochmal.«
»Klar, bis später, Jule«, verabschiedet er sich mit einem Lächeln und ich mache mich auf den Weg zur Bar, an der Jannis bereits auf mich wartet.
»Hier«, er reicht mir eine Flasche Bier, »habe dir schonmal was bestellt, du nimmst doch eh immer nur dasselbe.«
»Danke«, ich nehme die Flasche entgegen und trinke einen Schluck.
»Hast du Kai gesehen?«, frage ich neugierig, wo mein bester Freund ist. Eigentlich habe ich erwartet, Kai schon viel früher hier zu treffen. Irgendwie ist das immer so, dass wir uns auf Partys am Eingang treffen und dann den ganzen Abend miteinander verbringen, aber heute habe ich ihn noch nicht gesehen.
»Meinst du den Kai, der dort tanzt, als würde er Krieg mit der Playlist führen«, sagt Jannis und deutet mit seinem Kinn auf die Tanzfläche.
»Oh mein Gott«, ich starrte schockiert auf Kai, der allein auf der Tanzfläche ist und die wohl schlechtesten Tanzmoves bringt, die ich seit Jahren gesehen habe. Das einzig vorteilhafte für ihn ist wohl, dass um ihn herum noch weitere Leute tanzen und es deswegen noch niemandem wirklich aufgefallen ist. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und muss direkt ein Video machen. In ein paar Wochen werden Kai und ich darüber lachen und allein dafür ist es mir Wert, meinen besten Freund noch etwas länger dort tanzen zu lassen, bevor ich ihm Gesellschaft leiste.
»Komm, wir lassen ihn nicht länger allein«, sage ich zu Jannis und mache mich auf den Weg Richtung Kai.
»Jule, Jannis, endlich!«, sieht mich Kai ziemlich erleichtert an, als wir auf ihn zukamen, »ich dachte schon ihr kommt nicht mehr«
»Wir mussten dir erst einmal zuschauen, um zu sehen, wie man nicht tanzt, bevor wir uns selbst hierher trauen«, gibt mein Bruder grinsend von sich.
Die Zeit verging ab jetzt wie im Flug. Zuerst tanzten wir eine Weile zu dritt, dann setzten wir uns an die Bar, um noch ein paar Shots und andere Getränke zu trinken. Irgendwann kamen Sam und Mitch vorbei, mit denen wir ebenfalls noch einige Zeit lang geredet und einige Shots getrunken haben, bevor wir erneut auf die Tanzfläche gingen.
Dort sind wir nun zu fünft und stehen im Kreis, Jannis zu meiner Rechten und Kai zu meiner Linken, leicht gegen mich gelehnt, vermutlich um sich nach den großen Mengen Alkohol noch gerade stehend zu halten. Ich beschwere mich jedoch nicht, da ich nicht weiß, ob ich noch komplett gerade laufen könnte und halte ihn stattdessen nah an mir. Ich spüre, wie seine Finger sich in meine Schulter drücken und er mich langsam ein Stückchen näher zu sich zieht.
»Jule«, haucht er mir ins Ohr, wobei sein Atem gegen meine Haut streift. Diese beginnt sofort zu kribbeln und ich spüre eine Wärme in mein Gesicht steigt. Bestimmt der Alkohol, denke ich doch etwas verwirrt von diesem Moment.
»Lass uns raus gehen«, spüre ich Kais Stimme erneut auf meiner Haut, »Ich brauche frische Luft.«
Ich drehe mich ein Stück und schaue Kai an. Seine Augen sind groß und schauen mich erwartungsvoll an.
»Okay«, stimme ich zu, da ich auch etwas Abstand von der lauten Musik und den vielen Menschen hier brauche und vor allem auch hoffe, dass ein Moment an der frischen Luft mich wieder etwas nüchterner machen wird. Einmal kurz rausgehen mit Kai, um etwas durchzuatmen klingt nach einer guten Abwechslung gerade.
Wir melden uns kurz bei unseren Freunden ab und laufen Richtung Tür, um gemeinsam den Club zu verlassen.
Chapter 2: Regrets
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Nächster Morgen/POV Julian
Ich wache langsam auf, als ich die Sonnenstrahlen in mein Zimmer hineinleuchten spüre. Ich traue mich jedoch noch nicht, meine Augen zu öffnen. Mein Kopf brummte und mein Körper fühlt sich schwach an.
Das war eindeutig zu viel Alkohol. Ich weiß nicht mehr genau, was gestern passiert ist und das macht die ganze Sache nur noch schlimmer. Ich kann mich nur noch an Fetzen erinnern.
Jannis. Ich. An der Bar. Shots. Kai tanzend. Noch mehr Shots. Irgendwann waren da Mitch und Sam. Wieder Shots. Laute Musik. Ein See. Wärme. Hände.
Aber sonst ist alles weg.
Ich nehme mir vor, später Jannis zu fragen, was gestern passiert ist, vielleicht kann er mich aufklären, was diese Erinnerungen alles sind.
Mit meinen Augen noch immer geschlossen setze ich mich langsam auf. Ich lehne mich gegen das Kopfteil meines Bettes und atme einmal tief durch. Dann öffnete ich zum ersten Mal meine Augen.
Die Sonnenstrahlen blenden mich sofort, ein Schmerz steigt in meinen Kopf und ich kneife meine Augen schnell wieder zusammen. Zu hell. Eindeutig zu hell . Ich greife neben mein Bett, etwas zu trinken. Ich nehme das Glas Wasser, das immer dort steht, und trinke einen Schluck. Ich spüre, wie die kühle Flüssigkeit durch meinen Körper fließt und fühle mich gleich schon etwas besser. Noch ein Schluck. Kühle Flüssigkeit in meinem ganzen Körper. Und schließlich trinke ich das ganze Glas leer.
Ich versuche, meine Augen erneut zu öffnen. Noch langsamer dieses Mal. Langsam lasse ich die Sonnenstrahlen auf meinen Augen treffen, bis sie schließlich komplett geöffnet sind. Mein erster Blick fällt auf die Uhr über der Zimmertür gegenüber von meinem Bett. 10:29 Uhr. Und trotzdem fühle ich mich, als wäre es mitten in der Nacht. Ich könnte gleich wieder schlafen, wäre da nicht die helle Sonne, die mich davon aufhält.
Ich lasse meinen Blick langsam durch mein Schlafzimmer gleiten. Durch einen Spalt zwischen meinen Vorhängen strahlt Sonne in den Raum, meine Klamotten von gestern Abend liegen zerstreut auf dem Boden, wahrscheinlich habe sie einfach dorthin geworfen als ich gestern Abend nach Hause gekommen bin, auf dem Stuhl neben dem Schrank liegt mein Geldbeutel. Eine Schublade meines Schrankes ist halb geöffnet. Die Socken darin durcheinander gewühlt, ein paar liegen neben dem Schrank. Ich muss gestern Abend wirklich müde gewesen sein.
Mein Blick fällt auf mein Bett. Die Decke liegt nur halb auf mir, der Rest liegt auf der linken Seite, etwas weggeklappt. Das Kissen etwas eingedrückt. Ich muss mich viel gedreht haben, wenn ich auch auf der anderen Seite geschlafen habe.
Dann schweift mein Blick etwas ab und landet auf dem Nachtkästchen neben der anderen Bettseite. Das Nachtkästchen, das normalerweise leer ist. Weil das Bett niemandem gehört. Doch dort liegt etwas. Etwas kleines, schwarzes liegt auf dem weißen Kästchen. Ich rolle mich über das Bett auf die andere Seite, um nachzusehen, was es ist.
Als ich näher komme, erkenne ich es.
Ein schwarzes Armband mit einem silbernen Verschluss.
Kais Armband.
Ich schaue es einen Moment lang verwirrt an.
Warum liegt hier Kais Armband?
In meinem Schlafzimmer?
Doch dann - ganz plötzlich - kommen alle Erinnerungen hoch.
»Fuck!«, entkommt mir ein Fluch, »Fuck, Fuck, Fuck!«
etwas früher/POV Kai
Ich schnappe mir meine Jacke, die über dem Stuhl neben dem Schrank hängt, verlasse den Raum, ohne Geräusche zu machen, schließe die Tür hinter mir wieder leise - ich darf ihn auf keinen Fall wecken- und eile hastig die Treppen hinunter.
Ich gehe gerade um die Ecke, um über das Wohnzimmer die Wohnung zu verlassen, da steht plötzlich Jannis vor mir.
»Guten Morgen Kai«, grinst er mich an. Wie kann ein Mensch nur so gut gelaunt sein, nachdem er vielleicht 5 Stunden geschlafen hat?
»Morgen«, entgegne ich trocken und versuche irgendwie an ihm vorbei zu kommen. Aber er bleibt in meinem Weg stehen. Ich schaue leicht auf den Boden, vermeide seinen Blick. Ich kann ihn nicht anschauen. Nicht jetzt. Wahrscheinlich nie wieder.
»Willst du was essen? Oder einen Kaffee?«, fragt er und merkt offensichtlich nicht, dass ich hier weg will. Schnell.
»Nein, ich muss-«, lehne ich kopfschüttelnd ab und versuche erneut, an ihm vorbei zu laufen.
»Alles gut Kai?«, fragt er. Ich schaue wieder vorsichtig zu ihm auf. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, seine Stirn gerunzelt und sein Blick sieht besorgt aus.
»Ja, alles bestens«, gebe ich etwas patzig von mir, »Was soll denn sein? Ich will einfach nur nach Hause!«
»Du bist komplett blass im Gesicht.«, meint Jannis, Besorgnis immer noch in seiner Stimme zu hören, »Und außerdem«, er wagt einen kurzen Blick auf die Uhr, »Es hat Viertel nach 5. Ich weiß zwar nicht, wann genau ihr hierher gekommen seid, aber ich habe euch noch um 2 im Club gesehen, du hast kaum geschlafen und bist vermutlich immer noch halb betrunken und du siehst schrecklich aus. Ich lasse dich garantiert nicht so alleine heimgehen, am Ende passiert dir noch etwas.«
»Aber ich muss-«, ich breche den Satz ab, verwirrt, »Warum bist du überhaupt schon wach?«
»Die Frage könnte ich dir auch stellen.«, er verschränkt seine Arme, unbeeindruckt, »Also Kai, du hast jetzt zwei Optionen: Entweder du bleibst freiwillig noch hier und schläfst aus oder ich muss dich hier festhalten.«
»Okay«, gebe ich nach. Ich gehe zur Couch und lasse mich vergeblich auf diese fallen und schließe für einen Moment meine Augen. Sofort ist alles wieder da.
Bilder. Bruchstücke. Wie ich ihn geküsst habe. Wie wir uns aneinander festgehalten haben. Wie meine Hände unter sein Shirt gewandert sind. Wie ich über ihm war, wie ich ihn angefasst habe und wie gut es sich angefühlt hat. Obwohl das alles so falsch ist. So ekelhaft. Es hat sich trotzdem so richtig angefühlt.
Fuck. Ich muss hier weg. Jetzt.
Nur wie?
Jannis setzt sich gegenüber von mir hin und schaut mich immer noch besorgt an, »Ist wirklich alles gut bei dir?«
»Ja, alles gut.«, blocke ich erneut ab. Nichts ist gut. Seit gestern ist gar nichts mehr gut. Und ich bin selbst schuld. Hätte ich einfach weniger getrunken. Dann hätte ich mich vielleicht besser unter Kontrolle gehabt. Und es wäre nicht passiert. Wir hätten immer noch beste Freunde sein können, aber jetzt ist alles kaputt. Und es war so gut und trotzdem so falsch.
Zwischen Jannis und mir herrscht Stille. Er hat aufgehört, zu versuchen mit mir zu reden und ich bin froh darüber. Würde er weiter fragen, würde ich ihm irgendwann vermutlich noch die Wahrheit erzählen. Das darf nicht passieren. Jannis darf niemals erfahren, was passiert ist. Niemand darf das. Dann könnte er wissen das ich-
Nein, das darf nicht passieren.
Niemand darf das jemals erfahren.
Ich muss hier weg.
Schnell.
Ich überlege, wie ich hier am besten so schnell wie möglich aus Jules Wohnung weg komme. Jannis zu überreden, mich doch gehen zu lassen, wird nicht funktionieren. Er beobachtet mich ganz genau. Ich würde nicht an ihm vorbei kommen.
Trotzdem muss ich hier weg, bevor Jule aufwacht. Ich kann ihn nicht sehen, geschweige denn mit ihm reden. Ich kann ihm nicht in die Augen sehen, ich kann das nicht. Nicht nach dem, was letzte Nacht passiert ist. Nicht jetzt, wo er weiß, wie geil ich das fand. Er wird mich hassen, er wird angewidert von mir sein und ich kann das nicht sehen.
Ich muss weg.
Ohne nachzudenken greife ich nach meinem Handy, das in meiner Hosentasche ist, und rufe meine Schwester an.
»Kai?«, sie klingt, als hätte ich sie gerade aufgeweckt, »Was ist los? Weißt du, wie viel Uhr es hat?«
»Lea, wie schnell kannst du bei Jules Wohnung sein?«, frage ich etwas hektisch.
»Was?«, sie ist verwirrt.
»Du musst mich hier abholen.«, erkläre ich, »Schnell.«
Ich kann Jannis' verwirrten Blick auf mir spüren, aber ich versuche es zu ignorieren.
»Und wieso gehst du nicht selbst heim? Ihr wohnt in derselben Stadt?«, fragt Lea, zurecht.
»Jannis lässt mich nicht alleine gehen«, fasse ich mich kurz.
»Okay?«, Lea ist noch verwirrter als zuvor, »Ich brauche so eine Stunde ungefähr.«
»Danke, du bist die beste«, ich atme erleichtert aus, »Bis gleich.« Und dann beende ich den Anruf.
»Kai. Was ist passiert?«, fragt Jannis mich eindringlich.
»Nichts, ich will nur heim.«, log ich. Ich weiß, dass er mir nicht glauben wird, aber was hätte ich ihm sagen sollen? Die Wahrheit? Nein. Niemals.
»Und deswegen muss Lea aus Aachen hierher fahren?«, fragt er, eine Augenbraue, ungläubig hochgezogen.
»Sie wollte sowieso vorbeikommen«, versuche ich die Sache herunterzuspielen. Wollte sie nicht. Eigentlich war der Plan, dass ich in der Sommerpause nach Aachen fahre, aber das muss Jannis ja nicht wissen.
»Aha«, nickte er ab, aber ich wusste, dass er mir immer noch nicht glaubt. Ich bin jedoch froh, dass er keine weiteren Nachfragen stellt.
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Ich verlasse das Gebäude und sehe meine Schwester bereits vor ihrem Auto stehen.
»Was ist los, Kai?«, fragt sie besorgt und breitet ihre Arme aus. Ich lasse mich in die Umarmung fallen.
»Ich habe richtig scheiße gebaut.«
Chapter 3: The Morning Comes
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POV Julian
Fuck! Fuck, Fuck, Fuck!
Die Erinnerungen an den gestrigen Abend kommen langsam zurück, als ich das schwarze Armband sehe. Ich berühre es vorsichtig mit meinen Fingerspitzen, als könnte es jeden Moment zerbrechen.
Am Abend zuvor:
»Julian!«, lacht Kai und lehnt sich immer wieder an meine Seite. Ich lache ebenfalls und lehne meinen Kopf leicht gegen seine Schulter.
Wir gehen zu einem See hinter dem Club, in dem wir eben noch mit dem ganzen Team gefeiert haben und stützen uns dabei immer wieder an dem anderen ab. Wir haben eindeutig zu viel getrunken. Die kühle Luft tut zwar gut, ich fühle mich wieder etwas klarer im Kopf, aber trotzdem kann ich nicht leugnen, dass ich eindeutig betrunken bin.
Wir haben die Hauptstraße bereits verlassen und laufen nun einen kleinen Weg zwischen zwei großen Wiesen entlang. Ich kann das Wasser schon von hier sehen, weswegen ich Kais Hand nehme, beginne dorthin zu rennen und ihn mit mir zu ziehen.
»Jule, was machst du?«, lacht er.
»Da ist das Wasser!«, sage ich voller Stolz, es zu sehen.
Als wir den See erreichen, setze ich mich auf den Boden und ziehe Kai mit runter zu mir. Neben uns sind ein paar Bäume, auf der anderen Seite des Ufers leuchten noch ein paar wenige Fenster der Häuser und hinter uns das Licht von Straßenlaternen. Das Rauschen des Windes und die leichten Wellen des Wassers sind zu hören, sonst ist es hier vollkommen ruhig. Es ist ein schöner Kontrast zu der Atmosphäre im Club und ich genieße die Stille mit Kai neben mir.
Nach kurzer Zeit lehne ich meinen Kopf gegen Kais Schulter. Er ist warm und riecht so gut nach seinem typischen Kaffee-Vanille-Geruch.
»Müde?«, fragt dieser mit sanfter Stimme, während er seinen Arm um meine Schulter legt und mit seinen Fingern leicht über meine Wangen streicht. Mein Gesicht beginnt leicht zu kribbeln - wahrscheinlich wegen des Alkohols, denke ich - und lehne mich leicht in seine Berührung.
»Es ist einfach schön so gerade«, sage ich, nicht wirklich auf seine Frage antwortend, »Mit dir, am See und die Stille.«
»Ja, so kann es bleiben«, stimmte er zu.
Ich genieße die Stille zwischen uns. Es ist schön, hier zu sein. Kai so nah zu sein und einfach zu existieren. Ohne irgendwelche Verpflichtungen, einfach sein. Gerade. In diesem Moment.
»Siehst du die Sterne?«, fragt Kai nach einer Weile, »Das ist der Polarstern.«, er deutet in den Himmel. Ich blicke hoch, folge seinem Finger und erkenne den hellen Stern selbst.
»Wunderschön«, flüstere ich, »Wunderschön«
Kai guckt wieder zu mir runter und plötzlich treffen sich unsere Blicke. Seine grünen Augen leuchten, obwohl ich sonst in der Dunkelheit kaum etwas erkennen kann. Ich spüre ein Lächeln auf meinen Lippen und sehe auch eines auf seinen. Sein Arm ist noch immer um meine Schultern gelegt und er zieht mich langsam näher zu sich hin.
Ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren und mit einem Mal setzt mein Kopf komplett aus. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich sehe nur noch Kais grüne Augen, spüre nur noch Kais Arm auf mir und rieche nur noch Kai mit einem leichten Geruch von Alkohol vermischt.
Er kommt mir immer näher entgegen und letztendlich sind unsere Gesichter nur noch Millimeter voneinander entfernt. Ich schaue tief in seine Augen und kann dort etwas erkennen, was ich schon lange nicht mehr in den Augen einer Person gesehen habe. Etwas, das ich noch nie so intensiv bei jemandem gesehen habe. Ich kann es nicht beschreiben, aber ich weiß, dass ich das öfter sehen will.
Dieser Blick gibt mir den letzten Anstoß dazu, endlich meinen Gefühlen nachzugeben und zu tun, was sich schon die ganze Zeit in meinem Kopf abspielt. Also lehne ich mich ein kleines Stück weiter nach vorne und drücke meine Lippen auf seine. Leicht und vorsichtig. Seine Lippen schmecken weich und noch etwas nach Alkohol, aber das Gefühl ist so unfassbar gut. Ich spüre sofort ein Kribbeln auf meinen Lippen, das sich schnell in meinem ganzen Gesicht und dann auch in meinem ganzen Körper ausbreitet.
Er küsst mich sofort zurück und lässt seine Hände in meine Haare wandern. Er zieht mein Gesicht näher an seines und auf einmal kann ich nicht mehr klar denken. Alles verschwimmt in einem Nebel aus Kais Lippen, Kais Händen und Kais Atem. Es gibt nichts mehr außer Kai um mich herum. Ich lege meine Hand an seine Wange und streife meine Finger sanft über seine Haut und ich spüre, wie er beginnt, in den Kuss zu lächeln. Ich kann nicht klar denken in diesem Moment, aber ich weiß, dass ich nicht will, dass das so schnell endet.
Nach einer Weile lösen wir uns wieder voneinander und schauen uns einfach an. Noch nie sah er so gut aus wie gerade. Seine Haare leicht verwuschelt, seine Augen leuchten, er lächelt und seine Lippen tiefrot, das kann ich sogar in dem schummrigen Licht der Straßenlaternen erkennen.
»Komm, lass uns verschwinden«, sage ich schließlich, stehe langsam auf und greife nach seiner Hand.
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Ich bekomme die Tür zu meiner Wohnung kaum auf. Der Schlüssel fällt mir fast aus der Hand, als Kai sich kichernd gegen den Türrahmen lehnte.
»Warte... warte... jetzt.«, lache ich.
Kai lachte leise und lehnte seine Stirn kurz gegen meine Schulter. Ich stimme in das Lachen mit ein, drehe mich zu Kai und trete rückwärts ein, Kai am Ärmel der Jacke mit mir ziehend.
Drinnen ist es dunkel, nur schwaches Licht aus dem Flur, das ich vergessen habe auszuschalten, dringt in den Raum. Wir lassen unsere Schuhe im Eingangsbereich stehen. Ich nehme Kais Hand und ziehe ihn mit mir, zuerst in das Wohnzimmer.
Kai landet auf der Couch und streckt eine Hand nach mir aus, »Komm her«
Ich gehe einige Schritte auf ihn zu und lächle schief. Ich ziehe ihn wieder auf seine Füße und lege meine Arme um seine Schulter, um ihn näher an mich zu ziehen. Kai lehnt sich noch ein Stück näher zu mir und schließt letztendlich den letzten Abstand zwischen uns.
Seine Lippen bewegen sich gegen meine und ich erwidere den Kuss sofort. Wir stellen keine Fragen, denken nicht darüber nach, was das bedeutet, sondern spüren nur unsere Lippen gegeneinander. Kais Hände legen sich langsam an meine Hüften. Ich lasse meine Hände von seinen Schultern in seinen Nacken wandern und ziehe ihn näher an mich, auch wenn das kaum möglich ist. Seine Finger ziehen mein T-Shirt ein Stück nach oben und er streicht über die Haut. Das Gefühl seiner kalten Finger auf meiner Haut ist unglaublich. Jeder Zentimeter meiner Haut fängt an leicht zu kribbeln, sobald er ihn berührt und ich spüre, wie er mich näher zu sich zieht.
Irgendwann unterbreche ich den Kuss und schaue ihn an.
»Komm mit«, ich nehme seine Hand und ziehe ihn mit mir zur Treppe Richtung Schlafzimmer. Die Tür fällt hinter Kai wieder ins Schloss. Er legt direkt seine Lippen wieder auf meine und drückt mich voran, bis ich rückwärts gegen das Bett stoße und Kai mit mir ziehe. Er lacht leise und legt sich auf mich. Seine Hände finden direkt den Weg unter mein T-Shirt und es dauert nicht lange, bis er dieses nach oben schiebt und mir auszieht. Er zieht direkt auch seine Jacke aus, schmeißt sie vom Bett auf den Stuhl neben der Tür und zieht auch sein eigenes T-Shirt aus.
Danach schaut er mir wieder in die Augen. Sie glänzen und das nicht nur vom Alkohol. Ich kann ein Glänzen in seinen Augen sehen, das ich so noch nie bei ihm gesehen habe. Voller Verlangen und Lust. Ich ziehe ihn wieder an mich und küsse ihn erneut.
Kai löst sich von meinen Lippen und beginnt, mich von meinem Hals über meinen Brustkorb bis zu meinem Bauch runter zu küssen, während ich meine Finger über seinen nackten Oberkörper wandern lasse. Ich taste mich entlang bis ich meine Finger in den Bund von Kais Jeans hake.
»Zieh aus«, murmle ich gegen seine Schulter.
»Mach selber«, Kai zieht seine Augenbraue herausfordernd hoch.
Unsere Jeans ziehen wir hektisch aus und werfen wir achtlos weg. Irgendwann lagen wir dann nur noch in Unterwäsche voreinander. Kai beugt sich auf mich und küsst meinen Bauch, fährt mit den Fingern über meine Hüften. Ich sauge die Luft ein und lasse die Hände über seinen Rücken gleiten, erst langsam, dann fester. Ich stoße meine Hüften nach vorne gegen seine und Kai entkommt ein leises Keuchen.
»Warte«, flüstere ich irgendwann und greife zur Schublade neben dem Bett.
Sobald wir fertig sind, falle ich neben Kai auf das Bett, wir sind beide außer Atem. Seine Finger suchen direkt wieder nach meinen und ich verhake unsere Finger miteinander. Kai dreht den Kopf zu mir, aber sagt nichts. Wir lächeln uns gegenseitig nur an, bis wir irgendwann einschlafen.
~~~
»Julian? Was ist los?«, werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als Jannis die Tür öffnet.
»Was? Wieso?«, schrecke ich verwirrt hoch, irritiert, wieso mein Bruder auf einmal in mein Zimmer kommt.
»Eigentlich wollte ich nur schauen, ob du auch was frühstücken willst, aber du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«, erklärt er sich besorgt, »Kai sah genauso aus, als er vorhin nach unten gekommen ist.«
»Kai?«, versichere ich mich, »Ist er noch hier?«
»Nein, er ist vor ungefähr 3 Stunden gegangen«
»Scheiße«, murmle ich, drehe mich um und greife nach meinem Handy, dass noch auf meinem Nachttisch liegt. Ich öffne direkt den Chat mit Kai. Keine neuen Nachrichten. Also beginne ich zu tippen.
Kai?
Alles gut bei dir?
Ich glaube, wir müssen reden...
»Kannst du mir mal erklären, was hier eigentlich los ist?«, höre ich Jannis wieder.
»Sorry Jannis«, sage ich kopfschütteln, »Nicht jetzt«
Danach stehe ich langsam auf und mache mich auf den Weg nach unten, wobei ich merke, dass mir noch ziemlich schwindelig ist.
Chapter 4: Getaway Car
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POV Kai
»Erzählst du mir auch mal was los ist, Kai?«, fragt meine Schwester, nachdem wir schon einige Minuten im Auto sitzen. Ich hatte gehofft, das Gespräch nicht führen zu müssen. Ich hatte gehofft, ihr nichts erzählen zu müssen, aber eigentlich hätte mir ab dem Moment, in dem ich ihre Nummer gewählt habe, klar sein müssen, dass sie Fragen stellen wird und vor allem, dass sie nicht aufhören wird, bis ich ihr eine ehrliche Antwort gebe. Lea kennt mich gut genug, um immer sofort zu wissen, ob ich lüge oder nicht.
Ich schweige und starre nur weiter nach vorne, in der Hoffnung, sie wird das Thema irgendwann lassen, wenn sie merkt, dass sie von mir keine richtige Antwort bekommen wird und ich nicht reden will.
»Kai, was ist los?«, wiederholt sie ihre Frage.
»Nichts«, ich zuckte mir meinen Schultern, drehe meinen Kopf zur Seite und schaue aus dem Fenster. Ich will nicht darüber reden. Nicht jetzt. Und nicht irgendwann später. Ich will einfach nur vergessen. Niemand soll wissen, was passiert ist. Niemand soll wissen, was für ein Mensch ich bin, dann kann ich vielleicht wieder normal werden. Aber dass Lea mich weiter damit nervt, macht es nur schlimmer. Ich will einfach nur vergessen, was da gestern passiert ist. Ich muss es vergessen. Sonst kann ich Julians Karriere zerstören. Er hat schließlich nichts falsch gemacht und er verdient seine Karriere.
»Nichts?«, ich spüre ihren Blick für einen kurzen Moment auf mir bevor sie weiter redet, »Und das soll ich dir glauben? Du rufst mich um halb 6 an einem Sonntag in der Früh an, willst, dass ich dich bei Julian abholen soll, weil Jannis dich nicht alleine heim gehen lässt, sagst dann nur, dass du scheiße gebaut hast und sitzt jetzt seit 10 Minuten in meinem Auto und schaust, als wäre dein Leben vorbei. Und du glaubst wirklich, dass du bei mir durchkommst, wenn du sagst, dass nichts passiert ist? Sorry, aber da hättest du lieber Jan anrufen sollen.«
Ich schaue sie schockiert an, nachdem sie die Zusammenfassung des Tages bis jetzt beendet hat.
»Sorry«, war alles, was ich sagen konnte. Und ich weiß nicht mal genau, wofür. Vielleicht dafür, dass sie sich jetzt unnötig Sorgen um mich macht. Sorgen, die ich nicht verdient habe. Nicht, wenn ich sowas mache. Vielleicht für die Entscheidung, die ich treffen muss und die sie nie verstehen wird.
»Schon gut. Ich fahr dich erstmal heim und dann können wir auch darüber reden«, sagt sie, ihre Stimme wieder weicher als zuvor, »Aber du kannst nicht davon ausgehen, dass ich mir nach all dem keine Sorgen mache. Wir haben uns doch immer alles erzählt.«
»Sorry«, sage ich erneut, weil ich weiß, dass sie recht hat. Lea konnte ich schon immer alles erzählen, auch wenn ich das nicht immer getan habe. Zumindest nicht so detailliert, wie ich es hätte tun können. Und ihr von dieser einen Sache zu erzählen, ist für mich fast unmöglich. Zu sehr schäme ich mich dafür, weil ich weiß, dass es falsch war. Das größte Problem ist jedoch, dass ich es nicht geschafft habe, meine dummen Gefühle unter Kontrolle zu halten und deshalb den ganzen Fortschritt, den ich die letzten Jahre gemacht habe, zu ruinieren.
Ich habe versagt. Gegen mich selbst und gegen alles, was ich mir die letzten Jahre so mühsam zusammengebaut habe. Die Mauer, die Haltung, das Versteck. Ich habe alles eingerissen für eine Nacht und jetzt weiß ich nicht, wie ich atmen soll.
Wenn rauskommt, was passiert ist, war es das für seine Karriere, deswegen muss ich eine Entscheidung treffen, um Jules Karriere zu schützen. Lea das zu erklären wird ein Problem werden, denn sie wird es nicht verstehen, aber sie kann es auch nicht verstehen, weil sie niemals in meiner Lage sein wird.
Ich drücke meine Zunge gegen den Gaumen. Einfach nur, damit ich irgendwas spüre. Es hilft aber nicht. Da ist ein Kloß in meiner Kehle, der alles andere übertönt. Ich habe die Nacht genossen. Das ist das Schlimmste daran. Es war kein Versehen, ich wollte es. Ich habe ihn gewollt, so sehr, dass alles andere kurz egal war. Aber ich kann ihn nicht lieben. Nicht richtig. Nicht so, wie es andere tun. Ich kann es nicht vor Kameras. Nicht vor dem Team. Nicht vor meinem Vater. Ich kann es nicht mal vor mir selbst.
Und was, wenn er das auch gar nicht wollen würde? Wenn er merkt, wie falsch das alles ist und mich nicht mehr sehen will?
»Kai, was ist los? Wieso weinst du?«, fragt meine Schwester besorgt. Erst jetzt spüre ich Tränen, meine Wange runterkullern. Scheiße, was ist nur los mit mir?
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und versuche Lea mit einem schiefen Lächeln zu beruhigen, »Nichts, sorry«
Als wir am Gebäude meiner Wohnung ankommen, öffne ich die Tür und steige aus dem Auto aus. Lea macht dasselbe und wir laufen in Richtung meiner Wohnung.
Oben angekommen, schließe ich die Tür auf und lasse mich auf meine Couch fallen. Ich halte meine Augen nur mit Mühe auf. Die ganze Zeit, in der ich in Jules Wohnung war, war ich zu angespannt, um die Müdigkeit zu spüren, aber jetzt, hier in meinen eigenen vier Wänden bin ich wieder in einem geschützten Raum, in dem ich auch schlafen kann, ohne Angst vor seiner Reaktion zu haben. Auch wenn ich immer noch die Bilder von dieser Nacht vor meinen Augen habe, sobald ich sie schließe. Aber hier ist es nicht mehr so schlimm, nicht so intensiv, nicht so nah an dem Ort, an dem es passiert ist.
Doch bevor ich überhaupt versuchen kann, einzuschlafen, kommt Lea mit zwei Tassen Kaffee in der Hand ins Wohnzimmer, reicht mir eine, ich nehme sie ihr entgegen und nicke dankend. Dann setzt sie sich neben mich auf die Couch und sieht mich besorgt an.
»Also schieß los: Was ist bei Julian passiert?«, beginnt Lea und nimmt einen großen Schluck von ihrem Kaffee.
»Ich beende meine Karriere«, spreche ich es nun zum ersten Mal aus, ganz ohne Erklärung und ohne auf ihre Frage einzugehen..
»Was?«, sie schaut mich schockiert und verwirrt gleichzeitig an.
»Ich muss es tun, ich habe keine andere Wahl«, erkläre ich ihr weiterhin kryptisch.
»Aber wieso? Dir ist nichts wichtiger als deine Karriere, wie kommst du jetzt auf sowas?«, versucht Lea mehr zu erfahren, immer noch sichtlich verwirrt.
»Ich kann das nicht mehr Lea. Jeden Tag tue ich so, als wäre ich jemand, der ich nicht bin. Seit Jahren kann ich nicht wirklich ich selbst sein. Ich will das nicht mehr. Ich will einfach wieder ein normaler Mensch sein, aber solange ich dort bin, kann ich das nicht. Ich habe versucht, es zu vergessen, zu verdrängen, ich habe versucht, normal zu sein, aber seit gestern kann ich das nicht mehr. Nicht mehr hier. Ich muss weg. Von diesem Team, vom Platz, ich kann das nicht mehr«, ich spüre Tränen in meinen Augen, die ich versuche zurückzuhalten und spüre Leas Blick auf mir. Ich kann sie jetzt nicht ansehen, sonst würde ich ganz sicher anfangen zu heulen. Das wäre lächerlich, das darf nicht passieren.
»Aber denkst du wirklich, dass es besser wird, wenn du Fußball verlässt?, versucht Lea mir zu helfen.
»Das ist der einzige Weg«, beginne ich wieder, während ich sie dieses Mal anschaue, »Dieser Sport hat das alles nur noch schlimmer gemacht. Ich dachte, ich kann diese ganze Scheiße vergessen, aber seit ich hierher gezogen bin, ist alles nur noch schlimmer geworden. Ich habe alles versucht, um nicht so zu sein. Ich habe alles versucht, um diesen Unsinn zu vergessen und normal zu sein, aber es geht nicht. Im Verein ist es noch schlimmer. Ich gehe lieber, bevor es irgendwie rauskommt und alles zerstört wird. Dann kann ich vielleicht wieder normal werden.. Und jetzt kann ich nicht auch noch Julian-«, ich stocke, als ich merke, dass ich seinen Namen erwähnt habe. Scheiße
»Julian?«, fragt Lea verwundert, »Was hat er denn damit zu tun?«
»Ich...nichts, ich mein…ich«, versuche ich irgendwie eine logische Erklärung zu finden, aber ich merke selbst, dass es bereits zu spät ist. Meine Schwester hat diesen wissenden Blick, weshalb ich weiß, dass Ausreden eigentlich zwecklos sind. Sie weiß, was damals in der 8. Klasse passiert ist und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auch jetzt weiß, worüber ich rede.
»Jule und du also?«, fragt meine Schwester mit einem Grinsen auf ihrem Gesicht, »süß«
»Nein. Es gibt kein Jule und ich und das wird es auch nie geben. Das ist alles zu falsch, das darf nicht passieren. Ich bin Fußballspieler, sowas gibt es nicht im Fußball. Ich kann ihn da nicht mit reinziehen. Es ist schon schlimm genug, dass das meine Karriere ruiniert, aber ich muss nicht auch noch Jule-«, setze ich an, aber werde von Lea unterbrochen.
»Kai! Hör doch mal für eine Minute auf mit diesem Schwachsinn. Du bist nicht falsch und du bist auch garantiert nicht unnormal. Und was die anderen Leute denken ist mir sowas von egal. Du kannst nicht immer deine Karriere über deine Gefühle stellen und dir dadurch selbst wehtun. Das tut dir nicht gut. Ich schaue mir seit Jahren an, wie du deine Gefühle verdrängst, nur weil Queer-sein im Fußball ein Tabu-Thema ist und das tut weh. Deine Karriere jetzt zu beenden, weil irgendwas rauskommen könnte ist es doch wirklich nicht wert, oder?«, versucht sie, mich umzustimmen.
»Doch, das ist die einzige Möglichkeit, die ich habe. Ich kann nicht die ganze Zeit in einer Welt leben, in der ich täglich daran erinnert werde, wie falsch ich bin. Ich muss hier weg, um wieder normal werden zu können, um das alles zu vergessen, weil es einfach falsch ist.«, ich spüre, wie mir die Tränen die Wangen herunterfließen, aber in diesem Moment ist mir einfach alles egal. Ich spreche zum ersten Mal alles aus, was ich seit Jahren fühle und ich kann einfach nicht anders als zu weinen. Ich will endlich wieder normal sein.
Ich spüre, wie Lea auf der Couch näher zu mir rutscht, sich zu mir lehnt und ihre Arme um mich schlingt. Sie zieht mich nah an sich ran und streicht mit ihren Fingern vorsichtig durch meine Haare. Ich lehne mich gegen sie und lasse alles raus, was ich in den letzten Jahren aufgestaut habe.
Ich weiß nicht, wie lange wir so auf meiner Couch sitzen und sie mich hält während ich weine, aber als die Tränen in meinen Augen irgendwann weniger werden, setze ich mich wieder richtig auf und wische mit meinen Händen über mein Gesicht.
»Ich weiß, dass du diese Entscheidung selbst treffen musst, aber ich weiß, dass wir auch so einen Weg finden werden. Trotzdem werde ich dich immer unterstützen, egal was du tust«, lächelt sie mir aufmunternd zu.
»Danke«, ich schenke ihr ein halbes Lächeln, »für alles Lea, danke.«
»Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst, ja?«, sie schaut mich ernst an, »Und wenn das nicht reicht, wäre es vielleicht mal eine Idee, wenn du mit jemand anderem redest? Vielleicht auch mit professionellen Leuten?«
»Nein, ich brauche keine Therapeuten, ich komme alleine klar«, wehre ich ihren Vorschlag sofort ab, »Wenn ich lange genug von ihm fern bleibe, werde ich schon wieder normal«
»Kai, du bist normal, nichts an dir ist falsch«, will sie mich wieder überzeugen, »Bitte hör auf, dir das die ganze Zeit einzureden«
»Ich kann aufhören es zu sagen, aber das macht es nicht weniger wahr«, erkläre ich ihr.
»Ach Kai«, sie seufzt, aber sagt nicht mehr, worüber ich sehr froh bin. Wahrscheinlich hat sie gemerkt, dass es keinen Sinn macht, denn sie wird mich nicht überzeugen.
Chapter 5: Goodbye
Chapter Text
Juni 2019/POV Julian
Es sind einige Wochen vergangen, seit die Sache mit Kai passiert ist und er hat sich seitdem nicht mehr bei mir gemeldet. Ich habe ihm mehrfach Nachrichten geschrieben, ihn versucht anzurufen, aber auch bei ihm reagiert er nicht auf Nachrichten oder Anrufe.
Jannis hat mich immer wieder gefragt, was zwischen uns passiert ist, aber ich habe es ihm nie gesagt. Egal wie oft oder lange er gefragt hat, ich habe ihm nicht einmal einen Anhaltspunkt an Informationen gegeben, was passiert ist, denn erst muss ich mit Kai selbst reden und dann kann ich versuchen, Jannis irgendetwas zu erklären.
Ich weiß ja selbst nicht einmal wirklich, was in dieser Nacht passiert ist. Ich habe mit Kai geschlafen, klar, aber was das für uns nun bedeutet, weiß ich nicht. Ich habe in letzter Zeit oft an Kai gedacht. Vielleicht zu viel. Nicht die ganze Zeit. Nicht konstant, aber in so kleinen, dummen Momenten. Wenn ich dusche, wenn ich einen Witz höre, über den er gelacht hätte, wenn ich in der Bahn jemanden mit exakt derselben Haarfarbe sehe und sich mein Magen kurz verkrampft, bevor mein Kopf versteht, dass es nicht er ist.
Ich habe mir eingeredet, dass das alles nichts heißt. Dass es halt war, wie es war. Alkohol, Nähe, ein schwacher Moment, irgendeine Kettenreaktion, weil alles davor so nah war, so aufgeladen. Aber das ist gelogen. Ich weiß das. Ich habe es gespürt, noch während es passiert ist. Noch bevor wir überhaupt geschlafen haben.
Ich versuche, es zu verstehen. Bin ich...verliebt?
Keine Ahnung.
Wenn ich an ihn denke, kribbelt es und gleichzeitig zieht sich alles in mir zusammen, nur nicht körperlich. Sondern im Kopf. Im Herzen.
Ist das Verliebtheit?
Ich weiß, wie es ist, wenn man einfach jemanden heiß findet. Aber diese Nacht war anders. Das war...zu viel, zu nah, zu sanft. Und trotzdem tut es weh, weil es danach einfach nichts mehr war. Keine Nachricht. Kein Anruf. Kein ‘Sorry’ oder ‘Ich kann das nicht’. Einfach nichts. Stille. Als hätte ich mich in einen Moment verliebt, der gar nicht echt war. Oder?
Ist es überhaupt Verliebtsein, wenn ich nicht mal weiß, ob das echt war? Wenn ich nicht mal weiß, ob er mich angeschaut hat, weil ich ich bin oder weil ich zufällig der war, der gerade da war?
Ich bin nicht sauer auf ihn. Nur leer. Nicht wütend oder traurig. Ich weiß nicht, ob ich verliebt bin. Ich weiß nur, dass ich ihn vermisse und dass das vielleicht noch viel beschissener ist.
—
Ich sitze gerade neben Jannis in seinem Auto auf dem Weg ins Fitnessstudio, als er am Rand der Straße stehen bleibt.
»Was machst du?«, ich drehe mich zu ihm und schaue ihn verwirrt an, »Hier ist nicht das Fitnessstudio.«
»Nein, aber dort drüber ist Kais Wohnung«, er zeigt ein Stück nach vorne, »Und du wirst dort jetzt hingehen und mit ihm reden.«
»Nein, du kannst nicht einfach von mir verlangen, dass ich zu ihm gehe, wenn er mich seit Wochen ignoriert.«, versuche ich ihm zu erklären, dass ich das nicht tun werde.
»Doch, und du wirst das auch machen«, bleibt Jannis bei seiner Meinung, »Ich weiß nicht, was zwischen euch passiert ist, aber ihr seid offensichtlich beide zu stur, um irgendwas zu ändern, also muss ich wohl nachhelfen. Du gehst jetzt zu ihm und ihr klärt die Sache, ich habe nämlich keine Lust dich noch wochenlang so deprimiert zu sehen.« Er schaut mich streng an.
»Okay, dann rede ich halt mit ihm«, ich verdrehe die Augen und öffne die Tür. Irgendwie bin ich auch froh, dass mein Bruder mich hierher gefahren hat. Ich selbst bin auch schon öfter an Kais Wohnung vorbeigefahren und habe überlegt mit ihm zu reden, aber letztendlich war meine Angst vor der Abweisung, die kommen könnte, immer zu groß, also bin ich jedes Mal vorbeigefahren.
Ich gehe die paar Meter zur Tür des Gebäudes von Kais Wohnung. Ich atme einmal tief durch und überlege, ob ich nicht lieber gehen sollte. Ich habe ihn so oft versucht zu erreichen und er hat kein einziges Mal geantwortet, also hat er offensichtlich kein Interesse daran, irgendwas mit mir zu klären. Wenn ich jetzt vor seiner Tür stehe, wird das die ganze Sache nur noch schlimmer machen. Ich könnte Jannis auch einfach erzählen, dass Kai nicht daheim ist.
Nein, stopp, Julian , unterbreche ich meine Gedanken selbst. Ich muss das jetzt durchziehen, sonst könnte ich Kai für immer verlieren und das wäre noch schlimmer, als wenn er mir jetzt ins Gesicht sagt, dass er mich nicht mehr sehen will.
Also drehe ich mich zum Klingelschild und will auf Kais Namen drücken. Doch er ist nicht da. Ich gehe alle Namen doppelt durch, nur um sicher zu gehen, dass ich ihn nicht übersehen habe. Doch das Schild, an dem normalerweise Kais Name steht, ist leer. Zuerst denke ich, dass er ihn vielleicht entfernt hat aus Angst, jemand könnte seine Adresse herausfinden, weswegen ich mich trotzdem dafür entscheide, auf die Klingel zu drücken.
»Hallo?«, höre ich eine weibliche Stimme am anderen Ende der Sprechanlage.
»Hallo?«, grüße ich sie verwirrt, »Ist Kai hier?«
»Nein, Entschuldigung, ich kenne keinen Kai«, sagt die Frau.
»Das ist aber schon Wohnung Nummer 13?«, frage ich nach, vielleicht habe ich aus Versehen die Klingel verwechselt.
»Ja, richtig«, bestätigt die Frau, »Wir sind erst vor ein paar Tagen eingezogen, vielleicht suchen sie unseren Vormieter?«
Vormieter? Ist Kai etwa umgezogen? Und hat mir nicht Bescheid gesagt? Ja, wir haben seit einem Monat keinen Kontakt, aber er kann mir doch Bescheid sagen, dass er umzieht.
»Oh, entschuldigen Sie«, beende ich das Gespräch mit der Frau noch, »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Und dann gehe ich zurück zu Jannis' Auto.
»Und ihr habt das so schnell geklärt?«, fragt Jannis überrascht, seine Augenbraue hochgezogen.
»Kai ist umgezogen«, sage ich monoton, da ich es immer noch nicht glauben kann, was ich gerade erfahren habe, während ich mich auf den Beifahrersitz neben meinen Bruder setze.
»Was?«, fragt Jannis, sichtlich verwirrt.
»Ich habe geklingelt. Eine fremde Person hat über die Sprechanlage gesprochen und gesagt, sie ist neu eingezogen. Ich habe mich versichert, dass ich wirklich an der richtigen Wohnung bin. Kai ist weggezogen«, gebe ich meinem Bruder die Kurzfassung.
»Okay, das ist jetzt unerwartet«, Jannis ist sichtlich genauso überrascht wie ich.
»Dann lass uns jetzt wirklich ins Fitnessstudio gehen. Wir können später überlegen, was wir wegen der Kai-Situation machen.«, schlägt er vor, worüber ich sehr froh bin, »Und wenn du mir einfach erzählen würdest, was passiert ist, wäre das ganze noch viel einfacher.«
Ich sage nichts zurück. Ich weiß, dass ich Jannis nicht erzählen kann, was zwischen uns passiert ist. Nicht ohne mir erst mal selbst im Klaren darüber zu sein, was das bedeutet oder mit Kai darüber geredet zu haben.
Wir sitzen schweigend im Auto nebeneinander, während im Radio die Nachrichten laufen. Ich höre nicht wirklich zu, zu sehr damit beschäftigt, wieso Kai mir nichts von seinem Umzug gesagt hat. Oder war das so spontan, dass er das entschieden hat, nachdem diese Sache passiert ist? Ist er wegen mir umgezogen? Wechselt er deswegen sogar den Verein? Sonst würde ich nicht verstehen, wieso er mir nichts von seinem Umzug erzählt.
Aber alle diese Fragen sind sofort beendet, als ich Kais Namen im Radio höre. Meine Aufmerksamkeit ist nun voll und ganz zu dem Nachrichtensprecher übergegangen.
‘Leverkusen-Spieler Kai Havertz hat heute Nachmittag in einem Statement, das auf den offiziellen Kanälen des Vereins veröffentlicht wurde, bekanntgegeben, dass er seine Karriere beenden wird. Über die Hintergründe ist nicht viel bekannt,der Spieler möchte sich auf seine mentale Gesundheit konzentrieren. Der 20-jährige verlässt den Verein nach 3 Jahren. Er war einer der großen Hoffnungsträger für deutschen Profifußball.’
Sobald der Nachrichtensprecher das Thema wechselt, schaue ich irritiert zu Jannis rüber. Dieser schaut ebenfalls verwirrt und ungläubig zugleich. Keiner von uns sagt etwas. Ich versuche selbst erst einmal die Neuigkeiten zu verarbeiten.
Kai geht.
Er verlässt den Verein.
Nicht nur das, er beendet seine Karriere.
Und er hat mir nicht einmal Bescheid gesagt.
War die Sache zwischen uns wirklich so schlimm für ihn, dass er mir nicht einmal mehr Bescheid sagen kann, dass er aufhört? Seine Karriere beendet? Kann er mich deswegen nicht mehr anrufen und mich über wichtige Entscheidungen in seinem Leben informieren? Hat er das vielleicht sogar wegen mir getan? Weil er mich nicht mehr sehen kann? Weil er Fußball nicht mehr sehen kann, ohne sich an unsere gemeinsame Nacht zu erinnern?
Nein, das kann nicht sein. Kai liebt Fußball. Er liebt Fußball zu sehr. Er würde nicht aufhören wegen mir. Wegen uns. Er würde vielleicht den Verein wechseln, aber seine Karriere beenden? Niemals. Es muss etwas wirklich Schreckliches passiert sein, das Kai dazu gebracht hat, seine Karriere zu beenden. Und ich muss es herausfinden.
Fast automatisch ziehe ich mein Handy aus meiner Hosentasche hervor und öffne meine Kontakte. Ohne darüber nachzudenken, wähle ich Kais Nummer.
Es klingelt.
Ich warte darauf, dass er abhebt. Ich weiß nicht genau wieso ich erwarte, dass er rangeht, wenn er mich die letzten Wochen auch immer ignoriert hat, aber irgendwie denke ich, dass die Verkündung seines Karriereendes ein Moment sein könnte, in dem er vielleicht wieder mit mir reden würde.
Falsch gedacht. Nach einigen Sekunden höre ich die mechanische Stimme des Anrufbeantworters und den Piepton. Ich lege auf und lasse meinen Körper gegen die Sitzlehne fallen.
»Du wusstest also nicht, dass er aufhört«, schlussfolgert Jannis.
»Nein«, seufze ich, »Woher denn auch?«
»Ich dachte, der Verein sagt bei solchen Entscheidungen den Spielern Bescheid.«, zuckt er mit den Schultern.
»Anscheinend nicht.«
»Das kriegt ihr wieder hin, irgendwie«, sagt Jannis entschlossen, »Und solange helfe ich dir auf andere Gedanken zu kommen.«
Und in diesem Moment bin ich wirklich dankbar dafür, dass mein Bruder da ist. Wäre er das nicht, wäre ich vermutlich komplett verzweifelt. Aber Jannis hier zu haben und zu wissen, dass er versucht mir zu helfen, macht die ganze Sache so viel erträglicher. Auch wenn ich nicht denke, dass er irgendwas zwischen mir und Kai ändern könnte. Anscheinend ist Kai ja so angeekelt von dem Gedanken von uns beiden zusammen, dass er sich nicht mehr bei mir melden kann und eventuell sogar seine Karriere deswegen beendet.
Chapter 6: New City
Chapter Text
POV Kai
Nach Stunden des Reisens bin ich endlich am Flughafen gelandet. Bevor das Statement zu meinem Karriereende in wenigen Stunden veröffentlicht wird, wollte ich unbedingt schon weg sein. Keine Aufmerksamkeit der Presse in Deutschland auf mich ziehen. Einfach weg sein und das so schnell wie möglich. Also verlasse ich gerade den Flughafen, auf dem Weg das nächstbeste Taxi zu finden und zu meiner Wohnung zu fahren.
Das hier wird ein Neuanfang für mich. Ohne meine Karriere. In einem ganz anderen Land, in dem mich hoffentlich kaum jemand kennt und ich versuchen kann, alles zu vergessen. Ohne die Angst, jemand könnte die Wahrheit über mich herausfinden. Herausfinden, dass ich anders bin. Dass ich jemand bin, der ich nicht sein darf. Herausfinden, dass ich mit einem Mann geschlafen habe. Herausfinden, wie eklig ich in Wahrheit wirklich bin.
Dass das jemand herausfinden kann, ist mir zwar nichts neues, jedoch war die Gefahr, nie da. Die Gefahr, dass das meine Karriere beeinflusst, gab es nie. Und Jules Karriere ist davon sowieso nicht betroffen. Julian ist heterosexuell, wenn es anders wäre, hätte er mir das gesagt. Aber nun kann es rauskommen. Es ist nicht einmal so abwegig. Was, wenn Julian homophob ist? Er würde es sicherlich dem Verein melden und das wars dann mit meiner Karriere.
Oder wenn er es jemand anderem erzählt? Nicht einmal absichtlich, auch aus Versehen. Julian redet viel, da kann es leicht sein, dass er versehentlich Dinge sagt, die er nicht sagen will und wenn sich das verbreitet, ist meine Karriere zerstört.
Was, wenn Julian denkt, ich habe ihn belästigt? Er will deswegen wahrscheinlich sowieso nichts mehr mit mir zu tun haben und es gibt auch keinen Grund für mich in Leverkusen zu bleiben. Julian war die einzige Person, die mich dort gehalten hat und jetzt? Jetzt gibt es keinen Grund mehr für mich, dort zu bleiben. Ich würde uns beide nur in eine unangenehme Situation bringen, aber wenn ich gehe, wird das nicht passieren.
Ich öffne die Tür des nächstbesten Taxis.
»Wohin soll es gehen, junger Mann?«, fragt der Fahrer, ein älterer Mann mit kurzen schwarzen Haaren und einer runden Brille auf der Nase.
Ich nenne ihm die Adresse und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Der Fahrer hat klassische Musik über das Radio laufen lassen, aber ich ignoriere den Ton. Ich krame nach meinem Handy in der Hosentasche und öffne meine Nachrichten. Zwischen den Nachrichten von Timo und Lea fällt mir jedoch nur ein Chat ins Auge: der mit Jule.
Kurze Zeit lasse ich meinen Finger darüber schweben. Seine ersten Nachrichten habe ich ziemlich schnell geöffnet, jedoch nie geantwortet. Ich konnte es einfach nicht. Zu groß die Angst vor Hass oder Abstoßung. Ich kann es nicht aushalten, sollte Jule nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, und da er jetzt weiß, wer ich wirklich bin, ist das ziemlich realistisch. Also habe ich das einzig richtige getan: Kontaktabbruch. Denn dann muss ich nicht erleben, wie er mich abstößt.
Seit einigen Tagen überlege ich jedoch, ihm zu schreiben. Nur, dass ich gehe. Dann weiß er wenigstens, dass er mir nicht mehr ins Gesicht sehen muss und kann befreit durch Leverkusen laufen.
Bis jetzt habe ich mich noch nicht getraut, ihm zu schreiben. Doch wenn ich es noch tun wollte, musste es jetzt sein. Sonst erfährt er es aus den Medien.
Also öffne ich den Chat, vorsichtig lese ich seine Nachrichten.
Kai, alles gut?
Ich möchte mit dir
über alles reden
Alles okay?
Können wir reden?
Bitte?
Ich mache mir wirklich
Sorgen um dich...
Kai melde dich bitte,
wenn du bereit bist zu reden
Wir müssen darüber reden
Ich bin kurz davor, in Tränen auszubrechen, nachdem ich seine Nachrichten gelesen habe, aber ich halte sie zurück. Ich kann schließlich nicht einfach vor einer fremden Person anfangen zu weinen. Also versuche ich, ruhig zu atmen und tippe vorsichtig eine Nachricht in den Chat.
Heyy, tut mir leid,
was ich getan habe
Ich muss dir eine
wichtige Sache sagen,
Kannst du später
telefonieren?
Ich lese mir die Nachricht noch einmal durch, dann lösche ich sie wieder. Das kann ich ihm nicht so schreiben. Was wird er sich denn denken? Ich melde mich wochenlang nicht bei ihm, und dann plötzlich schon, nur um ihm zu sagen, dass ich das Land verlassen habe.
Das kann ich nicht machen. Das kann ich ihm nicht antun. Soll er es doch aus den Medien erfahren, er wird schon klarkommen.
Wenn ich ihm jetzt wieder schreibe, dann wird es nur um so schwieriger für mich, wenn Jule dann den Kontakt abbricht. Julian hält das schon aus. So wie ich auch. Je eher ich den Kontakt beende, desto schneller kann ich ihn vergessen und wieder normal werden.
Danach öffne ich noch den Chat mit meiner Schwester und lasse sie wissen, dass der Flug gut war und ich gut angekommen bin und danach erzähle ich Timo, dass ich mich schon freue, ihn gleich wieder zu sehen.
Als ich an der Wohnung angekommen bin, stehe ich vor der Tür und atme einmal tief durch. Dann drücke ich auf die Klingel. Ein paar Sekunden lang passiert nichts, dann öffnet sich die Tür ruckartig und Timo steht da.
»Endlich«, sagt er, »Bist du okay?«
Ich nicke, zwar nicht ganz überzeugend, aber genug, dass Timo keine Fragen stellt. Er tritt zur Seite und lässt mich rein, »Die anderen wissen es noch nicht.«
»Ich weiß«, sage ich, »Ich wollte es selbst sagen.«
Ich trete über die Schwelle und ziehe den Koffer hinter mir her.
»Es ist schon in den Medien, oder?«, frage ich leise.
Timo nickt, »Vor zwanzig Minuten. ‘Kai Havertz beendet mit 20 Jahren seine Karriere, der Spieler will sich auf seine mentale Gesundheit fokussieren‘.«
Ich schlucke. Die Formulierung hatte mein Management vorgeschlagen. Neutral, verständlich und keine Fragen über Sexualität, keine Diskussionen über Gründe, die es wirklich sein können.
»Und? Was haben sie gesagt?«,frage ich und nicke Richtung Tür, aus der ich Mason und Delan höre.
Timo zuckt mit den Schultern, »Mason hat gesagt, er denkt, du wirst jetzt Coach oder so. Declan hat gesagt, das ist, weil du immer zu viel denkst, aber sie freuen sich, dass du herkommst.«
Ich atme durch. Es fühlt sich an wie ein halber Schritt in die richtige Richtung und ein ganzer, der wehtut. Aber jetzt kann ich wenigstens wieder versuchen, normal zu werden.
Wir gehen den Flur entlang, Stimmen dringen aus dem Wohnzimmer und Mason ruft, »Ich sage es, das ist ein riesiger PR-Stunt. Kai wird Kommentator in der Premier League, safe.«
Timo grinst schräg, »Dann, willkommen daheim.«
Ich trete ins Wohnzimmer. Zwei Köpfe drehen sich gleichzeitig zu mir. Mason und Declan schauen mich mit großen Augen an und das Gespräch verstummt.
»Hey!«, sagt Mason und steht auf, »Er lebt!«
Declan lacht, »Das Karriereende ist offiziell, hm? Kam gerade als Push-Nachricht auf mein Handy. Ich dachte erst, das ist so ein Aprilscherz, dann habe ich gemerkt, es ist Juni.«
Ich hebe die Hand leicht, »Nein, kein Scherz.«
»Holy shit«, murmelt Mason, »Also wirklich? Kein Comeback mehr? Kein kleines Testspiel gegen Drittligisten? Kein Fußball mehr?«
Ich lache leise, »Nein, ich bin raus. Komplett.«
»Aber warum?«, fragt Declan und lehnt sich nach vorn; 2Du bist nicht mal alt oder verletzt.«
Ich setze mich auf den Sessel neben den beiden und lasse den Rucksack neben mir fallen, »Weil es mir gereicht hat. Ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr mitkomme. Zu viel Druck und zu wenig Klarheit, wer ich wirklich bin.«
Stille, dann sagt Mason, »Mental Health halt.«
Ich nicke.
»Krass«, sagt Declan, »Respekt, dass du das so offen sagst. Viele trauen sich das nicht.«
Ich sage nichts. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich es nicht kann. Weil es nicht stimmt, weil das nicht der Grund ist, warum ich gegangen ist. Zumindest nicht der komplette Grund.
Timo wirft mir einen Blick zu, aber ohne Druck.
Mason lehnt sich zurück, »Dann bist du jetzt also unser neues WG-Mitglied? Der Ex-Starspieler, der jetzt nur noch Cola trinkt und schlechte Ratschläge gibt?«
»Besser als deine«, murmele ich und grinse. Alle drei lachen und für einen Moment ist alles fast wieder normal, aber nur fast. Denn in meinem Kopf brennt sein Name. Julian.
Mason und Declan fangen wieder an, eine neue Runde FIFA zu zocken und ich richte meinen Blick auf den Bildschirm, während meine Gedanken aber völlig abdriften. Das Statement ist öffentlich und ich frage mich, ob Jule die Schlagzeile auch gesehen hat, ob er verstanden hat, was ich nicht gesagt habe oder ob er sich denkt, dass ich ihn einfach vergessen habe.
Und ich bin hier in England und versuche neu anzufangen und zu vergessen. Ihn zu vergessen. Diese Nacht zu vergessen. Ich wage es nicht, mein Handy zu öffnen und nachzuschauen, was die Leute sagen. Ich will lieber hier bleiben. Im Unwissen über die öffentliche Meinung, abgeschottet von allen anderen. Ohne zu sehen, was Leute dazu sagen, sonst bereue ich es am Ende noch irgendwie und das kann nicht passieren. So kann ich am besten vergessen und das brauche ich jetzt auch.
Ich höre die Jungs im Hintergrund, wie sie sich über ihre Spieler aufregen und immer mal wieder rufen, weil sie ein Tor kassiert haben, aber ich kann mich nicht darauf fokussieren, wirklich dem Spiel zu folgen. Ich denke daran, wie es wäre, wenn Jule jetzt hier wäre. Wie wir zusammen spielen würden und uns gegenseitig aufregen würden, wenn das Spiel nicht so läuft wie geplant. Wie wir uns gegenseitig als Spieler auswählen würden und uns dann beschuldigen würden, wenn dieser Spieler einen Fehler macht. Wie wir einen ganzen Tag damit verbringen würden, uns gegenseitig zu besiegen und dann am Abend noch etwas zu essen bestellen würden.
Und irgendwie ist es hier genauso. Nur ohne ihn.
Ein paar Stunden später, nachdem auch ich ein paar Runden FIFA gespielt habe, legt Timo die Konsole auf die Seite und fragt, »Wollen wir was zu essen bestellen? Der Kühlschrank ist ziemlich leer.«
»Ja, lass machen«, nickt Declan zustimmend, »Woran hast du gedacht?«
»Ich habe mir auf dem Flug eine Liste von Restaurants, die ich probieren will, erstellt«, sage ich, »Da könnten wir was von probieren»
Die anderen nicken, »Klar, was gibt es zur Auswahl?«
Ich nehme meine Handy und öffne die Liste, dann gebe ich es Mason und die drei diskutieren, welche von den Restaurants wir auf keinen Fall nehmen sollen und welche sehr gut sind. Ich beobachte sie und warte, bis sie sich geeinigt haben und wir bestellen.
—
Es ist fast zwei Uhr nachts, ich liege in meinem Bett und starre an die Decke, als könnte ich dort irgendeine Antwort bekommen.
Draußen höre ich einen Bus vorbeifahren, das Licht der Scheinwerfer flackert kurz durch das Fenster. Mein Zimmer ist dunkel, nur das schwache Licht vom Display meines Handys leuchtet in mein Gesicht. Ich halte das Handy über meinem Kopf und weiß nicht genau, was ich machen soll. Mein Herz fühlt sich schwer an, weil ich schon jetzt merke, dass es nicht leichter ist, hier zu sein, ohne ihn.
Irgendwann öffne ich den Chat.
Julian - zuletzt online vor 15 Minuten
Natürlich ist er wach, wie immer um diese Uhrzeit. Wahrscheinlich liegt er auch im Bett. Vielleicht allein, vielleicht aber auch nicht, vielleicht hat er schon jemanden anderen gefunden, vielleicht denkt er schon gar nicht mehr an mich und diese Nacht. Ich hasse es, dass ich das nicht weiß.
Ich scrolle hoch, durch die Nachrichten, die wir uns vor Wochen geschickt haben. Vor den Spielen, nach den Spielen, vor der Nacht, aber keine nach der Nacht. Zumindest nicht von mir. Von ihm schon, aber von mir ist dort nur Leere.
Ich zögere kurz, doch dann tippe ich auf den Bildschirm.
‘Hey’
Dann lösche ich es wieder. Ich kann ihn nicht so anschreiben, nach all der Zeit. Ich tippe wieder.
‘Ich bin angekommen.’
Lösche ich auch wieder. Er weiß ja noch nicht einmal, wo ich bin. Oder das ich Deutschland verlassen habe. Mein Brustkorb hebt und senkt sich schnell, mein Magen zieht sich zusammen. Ich weiß nicht, was ich von ihm will. Ein Lebenszeichen? Eine Rückkehr? Oder nur das Gefühl, dass er mich nicht vergessen hat?
Ich lege das Handy neben mich aufs Bett und starre weiter an die Decke. Ich spüre Tränen in meinen Augen, ich will ihn nicht verlieren, aber ich kann auch nicht wieder zurück gehen. Ich muss weg bleiben. Weg von Deutschland, weg von ihm. Ich kann nicht wieder zurück, ich muss weg bleiben. Wenn ich bei ihm in der Nähe bin, werde ich nie normal und das darf nicht sein. Ich muss hier bleiben, dann kann ich langsam versuchen, wieder so zu sein, wie ich sein soll.
Ich drehe mich auf die Seite und ziehe die Decke bis zur Nase, dann greife ich wieder nach dem Handy und tippe.
‘Hast du es gelesen?’
Ich meine natürlich die Schlagzeile. Mein Karriereende. Den Teil über mentale Gründe, aber auch, ob er verstanden hat, warum ich wirklich gegangen bin. Ich starre auf die Nachricht, aber sende sie nicht. Ich lösche sie wieder. Ich kann das nicht schreiben, nicht so.
Ich lege das Handy weg und schlucke. In mir tobt alles. Ich kann das nicht, ich kann mich nicht melden, zu sehr schäme ich mich für alles, was passiert ist. Zu sehr weiß ich, dass ich das alles vergessen muss. Ich spüre, wie mir Tränen die Augen runterrollen. Ich kann das alles nicht. Es ist einfach zu viel. Zu viel und alles so falsch.
Chapter 7: Breaking Down
Chapter Text
POV Julian
Seit die Neuigkeiten über Kais Karriereende bekannt sind, versuche ich alles, um ihn zu vergessen. Ich versuche seinen Chat nicht mehr zu öffnen und habe seinen Kontakt archiviert, ich habe alle Bilder mit ihm in einen gesperrten Ordner auf meinem Handy verschoben, dass ich sie nicht zufällig sehe, ich habe seinen Instagram Account stummgeschaltet, dass ich nicht ständig Fotos von ihm sehen muss, ich habe sogar alle Fotos mit Kai in meiner Wohnung abgehängt und trotzdem muss ich ständig an ihn denken.
Egal wo ich bin, irgendwas erinnert mich immer an Kai und dass er sich nicht meldet, macht es noch schlimmer. Ich habe mit Kai in den letzten 3 Jahren so viel gemacht, wir haben so viele gemeinsame Erinnerungen, dass ich mich fast überall in Leverkusen an ihn erinnere. Seit er einfach gegangen ist, machen mich diese Erinnerungen eher traurig als glücklich, weil ich ihn vermisse. Weil ich nicht weiß, ob ich jemals wieder mit ihm reden werde. Weil ich nicht weiß, wie es ihm gerade geht oder was passiert ist und weil ich Angst habe. Angst, was er jetzt über mich denkt. Hasst er mich jetzt? Will er nie wieder etwas mit mir zu tun haben?
Ich konnte in den letzten Nächten kaum schlafen. Immer wieder kehren meine Gedanken zurück zu Kai, unserer Freundschaft und besonders an diese eine Nacht. Diese Nacht, die ich nicht mehr vergessen kann. Ich bin diese Nacht so oft in meinem Kopf durchgegangen, dass ich mich mittlerweile wieder an jede einzelne Sekunde erinnern kann. Jede Berührung, jedes Wort und jeder Blick von Kai ist in mein Gedächtnis eingebrannt und je öfter ich darüber nachdenke, desto schlimmer wird es. Desto mehr tut es weh, dass ich das nicht mehr haben kann. Dass ich Kai nicht mehr haben kann, nicht mal mehr als meinen besten Freund.
Ich spüre schon wieder Tränen in meinen Augen. Ich kann einfach nichts daran verstehen. Ich weiß immer noch nicht, was diese Nacht für mich bedeutet. Ich weiß nur, dass ich gerade meinen besten Freund verliere. Wegen einer Situation, die nie hätte passieren sollen, bin ich gerade dabei, die Person, die mir am meisten bedeutet, zu verlieren. Und das Schlimmste daran ist, ich kann nichts dagegen tun, außer zu hoffen, dass er sich irgendwann vielleicht doch wieder bei mir meldet.
Ich bin für einige Tage zu meinen Eltern und Jascha nach Bremen gefahren, in der Hoffnung, dass sie mich ablenken von der ganzen Sache mit Kai und ich nicht den ganzen Tag an ihn denken muss, aber das stellte sich auch irgendwie als ein Fehler heraus. Ich habe gehofft, mein altes Kinderzimmer, Jaschas Geschichten von seinen Online-Spielen und das Essen von meiner Mama würden mich ablenken, aber das tut es nicht. Obwohl Kai nie hier war, denke ich ständig an ihn. Ich sehe ihn in jeder Ecke, obwohl er nie hier war. Beim Frühstück, wenn mein Vater einen Spruch macht, über den er sicher lachen würde. Beim Spaziergang durch den Park, wenn ich einen Typen mit einer schwarzen Kapuzenjacke sehe, die Kai immer getragen hat. Sogar im Supermarkt, wenn ich Kais Lieblingskaffeesorte sehe.
Es bringt nichts. Ich kann woanders sein, aber mein Kopf nimmt ihn einfach mit.
Papa versucht auch immer wieder, mich davon zu überzeugen, nach Dortmund zu wechseln, weil ich schon seit einigen Wochen ein Angebot habe. Eigentlich war ich immer gegen diese Option, weil ich Kai nicht verlassen wollte, aber jetzt bin ich gar nicht mal so weit davon entfernt zuzustimmen. Kai ist sowieso nicht mehr hier und sonst hält mich auch nicht wirklich viel dort. Klar, es gibt auch andere Leute dort, mit denen ich mich gut verstehe, aber bei niemanden würde mich die Entfernung so stören, wie bei ihm. Und diese Entfernung ist jetzt sowieso hier, weil er sich nicht meldet und ich nicht weiß, wo er ist.
POV Jascha
»Komm Jule, wir gehen joggen«, schlage ich vor, als ich die Küche betrete und ihn schon wieder mit diesem traurigen, irgendwie abwesenden Blick in der Küche sitzen sehe. Seit er vor ein paar Tagen nach Hause gekommen ist, wirkt er jeden Tag unfassbar deprimiert und ich weiß nicht wieso, aber ich will das nicht länger mit ansehen. Ich habe ihn schon oft genug gefragt, was los ist, aber er wollte nie etwas sagen, also habe ich es mir zur Mission gemacht, Jule die restlichen Tage, die er noch hier ist, abzulenken, dass er wieder glücklicher ist.
»Ne, lass mal«, winkt er ab und wendet sich seinem Handy zu, »Ich muss noch die Küche aufräumen«
Schlechte Ausrede.
»Nein«, widerspreche ich ihm, »Du kommst jetzt mit, die Küche kannst du auch später aufräumen oder irgendjemand anderes macht das«
Ich schaue ihn mit einem strengen Blick an, »Du bist schon die ganze Woche schlecht drauf, wenn du nicht reden willst, dann kommst du jetzt wenigstens mit raus und machst mal was anderes, als immer hier rumzuhocken, du hast die Wahl«
Er verdreht die Augen und senkt den Blick wieder auf sein Handy, »Na gut«
Dann steht er ergeben auf, »Aber lass mich noch schnell umziehen«
»Du hast 10 Minuten«, nicke ich ihm mit einem Grinsen zu.
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Einige Minuten später befinden sich Jule und ich im Park in der Nähe unseres Hauses. Es herrscht fast komplette Stille zwischen uns, aber ich bin froh, dass Jule wenigstens mit rausgegangen ist, auch wenn ich ihn mehr oder weniger dazu gezwungen habe.
Ich merke, dass er ruhiger ist als sonst, aber das ist nichts Neues in letzter Zeit, jedoch habe ich gehofft, dass er vielleicht mit mir reden würde, wenn unsere Eltern nicht in der Nähe sind, aber da muss ich wohl noch etwas nachhelfen.
»Wie geht's dir?«, frage ich ihn, »Also ehrlich«
»Gut«, er versucht mich zu überzeugen, indem er zu mir rüber sieht und mir zulächelt. Ich kenne ihn jedoch gut genug, um zu wissen, dass er lügt. Sein Lächeln ist nicht echt, das kann ich sehen. Ich muss ihm gar nicht sagen, dass ich ihm nicht glaube, sein Blick hat mir bereits gezeigt, dass er nur hofft, ich werde nicht weiter nachfragen. Da hat er sich aber geirrt.
»Ja klar«, sage ich in einem offensichtlich ironischen Ton, »Ist es wegen Kai?«, frage ich.
»Was? Wieso? Was sollte wegen Kai sein?«, er schaut mich sofort böse an, als hätte ich ihn angegriffen.
»Ich frag doch nur. Er ist dein bester Freund und dann beendet er auf einmal seine Karriere und meldet sich nicht mehr. Und wenn ich das richtig verstanden habe, wusstest du nicht einmal etwas davon«, erkläre ich ihm seine Situation außer Atem. Ich sollte in der Saisonpause dringend öfter Ausdauertraining machen.
»Ich kann verstehen, wenn dich das mitnimmt«, ergänze ich, »Du kannst mit mir über sowas reden, Jule«
Ich schaue ihn besorgt an, während er versucht, meinem Blick auszuweichen. Er wird langsamer und ich beginne ebenfalls mein Tempo zu verringern. Er schaut kurz zu mir und ich sehe in seinen Augen, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe.
»Wieso sollte es?«, fragt er patzig, »Soll er doch machen, was er will. Ist doch sein Leben«
Dann läuft er weiter und versucht so zu tun, als wäre ihm das alles egal, aber ich kann schon an seiner Stimme erkennen, dass es das nicht ist. Er ist einfach zu leicht zu durchschauen.
»Julian, warte doch mal!«, ich sprinte ihm hinterher, um ihn wieder einzuholen.
Er dreht sich kurz um und schaut mich an, dann läuft er wieder weiter. Als ich ihn endlich eingeholt habe, halte ich ihn an seinem Arm fest und bringe ihn so zum stoppen und schaue ihm direkt in die Augen, »Du lügst, das weiß ich. Du bist nicht so gut darin, wie du vielleicht denkst.«
Er wendet seinen Blick von mir ab, doch ich höre nicht auf zu reden, »Du musst mir nicht erzählen, was genau passiert ist, aber einfach zugeben, dass es dir nicht gut geht, wäre schon mal ein Anfang. Dann wäre ich nicht die ganze Zeit so verzweifelt. Rede mit Jannis oder jemandem anders, aber bitte hör auf die ganze Zeit so zu tun, als wäre alles super, wenn es das offensichtlich nicht ist. Das tut niemandem gut, du kannst mir doch vertrauen, ich werde dich nicht verurteilen, egal was passiert ist.«
Er schaut wieder zu mir mit einem traurigen Blick und ich kann sehen, dass sich Tränen in seinen Augen bilden. Also gehe ich ein paar Schritte auf ihn zu und ziehe ihn in eine feste Umarmung. Er zögert zuerst einen Moment, doch dann lässt er es zu und ich kann spüren, wie seine Tränen auf meinem T-Shirt landen, aber das ist mir egal. Ich will einfach nur, dass es ihm wieder besser geht und wenn das alles ist, was er im Moment zulässt, dann bin ich so für ihn da.
Chapter 8: Caring
Chapter Text
POV Julian
Das Gespräch mit Jascha hat mir klargemacht, dass ich eine Entscheidung treffen muss. Ich kann nicht länger in Leverkusen bleiben und jeden um mich herum runterziehen, nur weil mein bester Freund nicht mehr mit mir reden will. Ich kann meine Familie und meine Freunde nicht immer in meine unnötigen Probleme mit reinziehen, es kann doch nicht so schwer sein, ihn zu vergessen. Ich muss alleine klarkommen können. Es kann nicht sein, dass mein kleiner Bruder sich Sorgen um mich macht. Ich bin 23, verdammt, ich muss doch wohl damit klarkommen, dass mein bester Freund keinen Kontakt mehr mit mir haben will, nachdem wir miteinander geschlafen haben. Und ich weiß nicht mal, ob sich das für ihn genauso angefühlt hat wie für mich.
Also habe ich mir vorgenommen, heute Abend das einzig richtige zu tun. Ich werde dem Wechsel zustimmen. Ich werde nach Dortmund gehen. Das ist der einzige Weg, wie ich Kai entkommen kann. Dort habe ich keine Erinnerungen an ihn – außer die Spiele gegen den BVB – ich kann einen neuen Abschnitt in meinem Leben beginnen, ohne ihn und versuchen, ihn zu vergessen.
Nach meinem mentalen Zusammenbruch vorhin während des Joggens gehen Jascha und ich nun schweigend nebeneinander her. Wir haben nicht darüber geredet und auch wenn ich weiß, dass er wissen will, was passiert ist, bin ich froh, dass er nicht nachfragt, sondern es einfach hinnimmt, dass ich jetzt nicht reden will und weiter mit mir zurück nach Hause.
Um uns herum sind einige Leute unterwegs. Eltern mit ihren Kinder, Leute mit ihren Hunden beim Gassi gehen, Fahrradfahrer, die das schöne Wetter genießen, junge und alte Pärchen, mein Blick geht an allen vorbei, außer an zwei Personen, an denen meine Augen hängen bleiben: Zwei Mädchen, die mit einem neongrünen Eis in der Hand herumlaufen. Und genau dieses Eis habe ich schon mal gesehen, letztes Jahr im Frühling.
Anfang Mai 2018:
Ich verlasse gerade mit Kai das Trainingszentrum, auf dem Weg zu seinem Auto. Es ist schön warm, die Sonne scheint und es sind fast keine Wolken am Himmel.
»Komm, lass uns noch ein Eis essen gehen«, schlage ich vor.
»Nein, das können wir nicht machen«, versucht Kai mich davon abzuhalten, »Wenn der Trainer erfährt, dass wir einfach so Eis essen gehen während der Saison, dann können wir Extra-Training absolvieren.«
»Ach Quatsch, wir machen das ja sonst nie während der Saison«, versuche ich weiterhin, ihn zu überzeugen, »Außerdem wird er das nicht herausfinden, außer er ist gerade selbst Eis essen. Wir müssen nur vorsichtig genug sein«
»Okay gut«, gibt er sich geschlagen, »Dann steig ein«
Er zeigt auf sein Auto, an dem wir bereits angekommen sind und steigt ein. Ich gehe zur Beifahrerseite und setze mich neben ihn. Er fährt los zu der Eisdiele, in der wir uns schon öfter zusammen ein Eis gegessen haben. Während der Fahrt lässt er seine Spotify-Playlist leise im Hintergrund laufen, sonst herrscht komplette Stille zwischen uns.
Vor der Eisdiele stehen ein paar Menschen an. Kai und ich gehen zu dem kleinen Laden, der etwas abseits der Innenstadt liegt und stellen uns hinten an. Wir beide haben Sonnenbrillen und eine Cappi auf, um möglichst nicht erkannt zu werden. Kai ist wie jedes Mal am überlegen, welche Eissorte er nehmen will.
»Dieses Mal probiere ich was Neues«, sagt er fest entschlossen.
»Das sagst du immer und am Ende nimmst du doch wieder Vanille«, lache ich im Unglauben darüber, dass er sich dieses Mal wirklich für etwas anderes entscheiden wird. Jedes Mal überlegt er aufs Neue, was die beste Eissorte ist und am Ende ist ihm die Auswahl doch zu groß und er entscheidet sich immer wieder für dasselbe.
»Nicht heute. Heute nehme ich wirklich was Neues«, erwidert er und ist dann so entschlossen, dass er wirklich etwas anderes sucht. Als wir an der Reihe sind und ich wie gewohnt Waldfruchteis bestelle, nimmt Kai Apfel-Kiwi und zeigt es mir stolz wie ein kleines Kind. Er sieht dabei wirklich niedlich aus.
Mit unserem Eis verlassen wir den Laden und gehen einige Meter etwas abseits zu einer kleinen Mauer und setzen uns dort nebeneinander hin. Ich genieße mein Eis und das schöne Wetter, während Kai mich bei jedem Löffel mit einem angewiderten Blick ansieht.
»Du guckst, als hätte das Eis dich persönlich beleidigt«, lache ich und Kai löffelt nur weiterhin sein Eis mit diesem Blick. Ich schaue nur mit einer hochgezogenen Augenbraue auf den Becher mit dem neongrünen Eis hinunter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kai das alles isst.
»Es schmeckt wie...Duschgel«, stellt Kai fest, während er sein Gesicht erneut verzieht.
»Dann gib es mir und wir teilen uns das«, versuche ich Kai lachend davon zu befreien.
»Du isst auch wirklich alles, was ich dir gebe«, verdreht Kai die Augen.
»Und du gibst es mir«, stimme ich ihm schulterzuckend zu.
Aber anstatt mir sein Eis zu geben, wendet Kai sich dem Becher wieder zu und löffelt das leuchtend-grüne Eis selbst. Ich will probieren, wie schlimm es wirklich schmeckt und strecke meinen Arm zu dem Eisbecher aus, doch genau in dem Moment bewegt Kai seinen Arm in meine Richtung und das Eis kippt ihm über das weiße T-Shirt.
»Scheiße!«, zischt Kai und stellt sein Eis sofort auf die Mauer neben ihn, »Das sieht aus wie Alien-Kotze!«
Er versucht direkt das Eis von seiner Hose zu wischen, während ich nicht anders kann als zu kichern.
»Das ist mein einziges sauberes weißes T-Shirt, Jule!«, regt er sich auf, »Du weißt, ich liebe weiße T-Shirts!«
»Tut mir leid«, entschuldige ich mich, als ich mich wieder beruhigt habe. Ich gebe Kai die Servietten, die ich von der Eisdiele mitgenommen habe, damit er sein T-Shirt zumindest etwas abtupfen kann.
»Nächstes Mal nehme ich wieder Vanilleeis«, sagt Kai, »Es gibt sowieso keine bessere Sorte«
»Dann nehme ich Kiwi-Apfel. Danach können wir es wenigstens gemeinsam hassen.«, lache ich.
»Julian?«, höre ich Jaschas Stimme mich wieder zurück in die Realität rufen.
»Mhm?«, drehe ich mich fragend zu meinem Bruder um.
»Du warst gerade wie weg«, erklärt er.
»Sorry, ich war...in Gedanken«, versuche ich mich zu erklären, »Ich glaube ich wechsle nach Dortmund«, spreche ich nun das aus, was ich mir schon länger gedacht habe.
Jascha sagt nichts, sondern nickt das einfach nur ab und wir laufen schweigend nebeneinander weiter nach Hause.
später am Abend/POV Jascha
Julian hat unseren Eltern am Abend gesagt, dass er sich für den Wechsel entscheidet. Sie haben sich sehr darüber gefreut, besonders Papa, da er schon seit Monaten hofft, dass Jule dem Wechsel zustimmt, aber Jule sah nicht so glücklich aus wie unsere Eltern. Ich glaube immer noch, dass ihn die Sache mit Kai belastet, vor allem nach seiner Reaktion heute Nachmittag beim Joggen, auch wenn er mir noch immer nicht erzählt hat, worum es geht.
Als ich am Abend wieder in meinem Zimmer bin, rufe ich Jannis an. Ich weiß, dass er bei Julian war, als der Artikel über Kais Karriereende veröffentlicht wurde und hoffe, dass Jule vielleicht mit ihm geredet hat.
»Jascha, was gibt es?«, fragt mein Bruder am Telefon.
»Hey, wie geht es dir?«, versuche ich nicht direkt mit der Tür ins Haus zu fallen.
»Gut, ich habe gerade meine neue Kamera ausprobiert. Funktioniert super«, erzählt er stolz, »Aber jetzt schieß los, du rufst nie ohne Grund an, also was gibt es?«
»Ich will doch nur mit meinem Lieblingsbruder reden«, sage ich unschuldig.
»Das glaubt dir keiner, Jascha«, glaubt mir mein Bruder nicht, »Was ist passiert? Wen hast du umgebracht?«
»Ich? Niemanden, aber vielleicht Jule«, versuche ich das Thema zu wechseln.
»Was?«, fragt Jannis geschockt.
»So sieht er zumindest aus, seit er hier ist«, beruhige ich ihn, »Weißt du, was mit ihm los ist? Ich habe so oft versucht mit ihm zu reden, er hat nie etwas gesagt und als ich ihn heute nach Kais Wechsel gefragt habe, hat er angefangen zu weinen. Gesagt hat er trotzdem nichts«
»Tut mir leid, bro, ich kann es dir leider auch nicht erklären«, sagt er, »Jedes Mal, wenn ich bei ihm bin, versuche ich, etwas aus ihm rauszukriegen, aber er will mir nicht sagen, was mit Kai passiert ist. Ich habe auch schon versucht Kai zu schreiben, aber er antwortet mir auch nicht«
»Also liegt es wirklich an Kai?«, versichere ich mich.
»Ich denke. Zumindest ist er so drauf, seitdem Kai nach der Feier mitten in der Nacht abgehauen ist.«, erzählt Jannis.
»Wie? Was? Wo? Ich komme nicht mit, was ist passiert?«, frage ich verwirrt.
»Die Feier am Ende der Saison. Ich habe danach bei Jule gepennt. Irgendwann in der Früh bin ich aufgewacht, kurz in die Küche gegangen und als ich wieder ins Gästezimmer wollte, kam mir Kai schleichend entgegen. Er sah scheiße aus, also habe ich nicht gefragt, wieso er überhaupt bei Jule ist, aber ich war schon ein bisschen verwirrt. Er wohnt ja in derselben Stadt. Auf jeden Fall wollte er ziemlich schnell verschwinden und hat mir nicht gesagt, wieso. Später habe ich Jule gefragt, was los ist, er hat nichts gesagt, aber versucht Kai so schnell wie möglich zu erreichen. Und danach hat Kai die Karriere beendet und Kontakt abgebrochen, aber das habe ich dir ja schon erzählt.«, erklärt er.
»Das ist mir suspekt«, versuche ich die Situation zu analysieren, »Wie können wir Kai erreichen? Das ist mir alles zu auffällig, da ist irgendwas Schlimmes passiert. Jule verhält sich, als hätte er die Liebe seines Lebens verloren.«
»Ja, ich verstehe was du meinst. Die beiden müssen das auf jeden Fall klären, aber ich weiß nicht, was ich tun soll, außer Jule und Kai darum bitten, miteinander zu reden.«, stimmt er mir zu, etwas aussichtslos.
Aber ich bin nicht bereit, die Sache aufzugeben, »Ich werde noch einen Weg finden, dass Jule mit uns über diese Sache redet, da bin ich mir sicher. Ich weiß nur noch nicht genau, wie.«
»Viel Glück, Jascha«, wünscht mir mein Bruder und dann legen wir auf.
Chapter 9: Unspoken Words
Notes:
Als ich gestern neue Kapitel hochladen wollte, war ao3 down, also hier heute 4 neue Kapitel...viel Spaß!
Chapter Text
POV Kai
Seit ich in London bin, weiß ich wenig mit meiner Zeit anzufangen. Am Anfang habe ich viel Zeit mit den Jungs verbracht, sie haben mir die Stadt gezeigt und wir haben oft zusammen gezockt, aber seit das Training wieder begonnen hat, weil die neue Saison bald beginnt, bin ich die meiste Zeit allein in der WG. Die meiste Zeit verbringe ich einfach damit, Jule zu vermissen. Sein Lachen, seine Witze, das Training mit ihm, Eis essen mit ihm, seine Vorliebe für Nudeln mit grünem Pesto - das schlimmste Pesto – seine philosophischen Sprüche, einfach alles an ihm. Aber ich kann nicht zu ihm zurückgehen.
Irgendwann an einem Dienstagnachmittag, als die Jungs beim Training sind, installiere ich Tinder. Einfach so aus Langeweile. Weil ich denke, dass ich irgendwas machen muss, um wieder normal zu werden. Ich muss Frauen kennenlernen.
Mein Daumen scrollt durch die Profile. Ich swipe rechts bei drei Frauen hintereinander, ohne wirklich hinzusehen oder mir ihre Profile anzuschauen. Ich merke es selbst, dass es mir eigentlich egal ist, wer diese Frau ist, solange sie mir hilft, wieder heterosexuell zu sein. Ich weiß, dass das total dumm ist, aber trotzdem tue ich es, weil es sich fast so anfühlt wie ein Fortschritt.
Dann leuchtet eine Nachricht auf dem Bildschirm auf.
‘It’s a match.’
Ihr Name ist Mara, sie ist 22, lebt in London und arbeitet im Bereich Creative Direction für irgendeine Agentur. Ihr Profil ist witzig. Irgendwie ehrlich. In ihrer Bio steht:
‘Finde Leute mit Opinions sexy. Außer bei Ananas auf Pizza, da gibt es nur eine richtige Antwort.’
Ich grinse. Ausgerechnet Pizza. Ich schreibe ihr zuerst.
Hey. Musste wegen deiner Bio lachen.
Du klingst nach Streitpotenzial, aber sympathisch.
Mara:
Hey zurück. Streit ist oft besser als Stille
Pizza-Frage: Ja oder Nein zu Ananas?
Spontan: Nein. Wegen Prinzipien. Aber ehrlich? Ich habe es ewig
nicht gegessen. Vielleicht würde ich es lieben.
Mara: Das klingt sehr diplomatisch. Bist du Politiker?
Ich war mal im Profifußball. Kommt aufs Gleiche raus
Mara: Uff, ernsthaft? Okay, jetzt habe ich Angst, dass
du ein Cristiano Ronaldo-Typ bist.
Nein, versprochen: weniger Haargel, mehr Selbstzweifel.
Ich lese ihre Nachricht. Sie ist charmant, nett und witzig. Genau das, was man sich eigentlich wünscht und trotzdem starre ich auf den Text, als wäre es ein Rätsel, das ich nicht lösen kann.
Ich antworte. Nicht, weil ich wirklich will, sondern weil ich will, dass ich ihr antworten will. Weil ich will, dass ich mich in sie verliebe. Weil ich hoffe, dass ich noch richtig bin, noch normal, aber jedes Wort, das ich schreibe, fühlt sich leer an. Nicht falsch, aber auch nicht richtig..
In meinem Kopf ist alles viel zu laut. Was würde Julian sagen? Ich stelle mir vor, wie er die Stirn runzelt. Wie er über den Bildschirm guckt und mich dann fragt, warum ich mir das antue. Warum ich mich zwinge, wenn ich längst weiß, dass es keinen Sinn macht.
Aber was, wenn ich mich irre? Was, wenn das hier der richtige Weg ist, nur fühlt es sich gerade komisch an, weil ich Angst habe? Weil ich das nicht kenne? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass sie nett ist und dass Jule mir fehlt. Gleichzeitig.
Doch dann kommt wieder eine Nachricht von ihr, die mich aus meinen Gedanken bringt.
Mara: Okay, aber mal ehrlich, was machst du wirklich
gerade? Also so im Leben?
Ich bin gerade an einem neuen Punkt. Habe vor Kurzem den Sport hinter
mir gelassen und finde raus, was noch von mir übrig ist.
Mara: Wow. Klingt krass. Aber auch irgendwie cool. Die
meisten Leute warten, bis sie mit 60 merken, dass ihr Leben
ihnen nicht mehr gehört.
Oder bis jemand anderes geht, bevor man selbst geht.
Mara: Jetzt bist du aber tief drin.
Sorry, ist ein komischer Tag heute.
Wir schreiben noch eine Weile bis ich irgendwann das Handy weglege und starre an die Wand. Der Chat mit ihr läuft eigentlich gut. Sie schreibt offen und ehrlich, aber nicht aufdringlich. Ich könnte jetzt zurückschreiben oder fragen, ob sie Lust auf einen Kaffee hat. Ich glaube, wir würden uns gut verstehen und sie würde bestimmt ja sagen, aber ich denke daran, wie Julian den Kopf schief legt, wenn er mich ironisch anguckt. Wie er den Mund verzieht, wenn ich wieder irgendeinen diplomatischen Scheiß von mir gebe. Ich überlege, was er jetzt sagen würde. Ich grinse bei dem Gedanken und das Grinsen bricht mir das Herz.
Mara: Ich habe morgen frei. Falls du Lust auf echten Kaffee statt digitales Rumgetippe hast, sag Bescheid
Ich starre auf die Nachricht. Mein Daumen schwebt über der Tastatur. Ich stelle mir vor, wie das Date wäre, wie sie da sitzen würde, wie ich versuchen würde, aufzupassen, was sie erzählt, aber ich weiß, was passieren würde: Ich würde sie vergleichen. Mit ihm.
Ihre Stimme mit seiner.
Ihr Lachen mit dem Gefühl, wenn Julian lacht.
Ihr Blick mit seinem.
Und dann merke ich, dass ich ihr Unrecht tue, wenn ich auf das Date gehe. Dass ich ihr einfach nur falsche Hoffnungen mache, weil ich nicht wirklich da bin.
Ich habe darüber nachgedacht.
Du wirkst super. Wirklich. Und das Gespräch war schön.
Aber ehrlich? Ich glaube, ich bin noch nicht so weit.
Ich bin noch zu weit weg von mir selbst.
Ich glaube, es wäre unfair, dir was vorzuspielen.
Ich sende es. Keine Ausrede. Kein ‘bei mir ist gerade viel los’, sondern einfach etwas, was ziemlich ehrlich ist. Ich lege das Handy auf meinen Nachttisch und atme tief durch.
Und dann kommt ihre Antwort.
Mara: Danke, dass du es sagst. Das macht dich zehnmal
interessanter als jeder, der sich einfach nicht meldet.
Viel Glück, dich selbst zu finden, Kai. Ehrlich.
Danach schließe ich die App wieder, lege mein Handy neben mir auf die Couch und seufze.
Wie so oft fange ich wieder an, darüber nachzudenken, was alles hätte sein können, wenn ich mich in dieser Nacht zurückgehalten hätte und ich nicht meine Karriere beendet hätte. Ich wäre jetzt wahrscheinlich im Training mit Jule, wir wären danach noch zusammen zu seiner Wohnung gegangen, hätten bis spät abends geredet und gelacht und vielleicht hätte ich sogar bei Jule übernachtet, wie so oft, aber das ist jetzt alles unmöglich.
Ich starre an die weiße Wand gegenüber von mir und irgendwie denke ich an den Tag, als Jule in eine neue Wohnung gezogen ist und wir die Zimmer streichen wollten, aber der Tag stattdessen in einer Farbschlacht geendet hat.
Dezember 2017:
»Diese Anzüge sehen super aus, Jule«, kommentiere ich die weißen Kittel, die er gekauft hat, ironisch, »Wir sehen aus wie zwei verrückte Wissenschaftler«
»Wir experimentieren ja auch irgendwie«, grinst er mich an, »Nur mit Farbe an meiner Wand«
»Schade, ich wollte eine Explosion sehen«, schaue ich ihn enttäuscht an.
»Das kann ich einrichten«, zwinkert er mir zu, greift nach einem der Pinsel, taucht ihn in die Farbe und spritzt mich damit voll.
»Eyy«, rufe ich gespielt schockiert, als ich an meinem Körper, der nun voller babyblauer Sprinkler ist, runter schaue. Dann greife ich nach einem weiteren Pinsel und spritze ihn ebenfalls mit Farbe voll.
»Das kriegst du sowas von zurück«, lacht er, holt erneut Farbe aus dem Eimer, läuft auf mich zu und schmiert sie mir über den Arm. Ohne zu antworten, hebe ich meinen Pinsel ein Stück hoch und tupfe ihm einen Punkt auf die Nase.
»Jetzt siehst du süß aus«, necke ich ihn. Daraufhin funkeln seine Augen böse.
»Du bist so niedlich, wenn du wütend bist«, provoziere ich ihn weiter, aber ich meine es auch in diesem Moment.
»Na warte«, sagt er nur, tunkt seinen Pinsel erneut in die Farbe und streicht mir eine Linie quer über mein Gesicht. Ich schließe meine Augen kurz bevor er diese erreicht und nehme mein Schicksal hin.
Danach ist der eigentliche Plan, Jules Wohnung zu streichen vergessen. Ich lege nach, indem ich auch sein Gesicht anmale, danach bespritzen wir uns weiter mit Farbe und malen uns an. Irgendwann öffnet Jule auch noch die fliederne Farbe und wir eskalieren komplett. Zwischen Farben auf unseren Gesichtern ist nur unser Lachen und die leise Musik, die Julian angemacht hat, zu hören.
Am Ende sind Jule und ich von oben bis unten mit Farbe bedeckt und die Farbeimer sind halb leer. Sogar in unseren Haaren klebt Farbe und auch auf der Wand, die wir eigentlich in einer der Farben streichen wollten, ist voller einzelner Farbsprenkler.
»Die Wand lass ich so«, sagt Jule, als wir beide wirklich keine freie Stelle mehr auf uns selbst ist, »Das wird mich für immer an diesen Tag erinnern«
»Es sieht so auch schön aus«, stimme ich ihm zu, während ich die Farbeimer wieder schließe und die Pinsel zum Waschbecken bringe.
Wir räumen noch das Zimmer auf, duschen beide, bestellen uns etwas zu Essen und schalten eine Netflix-Serie ein. Am Ende übernachte ich bei Julian und wir gehen am nächsten Tag zusammen zum Training, wie so oft.
Doch jetzt ist diese Wand wieder weiß und steril. Jule ist schließlich zum BVB gewechselt und hat seine Wohnung in Leverkusen bestimmt verlassen. Ich frage mich, ob Jule auch an unsere Streichaktion gedacht hat, als er die Wand wieder weiß gestrichen hat, ob er das komplett vergessen hat oder ob es ihm einfach egal ist.
Und manchmal – wenn es dunkel ist und ich mir sicher bin, dass keiner irgendwas mitbekommen kann – beginne ich zu lesen. Über Fußball. Über Queersein. Über das Queersein im Profifußball und wie es queere Spieler beeinflusst. Und meistens weine ich. Weil ich Angst davor habe. Angst davor, dass ich nie eine Frau lieben kann und davor, was passiert, wenn es rauskommt. Ich habe mich viel informiert. Darüber, wie Queerness im Profifußball angesehen wird, wie es queeren Fußballspielern geht und welche Reaktionen es realistisch auf Spieler geben könnte, sollte sich jemand outen. Ich versuche immer wieder, mir selbst zu erklären, wieso ich genau über diese Dinge lese. Dass es gut ist, sich weiterzubilden. Dass es interessant ist. Dass die Nacht mit Julian mein Interesse daran erhöht hat. Aber letztendlich weiß ich genau, warum ich das lese. Ich will es nur nicht zugeben.
Manchmal wundere ich mich auch, was Julian macht und wie es ihm geht. Ob er gerade mit seinen Freunden und seinen Brüdern im Urlaub ist oder ob er jemandem von dieser Nacht erzählt hat. Ob er jemandem erzählt hat, wer ich wirklich bin, aber ihm zu schreiben, traue ich mich trotzdem nicht. Zu viel Angst habe ich vor seiner Reaktion.
—
Ich schaue mich um, aber ich weiß für einen Moment nicht, wo ich bin. Nur, dass sich alles falsch anfühlt. Irgendwas hier ist falsch, ganz falsch.
Ich schaue mich um. Ich stehe mitten in einer Kabine. Sie ist riesig. Endlos. Die Bänke führen ins Nichts, die Haken an der Wand sind leer. Nichts und niemand ist da. Der Raum ist komplett leer. Nur ein Trikot hängt dort. Mein Trikot. Es ist zerknittert. Darunter liegt ein Zettel: »Schwuchtel«, krakelig, in roter Schrift.
Ich will wegsehen, aber kann es nicht.
»Hast du echt geglaubt, ich hätte das gewollt?«, höre ich plötzlich eine Stimme. Es ist Julian. Ich drehe mich um. Er steht da, am Eingang der Kabine. Mit genau diesem Blick, den er immer hat, wenn ihm etwas unangenehm ist. Er sieht angewidert aus, als würde er irgendwas Schlimmes sehen. Er sieht mich an, als wäre ich nur Dreck.
»Du hast mich angefasst. Du hast es gewollt. Nicht ich.«, fährt er fort. Er spuckt die Worte aus.
Ich öffne den Mund, will sagen, ‘Ich weiß. Ich weiß. Es war falsch. Ich bin falsch.’ Aber ich kann nichts sagen. Die Worte bleiben in meinem Hals stecken.
»Du bist echt so einer, oder?«, Julians Stimme wird lauter und er geht einen Schritt auf mich zu.
»Ich hätte es wissen müssen. Ihr seid doch alle gleich.«, er verzieht das Gesicht. Danach wendet Julian sich ab, »Ich bin nicht schwul. Nicht so wie du.« Pause. »Ich bin nicht so… eklig.«
Das Wort knallt wie ein Tritt. Danach geht er wieder. Er verlässt den Raum und ich schaue ihm hinterher, während ich mich auf eine der Bänke fallen lasse.
Er hasst mich.
Er findet mich eklig.
Und ich kann es verstehen.
Plötzlich wache ich auf. Ich bin in meinem Bett. Allein. Kein Julian, keine Umkleide, dafür bin ich nass geschwitzt. Es war nur ein Traum. Trotzdem schlägt mein Herz schnell. Viel zu schnell. Ich starre an die Decke, dann auf meine Hände. Sie zittern. Ich atme tief durch. Ebenfalls zitternd.
Ich muss weg hier. Schnell.
Ich stehe auf und gehe Richtung Tür. Ich ziehe meine Schuhe an und verlasse meine Wohnung.
Ich laufe die Straße entlang. Die kühle Luft, die meine Haut streift, ist angenehm, doch ich habe das Gefühl, ich bin immer noch zu nah an diesem Traum, er ist immer noch zu real.
Ich beginne zu laufen. Schneller. Immer schneller. Ich muss hier weg. Weg von diesem Traum, weg von dieser Realität, weg von alldem. Am besten wieder zurück zu dem Zeitpunkt, als alles noch normal war. Als wir noch Julian und Kai waren. Beste Freunde. Als alles noch normal war, so, wie es sein sollte. Als ich es noch geschafft habe, normal zu sein.
Aber jetzt bin ich hier. Allein. Und jeder, der weiß, wer ich wirklich bin, hasst mich. Findet mich eklig. Ich tue es ja selbst.
Ich spüre, wie mir Tränen die Wangen entlang laufen bei der Realisation und ich hasse es. Ich hasse es, dass ich nicht einfach normal sein kann, dass ich so sein muss, so falsch und dass es nicht funktioniert, wenn ich versuche, wieder normal zu sein.
Scheiße, ich bin so pathetisch. Ich sollte mich selbst besser unter Kontrolle haben, schließlich ist das alles hier so falsch. Ich sollte einfach normal sein können, aber wieso schaffe ich das nicht?
Chapter 10: Leaving
Chapter Text
Oktober 2019/POV Julian
Ich bin gerade in der Umkleide und ziehe mich zum Training um. Ich wohne nun schon seit einigen Wochen in Dortmund und fühle mich hier ziemlich wohl. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich hier zum ersten Mal wirklich abschließen mit allem, was in Leverkusen passiert ist. Mit Kai und der ganzen Sache, die zwischen uns passiert ist. Er hat sich immer noch nicht wieder gemeldet und ich habe nun auch aufgehört, ihm zu schreiben. Und das funktioniert sogar immer besser. Während des Trainings muss ich kaum noch an Kai denken und das ist schon einmal ein Fortschritt. Vor ein paar Wochen habe ich mich beim Training noch immer an Momente mit Kai in Leverkusen erinnert, aber jetzt ist es schon viel besser. Ich habe das Gefühl, je mehr ich trainiere, desto weniger denke ich an Kai. Und das ist gut.
Ich kann mich schließlich nicht konstant von dieser Sache aufhalten lassen, dass ich mein Leben weiterlebe. Ich kann das auch ohne Kai, schließlich bin ich auch die ersten 20 Jahre meines Lebens ohne ihn ausgekommen, also werde ich das jetzt auch wieder schaffen.
Ich verlasse die Umkleide und stelle mich zu meinen Mitspielern an den Rand des Platzes und beginne, mich aufzuwärmen. Die Sonne brennt auf den Kunstrasen, meine Haut ist schon etwas feucht geschwitzt, mein Puls rast, aber das ist so gut. Es ist so gut, weil das Gefühl von körperlicher Anstrengung stärker ist als meine Gedanken. Weil ich für einen Moment alles vergesse, was passiert ist und was gerade um mich herum passiert. In diesem Moment gibt es nur mich, den Ball und das Ziel, so gut zu trainieren, dass ich in der Startaufstellung bin und wir das nächste Spiel gewinnen.
»Guten Morgen alle miteinander«, betritt der Trainer den Platz, »Ich würde sagen, wir beginnen heute mit Pass-Übungen.«
Danach erklärt er uns die Übung und wir beginnen richtig mit dem Training. Wir passen uns gegenseitig Bälle zu, während andere Spieler versuchen sollen, uns den Ball abzunehmen.
Der erste Pass kommt von Marco, dem Kapitän des Teams. Ich verstehe mich sehr gut mit ihm und habe in den letzten Tagen im Training oft Gruppenübungen zusammen gemacht. Er hat am ersten Tag gleich in der Kabine begrüßt, mir einen Platz freigehalten und mich allen vorgestellt. Während den Gruppenübungen hat er mich immer direkt in seiner Gruppe aufgenommen - auch wenn niemand der anderen mich jemals ausgeschlossen hat - und er hat mir sofort das Gefühl, hier richtig zu sein gegeben.
Als nächste Übung spielen wir Fünf-gegen-Fünf im Team. Ich laufe wie verrückt, versuche immer am Ball zu bleiben, spiele Rückpässe, Doppelpässe, Hackentricks und unnötige Übersteiger. Ich will alles geben. Ich gehe jedem Ball nach, sobald ich ihn verloren habe, sprinte und versuche alles, um meine Mannschaft zum Sieg zu führen. Mehr als ich muss, weil dieses Spiel nichts bedeutet, das ist mir bewusst, aber es fühlt sich wie das einzig richtige in diesem Moment an.
Ich spüre, wie meine Beine irgendwann beginnen zu zittern. Vielleicht übertreibe ich doch etwas, aber ich kann einfach nicht aufhören. Es tut so gut, auf dem Platz zu stehen und zu trainieren. Einfach alles zu vergessen und nur auf den Ball fokussieren. Je schneller ich renne, desto weniger denke ich, und das ist genau das, was mir so gut tut. Ich strenge mich an, als würde es hier tatsächlich um etwas gehen, als wäre das ein echtes, besonders wichtiges Spiel und nicht nur Training.
»Langsam, Julian. Atme mal«, flüstert Marco mir zu, als wir nebeneinander herlaufen und ich ziemlich stark Luft hole.
»Passt schon«, winke ich ab, »Ich bin das gewohnt«
Er schaut mich zwar etwas skeptisch an, sagt aber nichts mehr und spielt weiter. Ich mache dasselbe, ich laufe einfach weiter dem Ball hinterher und versuche, mein Bestes zu geben.
Ich bin im Torraum des gegnerischen Teams, als Emre mir den Ball zupasst, ich schieße auf das Tor und setze so übermotiviert zum Abschuss an, dass ich nach dem Treffer ins Netz stolpere und gegen das Netz falle. Meine Mannschaft freut sich über das getroffene Tor und ich stehe sofort wieder auf, trotzdem kommt Marco auf mich zugelaufen.
»Alles okay?« fragt er.
Ich nicke schnell, »Der Rasen ist nur zu rutschig.«
Wir spielen weiter. Ich bleibe wieder vorne und bleibe die ganze Zeit so nah am Ball wie möglich, mache Pässe und gebe alles dafür, dass wir gewinnen. Was letztendlich auch passiert.
Als der Trainer noch letzte Informationen zum Spiel am Wochenende erzählt, setze ich mich in den Schatten und spüre, wie mein ganzer Körper am Zittern ist. Nicht vom Spiel oder weil ich in den letzten Wochen so viel trainiert habe, war das nicht besonders anstrengend für mich, sondern von allem drumherum. Ich habe die ganze Zeit so stark trainiert, um alle Gedanken zu verdrängen, doch jetzt wo mein Körper sich wieder entspannen kann, fühlt es sich so an, als kommen alle Dinge auf einmal wieder hoch.
Kai.
Normalerweise wären wir nach dem Training noch zusammen irgendwo hingegangen.
Zu ihm, zu mir oder irgendwo ganz anderes.
Wir hätten geredet, hätten den Abend noch entspannt genossen.
Aber jetzt?
Jetzt ist er weg.
Und ich bin allein.
In einem anderen Team.
Und ich weiß nicht, ob ich jemals wieder mit ihm reden werde.
Nachdem der Trainer das Training beendet hat, bleibe ich noch ein bisschen am Platz. Übe Sprints. Schüsse. Weil es das einzige ist, bei dem ich mir sicher bin, dass es mir hilft. Abzuschalten und zu verdrängen.
--
Am Abend liege ich auf meinem Bett, während im Fernseher irgendeine belanglose Naturdoku läuft.
Daneben mein Handy. Kein verpasster Anruf. Kein ‘Was machst du gerade?’ Kein ‘Wie ist es im neuen Verein.’ Keine Nachricht. Zumindest nicht von ihm. Auch wenn ich versuche, es zu vergessen, zu verdrängen, am Ende des Tages hoffe ich doch nur darauf, dass er sich wieder meldet, obwohl ich weiß, dass keine Nachricht kommen wird. Und trotzdem schaue ich immer wieder auf den Bildschirm, denn vielleicht hat Kai sich ja doch gemeldet.
Gott, ich benehme mich ja wie ein verliebter Teenager. Dabei bin ich 23 Jahre alt und das ist definitiv zu alt, um nicht einfach mit einer Sache abschließen zu können. Wieso ist er das einzige, woran ich den ganzen Tag denken muss? Wieso kann er mir nicht einfach aus dem Kopf gehen? Bloß weil ich einmal mit Kai geschlafen habe, heißt das ja nicht, dass ich jetzt unsterblich in ihn verliebt bin. Ich bin ja nicht schwul.
Oder?
Fast unbewusst greife ich nach meinem Handy und öffne Google.
'Bin ich schwul?' , gebe ich in die Suchleiste ein und rufe die erste Seite auf. Einen Test. Ich lese die erste Frage durch:
'Denkst du von dir selbst, dass du schwul bist?'
Dumme Frage. Ich weiß es nicht. Deswegen mache ich ja diesen dummen Test.
Ich klicke 'vielleicht' an.
Nächste Frage: 'Hast du jemals mit einem Mann geschlafen?'
'Ja'
Nächste: 'Würdest du einen Mann küssen?'
Ich zögere. Kai zu küssen war schön. Ich kann mich noch genau an das Gefühl seiner Lippen auf meinen erinnern. Weich. Warm. Aber würde ich einen anderen Mann außer ihm küssen? Ich weiß es nicht. Allerdings wäre der Gedanke nicht so schlimm und Kai würde ich sicher noch einmal küssen. Ich klicke 'Ja'
Ich beantworte noch die restlichen Fragen des Test und warte dann gespannt auf das Ergebnis. Die Seite lädt und dann steht dort ein kurzer Text.
'Du bist wahrscheinlich schwul. Du hast bereits mit Männern experimentiert und es hat dir anscheinend gefallen. Viel Spaß beim Erkunden deiner Sexualität!'
Ich schaue auf den Bildschirm und weiß nicht, was ich denken soll. Irgendwann während des Tests, als ich die ganzen Fragen beantwortet habe, wurde mir immer klarer, dass der Test sagen wird, ich bin schwul und ich weiß nicht, wie ich mich nun fühlen soll. Ich habe das Gefühl, es sollte für mich schockierender sein oder mich mehr treffen, aber das tut es nicht.
Es fühlt sich irgendwie seltsam okay an. Ich würde Kai noch einmal küssen und ich würde auch diese Nacht noch einmal wiederholen und diese Realisation fühlt sich seltsam gut an. Irgendwie befreiend. Als würde mir gerade eine Last von den Schultern fallen, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie trage.
Auch wenn es nur ein dummer Online-Test ist, ist das Ergebnis irgendwie befreiend. Als würde jemand das aussprechen, was ich mich lange Zeit nicht getraut habe zu sagen.
Ich lasse mein Handy neben mich fallen und atme ein paar Mal tief durch. Ich weiß nicht, wie genau ich damit jetzt umgehen soll, aber ich weiß, dass sich das alles in diesem Moment deutlich leichter anfühlt.
POV Jascha
Ich bin nun schon seit Tagen dabei, eine Liste mit allen möglichen Dingen, die zwischen Jule und Kai passiert sein können, zu erstellen, um herauszufinden, weshalb es Jule so schlecht geht. Ich habe viele Ideen, das einzige Problem dabei ist, dass ich für keinen einzigen der Punkte einen wirklichen Beweis habe.
Eigentlich brauche ich Beweise, bevor ich wirklich beginnen kann, etwas herauszufinden. Trotzdem schreibe ich eine Liste mit allen Theorien, die ich bis jetzt habe. Die Beweise kann ich einfach danach hinzufügen. Ich brauche schließlich erst einmal eine Idee davon, wonach ich überhaupt suchen muss. Also beginne ich zu schreiben:
- Kai wurde entführt
Keiner hat Kai mehr gesehen, seit er an dieser einen Nacht heimlich bei Jule verschwunden ist. Was, wenn er auf dem Heimweg entführt wurde? Ich meine, Kai hat sich nicht mehr gemeldet, das funktioniert schlecht, wenn man entführt wurde, wäre ja dumm von dem Entführer, Kai hätte Jule einfach sagen können, dass er entführt wurde, wenn er sein Handy noch gehabt hat. Außerdem hat Kai kein Video zur Ankündigung seines Karriereendes. Ganz logisch, er wurde ja entführt, weiß ja keiner wo er ist. Und ‘private Gründe’ sind eher eine schwammige Begründung, perfekt um eine Entführung zu vertuschen. Jetzt brauche ich nur noch Beweise dafür.
- Kai ist ein geheimer Spion für einen anderen Verein und Jule hat es herausgefunden
Logisch. Kai kann schließlich nicht weiter spionieren, wenn jemand weiß, was sein Plan ist. Untertauchen und als Karriereende tarnen ist da die beste Idee, um nicht aufzufliegen. Und Jule hat nichts gesagt, weil er seinen besten Freund nicht in Schwierigkeiten bringen will.
- Kai und Jule haben jemanden umgebracht - vielleicht auch nur aus Versehen
Mord wäre ein Grund für Kontaktabbruch, definitiv. Zum Spuren vertuschen. Vielleicht hat Kai das auch ohne Jule entschieden. Jannis hat gesagt, Kai sah scheiße aus, als er von Jules Wohnung verschwunden ist, der Mord hat ihn zu sehr mitgenommen, logisch. Es würde dann auch Sinn machen, wieso Jule nichts zu uns sagt, Mord zugeben ist nie eine gute Idee.
- Kai ist in einem Zeugenschutzprogramm
Was, wenn irgendwer Kai bedroht hat und zwar so, dass er in ein Zeugenschutzprogramm gehen muss, um sein Leben zu schützen. Die Abreise war an dem einen Morgen, als er von Julians Wohnung geflohen ist. Er konnte Jule nicht Bescheid sagen, sonst wäre die Gefahr da, dass es irgendwie rauskommt.
- Jule hat aus Versehen Kais Lieblingspulli zerstört und Kai konnte ihm nicht mehr verzeihen
Ich könnte Kai in der Situation verstehen. Wenn jemand meinen Lieblingspulli auch nur anfasst, kann die Person sich auf etwas gefasst machen.
Mehr Ideen fallen mir in diesem Moment nicht ein, also beschränke ich mich auf diese Punkte, denn ich muss sowieso erst einmal Beweise dafür finden. Dazu kann ich jedoch Hilfe gebrauchen, deshalb mache ich ein Foto von der Liste und schicke es Jannis, bevor ich über Pläne für Beweise nachdenke.
[Liste]
Wenn du Hinweise findest, sag Bescheid
Du bist echt gestört, Jascha…
Chapter 11: Moving on...or not?
Chapter Text
November 2019/POV Kai
Timo hat mir keine Wahl gelassen.
»Du gehst mit. Punkt. Seit du hier bist, sind wir nie wirklich zusammen fortgegangen, du musst mit.«, hat er befohlen.
Und dann hat er mir noch diesen Blick zugeworfen, den er bringt, wenn er mich davon überzeugen will, dass er alles besser weiß. Ich konnte nicht Nein sagen. Ich hatte keine Argumente. Er hat Recht. Seit ich in London lebe, sitze ich eigentlich nur in der Wohnung und hänge unnötig viel am Handy und mal rausgehen würde mir vielleicht helfen, neue Leute kennenzulernen. Wieder normal zu werden. Zumindest hoffe ich das.
Also bin ich mitgegangen.
Declan, Timo, Mason und ich sitzen nun in einer Bar in der Innenstadt von London.
Ich habe irgendeinen Drink vor mir stehen, es schmeckt nach nichts besonderem, Timo hat ihn ausgewählt und es hat mich nicht so sehr interessiert zu fragen, was genau es ist. Ich trinke langsam, während die anderen viel lachen. Ich lache auch mit, aber ich weiß nicht wirklich, worum es geht.
Ich höre kaum zu. Mein Kopf ist woanders.
Bei Julian.
Wie er gelacht hätte über Masons schlechte Witze. Wie er den perfekten Platz an der Bar ausgesucht hätte. Und wie es sich anfühlen würde, jetzt neben ihm zu stehen, Schulter an Schulter, ohne Berührung, aber nah genug, dass es fast wehtut.
Ich schüttele den Gedanken weg, trinke weiter und lache ein bisschen zu laut.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, jetzt mit Julian irgendwo anders zu sein. Irgendwo, wo es ruhiger ist. Eine Bank am See, an dem wir noch vor einigen Wochen gemeinsam fast jeden Abend verbracht haben. Ein dunkler Küchenboden, auf dem wir sitzen, weil wir zu müde fürs Sofa sind.
Ich will nicht denken. Nicht daran. Nicht an ihn, aber ich tue es trotzdem.
Timo ist in seinem Element. Er gestikuliert, schiebt Declan leicht gegen den Tresen, redet über das Spiel vorhin. Mason lacht, trinkt von seinem Bier und wippt leicht hin und her zum Beat der Musik.
Und dann ist sie plötzlich da.
Eine Frau mit hellgrünen Augen, kupferfarbenen Haaren, die in einem Zopf zusammengebunden sind und einem freundlichen Lächeln.
Sie lehnt sich an die Theke, direkt neben mich, bestellt sich einen Drink und dreht sich dann zu mir.
»Hey. Dein Drink sieht irgendwie langweilig aus«, sie nickt auf mein Glas.
Ich blinzele, werde in diesem Moment wieder in die Realität zurückgebracht, »Ja. Das ist irgendein Standardzeug.«
Sie hebt ihr Glas, etwas Rotes, »Dann solltest du wechseln. Leben ist zu kurz für mittelmäßige Entscheidungen.«
Ich lache kurz, »Ist das dein Lebensmotto?«
»Heute Abend schon«, sagt sie und zuckt mit einer Schulter. Sie streckt mir die Hand hin. Ich schaue für einen Moment skeptisch, aber nehme sie dann trotzdem, »Ich bin Laura«
»Kai«, ich nicke ihr kurz zu.
»Du warst vorher sehr in Gedanken. Du wirkst nicht, als wärst du hier, um Spaß zu haben.«, stellt sie fest. Ich will sofort abblocken. Irgendwas sagen wie ‘Doch, klar. Alles gut.’ Ich will nicht darüber reden, schon gar nicht mit einer fremden Person, aber ich schüttle dann doch leicht den Kopf, »Ich war woanders.«
»Willst du darüber reden oder willst du lieber über belanglosen Quatsch reden, damit es dir besser geht?«, sagt sie ruhig.
»Belangloser Quatsch klingt gut.«, sage ich. Gar nicht reden, wäre besser, denke ich.
»Ich habe es heute geschafft, auf zwei Leute gleichzeitig Kaffee zu verschütten.«, erzählt sie darauf los. Ich weiß nicht wirklich, was ich mit dieser Info anfangen soll, also nicke ich es einfach ab, »Respekt.«
Sie lehnt sich leicht zurück, »Was machst du so, wenn du nicht gerade in dunklen Bars abhängst?«
»Ich habe lange Fußball gespielt.«, ich sage nicht mehr. Ich weiß schon gar nicht, wieso ich das überhaupt erwähnt habe. Irgendwie war es das einzige, was mir gerade eingefallen ist. Das einzige, was mich jemals so wirklich ausgemacht hat.
»Klingt, als ob du es nicht mehr tust.«, stellt sie fest.
Ich nicke nur und bereue es, das Thema überhaupt begonnen zu haben.
»Fehlt es dir?« fragt sie vorsichtig.
Ich zögere, »Ja. Aber es ist besser so. Es ist besser, dass ich nicht mehr spiele«
Sie sieht mich einen Moment lang an, dann nickt sie langsam, »Ich verstehe das.«
Ich nicke zurück und hoffe insgeheim, dass sich das Gespräch damit beendet, denn ich weiß, dass sie es nicht versteht. Sie kann es nicht verstehen, denn sie weiß nicht, was passiert ist. Aber sie redet weiter. Locker, witzig, ich kann ihr zwar nicht ganz folgen - immer wieder drifte ich in meine eigenen Gedanken ab - aber sie ist nett. Nichts an ihr ist falsch. Sie ist aufmerksam, freundlich, direkt.
Irgendwann boxt Timo mir gegen die Schulter, lehnt sich zu mir und flüstert, »Kai, sei kein Idiot. Frag sie, ob du sie auf einen Drink einladen darfst»
Also mache ich genau das. Sie lächelt etwas schüchtern und nickt. Wir gehen gemeinsam zur Bar und setzen uns dort auf die Hocker. Ich bestelle etwas und wir stoßen an, sobald die Getränke da sind und sie beginnt wieder zu reden. Ich versuche zuzuhören. Sie erzählt von einem Bruder, der Fußball spielt. Von einem Jobwechsel, wegen dem sie erst neulich nach London gezogen ist. Von Dingen, die mich interessieren würden, wenn mein Kopf nicht in einer anderen Nacht wäre.
An einem anderen Ort.
Bei jemand anderem.
Ich lächle sie an und nicke. Sie redet begeistert weiter und ich sehe, wir ihre Augen leuchten, als sie von ihrem neuen Job erzählt. Ich weiß nicht genau, was sie macht, aber es scheint ihr wirklich Spaß zu machen.
Irgendwann wird es ruhiger. Wir trinken unsere Getränke aus und ich bin in Gedanken wieder dabei, völlig abzudriften, als sie plötzlich wieder spricht, »Darf ich dich was fragen?« Ihre Stimme klingt nervös.
Ich nicke ihr mit einem aufmunternden Lächeln zu.
»Darf ich dich küssen?«
Die Frage trifft mich nicht kalt. Ich habe sie nicht erwartet. Ich sehe sie überrascht an. Sie meint es nicht böse. Da ist kein Druck in ihrer Stimme. Nur Neugier und vielleicht sogar echtes Interesse. Ich nicke, weil ich will, dass es hilft. Weil ich hoffe, dass es mich wieder normal macht. Weil ich denke, dass es mit ihr diese Mal anders sein kann. Dass ich dieses Mal bei einer Frau dasselbe fühlen kann.
Sie lehnt sich vor und drückt ihre Lippen auf meine. Der Kuss ist weich. Nicht unangenehm. Nicht fordernd.
Und trotzdem fühlt es sich falsch an. Alles in mir zieht sich zusammen. Nicht, weil sie etwas falsch macht, sondern weil sie nicht er ist. Weil sie nicht dasselbe in mir auslöst wie er.
Trotzdem küsse ich zurück, aber ich denke an Julians Lippen. An die Hitze zwischen uns. An die Nacht. An das Kribbeln in meinem Bauch und daran, wie sich alles plötzlich so leicht angefühlt hat.
Ich ziehe mich zurück. Langsam, nicht panisch.
»Sorry«, murmele ich, »Ich kann das nicht.«
Sie schaut überrascht. Nicht verletzt, nur verwirrt, »habe ich was falsch gemacht?«
Ich schüttle energisch den Kopf, »Nein. Gar nicht. Ich…es liegt an mir.«
Ich stehe auf und sehe sie mit einem entschuldigenden Blick an, »Ich muss… Ich glaub, ich geh besser.«
»Okay«, sagt sie und ich kann die Enttäuschung in ihrer Stimme hören.
Ich drehe mich um und schiebe mich durch die Menge. Die Musik ist zu laut. Die Luft zu warm. Gerade ist alles zu viel. Ich verlasse die Bar. Draußen ist es kälter. Ich beginne, zu laufen. Ich muss weg. Weg von diesem Ort. Ich werde schneller. Ich kann hier nicht mehr bleiben. Ich beginne fast zu rennen. Straße um Straße. Meine Kehle brennt und ich spüre Tränen, die sich in meinen Augen sammeln.
Und irgendwann bleibe ich einfach stehen. Mitten im Schatten einer Hauswand. Ich lehne mich gegen Steinmauer und weine. Leise. Die Tränen laufen einfach meine Wangen herunter. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und lasse mich langsam an der Hauswand auf den Boden gleiten.
Plötzlich höre ich Schritte. Ich drehe meinen Kopf seitlich. Timo. Er läuft mit einem besorgten Blick auf mich zu.
»Kai… was ist passiert?«, fragt er, schwer atmend. Er kniet sich neben mich auf den Boden.
Ich schüttele den Kopf. Sage nichts.
Er legt mir eine Hand auf die Schulter und ich wende mich nicht ab, aber ich sehe ihn auch nicht an. Ich kann das nicht. Zu viel Angst habe ich, dass er mir ansehen könnte, was passiert ist.
»Es war nur ein Kuss, oder?«, fragt er vorsichtig.
Ich nicke und sage leise, »Ja. Genau das war das Problem.«
Er ist still und wartet vermutlich auf eine Erklärung, aber ich sage nichts weiter. Ich weiß genau, was passiert ist, aber ich will es nicht glauben. Ich will hoffen, dass das alles ein Irrtum ist, dass ich mich wieder einkriege, wieder normal werde. Dass das irgendwann wieder weggeht. Aber mir ist längst klar, dass es nicht weggehen wird. Dass ich es nicht ändern kann. Aber ich kann es nicht aussprechen.
POV Jascha
Die Theorien, die ich aufgestellt habe, will ich chronologisch abarbeiten und ich habe auch schon eine Idee, wie ich mit Punkt 1 anfange. Eine Liste von vermissten Personen mit Kai abgleichen. Wenn sie nicht wollen, dass in der Öffentlichkeit rauskommt, dass er entführt wurde, dann werden sie bei öffentlichen Suchaufrufen auch sicher nicht seinen echten Namen angeben.
Also öffne ich mein Handy und suche nach 'Liste vermisste Personen'.
Ziemlich schnell finde ich eine Website, auf der vermisste Personen beschrieben sind und nach Hinweisen fragt. Perfekt. Ich schaue mir die Bilder durch, lese die Beschreibungen durch und finde tatsächlich eine Person, die Ähnlichkeit mit Kai hat.
Konstantin Hall. Ein 20-jähriger, Student, der vor ein paar Jahren für sein Studium nach Leverkusen gezogen ist und vor ein paar Wochen verschwunden ist. Er hat dunkelbraune Haare, hat grüne Augen und ist ungefähr 1,90m groß. Wie Kai. Und die Initialen. KH. Wie Kai Havertz. Perfekter Deckname, der trotzdem einen Hinweis auf Kai gibt. Es passt immer besser und ich finde die Entführungstheorie immer realistischer. Student ist eine passende Deckung für Kai, um seine wahre Identität nicht bekannt zugeben und die Entführung zu vor der Öffentlichkeit verschweigen. Das ist perfekt!
Ich mache Screenshots von der Personenbeschreibung und merke mir, mich daheim weiter über diese Entführung zu informieren. Vielleicht finde ich noch mehr Hinweise auf eine Verbindung dieser Person mit Kai.
Falls das wirklich Kai ist, erklärt das einiges. Jules Verhalten, wieso Kai sich nicht mehr gemeldet hat, wieso er seine Karrierepause nicht selbst bekannt gegeben hat und wieso er seitdem nichts mehr irgendwo gepostet hat. Und die Hinweise, dass es sich wirklich um Kai handelt, sind auf jeden Fall vorhanden und werden immer offensichtlicher.
POV Julian
Nach dem Spiel sitze ich frisch geduscht in meinem Wohnzimmer auf der Couch. Jascha sitzt gegenüber von mir und schreibt irgendetwas in einen Block und unsere Eltern, die für das Spiel extra nach Dortmund gekommen sind, holen gerade Essen von einem Restaurant in der Nähe. Eigentlich sollte ich glücklich sein. Wir haben gewonnen, 5:1. Und ich habe sogar ein Tor geschossen.
Aber ich denke nach. Mal wieder. Über Kai.
Aber auch einfach, weil er das einzige ist, woran ich denken kann. Seine grünen Augen und wie sie glänzen jedes Mal, wenn er glücklich ist, seine Haare, besonders wenn sie nach dem Training leicht verschwitzt auf seiner Stirn kleben und seine Grübchen, die sich bilden, wenn er lächelt.
Und dann merke ich es wieder. Einen Stich in meinem Herz. Ich vermisse ihn. Alles an ihm. Ich vermisse es einfach, ihn hier bei mir zu haben. Ich vermisse Kai und ich werde ihn wohl nie wieder hier haben. Scheiße. Diese eine verdammte gemeinsame Nacht hat alles ruiniert, es hätte nie passieren dürfen. Ich habe Kai dadurch verloren und das ist das Schlimmste, was hätte passieren können.
Und doch ist alles, was ich mit dieser Nacht verbinde, schön. Nur Kai und ich. Allein in meinem Bett. Die Erinnerungen an alle Worte und Bilder sind nur noch schwammig und dennoch kann ich mich an das Gefühl genau erinnern. Das Gefühl, Kai so nah zu spüren, zu küssen, zu halten. Jedes dieser Gefühle ist in mein Hirn eingebrannt und ich kann nichts tun, als daran zu denken, sobald ich die Augen schließe und das verrückte ist, es ist wunderschön. Diese Gefühle will ich nie vergessen und erst recht nicht rückgängig machen. Ich bereue nichts daran, das merke ich in diesem Moment besonders stark.
Scheiße, ich bin wirklich in ihn verliebt, oder?
Fuck!
So denkt doch keiner über seinen besten Freund, sowas hört man höchstens von frisch Verliebten.
»Jule?«, bringt mich Jaschas ziemlich eindringliche Stimme aus den Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
»Hm?«, schrecke ich fragend hoch.
»Mama hat dich gerade zweimal in die Küche gerufen«, erklärt er mir.
»Oh, sorry, ich war in Gedanken«, winke ich ab und stehe auf, um in die Küche zu gehen. Er wirft mir einen besorgten Blick zu, aber sagt nichts weiter und ich gehe schnell, um einem möglichen Gespräch zu entkommen.
Chapter 12: Scrolling
Chapter Text
POV Kai
Ich liege in meinem Bett und wollte eigentlich Instagram löschen. Ich kann es nicht mehr aushalten, jeden Tag die App zu öffnen und zu sehen, wie bei allen anderen das Leben weitergeht. Wie jeder glücklich ist und ich nur immer und immer wieder in meinem Kopf stecken bleibe. Ich kann nicht mehr ansehen, wie Jule in einem anderen Team trainiert und teilweise wirklich glücklich wirkt.
Ich hatte die App sogar schon offen, Finger über dem Menüpunkt, der ‘Account deaktivieren’ sagt. Und ich habe es ernst gemeint. Zu viele Bilder, zu viele Erinnerungen, zu viel von dem Teil von mir, den ich gerade nicht aushalte, aber dann ploppt eine Nachricht auf. Tinder.
Ich starre auf das Symbol. Eine neue Nachricht. Oder ein neues Match. Oder einfach nur der Algorithmus, der mir sagt: ‘Komm zurück. Hier wartet was.’
Ich weiß nicht, warum ich draufklicke. Vielleicht aus Gewohnheit. Vielleicht, weil ich gerade alles in meinem Leben hinterfrage und irgendein Teil von mir denkt: Was soll’s. Eigentlich habe ich die App nicht mehr geöffnet seit dem misslungenen Match mit Mara, aber irgendwie ist es mir in diesem Moment egal. Ich klicke auf das kleine rechteckige Symbol und die App öffnet sich.
Erst sehe ich mein eigenes Profil. Mein Gesicht, in einem neutralen Winkel. Nichts Besonderes, eher oberflächlich und wenig ich.
Ich swipe durch die App. Zwei neue Matches von letzter Woche. Eine Nachricht von einer Frau. Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht. Ich will mich löschen. Raus hier. Weg.
Und dann bin ich plötzlich in den Einstellungen. Eigentlich wollte ich mein Konto deaktivieren, aber dann sehe ich dort eine Einstellung, die sehr verlockend ist: ‘Suche nach: Frauen.’
Darunter noch andere Auswahlmöglichkeiten. ‘Männer’ und ‘Alle’
Ich weiß nicht, warum ich so lange draufstarre. Vielleicht, weil ich das schon mal gemacht habe. Vor Jahren. Damals, mit siebzehn. Nur kurz. Nur um zu schauen, was passiert, wenn ich das mache. Danach habe ich sofort panisch die App und den Verlauf gelöscht.
Jetzt, wo ich diese Einstellung wieder sehe, schlägt mein Herz schneller. Ich atme nicht. Ohne darüber nachzudenken, tippe ich das Feld ‘Männer’ an. Danach schließe ich die Augen und halte sie ganz fest zu, als hätte ich damit gerade etwas kaputtgemacht.
Ich atme einmal tief ein und dann öffne ich sie langsam wieder. Der Bildschirm ist gleich geblieben.
Die App lädt neu und dann beginnt das Swipen wieder.
Das erste Profil: Max. 25. Fitness-Coach. Schönes Lächeln.
Ich wische nicht nach rechts, aber ich schaue einen Moment länger drauf, als ich vielleicht hätte tun sollen.
Das zweite: Luis. 27. Lehrer. Wandern, Kochen, Feminismus.
Ich starre zu lange auf die Bilder.
Das dritte: Sam. Schwarzes Hemd, Bart, Musikgeschmack, den ich interessant finde.
Ich wische nach rechts und erschrecke mich dabei fast vor mir selbst. Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat, aber irgendwie war es mehr ein Reflex als eine bewusste Entscheidung.
Es ist kein Match. Ich atme auf. Oder ein. Ich weiß es nicht. Ich weiß gerade gar nichts.
Ich wische weiter. Männer. Gesichter. Namen. Lächeln. Und während ich das tue, ist da diese ekelhafte Stimme in meinem Kopf:
Was machst du da?
Du bist doch nicht...
Das ist nicht normal. Nicht du.
Aber da ist auch was anderes. Ein leiser Gedanke: Julian hätte gelacht. Hätte gesagt, endlich. Hätte mir die Angst genommen mit einem einzigen Blick.
Ich merke, dass ich zittere. Nicht stark, aber spürbar. Meine Hände sind feucht und mein Magen flau. Ich wische weiter, aber keiner sieht aus wie er. Keiner hat diesen leicht genervten Blick, wenn ich wieder zu leise spreche. Keiner hat diesen Tonfall, wenn er sagt: ‘Kai, sag, was du denkst. Nicht, was du sollst.’
Ich denke an seine zerzausten Haare morgens. An das Armband, das ich bei ihm vergessen habe. An die Nacht. An den Morgen. An mein Verschwinden.
Ich sehe ein weiteres Profil. Alex. Sportlich. Lustig. Guter Vibe.
Ich wische nach rechts. Es ist ein Match. Ich schließe die App direkt und merke, wie mein Atem schneller geht. Ich will mich übergeben. Nicht, weil es eklig ist, sondern weil es gerade zu real wird.
Ich sitze auf meinem Bett, Handy in der Hand, und spüre, wie mir alles entgleitet. Ich dachte, diese App wäre der Beweis, dass ich wieder normal werde. Dass ich rauskomme aus dem Gefühl, festzustecken, aber das funktioniert nicht. Zumindest nicht so, wie ich es mir erhofft habe.
Es ist eher eine Erinnerung. Ich kann es nicht mehr leugnen. Ich mag Männer. Ich habe Gefühle. Ich bin. Ich bin ich, aber ich kann es nicht aussprechen. Nicht mal jetzt. Nicht mal für mich selbst. Und ich weiß nicht, ob ich weine oder nur atme. Beides fühlt sich schwer an.
Ich öffne Tinder nochmal. Klicke auf ‘Match löschen’ und ändere die Einstellungen wieder auf ‘Frauen’. Nicht, weil ich es wirklich will, sondern weil ich es anders nicht aushalte. Noch nicht.
Aber für ein paar Minuten hat sich mein Herz nicht falsch angefühlt. Nur echt.
Ich lehne meinen Kopf gegen die Wand. Die Luft im Zimmer steht. Mein Brustkorb fühlt sich zu eng an für alles, was gerade in mir tobt.
Und dann kommt sie wieder. Diese Erinnerung.
Ich war vielleicht fünfzehn oder sechszehn. Ich stehe an der Ampel, mein Vater neben mir. Es war ein Sommerabend. Irgendein Auswärtsspiel liegt hinter uns, wir haben gewonnen. Ich hatte gehofft, dass das reicht, um ihn gut gelaunt zu machen.
Vor uns auf der anderen Straßenseite sind zwei Männer, Hand in Hand. Ganz normal, ganz ruhig.
Ich weiß noch, dass ich hingesehen habe, nicht weil es seltsam war, sondern weil es sich schön angefühlt hat. Ich habe sie bewundert. Sie waren so ehrlich und mutig. Sie hatten keine Angst, wer sie sieht.
Ich habe etwas länger hingeschaut und mein Vater hat es gemerkt.
»Tz.«, hat er gemacht. Dieses Geräusch, das zwischen Zähne und Zynismus lebt. Dann hat er leise gesagt, »Männer, die sowas machen, haben keinen Stolz. Keine Haltung. Das ist einfach ekelhaft, ehrlich.«
Ich habe nichts gesagt, gar nichts. Ich habe so getan, als hätte ich es nicht gehört, aber ich habe es gehört und vor allem gespürt, wie es sich in meine Haut gesetzt hat. Wie ich plötzlich dachte, ich darf das nie. Nie so sein. Nie so lieben. Nie so anschauen. Nie fühlen.
Ich war fünfzehn und ich habe gelernt, wenn du so bist, bist du falsch. Nicht laut. Nicht aggressiv. Nicht brutal. Aber eben doch irgendwie falsch.
Und was sollte ich damit machen? Mit all dem? Mit dieser Erinnerung, die nichts Großes war, aber alles verändert hat?
Ich sitze wieder hier. Tinder ist immer noch offen, eben habe ich noch durch Männer geswipt, aber jetzt herrscht Stille und irgendwo in mir dieser Satz.
‘Ekelhaft, ehrlich.’
Ich könnte schreien, aber ich tue es nicht. Ich presse nur die Lippen zusammen, denn wenn ich eins gut kann, dann ist es, Dinge herunterzuschlucken.
Chapter 13: Talking
Chapter Text
Dezember 2019/POV Kai
Ich sitze an meinem Laptop und lese mir immer wieder die E-Mail durch, die mir mein Manager Thomas weitergeleitet hat. Ich habe gerade einmal vor ein paar Monaten meine Karriere öffentlich auf Eis gelegt und es gibt schon jetzt einige Anfragen, ob ich wieder in die Öffentlichkeit zurückkehren möchte. Eigentlich habe ich sie immer ignoriert. Anfragen von Vereinen, Anfragen von der Presse, alle von ihnen waren mir egal. Ich hätte keine Karrierepause gemacht, wenn ich kurz darauf wieder auf dem Platz stehen will – außerdem kann ich das nicht tun. Ich kann jetzt nicht da stehen, wo ich durchgehend nur an ihn denken kann und daran, was passiert ist und wie er wahrscheinlich nie wieder mit mir reden möchte.
Aber diese eine Anfrage hat mich beim Löschen aller anderen stoppen lassen. Ich lese mir die Nachricht erneut durch und bin gerade ernsthaft am Überlegen, Thomas zu sagen, er soll genauere Daten anfragen. Andererseits würde das in gewisser Weise eine Rückkehr für mich auf den Platz bedeuten und ich weiß nicht, ob ich das jetzt schon kann. Die Chance, dass ich wieder mit Jule sprechen muss besteht und das ist ein zu großes Risiko, dafür, dass ich nicht normal werden kann. Andererseits habe ich das Gefühl, ich muss raus und kann nicht die ganze Zeit in dieser Wohnung sitzen. Auch wenn die Jungs echt cool sind, brauche ich irgendwas anderes in meinem Leben.
Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann zu antworten, klopft es an meiner Zimmertür. Timo.
»Das Spiel fängt gleich an, kommst du runter?«, er streckt seinen Kopf durch einen Spalt in meiner Tür. Shit, das habe ich voll vergessen.
»Ähh…ja ich komme«, sage ich und klappe meinen Laptop schnell zu.
Kurze Zeit später sitzen Timo und ich im Wohnzimmer und schauen zusammen ein BVB-Spiel. Ich habe zwar in den letzten Monaten versucht, alles zu vermeiden, was Jule betrifft, aber funktionieren tut das trotzdem nicht. Immer wieder habe ich seine Spiele eingeschaltet. Timo hat es irgendwann gemerkt und da er gestern schon sein Spiel hatte, hat er heute frei und vorgeschlagen, mit mir Jules Spiel zu schauen. Und ich war ziemlich froh darüber, denn jedes Mal habe ich Angst vor meiner eigenen Reaktion, wenn ich Jule sehe. Und wenn jemand anderes hier ist, dann muss ich meine Emotionen zurückhalten und das ist gut. Wenn ich keine Emotionen zeigen kann, kann ich ihn auch besser vergessen.
Das Spiel läuft gut. Der BVB liegt von Anfang an in Führung und hat viele Chancen auf Tore, die diese auch oft gut nutzen. Ich beobachte das Spiel gespannt, doch viel mehr halte ich immer wieder Ausschau nach Jule. Ich suche ihn immer wieder auf dem Bildschirm und verfolge jeden seiner Schritte.
Er spielt gut, wie immer, aber etwas ist anders. Er wirkt angespannt. So, als würde er sich bei jedem Schritt konzentrieren müssen, alles genau richtig zu machen. Er sieht fokussiert aus. Aber nicht so fokussiert wie damals, als wir zusammen gespielt haben. Fokussiert auf eine andere Art. Irgendwie angestrengt fokussiert.
Als eine Nahaufnahme von ihm gezeigt wird, kann ich ihn zum ersten Mal wieder richtig sehen. Und er sieht irgendwie...traurig aus. Seine blauen Augen leuchten nicht mehr so wie früher. Sie sehen eher traurig aus. Er hat dunkle Augenringe, so als hätte er wochenlang nicht mehr wirklich geschlafen. Generell sieht er ziemlich fertig aus und ich fühle mich schlecht. Am liebsten wäre ich jetzt bei ihm, um ihn zu umarmen und für ihn da zu sein. Aber das geht nicht. Wäre ich jetzt bei ihm, würde ich nur alles wieder kaputt machen. Er will mich wahrscheinlich gar nicht mehr sehen, jetzt, wo er weiß, wer ich wirklich bin. Also sitze ich nun hier und muss von weitem hoffen, dass er jemanden hat, der für ihn da ist. Dass er jemanden hat, der ihn kennt und weiß, dass es ihm nicht gut geht. Und dass diese Person ihm hilft.
Einige Minuten später, kurz vor Ende des Spiels, hat Jule eine gute Chance auf ein Tor. Er läuft auf das Tor zu, bekommt den Ball von Axel zugeschossen und...trifft.
Timo springt neben mir auf, freut sich und schlägt danach sofort mit mir ein.
»Nicht schlecht, dein Freund«, kommentiert er nebenbei. Ich schrecke überrascht auf.
»Mein Freund?«, frage ich vorsichtig. Hat Jule Timo etwa erzählt, was passiert ist? Weiß er Bescheid? Denkt er, wir sind ein Paar? Scheiße, er wird mich hassen.
»Ihr seid doch befreundet, oder nicht?«, fragt Timo, sichtlich verwirrt über meine Nachfrage.
»Ja«, sage ich erleichtert, dass er nichts Weiteres vermutet, »waren wir zumindest«
»Waren?«, Timo klingt neugierig.
»Wir reden nicht mehr wirklich«, versuche ich das Thema so oberflächlich wie möglich zu behandeln, in der Hoffnung, dass Timo nicht weiter nachfragt und es akzeptiert.
»Wieso?«, geht Timo natürlich weiter darauf ein, »In Leverkusen sah es so aus, als könnt ihr gar nicht ohne einander«
»So war es auch«, gebe ich zu, »Jetzt ist es kompliziert«
»Wenn du reden willst, bin ich immer für dich da«, sagt Timo und sieht dabei besorgt aus. Wieso ist er nur so neugierig?
»Danke, bro«, nicke ich, aber sage nichts weiter. Ich will nicht mit Timo reden. Ich kann nicht. Er kann das nicht wissen.
Nach dem Spiel schauen wir uns noch die Interviews an. Eigentlich passe ich nicht wirklich auf, sondern bin mal wieder damit beschäftigt, Lea auszureden, dass ich nicht mit irgendjemandem über meine Situation reden muss. Sie hat immer noch nicht verstanden, dass ich nicht in Therapie muss, ich muss einfach nur Abstand von Jule bekommen, dann wird das schon wieder. Ich muss niemanden dafür bezahlen, dafür, dass diese Person mir versucht zu erklären, wie ich mein Leben verbessern könnte. Ich komme schon alleine klar.
Doch dann höre ich plötzlich Julians Stimme. Ich schaue sofort von meinem Handy hoch und sehe ihn. Er sieht immer noch sehr müde aus, seine Augen traurig und dunkle Augenringe unter ihnen. Seine Stimme nach so langer Zeit wieder zu hören, macht mich nervös. Ich kann spüren, wie mein Herz sofort schneller schlägt und ich spüre ein Kribbeln in meinem Bauch. Scheiße, genau das soll doch eben nicht passieren. Wieso sitze ich überhaupt hier und schaue sein Spiel? Dennoch lasse ich den Fernseher weiter laufen. Selbst wenn ich wollen würde, könnte ich es nicht ausschalten. Stattdessen beobachte ich Jule auf dem Bildschirm. Ich höre nicht wirklich zu, was der Reporter sagt, sondern ich beobachte ihn. Ich sehe, wie sein Blick langsam immer nervöser wird. Er beginnt, seine Haare immer wieder nach hinten zu streichen und blinzelt sehr oft, wie immer, wenn er nervös ist. Ich kann spüren, dass irgendwas nicht stimmt, auch wenn ich nicht genau weiß, was passiert ist. Hat irgendjemand ihn schlecht behandelt? Hat irgendjemand etwas Schlimmes zu ihm gesagt? Vielleicht sogar über die Sache zwischen uns? Hat es irgendjemand herausgefunden? Scheiße, vielleicht erpresst irgendjemand Jule mit dieser Sache...und alles nur, weil ich einen Moment mal nicht aufgepasst habe. Ich habe wirklich Scheiße gebaut. Zum Glück bin ich gegangen, so ist Jules Karriere und sein Ansehen im Club zumindest sicherer. Dann können sie sich zusammen darüber lustig machen, wie erbärmlich ich bin.
Plötzlich stupst mich Timo an und ich merke erst, dass ich wie in einer Art Trance war und nichts mitbekommen habe. Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher.
»Kennen Sie die Hintergründe?«, höre ich nur das Ende der Frage.
»Ich denke, ich bin nicht in der Lage, die Hintergründe der Entscheidung hier zu besprechen. Wenn Kai das möchte, wird er sich selbst an die Öffentlichkeit wenden«, erklärt Julian lächelnd. Es ging um mich. Mein Karriereende wahrscheinlich. Und er hat nichts über das zwischen uns gesagt. Ich atme leicht auf, auch wenn ich mir sicher bin, dass er das nur getan hat, um sich selbst zu schützen.
Sein Lächeln war nicht echt. Es war nicht das typische Julian-Lächeln, bei dem immer sein ganzes Gesicht strahlt und das von einer Seite zur anderen geht. Er macht das nur für das Interview, ganz klar. Er war nicht glücklich, sonst würde er anders lächeln. Wahrscheinlich, weil er weiß, wen er gerade deckt. Jemanden, der einfach weggerannt ist und ihn alleine gelassen hat.
»Waren Sie schockiert über seine Entscheidung?«, fragt der Reporter weiter nach. Wahrscheinlich war er das, ich habe ihm schließlich nichts erzählt und bin einfach gegangen. Andererseits bin ich mir sicher, dass das die Sache zwischen uns einfacher gemacht hat. So wird die Sache zwischen uns nicht komisch und wir können beide versuchen, irgendeine Frau kennenzulernen. Auch wenn das bei mir nur so semi-gut funktioniert hat bis jetzt.
»Natürlich. Es ist immer traurig, wenn besonders talentierte Spieler nicht das erreichen, was für sie absolut möglich wäre, aber jede Entscheidung hat ihre Gründe, auch wenn diese nicht immer für jeden nachvollziehbar sind.«, sagt Jule und ich sehe, wie seine Augen etwas wässrig werden. Er will das Thema so schnell wie möglich beenden, ich weiß es. Wahrscheinlich kann er es einfach nicht mehr aushalten, an mich und diese Nacht zu denken.
»Möchten Sie noch abschließende Worte an Ihren ehemaligen Teamkollegen richten?«, kommt direkt die nächste Frage an Julian. Und jetzt habe ich wirklich Angst. Er konnte mich vollkommen bloßstellen. Er konnte allen erzählen, was für ein Mensch ich bin. Und ich könnte nichts dagegen machen. Ich merke, wie meine Handflächen anfangen zu schwitzen. Fuck. Die nächste Aussage von Jule könnte mein öffentliches Bild für immer verändern.
»Eigentlich möchte ich hier nicht die ganze Zeit über Kai reden, schließlich hat er sich selbst dazu entschieden, nicht mehr in der Öffentlichkeit zu stehen. Natürlich wünsche ich ihm trotzdem alles Gute im Leben und vielleicht sehen wir uns bald wieder auf dem Platz«, sagt Jule. Und es geht ihm nicht gut. Ich sehe es einfach. Er muss sich gerade zurückhalten, nicht zu weinen. Auch wenn ich nicht viel von ihm sehe, kann ich erkennen, dass er am Zittern ist. Wahrscheinlich ist er enttäuscht. Enttäuscht darüber, wie sehr er sich in mir getäuscht hat. Wie ich einfach gegangen bin und darüber, wer ich bin. Ich hoffe einfach nur, dass das Interview schnell beendet wird und er sich nicht mehr mit mir befassen muss. Ich kann gar nicht verstehen, wie er noch so positiv über mich reden kann, ich habe ihn einfach in meine dummen Gefühle reingezogen, als er betrunken war und er redet öffentlich weiterhin positiv über mich. Auch wenn es ihm dabei sichtlich nicht gut geht.
»Und wie stehen Sie zu einer möglichen Rückkehr von Kai Havertz? Denken Sie, er wird seine Karriere irgendwann wieder aufnehmen?«, kann der Reporter nicht mit dem Thema aufhören. Ich werde langsam wütend auf ihn. Julian soll sich nicht mehr damit befassen müssen, er soll weiterleben können, aber dafür müssen auch diese Fragen nach mir endlich aufhören.
Zum Glück wird das Interview dann an dieser Stelle unterbrochen, weil Jule vom Trainer gebraucht wird. Und ich bin froh, weil ich nicht mehr sehen muss, wie es ihm so schlecht geht.
Timo legt seinen Arm um meine Schulter und das ist der erste Moment seit Beginn des Interviews, in dem ich wieder irgendwas um mich herum mitbekomme, »Was ist los, Kai?«
»Nichts«, blocke ich ab.
»Du weinst«, er schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an, »Denkst du wirklich, dass ich dir glaube?«
»Fuck«, murmle ich kaum hörbar. Erst jetzt spüre ich die Tränen, die meine Wangen runterlaufen. Ich war so sehr auf Jules Worte fokussiert, dass ich nicht gemerkt habe, dass ich angefangen habe zu weinen. Ich bin wirklich so verloren.
»Also, was ist passiert? Ist es wegen Julian?«, fragt Timo erneut nach.
Ich nicke nur und wische mir die Tränen aus dem Gesicht, während immer mehr aus meinen Augen laufen. Ich habe gerade einfach keine Kraft dafür, es zu leugnen. Julian wieder zu sehen und zu hören war einfach zu viel für mich. Besonders, weil es ihm offensichtlich so schlecht geht und es an mir liegt.
»Was ist passiert?«, fragt Timo und streicht mit seinem Arm über meinen und schaut mich mit einem ernsten Blick an, »Ihr wart beste Freunde und auf einmal habt ihr keinen Kontakt mehr. Sag mir jetzt nicht wieder, dass gar nichts zwischen euch passiert ist.«
»Ich bin ein schlechter Mensch«, sage ich und warte ängstlich auf seine Reaktion.
»Wieso?«, fragt Timo nach, ohne Vorwürfe zu machen, »Was hast du getan?«
»Ich kann es dir nicht sagen, du wirst mich hassen«, ich spüre, wie mir immer mehr Tränen aus den Augen fließen.
»Wahrscheinlich nicht«, er schaut mich eindringlich an, »Solange du niemanden umgebracht hast, kann es nicht so schlimm sein«
»Doch«, ich weiche seinem Blick aus, »Es ist fast genauso schlimm. Zumindest fühlt es sich so an.«
»Kai, ernsthaft, was ist passiert? Was ist los mit dir?«, ich spüre seinen ernsten Blick auf mir und höre die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme. Ich weiß, er wird nicht aufhören zu fragen, bis ich ihm erzähle, was passiert ist.
Ich rücke ein Stück weg von ihm, sodass Abstand zwischen uns ist. Wenn er weiß, wie ich wirklich bin, wird er froh sein, dass ich das getan habe. Wenn wir sowieso schon Abstand haben, muss ich nicht merken, wie er mich abstößt.
»Ich habe mit ihm…geschlafen«, gebe ich mit leiser Stimme zu, so dass es kaum hörbar ist. Ich schaue auf den Boden, um Timos Reaktion nicht zu sehen. Zu viel Angst habe ich davor, wie er mich ansieht, jetzt wo er weiß, was ich getan habe.
»War es so schlimm? Ist er homophob? Hast du ihn dazu gezwungen?«, fragt er und ich höre kein bisschen Ablehnung in seiner Stimme, weshalb ich nun verwirrt bin.
»Nein, ich weiß nicht, ich denke nicht«, beantworte ich alle seine Fragen schnell.
»Dann ist es doch halb so schlimm«, sagt Timo, so als wäre es selbstverständlich.
»Nein, ich darf nicht so sein, das ist falsch«, erkläre ich verzweifelt, »Das ist eklig, das ist nicht normal«
Ich warte nur darauf, dass er mir zustimmt. Das Timo endlich versteht, was ich meine. Dass er sieht, was für ein falscher, ekliger Mensch ich bin. Doch stattdessen rutscht Timo näher an mich und zieht mich in eine Umarmung.
»Du bist nicht falsch, Kai«, er drückt mich nah an sich. Ich fühle mich überfordert von seiner Umarmung und bin versteift. Die ganze Situation verwirrt mich gerade. Wieso ist Timo noch hier? Wieso findet er das nicht schlimm? Wieso bleibt er hier? Wieso wirft er mich nicht aus der WG raus?
»Nein, du verstehst es nicht.«, versuche ich ihm wieder zu erklären und ich merke, wie mir Tränen aus den Augen rollen, »Ich kann nicht so sein, das ist einfach nur falsch und eklig. Ich sollte eine Freundin haben und irgendwann eine Familie mit einer Frau gründen. Ich sollte nicht sowas mit Männern machen, ich bin ein Fußballspieler, das ist nicht richtig, das gehört sich nicht so.«
»Nein«, Timo löst die Umarmung wieder etwas und sieht mich an, »Du bist richtig so, wie du bist. Ich weiß nicht, wer dir diese Sachen erzählt hat, aber das ist nicht richtig, Kai, hör auf, so über dich selbst zu reden. Es ist egal, wen du liebst, solange du glücklich bist. Nichts daran ist falsch, wenn du dich in einen Mann verliebt hast.«
»Aber-«
»Nichts, aber«, unterbricht Timo mich, »Du hast nichts falsch gemacht. Solange du und Julian mit allem einverstanden wart, ist alles gut. Du hast keinen Fehler gemacht und du bist auch nicht unnormal oder falsch. Du bist nur ein Mensch mit Gefühlen und das ist gut so.«
»Aber ich darf so nicht sein.«, versuche ich ihm wieder zu erklären, »Das kann meine Karriere zerstören«
»Die Karriere, die du aufgegeben hast?«, fragt Timo mit hochgezogener Augenbraue, »Ganz ehrlich, Kai. Wenn du nur ein bisschen aufpasst, wem du was erzählst, wird das nie rauskommen. Du hättest einfach ganz normal weiter Fußball spielen können und privat machen können, was du willst. Klar ist es scheiße, sich die ganze Zeit verstecken zu müssen, aber da hättest du dich entscheiden müssen, ob du deine Karriere aufgibst oder dein Privatleben ein bisschen einschränkst, aber es wäre nicht unmöglich gewesen.«
Klingt logisch, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er recht hat. Und ich bin verwirrt. Wieso hat Timo mich nicht verurteilt? Jeder hat das bis jetzt getan. Jeder außer Lea. Aber sie ist meine Schwester, das ist quasi ihre Pflicht und ich habe ihr das nie wirklich abgekauft. Aber Timo? Er hätte einfach abhauen können und nie wieder mit mir reden müssen. Wieso tut er es nicht? Wieso tut er sich sowas an? Wieso versucht er mich noch zu überzeugen, dass ich nichts Schlimmes getan habe? Ich verstehe das alles nicht und ich merke, wie immer mehr Tränen über meine Wangen fließen. Doch anstatt zu gehen oder mir zu sagen, wie falsch ich bin, bleibt Timo einfach hier, seine Arme um mich geschlungen und er hält mich so lange fest, bis es mir wieder besser geht.
Chapter 14: Show No Feelings
Chapter Text
POV Julian
Ich bin bereits am Trainingsgelände. Zu früh, wie fast jedes Mal. Der Platz ist noch leer, der Himmel ist blau und die Sonne scheint schwach auf den Platz. Obwohl es schon Mitte Dezember ist, ist das Wetter noch ziemlich warm. Das Training fängt offiziell erst in einer halben Stunde an, also noch genug Zeit, in der ich vorher trainieren kann. Ich brauche das, um mich gut ablenken zu können und meinen Kopf für einen Moment frei zu bekommen. Von ihm und allem, was passiert ist, denn ich kann es nicht vergessen. Es ist schon über ein halbes Jahr her und trotzdem kommen immer die Bilder und Erinnerungen an die Nacht hoch, sobald ich nichts habe. um meinen Kopf freizubekommen.
Ich strecke mich kurz zum Aufwärmen und dann laufe ich los.
Zwei Runden, dann drei, dann fünf. Niemand hat es von mir verlangt, aber ich brauche es. Ich brauche dieses Brennen in der Lunge, dieses Tempo, das meine Gedanken übertönt und meinen Kopf abschaltet, auch, wenn es nur für einen Moment ist. Aber genau das brauche ich. In dieser Zeit höre ich nur meinen Atem und die Vögel in der Umgebung. Einen Moment lang spüre ich nur den Kunstrasen unter meinen Füßen, die Wärme der Sonne auf meiner Haut und die Anstrengung in meinen Knochen. Einen Moment lang denke ich an nichts anderes außer die nächsten Schritte, die ich laufen werde, die nächste Kurve, die ich nehmen werde, die nächste Bewegung, die ich machen werde.
Ich werde erst langsamer, als Marco aus der Kabine auf den Platz geht. Er schaut mich an, etwas skeptisch, aber er sagt erstmal nichts. Stattdessen kommt er zu mir gelaufen und joggt mit mir gemeinsam am Platz entlang.
»Ey, bist du so früh schon wieder am Laufen?«, fragt er, da ich nichts sage, als er bei mir ankommt.
Ich nicke, weil ich gerade nicht in der Stimmung bin, zu reden. Eigentlich wollte ich nur in Ruhe laufen und nicht mit ihm reden. Er schaut mich kurz an und öffnet seinen Mund leicht, als würde er wieder etwas sagen wollen, doch dann lässt er es und ich bin ihm dankbar. Wir laufen nur in Stille nebeneinander her, während immer mehr Spieler auf den Platz kommen, sich kurz aufwärmen und dann ebenfalls beginnen, sich einige Runden warm zu laufen.
Wenig später kommt der Trainer auf den Platz, wir alle versammeln uns in einem Kreis und das richtige Training beginnt. Passspiele, Positionswechsel, Sprints, Torschüsse. Ich funktioniere. Ich bin gut, immer ganz vorne dabei, treffe fast alle Torschüsse, sprinte ziemlich schnell, mache gute Pässe. Das Training läuft super. Alles läuft, wie es soll.
Bis zur letzten Übung. Es ist eine Sprint-Torschuss-Kombi-Übung. Marco passt mir den Ball zu, ich renne zu ihm, nehme ihn an, dribble auf das Tor zu, ich hole aus, schieße – und treffe ihn mitten ins Tor.
Aber die Welt dreht sich und kippt schließlich. Nicht schlagartig, sondern langsam. Meine Beine geben nach, mein Sichtfeld beginnt zu flackern und wird schließlich schwarz vor Augen. Ich spüre nur noch den harten Boden unter mir. Danach ist alles durcheinander. Ich bin durchgehend bei Bewusstsein, ich bekomme alles mit, aber ich verstehe nicht, was passiert.
Ich höre Marco rufen. Dann den Co-Trainer. Jemand anderes ruft meinen Namen. Und ich will sagen: Alles okay , aber mein Mund ist zu langsam. Mein Puls fühlt sich an wie über 180 und ich bleibe auf dem Boden liegen. Mein Körper fühlt sich zu schwach an, um aufstehen zu können und ich spüre, wie meine Arme leicht zittern, also warte ich einfach ab, bis es mir besser geht.
»Julian?«, höre ich eine Stimme nah neben mir. Ich versuche, meine Augen vorsichtig zu öffnen. Marco kniet vor mir. Ich sehe seine Umrisse, aber es dauert eine Weile, bis ich meine Augen komplett öffnen kann und ihn richtig vor mir sehe. Er sieht besorgt aus. So, wie er in den letzten Wochen oft geguckt hat, wenn er mich schon wieder viel zu früh beim Training getroffen hat, ohne dass ich ihm erkläre, wieso.
Marco hält mir seine Hand hin. Ich will versuchen, alleine aufzustehen. Wirklich, aber mein Körper macht nicht mit. Also greife ich nach seine Hand und lasse mich von ihm hochziehen. Er stützt mich und läuft mit mir gemeinsam zur Bank an den Rand des Spielfeldes. Emre reicht mir eine Flasche Wasser. Ich nehme sie ihm dankend entgegen und trinke einen großen Schluck. Der Co-Trainer kommt ebenfalls zu mir und gibt mir einen Schokoriegel, um meinen Zuckerwert zu erhöhen. Auch diesen nehme ich dankend an.
Danach werde ich zum Teamarzt geschickt. Nur zur Vorsorge, um meine Werte zu überprüfen. Damit sie wissen, ob ich für das nächste Spiel bereit bin und ob alles gut ist mit meinem Körper.
Medizinchecks. Blutdruckmessung. Pulsmessung. Das Übliche. Vorläufige Diagnose: Erschöpfung. Gar nicht abwegig, wenn man bedenkt, dass ich, seit Kai gegangen ist, kaum mehr geschlafen habe. Nicht absichtlich. Oft liege ich einfach die halbe Nacht wach und frage mich, ob ich ihn jemals wiedersehen werde, ob wir jemals wieder auch nur Freunde werden können. Oder wie es ihm geht. Zusätzlich trainiere ich in letzter Zeit sehr viel. Anders kann ich meinen Kopf jedoch kaum frei bekommen.
Zur Sicherheit haben sie mir noch Blut abgenommen und mir wird gesagt, ich muss eine Belastungsanalyse machen. Nur zur Sicherheit.
Ich gehe wieder zum Trainingsplatz, wieder eine Flasche Wasser in der Hand, ein nasses Handtuch im Nacken und schaue den anderen beim Training zu. Ich habe meine Jacke mitgenommen und lege sie über meinen Kopf, um mich selbst von der Sonne abzuschirmen.
Ich fühle mich erbärmlich. Ich denke, ich kann wieder weiter trainieren. Ich bin nicht mehr so schwach wie vorhin. Mein Puls ist wieder normal und meine Hände zittern nicht mehr. Ich habe einfach eine kurze Pause gebraucht, jetzt kann ich wieder weitermachen. Aber ich darf nicht, der Arzt hat es mir verboten. Nicht, bis die Belastungsanalyse abgeschlossen ist und klar ist, dass es mir auch wirklich gut geht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch meine Mitspieler mich davon aufhalten würden, jetzt zu spielen.
Nachdem das Training beendet ist, gehe ich mit den anderen in die Kabine und ziehe mich um.
Marco nimmt mich mit nach Hause. Ich habe versucht, ihn zu überzeugen, dass es mir gut geht und ich selbst fahren kann, aber er hat darauf bestanden. Und ich hatte keine Kraft, ihn aufzuhalten, also bin ich in sein Auto eingestiegen und lasse mich von ihm heimfahren. Während der Fahrt schaue ich aus dem Fenster und beobachte die Landschaft, die an mir vorbeizieht. Wir reden nicht und ich bin sehr froh darüber. Ich will einfach nur nach Hause und alleine sein.
An meiner Wohnung angekommen, steigt Marco mit mir aus.
»Du musst nicht mitkommen, ich komme schon alleine klar«, winke ich ab.
»Doch ich komme mit«, Marco schließt sein Auto hinter sich zu und läuft mit mir zu meiner Wohnung, »Ich lass dich jetzt nicht alleine, ich will nicht, dass dir irgendwas passiert.«
»Jascha wohnt bei mir, ich bin nicht alleine«, versuche ich ihn zu überzeugen, dass er gehen kann, während ich meine Haustür aufschließe.
»Und bis er da ist, bleibe ich hier«, bleibt er bei seiner Meinung. Also seufze ich nur und halte ihm die Tür offen. Ich will jetzt nicht diskutieren.
»Es geht mir gut«, sage ich. Meine Stimme klingt genervt. Ich weiß das, aber ich kann es nicht ändern. Marco steht in meinem Flur, die Stirn in Falten gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt.
»Du bist zusammengebrochen, Julian«, sagt er, »Das ist nicht nichts.«
Ich zucke mit den Schultern, gehe an ihm vorbei und in die Küche, »Ich war einfach nur müde.«
»Du bist im Training auf den Boden geknallt. Ohne Vorwarnung. Einfach so.«, erklärt er.
Ich hole mir ein Glas Wasser und trinke es in einem Zug aus. Vielleicht wirkt das alles nicht so ernst, wenn ich mich schnell genug bewege. Vielleicht glaubt mein Kopf das auch irgendwann, wenn ich so tue, als wäre ich stabil.
»Ich bleibe hier, weil du jemanden brauchst, der hier ist.«, ergänzt er, weil ich nichts sage.
»Ich bin kein Kind, Marco.«
»Stimmt, aber auch Erwachsene dürfen mal Hilfe brauchen.«
Ich presse die Lippen zusammen. Ich mag ihn, echt. Er ist kein Arsch. Keiner, der einfach nur redet und es dann nicht macht, aber gerade will ich einfach, dass er verschwindet. Damit ich in Ruhe sein kann.
»Erzähl es Jascha bitte nicht«, sage ich, »Ich regel das.«
Marco sieht mich lange an und dann sagt er, »Wenn du gleich wieder umfällst, kann ich ihn nicht anlügen.«
Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu, aber er bleibt trotzdem da. Natürlich.
Eine halbe Stunde höre ich, wie sich der Schlüssel in der Tür dreht. Ich habe mich inzwischen auf das Sofa gelegt und einen Hoodie über die Augen gezogen. Ich tue so, als schlafe ich. Das habe ich auch versucht, aber wie so oft kann ich gerade nicht einschlafen.
»Julian?«, ruft Jascha aus dem Flur.
Ich murmele, »Hier.«
Marco geht zur Tür, ich höre Stimmen und dann Schritte.
»Was ist passiert?«, fragt Jascha direkt.
Ich reiße die Augen auf, »Nichts! Nichts ist passiert, ich bin nur müde.«
Marco schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er sagt nichts, aber sein Blick sagt alles. Wenn du es ihm nicht erzählst, tue ich es.
Er wartet einen Moment, wahrscheinlich, dass ich es sage, aber da ich es nicht mache, tut er es, »Er ist heute im Training zusammengebrochen. Einfach so. Ohne Fremdeinwirkung. Ohne Ballkontakt.«
Jascha erstarrt, »Was?«
Ich setze mich auf, »Jetzt übertreib mal nicht. Ich war nur kurz durch.«
»Durch?«, Jascha kommt näher, »Durch wie in Kreislaufzusammenbruch oder durch wie in mentaler Burnout?«
Ich sage nichts, aber das Schweigen ist Antwort genug. Jascha mustert mich, »Warum hast du es mir nicht gesagt?«, fragt er leise.
»Weil du mich sonst genauso ansiehst, wie jetzt.«, sage ich und weiche seinem Blick aus.
»Wie sehe ich dich denn an?«, fragt er, als wüsste er wirklich nicht, was ich meine.
»Als wäre ich kaputt.«
Dann herrscht einen Moment Stille. Marco zieht sich zurück und er sagt nur, »Ich mache euch Tee. Küche ist da, oder?«
Ich nicke, aber eigentlich wäre es mir lieber, wenn er hier wäre. Dann müsste ich das nicht alleine machen.
Jascha setzt sich neben mich auf die Couch und sieht mich besorgt an, »Julian, du musst nicht alles alleine tragen.«
»Doch. Ich muss.«, schüttle ich den Kopf.
»Warum?«
Ich atme schwer aus, »Weil es sonst keiner macht.«
Er schüttelt den Kopf, »Das ist Bullshit. Ich bin hier, Jannis ist hier, sogar Marco ist da. Du lässt nur niemanden rein.«
Ich starre auf meine Hände und höre, wie meine Stimme verzweifelt bricht, »Ich will einfach, dass alles wieder normal ist.«
»Was ist normal?«, fragt er, »Du tust so, als wäre das hier ein Ausrutscher gewesen, aber das ist ein Alarmzeichen und das weißt du auch. Du schläfst schlecht, du trainierst, viel zu viel und jetzt das. Und trotzdem tust du so, als wäre das nur ein Schluck Wasser zu wenig gewesen.«
Marco kommt mit zwei Tassen Tee zurück, stellt sie wortlos ab und nickt Jascha zu, »Ich muss los. Ruf mich an, wenn was ist.«
»Danke, Marco«, sagt Jascha. Ich nicke ihm nur zu. Die Tür fällt ins Schloss und Jascha wendet sich mir wieder zu.
»Ich komme damit klar, Jascha«, sage ich.
»Wie? Indem du so tust, als wäre alles okay, bis du wieder umfällst?«, er schaut mich ernst an.
»Ich kann nicht einfach aufhören, zu trainieren. Ich habe Verpflichtungen, ein Team, Spiele, Training.«
»Du hast auch einen Körper und einen Kopf. Und beides ist gerade überfordert.«, er legt seine Hand vorsichtig auf mein Knie.
Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen.
»Was ist wirklich los, Julian?«, fragt Jascha leise.
Ich schüttle den Kopf, »Ich kann es nicht erklären.«
»Versuch es.«, ermutigt er mich.
Ich atme lange aus, »Ich funktioniere nur noch. Ich wache auf, gehe ins Training, esse irgendwas und nachts....«, Ich schlucke, »Nachts liege ich wach und frage mich, ob das hier überhaupt noch meins ist.«
»Was meinst du mit ‘das hier’?«, fragt er und ich kann hören, dass er besorgt klingt.
»Alles.«, dann mache ich kurz eine Pause, »Das Leben.«
Jascha streicht mit seinem Daumen über mein Knie, »Du bist nicht allein, Jule.«
Ich nicke leise und dann lasse ich zu, dass es mir egal ist, wie schwach das wirkt als die Tränen kommen.
Jascha sitzt einfach da. Neben mir. Und ich atme zum ersten Mal seit Tagen wirklich.
—
Ein paar Tage später sitze ich in meiner Wohnung auf der Couch und warte darauf, dass ich die Ergebnisse der Untersuchungen des Arztes bekomme. Gegenüber von mir sitzt Jascha, der aufmerksam auf sein Handy schaut. Er hat zum Beginn der Saison spontan zur Jugendmannschaft von Dortmund gewechselt und wohnt seitdem bei mir. Unsere Eltern wollten nicht, dass er alleine lebt, also habe ich ihn bei mir aufgenommen.
Mein Laptop liegt neben mir, der Bildschirm offen. Ich aktualisiere die Seite immer wieder, bis eine neue E-Mail auftaucht:
‘Auswertung sportmedizinischer Untersuchung, Julian Brandt’
Ich öffne die Mail. Viele Zahlen und Werte sind dort aufgelistet. Blutbild. Cortisol. Laktatkurve. Herzfrequenzvariabilität. Ich kenne mich zwar nicht besonders gut aus, aber ich verstehe doch genug, um zu wissen, dass es keine besonders schlimmen Werte sind . Aber sie sind auch nicht gut. Es ist eine Grauzone.
Ich überspringe die Auswertung und scrolle ganz nach unten. Dort ist die Schlussfolgerung des Arztes.
‘Empfehlung: Regenerationsphasen zwischen Trainingseinheiten einhalten. Anzeichen von Übertraining, aber nicht im kritischen Bereich. Stress vermeiden und auf einen ausgeglichenen Tagesablauf achten. Die Teilnahme an weiteren Trainingseinheiten und Spielen gestattet. Termin für erneute Tests zur Überprüfung der Werte, wird in den nächsten Tagen gemeinsam vereinbart’
Ich starre auf den Absatz. Lese ihn nochmal. Und nochmal. Ich kann weiter trainieren. Das ist das Wichtigste für mich gerade, denn dadurch kann ich meinen Kopf wieder frei bekommen. Und genau das ist das, was ich gerade brauche. Das, was mir besonders gut hilft. Dann klappe ich den Laptop zu.
Ich atme ein. Und warte. Auf Erleichterung, dass ich weitermachen kann. Auf Angst, dass ich für das Training gesperrt werde, wenn sich meine Werte verbessern. Auf irgendwas. Auf irgendein Gefühl. Aber da ist nichts.
Ich lehne mich zurück, lasse den Kopf in den Nacken fallen und atme tief durch. Mein Körper fühlt sich leer an. Nicht müde, nur ausgewaschen.
Und dann ist er wieder da. Der Gedanke. Nicht an den nächsten Spieltag. Nicht an die Tabelle oder die Leistungen des Teams, sondern an diesen einen Abend. An den See. Nicht mal an Kai direkt, nur an diesen einen Moment.
An die warme Luft, die nach Sommer gerochen hat.
An seine Stimme, die so ruhig war.
An seine Arme, die mich gehalten haben.
An das Wasser.
An die Berührung seiner Lippen auf meinen.
Und an den weiteren Verlauf der Nacht. Das, was ich für einen kurzen Moment hatte und was nie wieder sein wird. Seine Berührungen, seine Nähe, seine Wärme. Ich spüre es bis heute.
Ich will es nie vergessen, aber ich will auch jeden Moment für immer in meiner Erinnerung halten, weil ich mich so gut gefühlt habe, weil sich für einen Moment alles richtig angefühlt hat und weil das die letzte Erinnerung ist, die ich mit Kai habe.
POV Jascha
Ein weiterer Schritt, der mir hilft herauszufinden, wieso Kai verschwunden ist und was Julian damit zu tun hat, ist geschehen. Ich bin zu Julian nach Dortmund gezogen. Das ist nicht nur gut für meine Recherche, sondern auch gut, um Julian im Auge zu behalten und neue Theorien zu entwickeln, falls möglich.
Es geht ihm nicht gut, aber er redet immer noch nicht. Anfang der Woche ist er im Training zusammengebrochen, aber wirklich reden will er nicht darüber. Ich habe es nur erfahren, weil Marco ihn nach Hause gebracht hat und nicht gegangen ist, bis er sich nicht sicher war, dass Jule nicht alleine ist. Er selbst hätte es mir wahrscheinlich nicht erzählt.
Nun behalte ich Julian im Auge, während er gegenüber von mir gegen die Decke starrt, wahrscheinlich in Gedanken. Das macht er oft in letzter Zeit.
Ich bin bereits tief in der Recherche zu meiner zweiten Theorie: Kai ist ein Spion für einen anderen Verein.
Wenn man mich fragt, eine ziemlich realistische Theorie. Und ich habe bereits gute Anhaltspunkte, wieso Kai ein Spion sein könnte.
Ich recherchiere gerade schon seit über einer Stunde nach Kais kompletter Transferhistorie gegoogelt, um Unstimmigkeiten zu finden. Zwar habe ich noch keine Beweise dafür gefunden und auch viele verschiedene Seiten durchsucht – von den bekannten Seiten bin ich schon lange weg – aber ich habe etwas anderes gefunden:
Kendrick Hampton. Ein schottischer Fußballspieler. Initialen: KH. Wie Kai Havertz.
Und das Beste an Kendrick Hampton: Er hat in der Premier League gespielt und seine Karriere Anfang 2016 offiziell beendet. Gründe sind offiziell keine bekannt. Er war damals 24. Mit etwas Make-up könnte er sicher als 17 durchgehen. Und Bilder von Kendrick finde ich auch nicht. Es gibt viele Artikel darüber, wie gut Kendrick ist, aber Bilder von ihm kann ich nicht finden. Eine Beschreibung seines Aussehens schon. Schwarze Haare. Blaue Augen. 1,90m groß. Passt perfekt zu Kai.
Ich gehe direkt zu Transfermarkt und schreibe eine E-Mail, um weitere mögliche Informationen zu erhalten, die auf die Spionage-Theorie hindeuten:
Sehr geehrtes Transfermarkt-Team,
Ich habe eine dringende Anfrage, aufgrund von möglichem Wettbewerbsbetrug. Kennen Sie mögliche Übereinstimmung zwischen dem Transfer von Kai Havertz zum Bundesligaverein Bayer Leverkusen und dem Karriereende von Kendrick Hampton in der Premier League? Die Personenbeschreibungen sind sehr ähnlich und es könnte ein Transfer in einen Bundesligaverein von Kendrick Hampton unter Decknamen zu Spionage-Zwecken zugrunde liegen. Ich habe bereits einige Beweise dafür gesammelt.
Vielen Dank für Ihre Mithilfe, den Sport weiterhin fair zu halten.
Ich lese die E-Mail noch einmal durch, bevor ich auf senden klicke. Für heute bin ich stolz auf meine Recherche. Ich schreibe alle meine gesammelten Beweise in meinen Notizen auf, um sie später in mein Notizbuch zu schreiben, damit ich alle Beweise zusammen gesammelt habe und am Ende die beste Theorie suchen und weiterverfolgen kann.
Ich lege mein Handy weg und schaue zu Julian, der genau in diesem Moment sein Handy wegwirft.
»Was war das?«, schaue ich ihn skeptisch an.
»Anscheinend ist meine Karriere wohl bald vorbei«, sagt er in monotoner Stimme.
»Was?«, frage ich, völlig verwirrt.
Er greift zum anderen Ende der Couch, hebt sein Handy wieder hoch, öffnet den Bildschirm und hält es mir hin.
Ein Artikel über Julian auf sportaktuell:
Zusammenbruch im Training - Brandt ein Fehlkauf für den BVB?
Seit seinem millionenschweren Wechsel zu Borussia Dortmund galt Julian Brandt als Hoffnungsträger des Vereins. Der junge Spieler, talentiert, fokussiert, ehrgeizig, sollte das Gesicht der neuen Generation werden.
Und tatsächlich: Auf dem Papier liefert er. 3 Tore in 4 Spielen und 4 Vorlagen.
Doch hinter den glänzenden Zahlen brodelt es.
Wie sportaktuell aus teaminternen Kreisen erfahren hat, kam es beim heutigen Training zu einem Zusammenbruch des Spielers. Insider sprechen von »Erschöpfungssymptomen, die nicht zum ersten Mal auftreten«.
Zudem werfen Beobachter einen zunehmend kritischen Blick auf seinen veränderten Spielstil. Während er früher als kontrollierter Stratege galt, agiert er nun spürbar aggressiver, sucht riskante Zweikämpfe, ist schnell frustriert. Eigenschaften, die man so von ihm kaum kennt.
»Er wirkt, als würde er ständig auf 110 Prozent laufen«, meint ein Insider, »Als müsste er sich selbst überholen, egal was es kostet.«
Auch seine Interaktionen mit Mitspielern haben sich verändert. Wo früher Ruhe und Kommunikation herrschten, zeigt sich nun ein junger Spieler, der sich abschottet, Interviews meidet und nach Spielen schnell verschwindet.
Hinter verschlossenen Türen wird spekuliert, ob Brandt mit der Last des Vereinswechsels, der medialen Erwartung oder ganz anderen Dingen zu kämpfen hat.
Ist Brandt also ein Fehlkauf?
Die nackten Zahlen sagen: nein.
Doch wenn sich hinter der glänzenden Fassade ein Mensch verbirgt, der an der Last zusammenbricht, dann kann es irgendwann nur zwei Wege geben: er fliegt höher als je zuvor – oder er stürzt ab.
………….
»Naja«, setze ich vorsichtig an, »Vielleicht hat der Artikel ja auch irgendwie einen Punkt«
Weil ja, zu behaupten, Jule wäre ein Fehlkauf, ist vielleicht etwas gewagt, aber im Grunde hat der Artikel schon irgendwo recht. Wenn Jule weiter so viel trainiert und die Sache mit Kai ihn immer mehr zum Training treibt, wird er irgendwann unter dem Druck zusammenbrechen und könnte dadurch seine Karriere gefährden.
»Du stimmst dem Scheiß auch noch zu?«, meckert er mich schockiert an, »Das meinst du doch nicht ernst, Jascha!«
»Ich denke nicht, dass du ein Fehlkauf bist«, erkläre ich ihm, was ich meine, »Aber ich denke schon, dass sich deine Spielart und deine Trainingsart verändert haben und das schon eher bedenklich ist, wenn du wegen Erschöpfung zusammenbrichst«
»Aber ich trainiere, weil ich gut sein will«, hält er entgegen, »Ich habe einfach zu wenig geschlafen und getrunken, das kann jedem Mal passieren, ich–«
»Julian«, unterbreche ich ihn, »Sei doch vernünftig. Du musst eben auch mal eine Pause machen und nicht immer trainieren. Was auch immer mit Kai passiert ist, ist bestimmt schrecklich, aber du kannst nicht deswegen trainieren wie ein Verrückter, um ihn zu vergessen. Mit jemanden zu reden würde vielleicht auch helfen«
Er schaut mich mit weiten Augen an. Sein Blick ist wütend, aber wenn man länger hinschaut, erkennt man, dass er eigentlich eher traurig ist. Ich habe einen wunden Punkt getroffen. Ich habe Recht und er weiß es, aber er will es nicht zugeben.
Anstatt irgendwas zu sagen, nimmt er mir einfach sein Handy wieder weg, steht auf und verlässt den Raum.
Chapter 15: House not Home
Chapter Text
POV Kai
Auf dem Tisch liegt eine weiße Tischdecke mit goldenen Sternen. Es riecht nach Rotkohl, Nelken und irgendwas Angebranntem. Meine Mutter stellt einen Topf mit Gans auf den Tisch, Jan schiebt sich mit dem Messer Kartoffeln auf den Teller und Lea trinkt Wasser. Es ist ein typischer Weihnachtsabend bei uns zuhause.
Mein Vater sitzt am Kopf des Tisches. Seit ich angekommen bin, hat er noch kein Wort mit mir gewechselt. Kein ‘Schön, dass du da bist’, kein ‘Wie geht es dir?’. Nur ein Nicken, als ich durch die Tür kam. Was anderes habe ich auch nicht erwartet. Seit ich meine Karriere beendet habe, redet er kaum noch mit mir.
»Also«, sagt er jetzt, schaut mich ernst an und legt die Gabel ab, »Was machst du jetzt eigentlich den ganzen Tag?«
Ich spüre, wie Lea kurz die Schultern anspannt.
»Ich bin gerade dabei, ein neues Leben aufzubauen«, sage ich.
»Also sitzt du nur in deiner Wohnung oder bist in der Stadt und suchst dir ein neues Hobby?«
Ich lächle nicht, sondern nicke nur monoton, »Ja. Macht Spaß.«
»Aber das ist doch nichts Richtiges. Du gehörst auf den Platz. Noch bist du jung, du kannst immer noch zurück.«, versucht er mich zu überzeugen, wie so oft in den letzten Wochen. Wenn er überhaupt mit mir redet.
Ich atme langsam aus, »Ich will aber nicht zurück.«
»Ach, komm. Du warst einer der besten Spieler deiner Generation und dann beendest du mit 20 einfach deine Karriere, bevor sie überhaupt begonnen hat, weil du angeblich…was war es? Müde im Kopf?«
Lea knallt ihr Glas auf den Tisch, sichtlich genervt, »Papa.«
»Was denn?«, fragt er und hebt beide Hände, »Ich frage ja nur, ist ja wohl erlaubt.«
Jan mischt sich ein, »Er hat seine Gründe. Und ehrlich gesagt, ich finde es mutig, dass er das durchzieht.«
»Mutig«, wiederholt mein Vater, die Ironie in seiner Stimme klar zu hören, und lacht leise, »Früher nannte man das schwach.«
Ich balle meine Faust unter dem Tisch, aber sage nichts.
»Was soll denn aus dir werden, Kai? Willst du ewig davon leben, dass du mal was warst?«
»Es geht mir gut«, sage ich. Klar, das ist nicht so ganz die Wahrheit, aber es ist das einzige, was ich sagen kann, dass er vielleicht aufhört zu reden.
»Das glaubst du doch selbst nicht.«, schüttelt er den Kopf und trinkt etwas von seinem Bier. Die Gabel auf meinem Teller zittert. Ich lege sie weg und schaue auf den Tisch. Sternenmuster. Gold auf Weiß. Früher habe ich die Tischdecke gemocht, aber heute will ich sie verbrennen.
»Du redest nur mit mir, um mich kleinzumachen«, sage ich leise.
»Ich rede mit dir, weil ich will, dass du nicht dein ganzes Talent wegwirfst.«
»Er hat es nicht weggeworfen«, sagt Lea, ihre Stimme ist fest, »Er hat sich selbst gerettet.«
Meine Mutter sagt nichts. Sie stochert in ihrem Essen, als könnte sie sich unter dem Kartoffelbrei verstecken. Typisch. Mit meinem Vater legt sie sich nicht an, selbst wenn sie sich nur für uns einsetzen würde. Das tut sie nicht.
»Du hast früher anders geredet«, sagt mein Vater zu mir, »Du warst klar, fokussiert. Du wolltest Weltmeister werden.«
»Vielleicht war ich damals auch einfach nur das, was du wolltest.«, widerspreche ich ihm erneut. Ich kann das einfach nicht mehr, ich kann nicht mehr zurück.
»Ach hör auf mit dem Psycho-Quatsch. Du warst ein Kämpfer und jetzt gibst du auf, bevor es eng wird.«, schüttelt er enttäuscht mit dem Kopf.
Ich will etwas sagen, aber ich merke, wie meine Kehle brennt. Nicht vor Wut, sondern vor Enttäuschung.
»Ich habe mich entschieden, Papa«, versuche ich, meine Stimme kontrolliert zu halten, »Und du musst das nicht verstehen. Aber du musst aufhören, mich jedes verdammte Mal runterzumachen, wenn wir an einem Tisch sitzen.«
Ich weiß nicht, was in diesem Moment mit mir passiert, aber gerade kann ich einfach nicht anders, als alles, was ich so oft runtergeschluckt habe, auszusprechen.
»Dann verlass dich nicht darauf, dass ich dir den Rücken stärke, wenn es schiefgeht.«
»habe ich nie.«, sage ich und wende mich wieder meinem Essen zu. Stille.
Irgendwann räuspert sich Jan, »Also ich glaube, wir hatten auch mal ein Weihnachten, an dem es nicht eskaliert ist, oder?«
»War das vor oder nach Kais Geburt?«, murmelt mein Vater leise, aber laut genug, dass es jeder am Tisch hören kann.
»Papa!«, ruft Lea überrascht, »Reiß dich mal zusammen, verdammt nochmal!«
»Was denn? Ich sag doch nur das, was ihr euch alle denkt.«
»Nein«, sage ich, »Du sagst das, was dich schützt.«
Er schaut mich kalt an, »Ich bin dein Vater. Ich darf dir sagen, wenn ich denke, dass du falsch liegt.«
»Und ich bin kein Kind mehr. Ich darf dir sagen, wenn du mir damit schadest.«, entgegne ich ihm wütend.
Lea legt ihre Hand auf meine, um mich zu beruhigen. Erst da merke ich, wie sehr meine zittert.
»Weißt du was, Papa?«, sagt sie, »Wenn jemand hier schwach ist, dann du, weil du lieber deinen eigenen Sohn fertig machst, als mal zu sagen: Ich bin stolz auf dich.«
Meine Mutter flüstert, will die Diskussion beenden, »Lea«
»Nee, Mama. Nicht diesmal.«, schüttelt sie den Kopf.
Mein Vater steht auf, »Ich gehe eine Runde spazieren.«
Er geht. Kein Wort mehr. Er verlässt den Raum und zieht die Tür laut zu.
Jan lehnt sich zurück, »Frohe Weihnachten, Leute.«
Und dann lachen wir, nicht, weil es lustig ist, sondern weil es alles ist, was wir noch können.
Ich lache und mir laufen Tränen über die Wange. Lea drückt meine Hand fester und sagt leise, »Ich bin stolz auf dich. Auch wenn er es nicht ist.«
Ich sage nichts. Ich nicke nur, weil mein Herz gerade versucht, sich selbst zusammenzuhalten und weil ich weiß, dass ich gerade nicht alleine bin, aber ich fühle mich trotzdem nicht ganz da. Nicht hier, nicht in diesem Haus, nicht mit diesem Namen.
—
Es ist fast zwei Uhr nachts. Das Haus ist still, nur irgendwo tickt eine Uhr zu laut. Ich liege auf dem Bett in meinem alten Kinderzimmer und habe die Decke bis zur Brust hochgezogen. Ich habe noch kein Auge zugemacht. Zu viele Gedanken. Zu laut. Immer wieder das gleiche Bild: mein Vater am Tisch, sein Blick, sein Ton und dann die Worte, die er gesagt hat.
‘schwach’, ‘kein Stolz’
Ich schließe die Augen, will sie wegbrennen, aber es geht nicht. Ich höre ein leises Knarren. Die Tür geht langsam auf. Ich drehe meinen Kopf auf die Seite und sehe Jan. Er steckt den Kopf durch die Tür, hebt kurz die Hand, als würde er fragen, ob er reinkommen darf. Ich nicke.
»Ich kann nicht schlafen«, sagt er, »Du?«
Ich schüttle den Kopf. Er kommt rein, hat eine Jogginghose an, ein altes Bandshirt und seine Haare sind verwuschelt.
»Ich setz mich kurz, ja?«, fragt er und deutet auf das Bett.
Ich nicke, er setzt sich ans Fußende des Bettes, lehnt sich zurück und streckt die Beine aus.
»Ich habe früher gedacht, Papa war cool«, sagt er nach einer Weile, »So dieser krass direkte Typ. Klar. Hart, aber ehrlich.«
Ich sage nichts, sondern höre ihm nur zu.
»Und dann habe ich irgendwann gemerkt, dass Ehrlichkeit nicht bedeutet, dass man keine Rücksicht nehmen muss. Man kann ehrlich sein und trotzdem nicht verletzen, aber Papa kann das nicht.«
Ich starre an die Decke, »Ich versuche seit Jahren, ihn zu verstehen, aber es macht mich müde.«
Jan dreht sich ein Stück zu mir, »Du musst ihn nicht verstehen. Das ist nicht deine Aufgabe.«
Ich atme leise ein, »Manchmal frage ich mich, ob ich falsch bin oder ob ich einfach nie in dieses verdammte Schema passe, das er für mich vorgesehen hat.«
Jan zuckt mit den Schultern, »Vielleicht passt keiner von uns da rein. Ich meine, Lea studiert Sozialarbeit und Papa denkt, sie ist arbeitslos und Mama tut immer noch so, als würde nichts passieren, wenn Papa uns beleidigt, ich habe keine Kinder, auch wenn Papa denkt, dass geht gar nicht und du…«, Er hält inne und lächelt schräg, »Du bist der einzige von uns, der je so richtig in sein Bild gepasst hat. Und trotzdem bist du der, der sich davon befreien musste.«
Ich schlucke. Er meint es gut und trotzdem tut es weh.
»Ich habe so vieles in mir«, beginne ich, »Und ich weiß nicht mal, wie ich das alles erklären soll. Ich habe das Gefühl, ich laufe immer vor mir selbst weg.«
Er schaut mich ganz ruhig an. Ohne mich zu beurteilen. Nur diese Jan-Ruhe, die er schon als Kind hatte.
»Du musst nichts erklären. Nicht jetzt. Nicht heute, aber ich will, dass du weißt, dass du mir alles sagen kannst. Egal, wie groß es dir vorkommt, egal, wie sehr du denkst, dass du es verstecken musst. Ich bin hier. Immer.«
Ich schließe die Augen und zum ersten Mal an diesem Abend fühlt sich mein Herz nicht wie eine tickende Zeitbombe an.
»Danke«, flüstere ich.
Irgendwann steht er auf, streicht mir mit der Hand über den Hinterkopf, »Schlaf ein bisschen, ich übernehme das Grübeln heute.«
Dann geht er raus, die Tür fällt leise ins Schloss und ich liege da. Mit Tränen in den Augen, aber nicht, weil ich verletzt bin, sondern weil ich gerade das Gefühl habe, dass mein Bruder mich sieht, wirklich sieht,
und nicht wegguckt.
Chapter 16: Comeback?
Chapter Text
POV Kai
Am nächsten Tag sitze ich auf meinem Bett mit meinem Laptop auf dem Schoß. Ich habe die E-Mail geöffnet. Wieder. Seit ich sie gelesen habe, hadere ich mit mir selbst, zu antworten. Normalerweise wäre das eine einfache Entscheidung für mich gewesen. Alle Anfragen zu Kooperationen oder von Presse werden ignoriert. Aber das hier - das ist anders. Das ist fast schon eine gute Idee. Andererseits ist es auch eine schreckliche Idee. Ich bin gegangen, um von ihm Abstand zu halten und um diese Gedanken zu vergessen, ich kann doch nicht–
Das Knarren der Tür, die geöffnet wird, holt mich aus meinen Gedanken heraus. Ich drehe meinen Kopf, um zu schauen, wer reinkommt.
»Lea?«, frage ich, da ich sie nicht erwartet habe, »Was machst du denn hier?«
»Ich dachte, du brauchst jemanden zum Reden« sie geht einige Schritte auf mich zu, » oder willst du, dass ich wieder gehe?«
Ich sage nichts, sondern nicke nur auf mein Bett, um ihr zu zeigen, dass sie reinkommen darf. Sie setzt sich auf die Bettkante, ich lege den Laptop auf die Seite und starre sie erwartungsvoll an. Doch anstatt mit mir zu reden, sieht sie mich nur an. Wieder mit diesem besorgten Blick. Dieser Blick, mit dem sie mich in den letzten Wochen und Monaten beim Telefonieren so oft angesehen hat. Dieser Blick, den ich so sehr hasse, weil ich weiß, dass sie wieder Fragen stellen wird.
»Worum geht es?«, frage ich also direkt raus.
»Timo hat mich vor ein paar Tagen angerufen«, sagt sie. Oh nein. Ich seufze und schaue nach unten in meinen Schoß.
»Er hat gesagt, dass es dir ziemlich scheiße geht, schon die ganze Zeit«, redet sie weiter, »und, dass du mit ihm über Julian geredet hast.«
Sie hält kurz inne, wartet wahrscheinlich darauf, dass ich ihr etwas erzähle, aber das mache ich nicht. Stattdessen schaue ich weiterhin auf meinen Schoß und warte darauf, dass sie weiterredet oder das Thema wechselt. Am besten letzteres.
Aber natürlich tut sie das nicht, »Willst du nicht endlich mal darüber reden, was zwischen euch passiert ist?«
Ich schweige weiterhin, in der Hoffnung, sie merkt vielleicht, dass ich nicht darüber reden will. Das ich nicht darüber nachdenken will und es lieber einfach vergessen will.
»Was ist zwischen euch passiert?«, fragt Lea weiter.
Ich zucke leicht mit den Schultern, »Nicht viel«
Gelogen. Diese Nacht hat mein Leben verändert, aber das kann ich ja schlecht zugeben. Wenn ich ihr sagen würde, wie ich mich wirklich gefühlt habe, würde sie mich nie damit in Ruhe lassen, dann könnte ich nie versuchen, es zu vergessen.
»Aber genug, dass es dich innerlich zerstört?«, fragt sie nach.
»Es war nur ein Ausrutscher.«, versuche ich alles herunterzuspielen. Wenn ich das nur oft genug sage, dann werde ich es irgendwann glauben. Dann kann ich auch endlich wieder normal sein und vielleicht irgendwann eine Frau finden, mit der ich eine Familie gründen will. Zumindest versuche ich, mir das einzureden.
»Ein Ausrutscher?«, sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, »Du hast mit ihm geschlafen«
»Ja und? Ist passiert. Nicht geplant und wird nie wieder vorkommen.«, zucke ich mit den Schultern.
Sie schweigt einen Moment. Ich rede weiter, bevor sie etwas sagen kann, »Wir waren betrunken. Jule ist hetero. Da war nichts. Schon gar keine Gefühle. Nichts, worüber wir heute noch reden müssen«
»Keine Gefühle?«, fragt sie, »Oder keine Gefühle, die du zulassen willst?«
Ich schweige. Sie weiß, was die richtige Antwort ist. Sie will es nur aus meinem Mund hören, sie will, dass ich es zugebe. Aber ich kann das nicht tun. Dann sieht Lea, wie schwach ich eigentlich wirklich bin. Stattdessen presse ich meine Lippen aufeinander.
»Es ist okay, wenn du Gefühle für ihn hast, Kai«, sie sieht mich mitleidig an, »Du redest immer noch, als wäre irgendwas daran falsch«
»Ist es ja auch. Ich meine, das ist nicht normal. Nicht in der Welt, in der wir leben. Hier gibt es keine Homosexualität, hier ist das falsch. Ich war Fußballer, also kann ich auch nicht schwul sein. Ich bin--«
»Hör auf«, unterbricht Lea mich. Ihre Stimme ist scharf, »Es ist nicht falsch, Kai. Es ist nichts an dir falsch. Es ist nicht falsch, dass du Gefühle für Julian hast. Das ist echt. Auch im Fußball gibt es queere Personen. Nur, weil du es nicht weißt, heißt es nicht, dass es sie nicht gibt.«
Ich starre auf meine Hände und spüre Tränen in meinen Augen. Sie hat recht. Innerlich weiß ich es. Aber es zuzugeben, ist schwierig.
»Ich bin nicht… Ich war nie…«, versuche ich, wieder gegen sie zu reden. Ich lege meinen Kopf in meine Hände und streiche über mein Gesicht. Ich atme tief ein. Dann wieder aus und versuche, nicht zu weinen.
»Ich glaube, ich bin...ich bin...«, ich spüre, wie Lea näher an mich rutscht, sich neben mich setzt und geduldig über meinen Rücken streicht.
»Ich stehe nicht auf Frauen«, gebe ich zum ersten Mal laut zu, »Ich habe es versucht, ich habe es wirklich versucht, aber es geht nicht. Ich habe so oft versucht, Frauen zu daten, aber ich kann es nicht, ich fühle nichts.«
Ich spüre, wie mir Tränen die Wangen herunterlaufen. Ich streiche sie mir wieder aus dem Gesicht und schaue leicht nach oben. Nicht zu Lea, ich kann sie jetzt nicht anschauen, aber nach vorne, Richtung Tür.
»Das ist okay, Kai«, Lea streicht mir weiter über den Arm und zieht mich von der Seite in eine Umarmung. Ich schließe die Augen und rede weiter. Ich weiß nicht, wieso, ich habe noch nie mit jemandem darüber geredet und ich habe mir selbst noch nie wirklich eingestanden, wie ich mich wirklich fühle. Gerade ist es, als wäre ein Knoten in mir geplatzt und ich kann endlich alles rauslassen, was ich seit Jahren versuche zu unterdrücken, um in das Bild des perfekten Fußballspielers zu passen.
»Ich vermisse ihn. Jeden Tag. Ich versuche es zu unterdrücken, aber es geht nicht. Jeden Abend ist er und diese Nacht alles, woran ich denken kann. Ich versuche alles, ihn zu vergessen, aber es geht nicht. Es ist nicht möglich, ich kann ihn nicht vergessen, er bedeutet mir einfach zu viel«, gebe ich verzweifelt zu.
Lea sagt nichts. Sie drückt mich einfach näher an sich und hält mich fest. So lange, wie ich es brauche.
Es ist lange still, nachdem ich das alles gesagt habe. Es ist aber keine unangenehme Stille, sondern eine beruhigende Stille. Eine Stille, die mir zeigt, dass Lea hier bleiben wird, egal was passiert.
»Es ist okay, Kai«, sagt sie, als ich mich wieder richtig aufsetze und mich nach hinten lehne. Lea lässt ihren Arm weiter um meine Schulter gelegt. Ich schaue sie immer noch nicht an, ich kann es noch nicht. Zu unangenehm ist es mir, dass sie das gerade mitbekommen hat.
»Wir finden einen Weg, wie wir das alles wieder gut wird. Ich werde dir dabei helfen«, sie streicht mir noch einmal über den Rücken, bevor sie sich komplett von mir löst.
Ich nicke kaum sichtbar.
»Aber nicht jetzt. Darüber können wir uns morgen kümmern. Weißt du, was du jetzt erst einmal brauchst?« fragt sie, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Du brauchst einen Film. Zum Ablenken. Einen richtig schlechten, dass du das alles für zwei Stunden vergisst«
»Klingt gut«, nicke ich zustimmend.
»Ich suche uns was. Haben wir Popcorn unten? Oder andere Snacks? Schaust du nach?«, fragt sie.
Ich nicke wieder, stehe auf und gehe runter in die Küche. Ich nehme zwei Gläser, fülle sie mit Wasser und suche Chips in den Küchenschränken. Als ich zurückkomme, schaut Lea auf den Bildschirm meines Laptops. Ihre Augen sind aufgerissen und sie liest irgendwas konzentriert durch.
Dann fällt es mir ein. Die E-Mail. Ich habe sie nicht geschlossen, als Lea reingekommen ist.
Sie sagt nichts. Doch als ich näher komme, hebt sie den Kopf, »Denkst du darüber nach?«
Sie dreht den Bildschirm zu mir und zeigt darauf. Da sehe ich die Worte wieder, die ich mir in den letzten Tagen so oft durchgelesen habe.
Sehr geehrter Herr Havertz,
wir hoffen, es geht Ihnen gut.
Wir wenden uns heute mit einer Anfrage an Sie, die sich aus einem redaktionellen Konzept für unsere Live-Berichterstattung ergeben hat. Ihr Name wurde innerhalb unseres Teams mehrfach als potenzieller Experte genannt – nicht nur aufgrund Ihrer Spielerfahrung in der Bundesliga, sondern auch wegen Ihrer reflektierten und ehrlichen Interviews. Gerade deshalb glauben wir, dass Sie eine wertvolle Bereicherung für unsere Übertragungen der deutschen Länderspiele sein könnten.
Uns ist bewusst, dass Sie aus persönlichen Gründen ihre Karriere beendet haben. Deshalb möchten wir betonen, dass wir Ihre Entscheidung und Ihre Privatsphäre respektieren und das nicht öffentlich thematisieren oder kommentieren würden.
Wir würden Sie gerne als TV-Kommentator in unsere Live-Sendungen einbinden. Das kann sowohl im Studio als auch vor Ort im Stadion erfolgen. Unser Fokus liegt auf authentischer, klarer, spielnaher Analyse und darauf, dem Publikum eine Perspektive zu geben, die aus Erfahrung kommt.
Falls Sie grundsätzlich Interesse haben, würden wir uns über eine Rückmeldung freuen. Gerne besprechen wir alle Details persönlich oder telefonisch.
Mit sportlichen Grüßen,
Redaktion Live-Kommentar, sportfeedTV
Ich zucke mit den Schultern, »Weiß nicht«
»Das klingt doch super, Kai«, Lea springt ganz begeistert auf.
»Ich bin doch nicht gemacht für das Fernsehen. Ich bin Spieler, kein Kommentator. Ich habe das nicht gelernt, ich kann das nicht«, erkläre ich einen Teil meiner Zweifel.
»Doch. Du liebst Fußball. Du lebst das. Und du kannst reden. Besonders über Fußball. Und du bist immer ehrlich«, versucht sie, mich umzustimmen.
Ich drehe mich zur Seite, lehne mich gegen die Tür, »Ich habe keine Lust, am Spielfeldrand zu stehen und die ganze Zeit zu sehen, was ich aufgegeben habe« Ihn zu sehen , meine ich. Aber ich spreche es nicht aus, weil ich nicht schon wieder mit diesem Thema anfangen will.
»Aber es geht doch darum, dass du wieder etwas machst, das dir viel bedeutet«, sie lächelt mich an, »Du hast dich genug von allem entfernt. Von Julian. Vom Team. Von dir. Jetzt kannst du wieder einen Schritt zurück zu der Sache machen, die du liebst«
Ich sage nichts. Ich weiß, dass sie einen Punkt hat. Ich liebe Fußball, aber will ich wirklich zurück? Will ich mich wirklich wieder den ganzen Medien stellen, die viele Fragen haben werden? Will ich wirklich wieder zu dem Ort zurück, den ich mit Jule verbinde? Will ich wieder dorthin zurück? Ich weiß es nicht.
Anstatt ihr zu antworten, wechsle ich deshalb einfach das Thema, »Also, welchen Film schauen wir?«
Chapter 17: Talking, again
Chapter Text
Januar 2020/POV Kai
Die Kamera bleibt aus. Der Name ist ein Pseudonym. Und das ist auch der einzige Grund, warum ich das hier gerade überhaupt mitmache. Lea hat eine spontane, anonyme Therapiestunde für mich organisiert. Sie hat mich einfach angemeldet und mir heute früh einen Link geschickt. Ich saß gerade mit Mason beim Frühstücken, als ich die Nachricht gesehen habe. Ich müsse mit jemandem reden, hat sie gesagt, mit jemandem, der mir weiterhelfen kann, am besten jemandem Professionellen. Und diese anonymen Therapiestunden hat sie zufällig entdeckt, hat sie gesagt.
Zuerst wollte ich nicht reden. Ich kriege das auch selbst hin. Aber irgendwie sitze ich jetzt doch hier. Und vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm. Vielleicht hilft es mir ja doch irgendwie. Seit ich wieder daheim bin, ist es irgendwie anders, irgendwie fühlt es sich so an, als wäre die Sache mit Jule vielleicht doch gar nicht so schlimm, wie es sich anfühlt.
Jetzt sitze ich mit Kopfhörern am Küchentisch, der Laptop steht vor mir und die Jungs sind alle im Training. Ich befinde mich noch in einer Warteschlange und warte darauf, bis ich in den virtuellen Raum gelassen werde.
Mein Herz schlägt schnell. Ich habe das Gefühl, dass ich es in der Stille des Raumes hören kann. Ich bin nervös. Ich weiß nicht, was mich gleich erwarten wird. Ich weiß nicht, worüber ich reden soll oder womit ich anfangen kann. Ich weiß nicht, was passieren wird und das macht mir Angst. Im Fußball konnte ich immer irgendwie kontrollieren, was passiert. Auch, wenn ich meine Mitspieler und die Gegner nicht kontrollieren konnte, konnte ich doch immer mitbestimmen, was passiert und dadurch das Ergebnis in gewisser Weise kontrollieren. Hier kann ich nichts kontrollieren. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch meine Gefühle nicht kontrollieren kann.
Ein kurzes Signal ertönt und dann werde ich auch schon in einen Anruf weitergeleitet. Am anderen Ende beginnt eine ruhige Stimme zu sprechen. Die Therapeutin. Sie stellt keine direkten Fragen, sondern stellt sich nur kurz vor und sagt, dass diese Therapie besonders diskret ist und ich ihr alles Mögliche anvertrauen kann, weil sie durch ihre ärztliche Schweigepflicht nichts weitererzählen darf. Ich sage zuerst nichts, hoffe, dass sie konkrete Fragen stellt oder ich mich hier irgendwie raus mogeln kann.
Dann doch. Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt, aber ich beginne zu reden.
»Ich weiß nicht, ob ich hier richtig bin.«, gebe ich ehrlich zu.
Pause. Ich hoffe, dass sie etwas sagt, aber nichts. Also fahre ich fort, »Aber ich weiß, dass ich das alles nicht mehr richtig aushalte«
Ich erwarte wieder, dass sie was sagt. Tut sie nicht.
»Ich habe lange alles auf Leistung aufgebaut. Fußball. Fokus. Disziplin. Das war das einzige, was ich wirklich gut konnte«, ich merke selbst, wie ruhig ich rede, »Aber irgendwann war das nicht mehr genug«
Wieder Stille.
Ich atme leise ein.
»Ich habe Angst. Davor, nicht mehr zu wissen, wer ich bin, wenn ich nichts mehr gewinne. Davor, dass ich mich selbst verliere, jetzt, wo ich nicht mehr spiele«
Ich höre mich selbst. Aber es klingt, als würde jemand anderes sprechen. Wie als wäre ich selbst nur Zuhörer meiner eigenen Worte und könnte nicht kontrollieren, was ich als nächstes sage.
»Ich war gut darin, ein perfektes Bild abzugeben, aber ich glaube, ich habe mich darin selbst verloren«, ich atme tief ein, bevor ich weiterspreche, »Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin, jetzt wo ich nicht mehr auf dem Feld stehe und jedes Wochenende abliefern muss«
Die Therapeutin am anderen Ende sagt zum ersten Mal wieder etwas, »Was macht dir daran am meisten Angst?«
Ich schlucke. Nachdem sie die ganze Zeit geschwiegen hat, habe ich nicht gedacht, dass sie Nachfragen stellt.
»Dass ich vielleicht nie echt war. Nur die Rolle gespielt habe, die alle von mir erwartet haben und nie der war, der ich wirklich bin. Dass ich nicht weiß, wer ich bin, wenn ich nicht auf dem Platz stehe. Ich habe mein ganzes Leben lang nur für den Fußball gelebt und jetzt auf einmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin«, gebe ich ehrlich zu, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich gerade Dinge ausspreche, die ich noch nie wirklich in meinen Gedanken zugelassen habe.
Ich rede weiter, wechsle das Thema irgendwie, aber das ist das Nächste, was mir in den Kopf kommt, also spreche ich es einfach aus, »Ich hatte Gefühle. Für jemanden. Schon früher. Als ich noch in der Schule war und… das war nicht erlaubt«
Die Worte kommen, ohne dass ich sie geplant habe, aber sie sind ehrlich und ich habe das Gefühl, ich muss sie aussprechen. Niemand drängt mich dazu, aber es fühlt sich einfach richtig an.
»Mein Vater hat mich damals mit einem Jungen gesehen. Wir waren 15. Wir haben uns in meinem Zimmer geküsst. Nur kurz, aber die Tür war einen Spalt geöffnet. Ich dachte, niemand ist zu Hause, aber ich habe mich geirrt. Mein Vater hat uns gesehen. Er hat ihn angeschrien, ihm gesagt, dass er solche Leute nicht in meiner Nähe sehen will und dann hat er ihn rausgeworfen. Und dann hat er mich…«, ich verziehe das Gesicht, ich kann es nicht aussprechen, es tut zu sehr weh, erneut daran zu denken, »...geschlagen. Nicht oft. Nur einmal. Aber der Blick, mit dem er mich danach angesehen hat, war noch schlimmer als die Schmerzen. Er hat mich angesehen, als wäre ich ein Fehler. Und seitdem hat er mich nie wieder normal angesehen. Meistens hat er Augenkontakt vermieden, ich denke, er will mich nicht mehr ansehen. Ich habe ihn zu sehr enttäuscht.«
Ich beiße mir auf die Lippe, ich habe schon so viel gesagt und ich bin verwirrt, dass die Therapeutin nichts dazu sagen möchte. Ich gebe ihr kurz Zeit, um etwas zu sagen, als sie das jedoch nicht tut, rede ich weiter, »Er hat es mir immer wieder gesagt. Homosexualität ist unnormal. Eklig. Er war nicht mal wütend, er hat es ausgesprochen wie ein Fakt und irgendwann habe ich begonnen, es selbst zu glauben«
Vom anderen Ende des Telefonats kommt immer noch nichts. Und das ist gut so. Es fühlt sich so viel besser an, als erwartet, dass ich einfach reden kann. Einfach alles erzählen und keiner beurteilt mich, keiner gibt mir sinnlose Tipps, ich kann einfach nur sagen, was ich fühle. Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück und schließe die Augen. Ich atme tief durch. Die Therapeutin schweigt noch immer. Ich denke immer wieder, sie wird jetzt was sagen. Tut sie nicht. Aber genau das tut gut, denn ich kann auch nicht aufhören zu reden. Nicht jetzt, wo es sich so richtig anfühlt, alles rauszulassen.
»Ich konnte nie ich sein«, sage ich, »Ich habe nur gelernt, der zu sein, den alle von mir erwarten, weil es leichter ist. Es ist einfacher, so zu tun, als wäre man jemand anderes, jemand normales, als allen zu zeigen, dass man anders ist, dass man falsch ist und nicht so ist, wie sie wollen. Ja, dass man schon fast eklig ist. Man muss funktionieren. Gerade im Sport. Bloß nicht auffallen. Keine Schwäche zeigen. Nicht anders sein. Und das habe ich perfektioniert. Ich muss nur normal sein, nur wieder so werden, wie ich sein sollte. Deshalb bin ich auch gegangen. Damit ich hier wieder normal sein kann, damit ich alles vergessen kann und endlich wieder ein normaler Mensch sein kann, nicht so schwul, aber es funktioniert einfach nicht. Ich habe das Gefühl, je länger ich weg bin, desto weiter weg komme ich von der Person, die ich sein wollte.«
Dann wird es still. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll. Ich habe ihr bereits zu viel anvertraut. Dass ich auf Männer stehe, dass ich so bin. Dass ich wieder normal sein will und genau das nicht schaffe. Ich weiß nicht, was ich noch sagen könnte.
Aber diesmal kommt ihre Stimme. Ruhig. Klar. Ohne Mitleid. Nicht urteilend, nur neutral fragend, »Wer hat dir beigebracht, dass du nicht anders sein darfst? Dein Vater?«
Ich antworte ohne zu überlegen, »Ja, mein Vater. Und der Fußball. In der Reihenfolge.«
Sie sagt nichts. Wartet ab. Also rede ich weiter, »Er hat immer dafür gesorgt, dass ich in Topform bin. Schon als Kind. Alles musste diszipliniert sein. Keine Tränen. Keine Fragen. Kein Zögern. Und wenn ich weich war, Gefühle zugelassen habe oder auch einfach nicht mehr konnte, hat er mich dafür verachtet. Er war selten laut, hat mich - außer dieses eine Mal - nie angefasst, aber er hat seine Enttäuschung konstant gezeigt. Durch seine Art, wie er mit mir geredet hat - oder eben nicht«
Ich atme durch, bevor ich weiterrede, »Im Fußball war es genauso. Wer weich ist, fliegt. Wer zweifelt, verliert. Ich habe mich angepasst und das perfektioniert. Sonst kommst du im Fußball nicht weit. Ich habe immer alles dafür getan, der perfekte Vorzeige-Spieler zu sein und jetzt, wo ich nicht mehr spiele, weiß ich nicht, wer ich bin ohne diese Fassade«
Stille.
Dann sagt sie wieder etwas, »Was, wenn das der perfekte Moment ist, herauszufinden, wer du bist?«
Ich bin etwas skeptisch. Besonders, da ich gestern das Angebot, als Kommentator zu arbeiten, angenommen habe.
Wie, als könnte sie meine Gedanken lesen, fährt sie fort, »Das heißt nicht, dass du den Fußball aufgeben sollst, aber jetzt hast du die Chance, zu erforschen, was da eigentlich noch in dir steckt, abseits von Erwartungen. Du hast jahrelang gelernt, eine Rolle zu erfüllen. Das ist kein Fehler. Das ist Überleben.«
Ich sage nichts. Aber ich höre ihr genau zu. Und das ist mehr, als ich gestern gekonnt hätte. Gestern hätte ich vermutlich nach ein paar Minuten abgebrochen, wenn ich der Stunde überhaupt zugestimmt hätte.
»Was würde passieren«, fragt sie, »wenn du kleine Dinge tust, die echt zu dir gehören und nicht zu dem, was andere erwarten? Nicht sofort große Gesten. Nur kleine Schritte. Jeden Tag einen. Einen Satz, den du nicht zurücknimmst. Einen Gedanken, den du nicht wegdrückst. Eine Entscheidung, die sich richtig anfühlt, die sich nach dir anfühlt.«
Ich denke nach und sage nach einer Weile leise, »Ich weiß nicht mal, was sich nach mir anfühlt.«
Sie lächelt. Ich höre es an ihrer Stimme, »Dann fang genau dort an. Nicht mit Antworten, sondern mit Raum für Fragen. Und dem Recht, du selbst zu werden. Auch wenn du nicht weißt, wie das geht. Du bist nicht falsch. Du bist nur sehr lange geschult worden, das zu glauben.«
Ich lege den Kopf in den Nacken und spüre, wie mir plötzlich Tränen in die Augen steigen, weil ich weiß, dass sie recht hat. Ich konnte nie wirklich herausfinden, wer ich bin. Zum ersten Mal lasse ich die Tränen fließen.
Die Therapie ist kurz darauf vorbei und ich schließe den Laptop. Der Bildschirm wird schwarz. Der Raum ist still. Ich sitze noch einen Moment da. Dann stehe ich auf. Die Knie fühlen sich weich an. Der Boden ist kalt unter meinen Füßen. Ich öffne den Kühlschrank, starre auf die Flaschen, das Gemüse, das Licht. Ich greife nicht sofort etwas. Ich lehne mich mit den Händen an die Arbeitsplatte. Atme durch.
Und plötzlich ist genau das tröstlich.
Dass nichts passiert. Dass es keinen Lärm gibt. Dass ich einfach nur atmen kann.
Ich hole mir ein Glas Wasser. Setze mich an den Küchentisch. Kein Handy in der Hand. Kein Laptop. Kein Gedankenstrudel, der mich wegzieht. Nur ich. Stille. Und ein kleiner Rest von dem, was in der Stunde davor passiert ist.
Ich denke an den Satz.» Du bist nicht falsch.«
Ich sage ihn nicht laut, aber ich lasse ihn stehen. Für einen Moment. Lea hat es mir oft gesagt, aber ich habe es nie geglaubt, aber jetzt ist es anders. Diese fremde Person hat mir zum ersten Mal das Gefühl gegeben, als wäre ich wirklich komplett richtig und ich habe das Gefühl, dass ich es mit jedem Tag selbst mehr glauben kann.
---
Später am Abend liege ich in meinem Bett. Nur der Bildschirm meines Laptops leuchtet schwach gegen die Decke, sonst ist es komplett dunkel. Die E-Mail ist geöffnet. Wie fast immer seit Wochen. Ich lese mir die Worte erneut durch, sie verschwimmen leicht, aber ich kenne sie mittlerweile auswendig.
Früher hätte ich gelacht. Kommentator? Nur über Fußball reden? Nein, das hat mir nie gereicht. Ich wollte spielen. Auf dem Platz stehen und mit dem Ball rennen. Ich wollte spielen und nicht nur darüber reden. Ich wollte das Adrenalin spüren und den Dopaminrausch, bei einem Tor und einem Sieg. Es war mir nie genug, nur zu sehen, wie andere gewinnen, ich wollte es selbst tun.
Aber jetzt denke ich nur: Es wäre eine Art, zurückzukehren. Nicht auf dem Platz. Nicht mit Trikot, Kabine, Duschen und Presse. Sondern daneben. Neben dem Spiel, aber nah genug dran, dass ich das Adrenalin spüre.
Ich könnte zurück ins Spiel. Und das ist es, was mir Sicherheit gibt. Ich kann zurück. Einen Schritt machen. Ein Schritt in die richtige Richtung. Zurück zum Fußball.
Ich schließe die Augen. Sehe für einen Moment das Feld vor mir. Höre die Geräusche von Stollen auf Asphalt. Ich spüre das Ziehen in der Brust, wenn der Ball perfekt aus dem Fußgelenk fliegt. Und die kurze Anspannung, wenn der Ball ins Tor fliegt.
Ich vermisse es. Nicht den Druck. Nicht den Lärm. Aber das Gefühl, auf dem Platz zu stehen.
Ich greife nach meinem Handy und öffne den Chat mit Thomas. Ich schreibe keine lange Nachricht, sondern nur ein Foto von der E-Mail und einen Satz. 'Ich bin dabei.' Dann schließe ich den Laptop und lege mich auf die Seite.
Ich atme tief aus und spüre, wie eine Last von mir abfällt, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie mit mir trage.
Vielleicht ist das ein Schritt in die Richtung, alles zwischen mir und Jule irgendwann zu klären.
Chapter 18: Letters & Murder
Chapter Text
POV Julian
Die Uhr auf dem Nachttisch zeigt 2:29 Uhr. Ich liege auf dem Rücken, die Augen offen. Ich kann nicht einschlafen. Schon wieder. Das große Zimmerlicht ist aus, nur der Bildschirm meiner Stereoanlage leuchtet blau.
Ein Song läuft leise im Hintergrund. Danach kommt der nächste und der nächste. Ich habe gehofft, ich kann besser einschlafen, wenn ich Musik höre. Früher hat mir das immer geholfen. Wenn ich zu viele Gedanken im Kopf hatte, habe ich einfach Musik angeschaltet und sie hat meine Gedanken übertönt, aber heute funktioniert es nicht. Mal wieder. Nie hilft etwas, um die schmerzhaften Erinnerungen an Kai zu übertönen und mich besser einschlafen zu lassen.
Ich habe auch schon versucht, Schlafmittel zu nehmen, damit ich dadurch vielleicht besser einschlafen kann, aber auch das hat nichts geholfen. Ich liege immer noch wach in meinem Bett und hoffe darauf, besser einschlafen zu können.
Meine Decke ist auch bereits zur Hälfte auf den Boden gerutscht und das T-Shirt hängt schief auf meiner Schulter. Seit Stunden wälze ich mich in meinem Bett, in der Hoffnung, in einer anderen Position einschlafen zu können. Das hat auch nicht geholfen, nichts hat geholfen.
Irgendwann stehe ich auf. Weiterhin hier liegen zu bleiben hilft wohl auch nicht weiter. Ich muss irgendwas tun, um meine ganzen Gedanken loszuwerden. Ich muss sie irgendwie aus meinem Kopf bekommen, vielleicht kann ich dann besser einschlafen. Hoffentlich.
Also gehe ich runter in meine Küche. Ich mache das Licht an, nur gedimmt, und setze mich an den Küchentisch. Es ist still hier. Ungewöhnlich still. Seit Jascha zu mir gezogen ist, habe ich kaum Momente gehabt, in denen ich mein Schlafzimmer verlassen konnte und es absolut ruhig war. Aber jetzt ist es gut so. Ich genieße die Ruhe und setze mich an den Küchentisch und nehme den Notizblock, der dort immer liegt - eigentlich für Einkaufslisten.
Ich blättere ihn auf, suche die nächsten leeren Seiten und beginne zu schreiben. Es hat keine Ordnung, keine Struktur, aber es ist ehrlich. Es ist alles, was ich jetzt gerade fühle und es ist okay so. Es ist so, wie ich es Kai in einer Nachricht geschrieben hätte, wenn er diese nicht einfach ignorieren würde.
Kai,
Es ist halb drei und ich kann nicht schlafen.
Und vielleicht schreibe ich das hier auch nicht, dass du es liest. Vielleicht schreibe ich es, weil es sonst in mir drin bleibt. Und ich nicht mehr weiß, wohin damit.
Ich vermisse dich.
Einfach die Dinge an dir, die ich für selbstverständlich gehalten habe. Deine Stimme zu hören, deine Hände, deine schlechten Witze, die mich immer zum Lachen gebracht haben. Deine Art, mich nicht anzusehen, wenn du nervös warst. Dein breites Grinsen, wenn wir ein Spiel gewonnen haben und besonders, wenn einer von uns ein Tor geschossen hat. Und wie du dann doch hingesehen hast, wenn du dachtest, ich merke es nicht, weil du doch zu neugierig warst.
Ich vermisse, wie du mich verstanden hast, ohne dass ich die Hälfte überhaupt sagen musste. Und auch, wie du mich falsch verstanden hast.
Ich weiß nicht, ob das, was passiert ist, für dich dasselbe war wie für mich. Wahrscheinlich nicht. Schließlich bist du gegangen. Und ich habe dich gehen lassen. Oder nein – das stimmt nicht. Ich habe nicht nichts getan. Ich habe nicht geschwiegen. Ich habe dir geschrieben und gewartet. Auf eine Nachricht. Auf ein Zeichen. Auf...irgendwas. Aber es kam nichts.
Du fehlst mir nicht nur, wenn ich einsam bin. Du fehlst mir, wenn ich lache. Wenn ich was erlebe, das ich dir erzählen würde. Wenn ich nachts wach liege, wie jetzt. Ich wünschte, du würdest einfach die Tür aufmachen. Ohne Erklärung. Nur wieder da sein.
Ich bin wütend. Wütend auf dich, weil du gegangen bist. Wütend auf mich, weil ich dich nicht aufhalten konnte. Wütend auf alles.
Ich weiß nicht, was das damals zwischen uns bedeutet hat.
Ich weiß nur: Es gibt Sätze, die man nicht mehr zurückholen kann. Und Berührungen, die sich nie wiederholen. Und ich wünschte, ich hätte dich länger festgehalten und länger gespürt. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt, Kai.
Wenn du das liest, heißt das, ich war mutiger, als ich gedacht hätte.
Oder verzweifelter. Dann habe ich diesen Brief tatsächlich abgeschickt.
Ich schick diesen Brief nicht direkt an dich. Ich weiß ja nicht mal, wo du eigentlich bist. Aber ich schick ihn. An die Adresse, von der ich weiß, dass sie dich kennt.
Mach damit, was du willst. Oder nichts.
Ich habe dich vermisst. Ich vermisse dich. Ich weiß nicht, ob ich irgendwann aufhöre, das zu tun.
~ Julian
Ich merke, wie mir die Tränen gekommen sind, während ich den Brief geschrieben habe. Aber das ist mir egal. In diesem Moment ist mir alles egal. Ich reiße die Seiten aus dem Block und falte sie. Ich habe noch einen Umschlag in irgendeiner Schublade, hole diesen und lege den Brief hinein. Ein weißer Briefumschlag - und mein Herz darin. Alles, was ich in den letzten Wochen gedacht und gefühlt habe, auf einem karierten DIN A5 Blatt in einem weißen Briefumschlag.
Vorne auf den Brief schreibe ich eine Adresse. Nicht die von Kais Wohnung - die hat er ja anscheinend verlassen, sondern eine Adresse, von der ich weiß, dass Kai sie früher oder später besuchen wird.
Dann lege ich den Brief neben meine Schlüssel. Morgen früh werde ich ihn einwerfen. Morgen früh oder nie. Aber ich habe ihn geschrieben und das allein führt dazu, dass sich alles andere um mich herum wieder etwas freier anfühlt.
Endlich.
---
»Julian«, werde ich von Jaschas Rufen aus dem Schlaf geweckt. Ich schaue kurz auf die Weckeruhr neben mir. 7:14 Uhr. Na toll. Ich hoffe mal für ihn, dass er mich wegen etwas Wichtigem so früh weckt. Zwar konnte ich relativ schnell einschlafen, nachdem ich wieder hoch in mein Schlafzimmer gegangen bin, trotzdem sind 4 Stunden Schlaf nicht genug, um sich vor meiner miesen Laune in der Früh zu schützen.
Da mein Bruder es nicht einmal schafft, in mein Schlafzimmer zu kommen, mache ich mich auf den Weg zu ihm. Ich öffne die Tür zu seinem Zimmer und was mich erwartet, überfordert mich selbst in diesem Moment. Auf dem Boden liegen lauter Zettel verteilt, auf seinem Bett ein Notizbuch und viele Stifte und Post-Its.
»Wenn du mich nur geweckt hast, damit ich etwas für irgendein Schulprojekt von dir mache, kannst du was erleben, Jascha«, funkle ich ihn mit einem genervten Blick an. Wäre nicht das erste Mal, dass er mich geweckt hat, weil ihm mitten in der Nacht eingefallen ist, dass er am nächsten Tag unbedingt ein Projekt abgeben muss und er das alleine nicht mehr rechtzeitig schafft.
»Was? Nein«, er winkt ab. An seinen Augenringen kann ich sehen, dass er wohl auch kaum geschlafen hat, »Das hier ist viel wichtiger. Ich habe da ein paar Fragen an dich«
»Na gut«, ich verdrehe meine Augen. Eigentlich würde ich jetzt lieber schlafen gehen, hätte er mich nicht befragen können, wenn ich von selbst aufstehe? Aber natürlich lasse ich mich darauf ein, »Dann schieß mal los«, nicke ich ihm herausfordernd zu und lehne mich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen.
»Was genau hast du Mitte Mai gemacht?«, fragt er mit einem Lächeln, dass mir etwas Angst macht, »Um genau zu sein, so um den 17. Mai?«
»Fußball gespielt«, ich schaue ihn skeptisch an, keine Ahnung, worauf er hinaus will.
»Und abends? Warst du da öfter mit Kai unterwegs? Und gab es da mal Stress mit anderen Spielern?«, er macht sich Notizen in ein kleines, blaues Notizbuch und ich verstehe gar nicht, was das gerade soll.
»Bestimmt habe ich da was mit Kai gemacht, ich weiß das jetzt doch nicht mehr«, sage ich verwirrt, »Aber wenn, dann waren wir Eis essen oder haben einen Film geschaut«
»Aha, interessant«, kommentiert Jascha, »Und du bist dir sicher, dass du nie in irgendwelche körperliche Auseinandersetzungen geraten bist? Speziell im Frühling?«
»Ja, ich glaube, daran würde ich mich erinnern«, nicke ich. Jascha ist eindeutig unter Schlafmangel. Ich weiß zwar nicht, was ihn so lange wachgehalten hat, aber normal sind die Fragen, die er mir gerade stellt, sicher nicht.
Er notiert wieder etwas in sein Buch, bevor er wieder zu mir hoch sieht, »Noch eine Frage: Wenn jemand, sagen wir mal...Kai, jemandem Gewalt antut - auch nur aus Versehen - und du wüsstet davon, würdest du ihn decken?«
»Was?«, sehe ich ihn völlig entrüstet an, »Was willst du von mir, Jascha?«
»Ich brauche nur ein paar Informationen«, er schaut mich mit einem unschuldigen Blick an, »Also, würdest du?«
»Jascha du spinnst doch komplett«, ich stoße mich vom Türrahmen ab, »Ich weiß zwar nicht, was du heute nach gemacht hast, aber schlafen wäre sicher die deutlich bessere Option gewesen«
Dann drehe ich mich um und verlasse seinen Raum wieder. Der spinnt doch, wie kommt er überhaupt auf solche Fragen? Und was will er damit bezwecken? Wenn er denkt, ich werde ihm so sagen, was zwischen Kai und mir passiert ist, dann hat er sich gewaltig getäuscht.
POV Jascha
Jule hat nicht geantwortet. Er hat die Frage, ob er Kai decken würde, geschickt umgangen. Und die Frage, was er Mitte Mai gemacht hat, hat er auch nur vage beantwortet. Das ist perfekt. Das ist eindeutig gut genug, um es als Beweis für Theorie Nummer 3 zu nennen. Der Mord. Ob beabsichtigter Mord oder nicht - die Beweise für diese Theorie sind, dank meiner Recherche die ganze Nacht, bisher am besten.
Eigentlich wollte ich ja gar nicht die ganze Nacht damit verbringen, weiter zu meinen Theorien zu recherchieren, allerdings habe ich einen Podcast gehört, als ich letzte Nacht ins Badezimmer gegangen bin, um Zähne zu putzen und in diesem wurde erwähnt, dass Schlafmittel in hohen Dosierungen oft als eine Art Droge verwendet werden können, da sie betäubend wirken. Und was stand direkt neben dem Waschbecken? Eine offene Packung Vivinox. Ich habe sie mir genauer angeschaut und sie war ziemlich leer. Und da kam mir die Idee. Theorie 3: Der Mord.
Kai und Julian haben jemanden umgebracht - vielleicht nur aus Versehen - und Jule kommt damit nicht klar, deswegen nimmt er große Mengen Schmerzmittel. Um zu vergessen, um zu verdrängen. Das würde auch erklären, wieso er in letzter Zeit so oft geistig abwesend ist: Weil er sich selbst in eine Art Trance gesetzt hat. Durch Schlafmittel. Und Kai ist abgehauen, denn sonst wäre die Sache zu auffällig, wenn Spuren von einem gefunden werden, ist der andere wenigstens weit weg in Sicherheit. Vielleicht ist Kai auch abgehauen, ohne Jule etwas davon zu erzählen. Vielleicht hat er Jule alleine gelassen mit den Schuldgefühlen und Jule ist nun enttäuscht von Kai, weil er den Kontakt abgebrochen hat, um sich selbst zu schützen. Das ist es!
Also habe ich die ganze Nacht weiter recherchiert. Über Dinge, die in dem Zeitraum passiert sein können, in dem diese Sache zwischen Kai und Julian passiert sein muss. Ich suche nach Zeitungsberichten von Unfällen oder Morden - und werde tatsächlich fündig.
Es gibt einen Artikel, der ziemlich gut auf den Zeitpunkt von Kais Verschwinden passt und bei dem auch noch keine Verdächtigen gefunden wurden. Auch der Ort ist ziemlich in der Nähe von Leverkusen, passt also perfekt zu dem damaligen Wohnort der beiden. Es handelt sich zwar nicht um einen Mord, aber es ist schon verdächtig passend in mein Bild.
Schlägerei im Carl-Duisberg-Park - Ein Mann lebensbedrohlich verletzt
In der Nacht auf Freitag, den 17. Mai, hat am Rande des Carl-Duisberg-Parks in Leverkusen eine Schlägerei stattgefunden, bei der ein 23-jähriger Mann lebensbedrohlich verletzt wurde. Zwei weitere Männer haben den Notruf betätigt und dadurch die nötige medizinische Versorgung für den jungen Mann sichergestellt.
Die weiteren Beteiligten sind auf der Flucht. Sie trugen dunkle Kleidung, einer eine dunkle Cappi und der andere hat dunkle Haare. Augenzeugen sollen sich an die Polizei Leverkusen wenden.
Dunkle Haare. Kai. Und die Cappis passen zu Julian. Das ist es. Das Datum passt auch. Das Spiel in Köln war erst am Samstag, also waren sie an dem Abend wahrscheinlich in Leverkusen unterwegs. Vielleicht wurden sie bedroht und haben sich nur gewehrt. Und abgehauen sind sie, weil sie nicht wollten, dass das öffentlich bekannt wird. Das würde sich nicht gut auf ihre Karriere auswirken. Es ist also mal wieder ein perfekter Beweis für meine Theorien. Läuft doch super gerade, ich bin den beiden ganz dicht auf den Spuren.
Chapter 19: True Kiss
Chapter Text
Ende März 2020/POV Kai
Ich liege auf meiner Couch, während gerade die Halbzeitpause des Spiels BVB gegen Leverkusen im Fernseher läuft, und scrolle durch Instagram, da sehe ich ihn wieder. Luca. Ich denke nicht oft an ihn. Ich denke nicht oft daran, was zwischen uns passiert ist. Nicht freiwillig, dafür ist das Ende zu schmerzhaft. Aber manchmal sehe ich ein Bild von ihm oder irgendwas, was mich an ihn erinnert und plötzlich sind alle Erinnerungen wieder da.
Sommer 2014:
Dann stehe ich wieder auf dem Nebenplatz hinter der Halle, in der die Umkleidekabine ist. Spät am Nachmittag, aber die Sonne scheint immer noch heftig auf den Platz. Klar, es ist August. Der Asphalt dampft von der Hitze und wir sind die Letzten, die noch am Trainingsgelände sind. Wie immer. Wir haben noch ein paar Torschüsse gemacht, obwohl das Training längst vorbei ist. Offiziell, um fit für das nächste Spiel zu sein, aber eigentlich wollte ich nur nicht gehen. Ich wollte mich nicht schon wieder von ihm verabschieden müssen. Er ging ihm genauso, glaube ich.
Sein Gesicht ist gerötet vom Laufen in der Hitze und einige Haarsträhnen kleben an seiner Stirn. Er lacht, als ich den Ball sehr weit neben das Tor schieße und wirft sich mir entgegen. Ich verliere das Gleichgewicht und wir fallen lachend auf den Boden. Er drückt seine Hand kurz gegen meine Brust, als wollte er wieder aufstehen, aber stattdessen rollt er sich einfach von mir runter und bleibt neben mir liegen. Unsere Arme berühren sich und ich spüre ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut. Ich drehe meinen Kopf zu ihm, will etwas sagen, aber er schaut mich schon an. So, wie mich sonst niemand anschaut. So, als würde er mich gerade wirklich sehen. Nicht den Fußballspieler Kai, nicht den coolen Kai, der ich immer versuche vor allen zu spielen, sondern der Kai, der ich wirklich bin. Den ich eigentlich niemandem zeige. Mein Mund wird trocken. Ich denke nicht darüber nach.
Ich beuge mich vor.
Langsam. Zögernd.
Und dann küsst er mich. Oder ich ihn. Ich weiß es nicht mehr genau, aber es ist auch unwichtig. Wir finden uns irgendwo in der Mitte.
Seine Lippen sind weich. Zitternd. Sie bewegen sich unsicher gegen meine. Es schmeckt nach Schweiß und Kaugummi und das ist mir plötzlich wichtiger, als jeder Sieg, jedes Tor, jedes Training.
Der Kuss ist nur kurz.
Aber ich weiß, dass das echt ist.
Das hier ist mein erster Kuss. Und ich will mehr. Ich will seine Lippen wieder auf meinen Spüren.
Aber Luca löst sich wieder von mir und sagt nichts. Er richtet sich irgendwann auf, klopft sich das Gras von der Hose, tut so, als wäre nichts passiert. Es ist ihm unangenehm, ich sehe es in der Art, wie er meinen Blick vermeidet. Und ich mache mit. Was bleibt mir auch anderes übrig? Wir reden nie wieder darüber.
Aber es passiert trotzdem wieder. Ein paar Wochen später, in meinem Zimmer. Luca ist nach dem Training mit zu mir nach Hause gekommen und wir haben Mario Kart gespielt. Und irgendwie ist es einfach wieder passiert. Wir haben uns wieder geküsst. Aber diesmal war es anders. Mein Vater hat uns erwischt und danach war sowieso alles vorbei.
Luca durfte nicht mehr zu mir nach Hause gehen, mein Vater hat bei den Spielen immer darauf geachtet, dass Luca und ich nicht miteinander reden, aber das war sowieso nicht nötig. Luca hat von sich aus nicht mehr mit mir geredet. Er hat mich ignoriert und so getan, als würden wir uns nicht kennen. Er hat mir in Spielen den Ball nicht mehr zugepasst und auch nach Siegen nicht mit mir gefeiert. Natürlich haben die anderen nachgefragt, aber ich habe es einfach überspielt.
Ich habe danach nur noch Mädchen geküsst. Jungs zu küssen war falsch. Das hat mir mein Vater ganz klar gemacht und ich habe es selbst begonnen zu glauben. Scheiße, ich glaube es ja oft immer noch.
Zuerst habe ich Mädchen geküsst, um mich selbst zu überzeugen, dass ich nicht so bin. Dass ich nicht schwul bin. Später, weil es einfacher war. Weil es normal war. Weil ich so auch Dinge erzählen konnte, wenn ich gefragt wurde, wann ich endlich eine Freundin erzählen konnte. Die Küsse waren meistens auch schön. Manchmal sogar aufregend, aber sie haben mich nie berührt. Nie durchdrungen. Ich habe mich nie so gefühlt, wie damals, mit Luca.
Mit ihnen war ich immer jemand, der ich nur versuchte, in das System zu passen. Irgendwann habe ich begonnen zu glauben, es liegt an den Frauen. Ich dachte lange, ich habe einfach noch nicht die Richtige gefunden. Dass ich irgendwann schon eine treffen werde, mit der ich mir mein ganzes Leben vorstellen kann.
…..
Bis zu dieser Nacht am See. Mit Julian. Wir waren betrunken und müde. Seine Stimme war weich, sein Blick unscharf, sein Lächeln war ehrlich. Ich war zu betrunken, um klar zu denken, aber nicht betrunken genug, um es nicht zu fühlen.
Als ich ihn geküsst habe, war es, als hätte jemand alles, was ich seit Jahren verdrängt habe, wieder hochgeholt. Alles kam zurück. Das Prickeln. Die Wärme. Die Sehnsucht, jemanden wirklich zu spüren. Ich wusste sofort: Das hier ist nicht wie bei all den Frauen. Das ist wie damals. Mit Luca. Nur noch intensiver. Echter.
Ich habe ihn geküsst, und mit jedem Atemzug begriffen: Das hier ist kein Ausrutscher. Das hier ist echt.
Aber ich bin trotzdem gegangen. Ich habe meine Sachen genommen, den Blick gesenkt und die Wahrheit verschluckt. Ich dachte, wenn ich nur weit genug weg bin, kann ich es wieder vergessen. Wieder normal werden. Wieder Frauen treffen und wieder hetero sein.
Aber ich habe nur noch an ihn gedacht. An Julian. Jeden Tag. Jede Nacht. Ich tue es immer noch. Und das Prickeln ist geblieben. Es ist, als würde ich seine Lippen immer noch auf meinen spüren.
Ich habe es ja nicht mal geschafft, diese eine Frau in der Bar vor ein paar Wochen zu küssen. Ich konnte es nicht. Es hat sich angefühlt, als würde ich Julian betrügen. Weil ich schon die ganze Zeit wusste, das ich nur ihn wollte, aber ich konnte es nicht zulassen. Also habe ich die letzten dreieinhalb Monate damit verbracht, in meiner Wohnung zu sitzen und zu hoffen, ich werde ihn irgendwie vergessen. Was offensichtlich nicht passiert ist.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich durch die Kommentatoren mitbekomme, dass das Fußballspiel weitergeht. Also schließe ich Instagram, fokussiere mich wieder auf den Bildschirm und vergesse alle meine Gedanken für einen Moment.
Ich schaue wieder auf den Bildschirm und beobachte das Spiel. Zu Beginn der zweiten Halbzeit ist das Spiel relativ ausgeglichen. Beide Teams kämpfen um den Ball, doch nach schon fünf Minuten schießt Marco ein Tor. Danach hat der BVB generell mehr Chancen und spielt besser weiter. Ich folge dem Spiel gespannt, bis das Spiel in der 61. Minute pausiert wird.
Irgendjemand liegt auf dem Spielfeld und scheint nicht bei Bewusstsein zu sein. Einige Spieler stehen um ihn herum, versuchen, ihn von den Kameras abzuschirmen und erste Hilfe zu leisten und das Ärzteteam des BVB läuft auf die Traube an Spielern zu. Ich sehe nicht genau, wer oder was passiert ist, aber ich spüre sofort, wie mein Herz beginnt, schneller zu schlagen und ich nervös werde. Ich suche den Bildschirm sofort nach Julian ab und hoffe, dass es ihm gut geht, sehe ihn aber nirgends.
Ich warte auf Informationen von den Kommentatoren, diese wissen aber selbst noch nicht, was passiert ist und wirken gerade eher, als würden sie die Zuschauer beruhigen wollen. Als nächstes kommt eine Wiederholung von den Toren, die bis jetzt geschossen wurden und dann kommt eine Szene, die bis jetzt noch nicht abgespielt wurde:
Nach einem Eckball für Dortmund, der von einem der Abwehrspieler abgewehrt wurde, drehen sich die meisten Spieler um und laufen wieder zurück.
Aber Julian bewegt sich nicht. Er bleibt noch kurz stehen, mitten im Strafraum. Es sieht irgendwie seltsam aus, dann schwankt er leicht.
Die Kamera zoomt an ihn und bleibt auf der Szene drauf. Ich beuge mich auf der Couch vor, in der Hoffnung, so mehr sehen zu können. Mein Herz schlägt sofort schneller.
Julian versucht noch, weiter Richtung Ball zu laufen, aber es dauert nicht lang, bis er auf die Seite kippt. Ein gegnerischer Spieler Jonathan Tah, wie ich nach einigen Momenten erkenne, reagiert schnell. Er läuft neben Julian, versucht ihn eigentlich zu decken, aber sieht in dem Moment, wie Julian umkippt und fängt ihn an der Schulter ab, bevor er auf den Boden trifft. Er hält ihn fest und lässt ihn dann langsam und vorsichtig auf den Rasen sinken.
Die Kamera zoomt nicht sofort ran, aber trotzdem sehe ich, wie Julian auf dem Boden liegen bleibt. Sein Körper ist reglos. Ich starre direkt auf den Fernseher. Die Worte der Kommentatoren blende ich völlig aus, ich fokussiere mich nur darauf, was mit Julian passiert.
Ich spüre, wie mein Brustkorb eng wird. Meine Finger krallen sich in den Stoff meiner Hose und ich höre nichts mehr außer meinem Puls.
Die Szene, wie Jule zu Boden geht, wird noch einmal wiederholt, danach sieht man, wie Jonathan neben ihm kniet und nach außen ruft. Zwei Teamärzte rennen sofort ins Bild. Julian liegt immer noch da. Er regt sich nicht. Die Ärzte knien um ihn herum und immer mehr Spieler rennen zu ihnen hin, um einen Sichtschutz um ihn herum zu bilden.
Irgendwann sagt der Kommentator: »Es sieht nach einem Zusammenbruch aus. Wir wissen im Moment noch keine genaueren Informationen«
Ich weiß nicht, was ich machen oder fühlen soll. Ich weiß nur, dass etwas in mir schreit.
Julian liegt da. Und ich kann nichts tun.
Die Szene, in der Julian zu Boden geht, wird immer wieder erneut von verschiedenen Winkeln abgespielt und die Kommentatoren überlegen, was passiert sein könnte, aber ich höre gar nicht zu. Ich beobachte den Moment jedes Mal ganz genau, beobachte jede Bewegung und versuche zu verstehen, wieso Julian umgekippt ist. Ob er über etwas gefallen ist oder ihn doch jemand gefoult hat, auch wenn niemand nah genug an Julian ist, um ihn foulen zu können.
Doch nach einigen Minuten löst sich die Mauer aus Spielern wieder und ich sehe, wie Julian auf einer Trage von den Ärzten weggetragen wird, aber noch viel wichtiger: Er bewegt sich und ist bei Bewusstsein und ich spüre, wie ich tief ausatme.
Die Kamera zoomt näher ran und ich sehe, wie Julian auf der Trage liegt. Zwei Betreuer stützen seinen Nacken und er hält eine Flasche Wasser in der Hand. Sein Gesicht ist blass, der Blick leer, aber er ist wach und das ist gerade das Wichtigste. Ich sehe, wie er den Kopf leicht hebt, sich kurz umblickt und sich dann wieder zurücklegt. Die Ärzte sagen etwas zu ihm und Julian nickt.
Der Kommentator meldet sich wieder, sachlich, aber gedämpft, »Wir können Entwarnung geben: Julian Brandt ist bei Bewusstsein. Er wird aktuell auf einer Trage vom Platz gebracht. Ein Krankenwagen ist bereits im Stadion und wird ihn direkt ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht für weitere Untersuchungen. Wir wünschen ihm eine gute Besserung!«
Ich lehne mich zurück, ohne die Augen vom Fernseher zu nehmen. Er ist wach, aber irgendwas ist trotzdem nicht okay. Jedoch kann ich ihm nicht helfen und werde wohl nie wissen, was passiert ist, ich kann nur zuschauen und hoffen, dass alles gut ist.
Für einen Moment überlege ich, Jule zu schreiben. Dass ich gesehen habe, was passiert ist und dass ich hoffe, dass es nicht so schlimm ist. Ich greife auch kurz nach meinem Handy und öffne sogar unseren Chat. Dann sehe ich jedoch alle Nachrichten von Jule, die ich nicht beantwortet habe und schließe den Chat wieder. Zu sehr schäme ich mich dafür, ihm nicht mehr geschrieben zu haben.
In letzter Zeit habe ich öfter darüber nachgedacht, mich wieder bei ihm zu melden. Ich hatte oft seinen Kontakt offen und überlegt, ob es wirklich so schlimm wäre, ihm wieder zu schreiben. Aber ich habe es nie getan. Zu viel Angst habe ich davor, wie er über mich denkt, weil ich ihn so lange ignoriert habe und mich nicht mehr gemeldet habe.
Und so geht es mir auch dieses Mal.
Chapter 20: Exhausting
Chapter Text
POV Julian
Erst als ich im Krankenhaus bin, bekomme ich so wirklich wieder etwas mit. Zwar habe ich gemerkt, wie ich vom Feld getragen wurde, anschließend in den Krankenwagen gebracht wurde und immer mal wieder von Ärzten angesprochen wurde, aber ich kann mich nur noch verschwommen an Bilder und Worte erinnern.
Ich liege in einem ruhigen, abgedunkelten Untersuchungsraum und schaue an die Decke. Die weiße Wand wirkt aufgrund der hellen Lichter noch viel leuchtender und ich schließe meine Augen leicht. Das ist mir viel zu hell. Meine Haut fühlt sich fremd an, meine Muskeln fühlen sich zu leicht an, als wäre ich nicht ganz hier. So fühlt sich alles an, seit ich wieder aufgewacht bin. Irgendwie unreal. Ich habe bis jetzt sowieso noch nicht verstanden, was genau passiert ist. Ich bin während des Spiels zusammengebrochen, war bewusstlos und bin jetzt im Krankenhaus, das haben mir schon einige Leute gesagt, aber ich verstehe nicht wieso. Mir ging es gut, als ich zum Spiel gegangen bin, ich habe genug gegessen und auch genug getrunken. Es gibt keinen wirklichen Grund, warum ich zusammengebrochen bin. Mich hat niemand gefoult. Ich versuche schon die ganze Zeit, zu verstehen, was passiert ist, aber ich kann es einfach nicht nachvollziehen. Es gibt keinen logischen Grund, auch wenn ich schon die ganze Zeit darüber nachdenke.
Die ersten Untersuchungen wurden bereits durchgeführt - Blutdruck, EKG, Fragen, auf die ich zu müde war, um mehr als einsilbig zu antworten - und jetzt warte ich hier im Behandlungszimmer darauf, dass ich endlich erfahre, was passiert ist. Was ich gemacht habe, dass ich zusammengebrochen bin.
Ein Arzt betritt das Zimmer. Mittleres Alter, ruhige Stimme, weißer Kittel. Er sieht mich mit einem Blick an, der fest, aber nicht kalt ist.
»Herr Brandt, wir haben die ersten Ergebnisse von den Untersuchungen.«, ich nicke kaum merklich. Der Arzt kommt auf mich zugelaufen und setzt sich auf einen Stuhl gegenüber von mir. Ich richte mich langsam und vorsichtig auf und lehne mich gegen die kalte Wand.
»Es spricht alles für eine akute Erschöpfung. Ihr Kreislauf ist instabil, die Blutwerte zeigen klare Zeichen von Überbelastung, Schlafmangel, Stress und unzureichender Regeneration.«, erklärt mir der Arzt.
Ich starre auf meine eigenen Hände, die auf meinen Oberschenkeln liegen.
»Sie müssen raus aus diesem Rhythmus. Essen, Schlafen, Pausen machen. Regeneration ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit, besonders im Profisport. Ich habe Sie für die nächsten vierzehn Tage für den Spielbetrieb gesperrt. Wenn Ihre Werte danach wieder normal sind, können Sie auch wieder langsam beginnen, zu trainieren.«, erklärt der Arzt sachlich.
Ich blicke auf. »Sperre?«
»Ja. Zu Ihrem Schutz. Und wir behalten Sie zwei Nächte zur Beobachtung hier. Damit Sie sich erholen können und wir Ihre Werte im Auge behalten können.«, ergänzt er.
Ich will widersprechen. Sagen, dass es nicht geht. Dass ich doch trainieren muss. Wenn ich nicht trainiere, dann drehe ich durch. Das ist alles, was mir in den letzten Monaten geholfen hat, abzuschalten. Ohne das Training habe ich nichts mehr, was mich von meinen Gedanken befreit, wodurch ich aufhören konnte, an Kai zu denken. Wenn ich das Training nicht mehr habe, habe ich keinen Weg mehr, diesen Gedanken an Kai zu entkommen.
Ich sage jedoch nichts dagegen, ich schaffe es einfach nicht. Ich bin zu müde und erschöpft, um mit dem Arzt über die Trainingssperre zu diskutieren. Vielleicht morgen, aber kann ich nicht.
Kurze Zeit später werde ich in ein Patientenzimmer gebracht. Zum Glück ein Einzelzimmer. Weiße, sterile Wände, das Fenster ist halb gekippt, aber ich höre keinen Lärm von außen. Immer wieder das Rauschen des Windes durch die Blätter der Bäume, aber sonst ist es hier ruhig. Nur mein eigener Atem. Ich setze mich auf die Bettkante, das Trikot habe ich längst ausgezogen, stattdessen trage ich eines dieser weißen Krankenhaushemden, dass mir viel zu groß ist. Ich ziehe die Beine an, stütze meinen Kopf auf meinen Knien ab. Ich fühle mich wie ein Loser.
Ich wollte doch schlafen und weniger trainieren. Runterkommen. Aber eigentlich war genau das mein letzter Halt. Trainieren. Das Training hat mich abgelenkt, meine Gedanken ausgeschaltet und ich konnte vergessen. Die Übermüdung hat das Nachdenken ebenfalls unterdrückt. Und sie kam auch nur, weil ich nicht schlafen konnte, denn meine Gedanken konnte ich nicht ausschalten. Immer, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich Bilder von dieser Nacht vor mir und kann es nicht abschalten. Die Übermüdung hat diese Gedanken wenigstens am Tag zusätzlich abgeschaltet. Gegessen und getrunken habe ich eigentlich immer genug. Aber ich schätze, das viele Training hat dazu geführt, dass ich mehr Kalorien verbrenne, als ich brauche.
Jetzt ist alles still. Die ganzen wirren Gedanken sind aus. In meinem Kopf ist nichts mehr, sondern nur ein Name.
Kai.
Ich schließe die Augen, und ein leiser, hilfloser Gedanke taucht in meinem Kopf auf: Ich kann mich nicht ablenken. Und ohne Ablenkung bleiben nur ich und die Verzweiflung, die ich seit letztem Mai spüre, übrig.
---
Am Abend klopft es leise an der Tür. Ich öffne meine Augen wieder. Ich habe mich ins Bett gelegt und versucht zu schlafen, was natürlich nicht geklappt hat, wie so häufig in der letzten Zeit. Ich hebe träge den Kopf. Die Tür wird geöffnet und Jannis tritt ein, in der einen Hand eine Thermoskanne, in der anderen hängt ein Stoffbeutel über der Schulter.
»Ich habe dir Tee mitgebracht.«, er lächelt schief, »Zitronenmelisse. Soll gegen alles helfen.«
Ich versuche zu lächeln, »Klingt nach einem Zaubertrank.«
»Den habe ich extra gebraut. In meiner Hexenküche, bevor ich hierher gekommen bin.«, grinst er mich an.
Jannis stellt den Tee auf dem kleinen Tisch neben dem Bett ab und setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett. Für einen Moment ist es still, aber nicht unangenehm still.
»Krass ruhig hier«, stellt Jannis nach einem Moment fest.
»Mhm.«, nicke ich nur zustimmend. Danach gibt es wieder eine kurze Pause.
»Ich glaube, ich war das letzte Mal im Krankenhaus, als du dir den Knöchel gebrochen hast. Weißt du noch? Du hast dem Arzt gesagt, er soll schneller machen, weil du noch zum Training willst.«, er lacht leicht bei der Erinnerung.
»Ich war zwölf.«, versuche ich mich zu verteidigen.
»Du warst wahnsinnig.«, er grinst mich an.
Ich zucke mit den Schultern, »Wenigstens hatte ich damals noch Bock.«
»Und jetzt nicht mehr?«, Jannis schaut mich überrascht an.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe es irgendwann verloren. Oder vergessen.«, rede ich einfach darauf los.
»Was genau?«, fragt er interessiert nach.
»Warum ich das alles mache, Training, Spiele, Interviews, Essen nach Plan. Ich wach auf, ich funktioniere und wenn ich mal kurz nicht funktioniere, habe ich sofort Angst, alles zu verlieren.«, erkläre ich ihm, »Ich liebe Fußball, ich liebe den Sport. Aber in den letzten Monaten hatte ich einfach nur noch das Gefühl, ich mache das alles, weil ich muss. Weil ich nur so abschalten kann und nicht, weil ich es liebe. Ich wollte immer, dass Leute stolz auf mich sind. Dass sie sagen: ‘Der Junge hat es geschafft.‘ Aber irgendwie habe ich mich dabei manchmal selbst vergessen.«
Jannis nickt langsam, »Ich glaube, das passiert vielen. Nur nicht so sichtbar.«, er lehnt sich nach vorne und stützt die Ellbogen auf die Knie, »Man denkt, wenn man weiterläuft, fühlt es sich irgendwann wieder richtig an. Aber vielleicht muss man erst mal stehen bleiben, um zu merken, dass man in die falsche Richtung rennt.«
» Ich habe Angst, dass ich irgendwas falsch mache, dass ich sie alle enttäusche und nie wieder den Spaß daran spüre, wie früher.«
»Ich weiß.«, nickt Jannis, verständnisvoll, »Vielleicht hilft es dir, wenn du jetzt erst einmal etwas Pause machst. Vielleicht findest du dann wieder Spaß am Fußball. Vielleicht brauchst du ein bisschen Abstand, um es wieder so sehr zu lieben wie früher.«
»Hoffentlich, dann hätte sich der Scheiß hier wenigstens für irgendwas gelohnt. Ich habe mich irgendwann nur noch am Trainingsplan orientiert. Schlafen, essen, laufen, trainieren. Kein Platz für irgendwas anderes.«, erzähle ich ihm.
»Was wäre das andere?«, fragt er nach.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht einfach mal ich selbst sein? Ohne, dass ich denke, ich muss nur funktionieren.«, gebe ich ehrlich zu.
»Du darfst das. Weißt du das?«, er legt seine Hand auf meinen Arm.
»Was genau?«, ich schaue ihn an.
»Müde sein. Zögern. Traurig sein. Schwach sein. Nichts fühlen. Alles fühlen. Du musst nicht immer funktionieren, nur damit keiner denkt, du wärst schwach. Du darfst auch Dinge fühlen.«
Ich blinzle und schlucke schwer. Danach sage ich nur, »Ich glaube, ich habe in den letzten Monaten vergessen, wie das geht.«
»Dann erinnere dich. Ich helfe dir dabei.«, er schaut mich ermutigend an. Ich nicke nur und dann sagt keiner mehr was, aber das muss auch keiner. Denn es ist alles gesagt.
Nach ein paar Minuten greift Jannis wieder nach der Thermoskanne, die er mitgebracht hat, »Möchtest du jetzt etwas von meinem Zaubertrank haben? Danach geht es dir bestimmt bald besser.«
»Klar, der hilft bestimmt.«, grinse ich. Er nimmt die Flasche und gießt etwas von der heißen Flüssigkeit in den Becher. Dann reicht er ihn mir. Ich sehe Dampf von der Flüssigkeit hochsteigen. Ich puste, um den Tee abzukühlen, dann führe ich mir den Becher an den Mund und schlürfe vorsichtig etwas von dem Tee.
»Mhm«, mache ich, als ich den Tee wieder ein Stück von meinem Mund entferne, »Jetzt geht es mir schon viel besser«
»Ich wusste es«, ruft Jannis, glücklich.
Danach sagt er nichts. Ich schlürfe weiter an dem Tee und fühle, wie es mir viel wärmer um das Herz wird, während Jannis sein Handy aus der Hosentasche hervorzieht, »Warte. Ich habe noch was.«
Er tippt auf dem Bildschirm herum, dreht ihn dann zu mir und zeigt mir ein altes Video. Wackelige Kameraführung. Darauf zu sehen sind zwei Jungs im Garten. Einer mit einem viel zu großen Fußballtrikot, der andere mit einem Umhang aus einem alten Handtuch. Wir waren vielleicht neun und sechs Jahre alt.
Ich lache leise, »Oh Gott. Das war unser WM-Finale. Du warst der Torwart, oder?«
»Nein, ich war der Sidekick mit dem Cape.«, lacht er, »Den Torwart gab's nicht, da wollte keiner stehen, ich wollte aber unbedingt fliegen.«
Ich schüttle grinsend den Kopf. »Du bist auch jedes Mal dramatisch umgefallen, wenn ich nur in deine Richtung geschossen hab.«
»Das war Taktik, damit du die WM gewinnst«, meint er.
Ich sehe ihn an, »Hat funktioniert.«
Wir sehen uns weitere Videos an – Geburtstage, Weihnachtsabende, Urlaube, in denen ich immer einen Ball unterm Arm habe und Jannis immer irgendein Kostüm trägt. Wir lachen und erinnern uns an Geschichten, an unnötige Streits um Süßigkeiten, an Nächte im Hochbett, in denen wir uns gegenseitig Gruselgeschichten erzählt haben, nur um dann beide panisch zu unseren Eltern ins Schlafzimmer zu rennen und dort zu schlafen..
»Ich bin echt froh, dass du mein Bruder bist«, sage ich irgendwann, leise.
Jannis sieht mich an, ehrlich, »Ich auch. Und ich will nicht, dass du dich verlierst, okay? Nicht wegen dem, was du eigentlich liebst. Nicht wegen Fußball. Nicht wegen Druck, Erwartungen, Angst.«
Später sucht er jemandem, der heißes Wasser für eine weitere Flasche Tee kochen kann, setzt sich zurück an mein Bett, erzählt vom Studium, von einer gescheiterten Kennenlernphase, von seinen WG-Mitbewohnern, die alle ein bisschen verrückt sind.
Ich höre zu. Nicht alles, ich bin zu müde, um mich auf alles konzentrieren zu können. Aber genug, um mich nicht mehr ganz allein zu fühlen.
Es ist der erste echte Bruder-Moment seit Jahren. Und zum ersten Mal seit Wochen schlafe ich ein, während jemand neben mir auf dem Besucherstuhl sitzt und einfach da ist. Das erste Mal schlafe ich ein, ohne stundenlang wachzuliegen und mich zu fragen, was ich anders hätte machen können, damit Kai nicht geht. Zum ersten Mal seit Wochen fühle ich mich wirklich glücklich, auch wenn ich im Krankenhaus liege.
Chapter 21: Broken Souls
Chapter Text
POV Julian
Es ist noch dunkel außen, als ich langsam die Augen öffne. Nur der blasse Mondschein leuchtet durch die Vorhänge, kaum genug, dass ich die Umrisse des Raums erkennen kann. Die Uhr über der Tür zeigt 4:13 Uhr.
Ich drehe den Kopf zur Seite. Jannis sitzt noch immer auf dem Stuhl, die Arme über der Brust verschränkt, der Kopf schief gegen die Wand gelehnt und die Cappi über seine Augen gezogen. Er schläft, seine Brust bewegt sich in regelmäßigen Abständen auf und ab. Anscheinend hat ihn niemand rausgeschickt. Vielleicht sind das die Vorteile des Profifußballers, von denen alle immer reden.
Ich beobachte ihn einen Moment, passe auf, dass er nicht aufwacht, ziehe dann vorsichtig die Bettdecke zur Seite und rutsche aus dem Bett. Die Decke nehme ich und lege sie Jannis über die Beine. Wenn er schon die ganze Nacht auf dem Stuhl geschlafen hat, kann ich ihm jetzt wenigstens die Decke abgeben. Die Fliesen unter meinen Füßen sind kalt, ich gehe leise durch den Raum, schiebe die Glastür zum kleinen Balkon auf und trete hinaus. Die Tür schließe ich hinter mir wieder, lasse nur einen Spalt offen, um Jannis nicht zu stören.
Die Luft ist klar, aber kalt. Und sie tut gut. Ich atme tief ein und spüre, wie die Luft durch meinen Körper strömt. Es ist erfrischend, die kalte Luft in meinen Lungen zu spüren.
Ich gehe ein paar Schritte nach vorne, lehne mich an das Geländer und blicke in die Stadt. In der Ferne blinkt eine Baustellenlampe, irgendwo fährt ein Lieferwagen vorbei, aber sonst ist alles dunkel und ruhig. Es ist einer dieser seltenen Momente, in denen alles still ist und sich trotzdem so gut anfühlt.
Und dann, ganz leise, denke ich: Vielleicht ist das der Anfang. Vielleicht ist das der Zeitpunkt, an dem ich etwas verändern kann. An dem ich beginnen kann, ich selbst zu sein. Vielleicht ist das alles gar nicht so schlimm, wie es sich in den letzten Monaten angefühlt hat. Vielleicht bin ich gar nicht so alleine, wie ich dachte.
Ich spüre den Wind, der immer wieder kalte Luft gegen mein Gesicht bläst und ich höre das leise Rascheln der Blätter. Immer wieder ist in der Ferne ein Auto zu hören, aber es ist nie hektisch. Es sind nie diese typischen Stadtgeräusche. Es ist eher eine Ruhe, die sich aber trotzdem geborgen anfühlt. Ich stehe hier, lausche den Geräuschen der Natur und genieße das alles für einen Moment.
Nach einiger Zeit höre ich, wie die Glastür hinter mir aufgeschoben wird. Es ist Jannis, ich muss gar nicht nachschauen, ich merke es an seinen Schritten. Er stellt sich neben mich, lehnt sich ebenfalls an das Geländer und sieht mich an. Ich spüre seinen Blick auf mir, aber ich drehe mich nicht zu ihm, sondern schaue weiter in die Ferne.
»Was machst du hier so früh?«, fragt er leise.
»Ich habe frische Luft gebraucht«, erkläre ich, »Es ist so ruhig hier. Ich mag das. Die Stille genießen und die frische Luft auf meiner Haut spüren.«
Er nickt. Er sagt nichts und beginnt dann ebenfalls, einfach in die Ferne zu gucken. Da stehen wir also. Jannis und ich, auf dem Balkon eines Krankenhauszimmers und ich habe mich meinem Bruder schon lange nicht mehr so nah gefühlt. Ich schließe für einen Moment die Augen und beginne einfach nur zu spüren. Die kalte Luft, die auf meine Haut trifft, das kalte Eisengeländer zwischen meinen Fingern, Jannis' Schulter, die meine leicht berührt. Für diesen Moment ist einfach alles gut, alles richtig.
»Weißt du«, beginne ich auf einmal zu reden, »Manchmal frage ich mich, was wäre, wenn ich damals im Club weniger getrunken hätte«
»Was meinst du?«, fragt Jannis. Wir beide schauen weiterhin in die Ferne.
»Ich frage mich, ob Kai geblieben wäre, wenn das alles«, ich gestikuliere wild mit meinen Händen vor mir herum, »nicht so schnell eskaliert wäre. Ob er geblieben wäre, wenn es langsamer passiert wäre. Ob er geblieben wäre, wenn ich eine Chance gehabt hätte, nochmal mit ihm zu reden. Das ging alles so schnell und ich weiß immer noch nicht, warum genau er gegangen ist.«
»Was ist zwischen euch passiert?«, fragt Jannis zögerlich. Normalerweise hätte ich nichts gesagt. Zumindest nicht die Wahrheit. Aber gerade fühlt es sich okay an. Gerade fühlt es sich so an, als könnte ich Jannis vertrauen, als würde er mich nicht verurteilen.
Und deshalb fange ich auch an zu erzählen, »Wir haben uns an den See gesetzt und geredet. Er war so nah und es war so schön. Irgendwann haben wir uns geküsst.«
Ich mache eine kurze Pause, warte auf eine Reaktion von Jannis, aber die bekomme ich nicht. Er schaut mich an, ich spüre es, aber er sagt nichts, sondern wartet nur darauf, dass ich weiterrede, »Dann sind wir zusammen zu mir gegangen. Wir waren sehr betrunken und irgendwie...haben wir dann miteinander geschlafen.«
Jannis sagt nichts. Keine Unterbrechung, kein fragender Blick. Nur Stille, aber keine unangenehme Stille. Trotzdem merke ich, dass ich immer nervöser werde. Davor, was er sagen wird. Ich atme einmal tief durch bevor ich weiter erzähle.
»Ich habe das nicht geplant, aber da war so viel Nähe. Und dann war er einfach da. Ganz nah. Und es hat sich so verdammt richtig angefühlt.«
Jannis steht still neben mir und beobachtet mich. Ich rede weiter, leise, »Ich dachte, vielleicht reden wir am nächsten Morgen. Vielleicht lachen wir sogar darüber, aber er war weg. Einfach weg. Kein Zettel, keine Nachricht. Und ich habe es nicht verstanden. Ich verstehe es bis heute nicht. Zuerst dachte ich, ich komme damit klar, aber es funktioniert nicht. Je mehr ich versuche, es zu vergessen, desto öfter muss ich daran denken. Training ist das einzige, was mich irgendwie davon ablenkt, darum habe ich auch so viel trainiert die ganze Zeit.«
Ich höre, wie Jannis ausatmet und dann beginnt er, zum ersten Mal etwas zu sagen, »Hast du Gefühle für ihn?«
Seine Stimme klingt nicht wertend, nicht verurteilend, sondern einfach nur interessiert.
»Ich glaube schon«, meine Stimme bricht für einen Moment, »Ich dachte, ich kann das alles vergessen und so tun, als würde es mir nichts bedeuten, aber ich kann es nicht. Dieser Moment ist mir zu wichtig. Kai ist mir zu wichtig und ich weiß nicht, was ich ohne ihn machen soll. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn ich ihn nie wieder sehen werde.«
Zum ersten Mal spreche ich meine Verzweiflung wirklich aus. Zum ersten Mal teile ich das, was ich die ganzen letzten Monate gefühlt habe mit jemandem und auch, wenn ich nicht weiß, was Jannis davon hält, fühlt es sich gut an, darüber zu reden.
Eine Weile ist es ganz still zwischen uns. Nur unser Atem in der Morgenluft, das entfernte Piepen eines Krankenwagens, das Rauschen der Stadt, die langsam erwacht. Dann legt Jannis einen Arm um meine Schulter und zieht mich etwas zu ihm hin, »Jule du musst dich nicht festlegen, um zu fühlen. Du musst niemandem irgendwas beweisen. Und wenn Kai und diese Nacht dir was bedeuten, dann ist das nichts, wofür du dich schämen musst. Auch nicht vor mir. Ich bin da für dich, egal was passiert.«
Ich drehe den Kopf leicht zu ihm, schaue ihn zum ersten Mal wieder an. Er lächelt leicht und ich kann nichts in seinem Blick sehen, was mir das Gefühl gibt, er würde mich auch nur ein bisschen verurteilen. In diesem Moment fühle ich mich einfach nur sicher und akzeptiert.
»Ich glaube, ich stehe auf Männer«, spreche ich es leise zum ersten Mal wirklich aus, »Ich glaube, ich stehe auf Kai«
»Dann ist das so. Ich bleibe immer bei dir, egal was ist. Ich bin dein Bruder«, lächelt er mich sanft an, »Und wenn ich das richtig verstanden habe, kannst du Kai schon bald wieder sehen. Dann könnt ihr vielleicht in Ruhe über alles reden.«
Ich schaue ihn etwas verwirrt an. Wo soll ich Kai demnächst sehen? Ich habe noch nicht einmal eine Ahnung, wo er sich aufhält.
»Du wirst schon sehen«, sagt er einfach, anstatt mir eine Erklärung zu geben, »Jetzt musst du erstmal wieder ganz fit werden.«
Chapter 22: Matchday
Chapter Text
April 2020/POV Kai
Vor dem Spiel von Deutschland und Griechenland, das übermorgen in Dortmund stattfindet, bei dem ich zum ersten Mal als Kommentator arbeiten werde, bin ich nach Deutschland geflogen, um meine Familie zu besuchen. Dort habe ich einige Tage mit meiner Mama und meinen Geschwistern verbracht. Mein Vater hat mich größtenteils ignoriert. Seit Weihnachten hat er fast gar nicht mehr mit mir geredet. Ich komme gut damit klar, wenigstens hat er mir nicht mehrfach eingeredet, dass ich falsch und eklig bin.
Selbst als ich ihnen gesagt habe, dass ich das Spiel kommentieren werde, hat er nicht wirklich etwas dazu gesagt. Meine Mama und vor allem meine Geschwister haben sich sehr gefreut und das war mir am wichtigsten.
Jetzt sitze ich im Zug nach Dortmund zum Spiel gegen Griechenland. In meinen Händen habe ich einen Brief, den Lea mir vor der Abfahrt noch mitgegeben hat. Er wurde an ihre Adresse geschickt, aber mit meinem Namen. Und ich weiß, von wem er ist. Julian. Ich erkenne seine krakelige Schrift. Und das ist auch der Grund, warum ich ihn noch immer nicht geöffnet habe. Weil ich Angst habe. Weil ich nicht weiß, was er mir sagen wird und weil ich mich schäme, ihm nicht geantwortet habe, sondern ihn einfach ignoriert habe und den Kontakt abgebrochen habe.
Die ganze Zeit drehe ich schon den Brief in meinen Händen rum und überlege, ob ich ihn öffnen soll oder nicht. Ich will ihn öffnen, aber irgendwie bin ich auch einfach viel zu nervös dafür. Wenn er mich hasst, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will, wenn er sauer auf mich ist - dann weiß ich nicht, wie ich damit umgehen kann. Trotzdem will ich wissen, was er von mir denkt oder was er überhaupt denkt, wie er fühlt, wie es ihm geht.
Also öffne ich den Brief. Mit zitternden Händen öffne ich den Brief und ziehe das Stück Papier raus. Ein weißes kariertes Blatt. Vorsichtig falte ich das Blatt auf und beginne, mir den Text durchzulesen.
Kai,
Es ist halb drei und ich kann nicht schlafen.
Und vielleicht schreibe ich das hier auch nicht, dass du es liest. Vielleicht schreibe ich es, weil es sonst in mir drin bleibt. Und ich nicht mehr weiß, wohin damit.
Ich vermisse dich.
Ich dich auch, denke ich. Und es tut mir schon wieder leid, mich nicht bei ihm gemeldet zu haben.
Einfach die Dinge an dir, die ich für selbstverständlich gehalten habe. Deine Stimme zu hören, deine Hände, deine schlechten Witze, die mich immer zum Lachen gebracht haben. Deine Art, mich nicht anzusehen, wenn du nervös warst. Dein breites Grinsen, wenn wir ein Spiel gewonnen haben und besonders, wenn einer von uns ein Tor geschossen hat. Und wie du dann doch hingesehen hast, wenn du dachtest, ich merke es nicht, weil du doch zu neugierig warst.
Ich vermisse, wie du mich verstanden hast, ohne dass ich die Hälfte überhaupt sagen musste.
Ich muss lächeln, bei der Erinnerung, an sein Lachen, an seinen Blick, an sein Grinsen und an alle Dinge, die er erwähnt hat. Und ich merke, dass ich ihn auch vermisse. Alles an ihm. Eigentlich war mir das schon die ganze Zeit klar, aber wie sehr ich ihn vermisse, ist mir erst klar geworden, als ich diese Worte lese. Wie sehr ich jeden Moment mit ihm vermisse, wie sehr ich so viele Momente mit ihm teilen möchte.
Ich weiß nicht, ob das, was passiert ist, für dich dasselbe war wie für mich.
Wahrscheinlich nicht. Schließlich bist du gegangen. Und ich habe dich gehen lassen.
Oder nein – das stimmt nicht. Ich habe nicht nichts getan. Ich habe nicht geschwiegen.
Ich habe dir geschrieben und gewartet.
Auf eine Nachricht.
Auf ein Zeichen.
Auf...irgendwas.
Aber es kam nichts.
Scheiße, ich weiß doch. Ich spüre Tränen in meinen Augen und ich bereue es so sehr. Dass ich gegangen bin, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe und dass ich mich nicht einmal verabschiedet habe.
Ich weiß nur: Es gibt Sätze, die man nicht mehr zurückholen kann.
Und Berührungen, die sich nie wiederholen.
Und ich wünschte, ich hätte dich länger festgehalten und länger gespürt.
War das für ihn vielleicht doch dasselbe wie für mich? War ihm dieser Moment genauso wichtig wie mir?
Ich vermiss dich.
Ich weiß nicht, ob ich irgendwann aufhöre, das zu tun.
~ Julian
Scheiße. Ich spüre, wie mir die Tränen die Wangen herunterlaufen, weil ich merke, dass ich es bereue, dass ich alles bereue. Dass ich es bereue, ihn verlassen zu haben und dass ich es nicht einmal geschafft habe, ihn zu fragen, wie es für ihn war und was es ihm bedeutet. Einfach nur, weil ich dachte, ich bin falsch, weil ich dachte, dass ich etwas verbotenes, etwas ekliges gemacht habe. Deswegen habe ich Julian verloren und es tut mir so weh, dass ich es nicht geschafft habe, einen Moment darüber nachzudenken, wie es Jule damit gehen könnte.
Und so sitze ich nun in einem Zug und weine, weil ich selbst nicht verstehen kann, wieso ich das getan habe.
Die Zugfahrt war an sich ruhig, aber das Chaos in meinem Kopf, nachdem ich Jules Brief gelesen habe, war zu groß, dass ich die Zugfahrt hätte genießen können. Die Worte haben mich zu sehr verletzt, einfach weil ich weiß, dass er recht hat. Weil ich weiß, dass ich ihm weh getan habe und weil mich das noch viel mehr verletzt, als alles, was er mir hätte antun können.
Jetzt stehe ich mit meinem kleinen Koffer am Bahnhofausgang, wo mich ein Mitarbeiter des Senders empfängt, »Willkommen in Dortmund, Kai. Wir fahren direkt ins Stadion. Du bekommst eine Einführung in deine Aufgaben und danach findet ein Produktionsmeeting statt.«
Ich nicke, als wäre alles okay. Aber es ist nicht okay. Nicht, seit ich den Brief gelesen habe und gemerkt habe, wie sehr ich Julian verletzt habe, ohne dass ich das jemals tun wollte.
Ich steige in ein Auto der Produktionsfirma und mir wird eine Liste mit allen wichtigen Infos zum Turnier geben. Einen Zeitplan, eine Liste mit den wichtigsten Informationen zu den beiden Teams und ein Zettel mit dem Kader. Ich schaue mir den Kader von Deutschland an – auch wenn ich das vielleicht schon viel früher hätte machen sollen – lese durch die Liste, sehe viele bekannte Namen. Manuel, Emre, Marco, Timo und Julian. Ich bin ein bisschen überrascht, als ich seinen Namen sehe. Klar, seine letzte Saison war gut. Aber nach seinem Zusammenbruch vor ein paar Wochen hätte ich nicht gedacht, dass Jogi ihn gleich wieder in den Kader nimmt. Vielleicht wollte er selbst wieder spielen. Vielleicht hat er angegeben, dass er wieder spielen kann und wurde deswegen gleich für die nächsten Länderspiele nominiert. Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich Julian morgen wieder sehen werde. Auch, wenn wir wahrscheinlich nichts miteinander zu tun haben werden, werde ich ihn wieder sehen und das wird mir weh tun. Besonders jetzt, nachdem ich den Brief gelesen habe. Jetzt wird es noch schwieriger für mich, ihn spielen zu sehen, zu vergessen, was alles zwischen uns passiert ist und stattdessen nur sein Spiel zu bewerten und zu kommentieren, was er auf dem Platz macht, denn eigentlich würde ich so viel mehr zu ihm sagen wollen.
Am Stadion angekommen, werde ich durch einen Hintereingang nach innen gelassen. Außer ein paar Mitarbeitern der Produktionsfirma ist das Stadion komplett leer. Trotzdem liegt etwas Großes in der Luft. Etwas, das ich nicht beschreiben kann. Ich werde über eine Rampe zur Kommentatorenkabine geführt. Der Platz, von dem ich morgen das Spiel beobachten werde. Nicht vom Spielfeld, wie sonst immer, sondern von einer kleinen Kabine aus. Es fühlt sich komisch an, wieder so nah an einem Spielfeld zu sein, aber diesem trotzdem so fern zu sein.
Die Technik wird mir erklärt: Headset, Signalübergabe, Timecodes, Handzeichen aus der Regie. Mir wird erklärt, wie der morgige Tag ablaufen wird und was ich alles zu beachten habe. Danach geht es in einen kleinen Raum mit Tischen, Wasserflaschen, vielen Kabeln und Knöpfen. Dort findet das Produktionsmeeting statt. Kameraeinstellungen, Zeitplan, grafische Einblendungen, die Expertenrunde. Alles wird genauestens erklärt und besprochen, damit morgen auch wirklich rein gar nichts schief gehen kann. Damit jeder weiß, was zu beachten ist. Alle arbeiten höchst konzentriert, gehen alles einmal durch und testen die Technik, um sicherzugehen, dass alles funktioniert.
Zum Schluss sprechen ich und meine Co-Kommentatorin Mara noch mit den Redakteuren alle wichtigen Dinge durch, die während des Spiels erwähnt werden können. Fakten über die Mannschaften, die interessant sind, Fakten über das Spiel und Fakten über die einzelnen Spieler, die wir erwähnen können. Wir schauen uns Statistiken der Mannschaften und Spieler an, damit wir gut vorbereitet sind und Informationen, die wir erzählen können.
Irgendwann sagt einer der Redakteure, »Und ja, Julian Brandt ist im Kader dabei, auch wenn das lange unklar war, bitte vergesst das nicht.«
Mein Magen zieht sich zusammen und irgendwie überkommt mich meine Neugier und ich frage nach, »War er nicht wegen seines Zusammenbruchs gesperrt?«
Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht, wie lange die Sperre zur Regeneration ging, ich denke nur ein paar Wochen, aber trotzdem verwundert es mich, dass er direkt nach dieser Sperre bei so wichtigen Spielen spielen darf.
»Die Sperre ging nur 2 Wochen, gespielt hat er wieder nach einem Monat«, erklärt der Redakteur, »Aber müsstest du das nicht besser wissen?«
Ich zucke nur mit den Schultern und schaue wieder auf die Zettel, die ich auf der Hinfahrt bekommen habe, so, als hätte die letzte Konversation gar nicht stattgefunden.
Am Abend, nachdem die Meetings beendet wurden, bringt mich ein Shuttle zum Hotel. Ich checke ein, aber bevor ich mich auf den Weg in mein Zimmer mache, gehe ich zuerst zum Essen. Nachdem ich den ganzen Tag mit Arbeiten beschäftigt war und ich seit heute früh in Deutschland nicht mehr wirklich etwas zu Essen hatte, bin ich nun ziemlich hungrig. Also gehe ich mit meinem Koffer Richtung Speisebereich und will mir etwas zu essen holen, doch dann sehe ich ihn.
Julian. Er sitzt dort. Mit Joshua und Manuel. Er sieht mich nicht, ich sehe ihn nur von der Seite, aber ich weiß, dass er es ist. Diese hellen blonden Haare und diese bestimmte Körperhaltung können nur Jule gehören. Er lächelt, aber nicht wie früher. Es ist kontrolliertes Lächeln und nicht das ausgelassene, glückliche Jule-Lächeln. Ich will länger hinsehen, aber mein Körper dreht sich automatisch weg. Ich kann hier nicht bleiben. Ich kann ihm nicht begegnen. Nicht hier. Nicht jetzt. Ich muss erst einmal überlegen, was ich ihm sagen will, sonst wird das eine Katastrophe. Also nehme ich meinen Koffer wieder und gehe Richtung Aufzug.
Ich fahre hoch zu meinem Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Atmen. Dann bestelle ich mir was vom Zimmerservice. Aber ich kann ihn jetzt nicht sehen. Ich muss ihn schon morgen 90 Minuten sehen und kann ihn nicht einmal ignorieren. Eine spontane, ungeplante Begegnung mit ihm brauche ich da nicht. Ich suche mir erst einmal etwas auf der Speisekarte raus und bestelle mir einen Burger mit Salat.
Dann rufe ich Lea an.
»Wie ist es so in Dortmund?«, nimmt sie energisch ab.
»Warm«, antworte ich monoton.
»Anfang Juni?«, sie zieht eine Augenbraue hoch, »Unerwartet «
»Jule ist hier«, sage ich dann, anstatt auf ihre Aussage einzugehen.
»Ja, er ist im Kader«, erklärt sie, als wäre das logisch gewesen, »Wusstest du das nicht?«
»Nein«, gebe ich zu, »Ich habe mir den Kader vor heute nicht angeschaut«
»Hast du ihn getroffen?«, fragt sie nach.
»Jap. Vor ca. 5 Minuten«, nicke ich, »Aber ich bin abgehauen. Ich habe mich nicht getraut, mit ihm zu reden. Bin abgehaut und jetzt bin ich hier«
»Ach Kai«, Lea seufzt, »Du kannst nicht immer von ihm wegrennen. Du bereust doch, dass du so gegangen bist, oder?«
Ich schweige. Aber ich denke, dass ist auch schon Antwort genug für sie. Irgendwie kann sie immer erahnen, was ich denke und so auch dieses Mal.
»Du musst irgendwann mit ihm reden. Wenn nicht heute, dann morgen. Aber irgendwann. Sonst wirst du es dein ganzes Leben bereuen.«, sagt sie ehrlich besorgt.
»Ich weiß«, stimme ich ihr zu, »Aber ich kann das nicht einfach so. Ich muss mich darauf vorbereiten können. Das war so plötzlich. Ich versuche mit ihm zu reden, wenn ich weiß, was ich sagen soll«
»Das hoffe ich doch«, sagt sie, »Aber anderes Thema: Bist du schon aufgeregt wegen Morgen?«
»Schon, ja«, nicke ich, »Ich habe schon Angst, dass ich das nicht hinkriege oder dass die Fans enttäuscht sein werden, dass ich nicht wieder spiele, sondern Kommentator bin.«
»Das werden sie nicht, glaub mir«, versucht Lea mich zu beruhigen, »Bestimmt würden sie sich freuen, wenn du wieder spielen würdest, aber nachdem du seit fast einem halben Jahr gar nichts mehr irgendwo geteilt hast, denke ich, dass sich viele einfach freuen werden, wenn sie dich wieder sehen und es dir gut geht«
»Ich hoffe doch.«, meine ich, »Ich will ja auch eigentlich nur wieder irgendwas mit Fußball machen, ich muss nicht unbedingt spielen, solange ich bei Fußball bleiben kann«
»Klar kannst du das«, sagt Lea, »Und du wirst das auch super machen. Du kennst dich gut aus, du hast eigene Erfahrung und kannst es so alles besser verstehen und du liebst es über Fußball zu reden, das wird gut«
»Danke Lea«, lächle ich sie an.
---
Der nächste Morgen vergeht fast viel zu schnell. Ich frühstücke hastig, einerseits, weil ich nicht viel Zeit habe, bis ich fertig sein muss, aber andererseits, weil ich es vermeiden will, Jule zu treffen. Danach ziehe ich die Kleidung, die ich extra für heute mitgenommen habe, an und mache mich auf den Weg nach unten. Dort wartet schon der Shuttle, der uns zum Stadion fahren wird. Meine Co-Kommentatorin, Mara, sitzt bereits im Wagen und wartet bis wir losfahren.
»Morgen, Kai! Bereit für die große Rückkehr?«, begrüßt sie mich, als ich einsteige und mich auf den Platz neben sie setze.
»So bereit, wie es geht«, nicke ich, »Bei dir auch alles gut?«
»Ja, alles super«, nickt sie lächelnd.
»Du bist überall in den Schlagzeilen, weißt du das?« sagt sie, während sie mir ihr Handy hinhält.
'Ex-Nationalspieler Kai Havertz feiert WM-Comeback - aber nicht auf dem Platz'
'Nur noch neben dem Platz - Kai Havertz zurück bei der WM' und
'WM-Comeback von Havertz - Fans in Vorfreude', lauten nur einige der Artikel, die sie mir zeigt.
»Ich habe es nur am Rande mitbekommen.«, zucke ich mit den Schultern und versuche, so auszusehen, als wäre es mir nicht wichtig. Das ist natürlich gelogen. Ich bin extrem nervös davor, etwas falsch zu machen und nur schlechte Kritik zu bekommen, aber das muss ich ja nicht gleich jedem zeigen.
»Alle Artikel sind echt begeistert von dir als Kommentator. Die meisten Fans freuen sich auf ein Comeback von dir und viele Artikel finden schon jetzt, dass die Rolle gut zu dir passen wird. Ich zitiere: 'Aufgrund der qualitativ hochwertigen Interviews von Havertz ist auch in seiner neuen Rolle als Kommentator der Spiele eine Analyse auf Top-Niveau zu erwarten.' «, fasst sie mir zusammen, was in den Medien erzählt wird.
Ich nicke. Sage nichts weiter. Von diesen Erwartungen zu hören, macht mir irgendwie Angst, die Leute jetzt zu enttäuschen, wäre noch schlimmer, als sie zu enttäuschen, wenn sie schon von Anfang an keine hohen Erwartungen hätten.
POV Julian
Die Kabine ist zu hell. Ich sitze vor meinem Spind, ziehe die Stutzen hoch, reiße fast die Naht. Mein Kopf dröhnt von Gedanken an Kai. Ich kann sie wieder kaum verdrängen. Besonders seit ich heute früh aufgewacht bin und gesehen habe, dass Jannis mir einen Artikel geschickt hat, in dem verkündet wurde, dass Kai das heutige Spiel kommentieren wird, bin ich nervös. Jannis hat mir zwar gesagt, dass ich ihn bald wieder sehen werde, aber ich habe ihm das nicht wirklich geglaubt. Erst recht nicht so. Nicht hier. Ich habe Angst, ihn zu sehen. Angst, dass er mich komplett aus dem Spiel rausbringen wird und ich mich nicht konzentrieren kann, wenn ich ihn sehen werde. Angst, dass mir das, das ganze Spiel ruinieren wird. Dass ich einfach nicht normal spielen kann, wenn ich weiß, dass er mir zuschaut.
Timo kommt zu mir, stellt sich neben mich, schweigt erst. Ich spüre ihn, bevor er spricht.
»Willst du was sagen oder einfach nur dumm rumstehen?« knurre ich. Ich weiß, es ist nicht fair, ihn so anzumeckern, aber ich kann nicht anders. Er ist mit Kai befreundet, das ist das Problem. Ich weiß, er kann nichts dafür, dass Kai gegangen ist, aber ich kann das gerade einfach nicht trennen. Zu groß ist meine Wut auf Kai gerade, weil er gegangen ist und weil er jetzt einfach wieder auftaucht. Zu dem Zeitpunkt, an dem es mir am wenigsten passt, weil ich mich jetzt fokussieren muss und mich nicht von meinen Gefühlen ablenken lassen kann.
»Er ist da«, sagt Timo leise. Er setzt sich auf die Bank neben mich und sieht mich an.
»Kai.«, der Ton seiner Stimme ist vorsichtig. »Ich glaube, er will mit dir reden.«
Ich presse die Lippen zusammen, »Schön für ihn.«
Ich dachte immer, sobald ich höre, dass Kai mit mir reden will, würde ich mich freuen und sofort zu ihm rennen. Ich dachte, ich würde ihm sofort verzeihen, sobald er wieder mit mir redet. Ich dachte, sobald ich ihn wieder haben kann - egal wie - würde ich ihn wieder zurücknehmen und ihm alles verzeihen, aber gerade kann ich das nicht. Gerade fühlt es sich ein bisschen so an, als würden ihm meine Gefühle vollkommen egal sein. Er ist gegangen, wann es ihm gepasst hat und er kommt wieder, wenn es ihm passt.
»Julian, ich meine es ernst. Er hat scheiße gebaut und er weiß das auch, aber er hat dich vermisst. Ich habe es gesehen. Er hat einfach nicht damit klarkommen können.«
Ich sehe ihn an, scharf, »Ich habe alles versucht, Timo. Nachrichten. Anrufe. Ich habe ihm einen verdammten Brief geschrieben und mich komplett blamiert. Und was hat er gemacht? Nichts. Nur Schweigen. Wochenlang. Monate. Und jetzt braucht er mich wieder und denkt, wir können einfach so tun, als wäre nie etwas passiert? Ne, nicht mit mir.«
Timo hebt die Hände. »Ich weiß. Ich sag ja nicht, du sollst ihm sofort verzeihen. Ich sag nur, vielleicht gibst du ihm irgendwann eine Chance. Er hat es versaut, ja, aber er hat dich nicht vergessen. Es tut ihm echt leid.«
»Ist mir egal«, sage ich stur, auch wenn ich weiß, dass es mir das nicht ist. Zu hören, dass er mich auch vermisst und es ihm leid tut, ist mehr, als ich erwartet habe, und es lässt mich ein bisschen aufatmen vor Erleichterung. Aber ich kann das nicht. Nicht jetzt, zumindest. Ich stehe auf, ziehe mein Trikot über, »Wir sehen uns auf dem Platz, Timo.«
Dann gehe ich aus der Kabine und Richtung Spielfeld zum Aufwärmen. Der Tunnel zum Spielfeld ist kühl, das Licht der Neonröhren an der Decke flackert. Ich trete auf den Rasen. Und dann sehe ich ihn.
Kai.
Er steht am Spielfeldrand, Mikro in der Hand, Headset auf. Er wirkt konzentriert, fast unnahbar. Er ist sichtlich fokussiert auf seinen Job. Ich beobachte ihn für einen Moment, bis er sich plötzlich in meine Richtung dreht.
Seine Augen weiten sich und unsere Blicke treffen sich. Auf einmal steht alles still.
Kein Geräusch, keine Bewegung, kein Gedanke. Nur das. Nur er. Alles andere blende ich aus.
Sein Blick ist offen, aber vorsichtig. Ich weiß nicht, was ich zeigen soll. Wut? Schmerz? Sehnsucht? Ich weiß nicht, was ich in dem Moment fühle, ich weiß nur, dass es sich anfühlt, als würde die Welt stehen bleiben. Keine Ahnung, ob das gut oder schlecht ist.
Ich friere. Nicht wirklich. Nur innerlich.
»Julian?« Joshua tippt mich an, seine Stimme klingt weit weg. »Alles okay? Kommst du mit zum Aufwärmen?«
Ich reiße mich los, nicke stumm, gehe los. Aber meine Gedanken bleiben zurück. Bei diesem Blick. Bei dem, was nicht gesagt wurde. Und bei dem, was vielleicht noch kommt.
Meine Gedanken bleiben bei ihm.
Chapter 23: Interviews & Hotel Floors
Chapter Text
POV Kai
Die Partie war von Anfang an deutlich. Deutschland dominiert das Spiel und nach einem Platzverweis für Griechenland hatten sie keine Chance gegen die deutsche Nationalmannschaft.
Ich beobachte alles aus der Kommentatorenkabine. Meine Stimme ist ruhig und analytisch. Ich bin die neutrale Fachmeinung, die sich der Sender gewünscht hat. Und nicht der Mensch, der sich fragt, wie es Julian wirklich geht, während er unten auf dem Rasen läuft, als würde er versuchen, sich selbst zu überholen.
Ich habe zwar bis vor seinem Zusammenbruch eigentlich jedes seiner Spiele gesehen, aber ihm vorher in echt in die Augen zu sehen, hat mich völlig aufgewühlt. Es hat sich angefühlt, als blieb in diesem Moment die Welt stehen. Ich habe nur noch ihn vor mir gesehen. Ich habe die Kameras, die auf mich gerichtet waren, vergessen, mir waren die ganzen Menschen vom Produktionsteam komplett egal. Es gab nur ihn und mich. Auch, wenn wir weit voneinander entfernt waren, gab es da nur ihn und mich.
»Deutschland hat heute clever agiert«, sage ich, während das Spiel in den letzten Minuten ausläuft, »Früh Druck gemacht, Ballbesitz kontrolliert und alle Chancen genutzt. Auch wenn es zu Beginn etwas hektisch war, sah die Situation für Griechenland nach der roten Karte ziemlich schnell schlecht aus, die Deutschen haben das Spiel gut kontrolliert und ab der zweiten Halbzeit war das eine klare Sache.«
»Stimme ich dir voll zu«, sagt Mara neben mir, »Und was für ein Spiel von Julian Brandt. Viele gute Torchancen, leider alle vom griechischen Torwart gehalten, aber trotzdem gut taktisch agiert während des Spiels und eine Vorlage geschossen.«
Ich nicke. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Dann kommt der Schlusspfiff.
»Deutschland schlägt Griechenland mit 3:0 und setzt damit ein deutliches Zeichen für die EM im nächsten Jahr«, sagt Mara in das Mikrofon, »Und wir schalten gleich rüber zu den Interviews am Spielfeldrand. Kai macht sich direkt auf den Weg, um mit unseren Spielern zu reden.«
Ich ziehe das Headset ab und gehe mit klopfendem Herzen die schmale Treppe zur Seitenlinie hinab. An das Kommentieren habe ich mich im Verlauf des Spiels ziemlich schnell gewöhnt und es hat mir sogar Spaß gemacht, aber mit den Spielern persönlich zu reden, Fragen zu stellen und auf ihre Antworten einzugehen ist noch einmal etwas ganz anderes.
Mein Blick gleitet über das Feld, während ich darauf warte, dass das Interview beginnt und bleibt an einer Person hängen, die ich mit geschlossenen Augen erkennen würde.
Julian.
Ein Pressemensch führt ihn zu mir. Er läuft mir entgegen. Ich muss Julian interviewen. Ich habe damit gerechnet, dass ich vielleicht Manuel als Kapitän oder Joshua, Emre oder Timo aufgrund ihrer Tore interviewen soll, aber mit ihm habe ich nicht gerechnet. Trotzdem halte ich das Mikro bereit, als wäre alles normal und bemühe mich um einen professionellen Gesichtsausdruck. Die Kamera läuft. Julian bleibt einen Moment vor mir stehen, schaut mich an.
Er hat wahrscheinlich auch nicht damit gerechnet, dass er jetzt von allen möglichen Journalisten hier von mir interviewt wird.
Und da ist es wieder, dieses kurze, unfassbar lange Innehalten. Aber diesmal ist es anders. Die Welt schaut zu und ich spüre es, aber ich sehe nur ihn.
Für einen Moment bleiben meine Augen an seinem Blick hängen, dann reiße ich mich wieder von ihm los und beginne das Interview, »Julian Brandt, Glückwunsch zum Sieg. Drei Tore gegen Griechenland. Wie fühlt es sich an?«, frage ich. Meine Stimme ist ruhig, fast lehrbuchhaft, um seriös zu wirken.
Julian lächelt. Es ist nicht wieder das kontrollierte Lächeln von gestern. Es ist kleiner. Echter. Aber zitternd.
»Danke. Es war intensiv. Ich habe mich gut gefühlt. Die Mannschaft war stark. Wir haben gut zusammengearbeitet und konnten nicht nur unser Tor gut verteidigen, sondern waren auch stark in der Offensive.«
Ich nicke, frage weiter, über das Pressing, die taktische Umstellung zur zweiten Halbzeit, die Situation nach dem Platzverweis der Griechen. Er antwortet knapp, professionell. Zwei Profis, live auf Sendung. Keine Spur von Gefühlen. Würde man nicht wissen, dass wir befreundet waren, hätte man sicher nicht gedacht, dass wir auch schon einmal privat miteinander gesprochen haben.
Aber dann kommt dieser Moment. Ich will das Interview beenden, will mich abwenden und zum nächsten Spieler gehen, da spricht Julian plötzlich erneut. Leise, stockend, aber klar genug, dass es das Mikrofon aufnimmt:
»Danke, Kai. Für alles. Auf und neben dem Platz.«
Ein Satz. Neun Worte.
Der Moment dehnt sich.
Mara in meinem Ohr murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Die Kamera hält drauf. Vielleicht denkt die Welt, das sei eine sportliche Geste. Ein Dank für die Analyse, für Präsenz, für Erfahrung. Ein Dank für die lange Zusammenarbeit in Leverkusen, aber ich weiß, was er meint. Ich weiß es mit jedem Teil meines Körpers. Er meint uns. Ich spüre es.
Ich nicke und sage nur, »Danke dir.«, ich schaue ihn einen Moment lang an, dann ergänze ich, »Für das Spiel.«
Julian geht. Dreht sich um und läuft Richtung Kabine. Ich schaue ihm nach, bis er zwischen den anderen Spielern verschwindet.
In mir bröckelt etwas. All das, was ich aufgebaut habe. Die Mauer. Das Bild. Die Ruhe. Sein Blick war kein Angriff. Er war eine Erinnerung. An alles, was war. An das, was nie ausgesprochen wurde und an das, was vielleicht noch gesagt werden muss.
In diesem Moment wird mir klar, dass ich mit ihm reden muss. Wirklich. So bald wie möglich.
POV Julian
Der Hotelflur ist in weiches, gelbliches Licht getaucht. Weicher Teppichboden unter den Füßen. Türen, die alle gleich aussehen. Ich komme gerade aus dem Aufzug, müde, körperlich am Ende nach dem Spiel, nach dem Adrenalin, nach dem Interview.
Nachdem ich ihn wieder gesehen habe. Nachdem wir wieder geredet haben. Aber nicht über das, was wichtig ist. Nur über das Spiel. Über Tore, Verteidigung und die restlichen Länderspiele. Aber nicht über das, was wirklich zählt. Nicht über das, was da war. Zwischen uns.
Ich will eigentlich nur noch ins Zimmer, duschen, im Bett liegen, die Decke über den Kopf ziehen und schlafen. Aber dann biegt jemand um die Ecke. Und ich bleibe stehen.
Kai.
Er bleibt auch stehen. Nur ein paar Meter zwischen uns. Nicht mal ein ganzer Flur. Nur ein Atemzug, der schwer in der Brust liegt.
Er sieht mich an. Und ich sehe ihn an. Wir bleiben stehen. Wir schauen ihn an. Ich starre tief in seine grünen Augen. Er starrt zurück. Auf einmal bin ich nicht mehr müde. Ich bin eher wach. Nervös davor, was jetzt passieren wird. Ob er einfach weitergehen wird oder ob er umdrehen und weggehen wird. Aber das glaube ich gerade nicht. So sieht sein Blick nicht aus, sein Blick ist ganz anders. Nicht so wie im Fernsehen. Nicht so wie früher. Weicher. Zögerlich. Verletzlich.
Ich habe hundertmal überlegt, was ich ihm sagen würde, falls wir uns je wieder gegenüberstehen. In meinen Gedanken war ich vorbereitet. Hart. Stark. Vielleicht auch gleichgültig.
Ich habe über alles nachgedacht, was ich ihm sagen wollte. Wie sehr ich ihn vermisst habe. Wie sauer ich bin, dass er nicht mit mir geredet hat. Wie traurig ich war, als er einfach abgehauen ist. Wie gerne ich mit ihm darüber geredet hätte und wie wir das alles zusammen geschafft hätten, wenn er nicht gegangen wäre. Ich hätte ihn gefragt, warum er gegangen ist, wieso er sich nicht gemeldet hat und was diese Nacht für ihn bedeutet. Ich habe mir so viele Gedanken gemacht, ich habe dieses Gespräch so oft in meinem Kopf geführt.
Aber jetzt ist nur Stille. Ich kriege kein Wort raus. Ich stehe nur da wie eingefroren.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Dann noch einen. Langsam. Vorsichtig. Ich bleibe stehen, als wären zwei Schritte das einzige, was ich mir zutraue. Und so fühlt es sich auch an. Als wäre da eine unsichtbare Mauer und ich kann nicht näher an Kai herangehen.
Meine Stimme klingt fremd, als ich sage, »Ich habe dich vermisst, jeden Tag.«
Meine Stimme bleibt neutral, nicht wertend. Es ist kein Vorwurf. Es ist einfach die Wahrheit. Und das einzige, was ich in diesem Moment sagen kann.
Kai nickt kaum merklich. Er sagt, »Ich dich auch, es tut mir leid.«
Und dann ist da nichts mehr. Keine großen Gesten. Kein Versprechen. Kein Streit. Kein Anschreien. Keine Worte mehr. Nur der Blick zwischen uns. Und das ist das, was bleibt. Ich sehe ihm an, dass er es ernst meint. Da ist diese Traurigkeit in seinen Augen, die ich noch nie bei ihm gesehen habe.
Ich sehe, wie er leicht zittert beim Atmen und er spielt an seinen Fingernägeln rum. Er ist nervös, offensichtlich. Ich bin es auch. Meine Knochen fühlen sich weich an. Ich atme zitternd ein. Spüre, wie etwas in mir nachgibt. Nicht zerbricht, sondern eher loslässt.
Vielleicht reicht das nicht für eine Lösung. Dazu ist zu wenig gesagt zwischen uns. Aber vielleicht reicht es für einen Anfang. Ein Neuanfang für Kai und mich. Oder wenigstens für einen Moment, in dem wir beide wissen, dass wir uns gesehen haben. Wirklich gesehen. Das wir etwas gesagt haben. Und dass das vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung ist, für alles, was zwischen uns falsch gelaufen ist.
Kai hebt leicht den Kopf, als wollte er noch etwas sagen. Tut es aber nicht. Ich auch nicht. Und es ist okay. Für diesen Moment ist es okay. Wir stehen einfach da. Zwei Zimmer voneinander entfernt. Und alles, was zwischen uns war, wird plötzlich in einem stillen Blick gesagt.
Dann dreht er sich um. Und ich tue es auch. Wir machen es gleichzeitig, aber es fühlt sich wie ein Ende an. Ein Ende von allem, was damals zwischen uns passiert ist.
Aber es fühlt sich auch an wie ein Anfang. Wie, als wäre der erste winzig kleine Schritt getan.
Der erste Schritt für einen Neuanfang.
Chapter 24: What happened?
Chapter Text
POV Julian
Die Musik ist gedämpft, Stimmen vermischen sich mit dem leisen Klirren von Gläsern. Die Hotelbar ist voll. Es ist nicht zu laut, aber lebendig. Irgendwo lacht jemand, zu schrill für die Uhrzeit.
Ich weiß nicht, wieso ich überhaupt hierher gekommen bin. Ich hätte auch einfach nach Hause gehen können, schließlich wohne ich in Dortmund, aber irgendwie bin ich hier gelandet. In der Hotelbar. Es ist nur eine kleine Party, um unseren Sieg zu feiern, aber es ist laut genug, dass wir auch in einem Club sein könnten.
Ich lehne am Tresen der Bar. Das Glas in meiner Hand ist halbvoll. Gin Tonic, mein zweiter, vielleicht mein dritter, ich weiß es nicht mehr. Ich habe immer ein Glas genommen, wenn jemand aus dem Team mit mir anstoßen wollte, aber ich spüre ihn kaum. Nicht den Alkohol, nicht den Abend, sondern nur das Drücken hinter meiner Stirn und die Erinnerung an die Begegnung mit Kai vorhin.
Und dann sehe ich ihn.
Kai.
Er steht auf der anderen Seite der Bar. Schwarzes Hemd, hochgekrempelte Ärmel und seine Haare leicht durcheinander. Er wirkt irgendwie fehl am Platz. Er sieht mich. Und ich ihn.
Unsere Blicke treffen sich. Wieder. Und es fühlt sich wieder an, als würde die Welt stehen bleiben. Kein Lächeln. Kein Nicken. Nur dieses kurze Innehalten, als wäre alles lauter geworden. Oder ganz still.
Er kommt zu mir rüber. Langsam. Ich drehe mich nicht weg.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass er auf mich zukommt, aber ich habe auch kein Problem damit. Irgendwie bin ich sogar etwas erleichtert darüber.
»Hey.«, sagt er. Seine Stimme ist sanft, aber ich merke trotzdem eine gewisse Anspannung in seinem Ton.
»Hey.«, ich schenke ihm ein kleines Lächeln. Ein einfaches Wort. Und trotzdem löst es etwas in mir aus, das ich nicht beschreiben kann. Meine Finger fangen leicht an zu kribbeln, aber vielleicht liegt das auch am Alkohol.
Kai bestellt sich einen Whiskey ohne Eis. Er sieht mich nicht direkt an, schaut eher auf mein Kinn, aber er steht neben mir. Nah genug, dass ich seine Körperwärme spüre und es wärmer um mich herum wird.
Wir trinken schweigend, sehen uns immer wieder an, lächeln und sitzen nebeneinander. Die Worte sind da, aber keiner spricht sie aus. Nicht, weil wir nichts zu sagen hätten, sondern weil alles zu viel ist und vielleicht, weil wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen.
»Wir müssen irgendwann reden«, sage ich nach einer Weile.
Kai nickt langsam und vorsichtig, »Ich weiß.«
Ich warte. Doch mehr kommt nicht. Ich schaue ihn an und sehe, dass er nicht wirklich weiß, wo er anfangen soll. Und ich verstehe es. Ich weiß es auch nicht.
»Wollen wir? Jetzt?«, frage ich, nachdem er schweigend einen Schluck aus seinem Glas trinkt. Er sieht mich zum ersten Mal richtig an. Seine Augen sind müde, aber klar.
»Okay«, er nickt, »Aber irgendwo anders. Irgendwo, wo es ruhiger ist.«
»Dann komm mit«, ich trinke mein Glas mit einem Schluck aus, stehe von dem Barhocker auf, nehme meine Jacke und halte ihm die Hand hin. Er schaut mich für einen Moment zögerlich an, doch dann nimmt er vorsichtig meine Hand. Er legt ein bisschen Trinkgeld auf den Tresen und geht mit mir mit.
»Wo gehen wir hin?«, fragt er nach, als ich ihn durch die Hoteltür nach außen führe. Seine Hand noch immer in meiner. Er hat sie nie losgelassen und ich habe es auch nicht getan. Es fühlt sich gut an, so, wie es ist.
»Zu mir nach Hause«, sage ich knapp, als wäre es logisch. Er nickt nur knapp. Ich winke das nächste Taxi her, das in der Nähe des Hotels steht und steige ein. Ich nenne der Taxifahrerin meine Adresse und wir fahren los. Der Weg zu meiner Wohnung ist ruhig. Kein Gespräch, kein Radio ist an. Nur die Nähe zwischen uns, das leise Atmen und das Schweigen, das nicht unangenehm ist. Außen ist es ein bisschen zu kalt und vielleicht ist es auch schon ein bisschen zu spät für ernste Gespräche, aber irgendwie ist es auch genau richtig.
Als wir angekommen sind, öffne ich die Tür, lasse ihn zuerst rein und schließe hinter uns die Tür. Drinnen ist es dunkel. Ich mache das Licht nur gedimmt an. Kai zieht die Schuhe aus, wortlos. Ich tue es ihm gleich und gehe ins Schlafzimmer. Ich weiß nicht, wieso genau dorthin, aber ich denke auch nicht darüber nach, sondern mache es einfach. Hinter mir lasse ich die Tür offen. Er folgt mir schweigend.
Wir setzen uns auf das Ende des Bettes und lassen uns nach hinten fallen. Es ist nicht wie früher. Nicht wie in dieser einen Nacht. Wir halten Abstand voneinander. Unsere Schultern berühren sich kaum, aber unsere Finger finden sich schnell, fast wie von allein. Sie berühren sich nur ganz leicht, aber genau das reicht, um alles aufzuwühlen, was in dieser Nacht passiert ist. Wir liegen einen Moment lang nebeneinander.
Dann spreche ich zuerst, »Ich dachte, du hasst mich.«
Kai lacht leise. Kein echtes Lachen. Mehr ein Laut, um nicht zu weinen, »Ich könnte dich nie hassen. Ich dachte, ich verliere mich, wenn ich bleibe. Und dann habe ich dich verloren.«
Ich schließe kurz die Augen, überlege, was ich als nächstes sagen soll, »Ich habe so oft an diese Nacht gedacht.«
Er dreht sich leicht zu mir, ich sehe seine hellen Augen, die mich genau beobachten, in der Dunkelheit und unsere Hände bleiben verbunden. Seine Stimme ist rauer und leiser, »Ich auch. Ich habe sie hundert Mal in meinem Kopf durchgespielt. habe versucht herauszufinden, was genau falsch lief, aber ich habe nichts gefunden, weil es nicht falsch war. Ich hatte nur Panik.«
»Warum?«, frage ich ehrlich interessiert nach. Ich drehe mich auf die Seite, um ihn besser anzusehen.
Er atmet tief ein, schaut an die Decke, »Weil es sich gut angefühlt hat. Zu gut. Und das war das Problem. Ich hatte das Gefühl, wenn ich bleibe, zerbricht mich das alles. Also habe ich alles zerbrechen lassen, bevor du es hättest tun können oder bevor es irgendjemand anderes hätte tun können«
»Ich hätte es nicht zerbrochen.«, ich drücke seine Hand leicht.
»Ich weiß das jetzt. Aber damals…ich habe mir eingeredet, dass das alles falsch ist, dass es eklig ist. Und dass du es bereuen wirst, sobald du aufwachst. Ich hätte das nicht ertragen können.«
Ich spüre einen Stich in meinem Herzen bei Kais Worten, »Ich dachte, ich bin dir egal und du bereust alles. Du warst einfach weg, hast nicht einmal etwas gesagt. Und ich war allein mit allem. Und ich war so überfordert damit.«
Kai presst die Lippen zusammen. »Du warst mir nie egal. Nie. Ich habe es nur nicht ausgehalten, dich zu sehen und zu denken, du wirst es bereuen, du wirst angeekelt von mir sein und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Also habe ich es selbst gemacht.«
Ein Moment vergeht. Es ist still, niemand sagt etwas. Da ist nur unser Atem. Und unsere Hände, die sich jetzt fester halten, als würden wir uns sonst verlieren.
»Ich habe dir so oft geschrieben, dich angerufen, aber du hast mir nie geantwortet. Ich dachte, du fandest diese Nacht so schlimm und willst nichts mehr mit mir zu tun haben, aber ich konnte es nicht vergessen. Immer, wenn ich schlafen gehen wollte, haben sich alle Erinnerungen vor meinen Augen abgespielt. Ich habe viel zu viel trainiert, weil ich nur so alles vergessen konnte. So lange, bis ich im Spiel zusammengebrochen bin«, erzähle ich ihm auf einmal alles, was mich in den letzten Monaten belastet hat.
»Es tut mir leid«, sagt er schließlich. Ich höre in seiner Stimme, dass er es wirklich so meint. Sie ist sanft und weich, aber trotzdem völlig ehrlich, »Ich wollte das alles nicht. Ich hatte so viel Angst«
Ich nicke nur. Ich weiß nicht, ob er es sieht, aber es ist okay so. Alles, was ich jetzt sagen könnte, wäre falsch. Ihm zu verzeihen, wäre einfach nicht richtig. Noch nicht. Dafür ist zu viel passiert. Aber ich höre ihn. Und ich glaube ihm, dass er es ernst meint.
Wir schweigen einen Moment, aber es ist okay. Die Stimmung ist nicht angespannt. Sie ist einfach nur ruhig.
»Diese Nacht...«, fängt Kai schließlich wieder an zu sprechen, »Sie war nicht perfekt, aber sie war echt und das hat mir Angst gemacht. Dass ich was gefühlt habe, hat mir Angst gemacht, weil ich nicht mehr vor mir selbst weglaufen konnte, wie ich es die letzten Jahre gemacht habe. Weil ich in dieser Nacht gemerkt habe, dass ich meine Gefühle nicht mehr abstreiten konnte, aber ich konnte das zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptieren.«
Ich nicke, weil ich es verstehe. Weil ich ihn verstehe. Ich denke an sein Gesicht in meinem Flur. An all die Nächte, in denen ich gehofft habe, dass er sich meldet. Daran, dass ich trotz allem nie aufgehört habe, auf ihn zu warten.
»Diese Nacht hat mir so viel bedeutet«, sage ich, weil es stimmt.
»Mir auch«, stimmt Kai zu, »Ich hoffe, du kannst mir das irgendwann verzeihen und wir können weiterleben. Auch wenn ich weiß, dass es noch dauert. Ich werde alles versuchen, das zwischen uns wieder zu reparieren. Ich hoffe, dass das zwischen uns je wieder normal sein kann.«
»War es je normal?«, frage ich nach, weil ich selbst daran am Zweifeln bin, ob das zwischen uns jemals nur Freundschaft war.
Er sagt nichts. Aber seine Finger halten meine fester. Und ich glaube, das ist seine Antwort. Er wird an mir festhalten und er bleibt dieses Mal. Zumindest versuche ich das zu glauben.
Ich weiß nicht, was morgen ist, aber gerade ist er hier. Ich bin es auch und genau so ist es gut.
Chapter 25: Mornings
Chapter Text
POV Julian
Das erste, was ich höre, als ich aufwache, ist Kais Atem. Ruhig und gleichmäßig. Wir sind wohl irgendwann nebeneinander eingeschlafen. Diesmal ist da kein Verschwinden. Er ist hier geblieben. Ich spüre ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen, als ich das realisiere. Ein bisschen Angst hatte ich schon, dass Kai wieder verschwinden würde.
Ich öffne die Augen. Einige Sonnenstrahlen scheinen durch die Vorhänge und erhellen den Raum. Ich drehe den Kopf zur Seite, da ist er. Kai liegt neben mir. Er hat sich leicht auf die Seite zu mir gedreht, einen Arm unter dem Kopf und sein Gesicht halb im Kissen vergraben. Seine Augen sind geschlossen, seine dunklen Haare verwuschelt und die Decke bis zu seinen Schultern hochgezogen. Er sieht so ruhig und friedlich aus, wie er dort liegt und schläft.
Ich starre ihn viel zu lang an, aber ich kann nicht anders. Vielleicht, weil ich letztes Mal aufgewacht bin und er einfach nicht mehr da war. Vielleicht, weil er in diesem Moment einfach so süß aussieht oder vielleicht einfach nur, weil ich diesen Moment brauche. Weil es sich einfach richtig anfühlt.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier einfach nur liege und ihn ansehe. Er öffnet langsam die Augen. Blinzelt. Er sieht mich mit verschlafenen Augen an und schenkt mir ein kleines Lächeln.
»Morgen«, murmelt er. Die Stimme ist rau vom Schlaf, aber weich.
Ich nicke mit einem Lächeln, »Morgen.«
Er setzt sich ein Stück auf, stützt seinen Kopf mit seinem Arm ab und lässt seinen Blick über mich gleiten, bis seine Augen an meinem Arm hängen bleiben.
»Du hast es noch.«, stellt er fest und nickt in Richtung meines Armes.
Ich folge seinem Blick. Das Armband. Kais Armband. Das er nach der Nacht bei mir vergessen hat. Schwarz und schlicht. Ich habe es immer behalten. Ich konnte es nicht wegwerfen, es war das einzige, was ich von Kai noch hatte. Also habe ich es getragen. Jeden Tag.
»Ja«, sage ich nur.
Kai sagt daraufhin nichts, aber seine Lippen bewegen sich leicht nach oben, zu einem Lächeln. Er sagt kein Wort, aber ich weiß, dass er glücklich darüber ist.
Ich setze mich langsam auf, richte mir die Haare und schaue wieder zu Kai, »Ich mach uns Kaffee.«
»Ich bleib liegen.«, er lässt sich mit einem Seufzen wieder auf das Kissen fallen.
»Feigling.«, gebe ich zurück.
»Sei mal ein besserer Gastgeber.«, er grinst mich mit einem Lächeln an.
Ich lache leise, stehe auf und gehe in die Küche. Das Licht dort ist heller. Jascha sitzt am Küchentisch, schreibt schon wieder etwas in sein Notizbuch. Ich weiß nicht, was genau er damit macht, aber in letzter Zeit sehe ich ihn fast nur noch mit diesem dämlichen Buch.
»Guten Morgen«, begrüße ich ihn mit einem breiten Grinsen.
»Seit wann bist du so fröhlich am Morgen?«, fragt er, irritiert, »So gut war euer Spiel nun auch wieder nicht «
»Kann ich nicht einfach einmal glücklich sein?«, gebe ich etwas patzig zurück.
»Ich frag doch nur«, er hebt verteidigend seine Hände hoch.
Ich gehe an ihm vorbei zur Küchenzeile, stelle die Kaffeemaschine an und greife nach der Pfanne, Mehl, Eiern. Ich vermische alles zu einem Teig. Ich weiß nicht, warum, aber mein Körper bewegt sich, als hätte ich das schon hundert Mal gemacht. Eigentlich habe ich das noch nie gemacht. Kochen gehört eigentlich nicht zu meinen Stärken. Aber für Kai mache ich das gerne.
Er kommt zehn Minuten später in die Küche. Barfuß, zerzaustes Haar und immer noch das Shirt von gestern an.
Jascha schaut ihn etwas irritiert an, aber sagt dann nur 'Guten Morgen', als wäre es normal, dass Kai hier ist und ich bin froh, dass er keine Fragen stellt.
Kai setzt sich auf einen der Stühle neben Jascha und schaut mir zu, »Du machst ernsthaft Pfannkuchen?«
»Was anderes gibt es nicht zu essen.«, zucke ich mit den Schultern.
»Und was, wenn ich allergisch bin?«, fragt er.
»Bist du nicht«, sage ich, halte dann aber einen Moment inne und drehe mich zu ihm. »Oder?«
»Nein. Aber was, wenn ich es wäre?«, er zieht die Augenbrauen hoch.
»Dann würdest du mit Stil sterben.«, ich zucke mit den Schultern, drehe mich wieder zum Herd um und mache den ersten Pfannkuchen.
Er lacht. Ein richtiges, echtes Lachen. Ich will diesen Moment einfach nur festhalten.
Sobald die Pfannkuchen fertig sind, stelle ich den Teller in die Mitte des Tisches und setze mich gegenüber von Kai hin. Er streicht etwas Nutella auf den Pfannkuchen, rollt ihn zusammen und beißt ab.
»Zu salzig.«, kommentiert er.
Ich starre ihn an, »Du bist zu salzig.«
Er lacht wieder, »Ich ess trotzdem weiter.«
Wir frühstücken. Ohne Eile. Ohne Plan. Wir genießen einfach die Zeit zu zweit. Und mit Jascha, der neben uns sitzt und uns genau beobachtet. Ein bisschen gruselig, aber ich sage nichts. Sonst müsste ich mich noch erklären und das will ich gerade noch weniger tun. Ich gieße Kaffee in zwei Tassen, Kai verteilt Nutella auf seinen Pfannkuchen wie ein Kind. Und irgendwann sagt er diesen Satz, »Weißt du, was ich vermisst habe?«
Ich blicke von meinem Teller auf, »Was?«
Er sieht mich mit einem kleinen Lächeln an, »Diese Normalität.«
Ich nicke nur leicht. Danach sagt eine Weile keiner von uns mehr etwas, bis er mir seine Tasse entgegen schiebt, »Mehr Kaffee, bitte.«
»Wer bin ich? Dein Barista?«, frage ich mit großen Augen.
»Mein Gastgeber.«, zwinkert er mir zu.
»Ich schmeiß dich gleich raus.«, ich verdrehe meine Augen, nehme aber trotzdem seine Tasse und mache ihm einen weiteren Kaffee.
»Du hast mich nicht mal reingebeten.«, kontert er weiter.
Ich schnaube und schüttle gespielt enttäuscht meinen Kopf, »Typisch. Erst ins Haus schleichen und dann auch noch die gute Milch wegtrinken.«
»Das ist Mandelmilch.«
»Eben.«
Wir grinsen beide. Und irgendwas in mir lockert sich.
Wir reden über unwichtige Dinge. Seine WG in London. Mein letztes Spiel. Das Wetter. Jascha sitzt neben uns und schaut immer wieder schockiert und verwirrt zwischen mir und Kai hin und her, aber ich ignoriere es. In diesem Moment ist mir alles um mich herum egal. Es gibt nur Kai und mich. Jetzt in diesem Moment. Nicht das, was früher passiert ist. Nicht das, was in der Zukunft passieren wird. Sondern einfach nur diesen einen Moment, in dem alles gut ist.
Noch ist nichts entschieden. Aber diesmal ist da ein Anfang.
Ein leiser Anfang von etwas Neuem.
POV Jascha
Eigentlich habe ich mich nur in die Küche gesetzt, um dem Chaos in meinem Zimmer zu entkommen. Die ganze Recherche zu meinen Theorien hat zu einem ziemlichen Chaos geführt. Alle möglichen Zeitungsartikel und Notizen liegen auf dem Boden. Schnüre liegen am Boden, um verschiedene Notizen miteinander zu verbinden. Also habe ich mein Notizbuch genommen, bin in die Küche gegangen und habe dort begonnen, weiterzuarbeiten.
Denn seit ich gestern Abend ins Bad gehen wollte, an Jules Schlafzimmertür vorbeigegangen bin und gehört habe, wie er mit einer Person - nach einem Moment habe ich gemerkt, dass es Kai ist - musste ich diese Aussagen direkt in meine Recherche aufnehmen.
Besonders, da sich nun Theorie 1, die Entführung und Theorie 4, das Zeugenschutzprogramm, als unwahrscheinlich rausgestellt haben und ich nun meine Recherche auf die anderen Theorien fokussieren werde, weil Kai wieder da ist, bin ich in die Küche gegangen. Denn so muss ich das Chaos in meinem Zimmer nicht aufräumen, sondern kann die wichtigen Daten mitnehmen und mit diesen arbeiten.
Die Informationen, die auf einen Mord hindeuten, haben sich verdichtet. Denn was ich gestern zufällig gehört habe, klingt eindeutig auffällig. Ich lese mir noch einmal die Notizen von dem kurzen Gespräch zwischen Kai und Jule durch.
Kai: Ich hoffe, dass das zwischen uns je wieder normal sein kann
Jule: War es denn je normal?
Wenn die beiden wirklich jemanden umgebracht haben, dann kann ich verstehen, dass Kai auf Normalität hofft. Vielleicht darauf, dass sie diesen Mord oder die schwere Körperverletzung irgendwann vergessen können. Verständlich. Vielleicht steht das zwischen ihnen, weswegen sie ihre Freundschaft nicht mehr normal fortführen können.
Ich versuche, weiter nach Verbindungen zu suchen, als Jule plötzlich den Raum betritt und anfängt zu kochen. Kurz danach kommt auch Kai in die Küche. Ich beobachte die beiden, in der Hoffnung, dass ich weitere Informationen bekomme.
Die Stimmung zwischen den beiden ist komisch. Jule kocht Pfannkuchen, sie essen - und bieten mir nicht einmal etwas an - trinken Kaffee, reden und lachen. Aber die Stimmung ist irgendwie komisch. Nicht so, wie früher, sondern irgendwie anders und ich kann es nicht deuten.
Ich bin zu sehr in meinen Gedanken versunken, am Überlegen, was genau zwischen den beiden passiert ist, deswegen habe ich den Anfang des Gesprächs verpasst, aber als ich wieder zuhöre, wird es ganz schnell komisch.
»Also wenn du es richtig machst, merkt er es nicht mal«, sagt Jule gerade, grinst, rührt in seinem Kaffee. Einen Mord vertuschen vielleicht? Oder Spuren für eine Beteiligung an der Schlägerei mit lebensbedrohlichen Verletzungen vertuschen? Würde Sinn machen.
Kai hebt eine Augenbraue, »Na klar. Und du bist jetzt Experte, oder was?«
»Sag ich ja nicht. Nur hypothetisch.«, Jule beißt in seinen Pfannkuchen und spricht mit vollem Mund weiter, »Wenn ich das machen müsste, würde ich wahrscheinlich mit etwas Mildem anfangen. Schlafmittel oder so. Nicht gleich so starke Mittel.«
Ich verschlucke mich an meinem Orangensaft. Wollen sie etwa jemanden ausschalten? Bewusstlos machen? Was?
Kai grinst zurück, leicht schief. Diese Art Grinsen, bei der man nicht weiß, ob gleich ein Witz kommt oder ein Geständnis. Es ist ein unberechenbares Grinsen, »Du klingst wie jemand, der es schon ausprobiert hat.«
Jule zuckt die Schultern, »Wer weiß.«
Ich weiß es. Wenn es wirklich darum geht, wie man jemanden am besten mit Schlafmittel zu betäuben, dann würde das perfekt passen. Schließlich habe ich neulich das Schlafmittel in seinem Badezimmer gefunden. Dass er schon einmal Schlafmittel zum Ruhigstellen von sich selbst genommen hat, will er einfach nicht zugeben - verständlich.
Stille.
Nur für eine Sekunde. Aber das war die lauteste Sekunde meines Lebens.
Ich wende mich wieder meinem Notizbuch zu und ergänze meine Informationen.
Theorie Nr. 3: Mord
– auffällig leere Packung Schlafmittel in Jules Bad --> Gefühlsbetäubung zur Verdrängung an die Mordnacht
– Kai ist abgehauen, um keine Verbindung zwischen den beiden herzustellen, falls einer auffliegt
– Kurz vor dem Kontaktabbruch: Schlägerei, ein Opfer mit lebensbedrohlichen Verletzungen bei einer Person. Daten der Schlägerei und Beschreibung der Täter passen auffällig gut zu Kai und Julians Fall
– Gespräche über Betäubung mit Hilfe von Schlafmitteln --> Betäubung der anderen beteiligten der Schlägerei, um eigene Beteiligung zu vertuschen
Kai lehnt sich zurück, grinst, »Und du wunderst dich, warum Leute dich für unheimlich halten.«
Julian trinkt seelenruhig seinen Kaffee, »Ich wunder mich über gar nichts mehr.«
Ich ergänze einen Punkt auf der Liste.
- das Opfer lebt, aber es weiß zu viel, deswegen wollen sie es betäuben, um ihre Beteiligung zu vertuschen
Ich sehe zu den beiden rüber. Kai beugt sich gerade zu Julian, sagt was, das ich nicht höre. Julian schüttelt den Kopf und lacht leise.
Die beiden verhalten sich komisch. Zu komisch.
Ich trinke meinen Orangensaft aus. Langsam.
Ich bin nah dran, die Wahrheit zu erfahren, ich brauche nur noch weitere Beweise.
Und ich muss die anderen Theorien ausschließen.
Dann weiß ich, was wirklich passiert ist.
Chapter 26: When You Are Worlds Away
Chapter Text
ein paar Tage später/POV Kai
Ich sitze auf meinem Bett, Laptop auf den Knien, ein Teller mit meinem Frühstück neben mir und mein Smartphone in meinen Händen. Julian hat vor zwanzig Minuten geschrieben. Ein Foto von ihm und Marco beim Training, die Haare nass, ich weiß nicht, ob vom Regen oder weil sie beim Training geschwitzt haben. Sie grinsen beide breit und Julians Wangen sind leicht gerötet.
Ich lächle, zoome etwas an ihn ran. Er sieht so gut aus, einige Haarsträhnen kleben auf seiner Stirn. Seine Augen strahlen und er sieht glücklich aus. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber er sieht so viel glücklicher aus, als in den letzten Wochen, als ich seine Spiele im Fernseher angeschaut habe.
Nach einem Moment schicke ich ihm ein Foto zurück. Ich grinse schief, halte meinen Teller mit Pfannkuchen in die Kamera und drücke ab. Darunter schreibe ich einen kurzen Satz, 'Nicht so salzig wie deine.'
Ich lege mein Handy wieder neben mich, schalte eine Serie auf dem Laptop an und esse nebenbei meine Pfannkuchen.
Nach einer kurzen Weile leuchtet mein Handy-Display auf. Eine neue Nachricht von Jule. Ich öffne sie direkt: 'Das ist gelogen. Die sehen aus wie architektonisch unsichere Gebilde.'
Ich tippe wieder, 'Du bist so ein Arsch.'
Dann lasse ich das Handy sinken. Ich vermisse ihn. Schon wieder.
Ich lege meinen Laptop auf die Seite und beginne, meine Pfannkuchen zu essen. Sie sind schon ziemlich kalt geworden, aber das ist mir egal. Auch wenn ich es nie zugeben würde, waren Julians Pfannkuchen viel besser als die, die ich gerade gemacht habe. Ich starre aus dem Fenster und wünsche mich zurück. Nicht ins Bett. Nicht zu dieser einen Nacht.
Nach Dortmund. Zu Julian. Einfach wieder da sein, wo alles heller war. Wo er war. Wo es sich für einen Moment angefühlt hat, als wäre alles wieder normal. Wir haben uns zwar nur einen Tag gesehen, weil ich danach zum Sender nach Köln gefahren bin für die Vorbereitungen für die nächsten Spiele, aber trotzdem waren die wenigen Momente mit Jule einfach so viel. Ich will ihn wieder haben.
Ich greife zu meinem Handy und scrolle durch unsere letzten Nachrichten. Ein Meme von ihm, ein kurzes 'Wie geht's dir?' , mein 'gut, aber nicht so wie mit dir' . Dann so ein orange Herz-Emoji. Warum ich den benutzt habe, weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil das rote zu viel ist, zu real, aber kein Emoji fühlt sich genug an, wenn es um ihn geht.
Nach dem Essen ziehe ich meine Schuhe an und gehe nach draußen. Köln ist laut. Es riecht nach U-Bahn, nach nassen Straßen, nach Coffee-to-go und trotzdem fühlt sich alles ein bisschen gedämpft an. Nicht, weil es mir schlecht geht, sondern weil ich es nach diesem Tag mit Jule irgendwie schon gewohnt war, wie es ist, wenn es mir besser geht.
Ich laufe durch die Innenstadt mit Kopfhörern in den Ohren, aber Musik läuft keine. Und es ist gut so. Ich mag es so. Die Kopfhörer unterdrücken die lauten Geräusche der Stadt, ohne sie komplett auszublenden.
Ich gehe in eines dieser Cafés, in denen man in Ruhe arbeiten kann. Ich habe ein Meeting mit Mara und einem Redakteur. Zuerst Feedback zur letzten Sendung und danach Vorbereitung für die nächsten Spiele. Schließlich ist das erste schon in einer Woche und ich freue mich darauf. Mir hat diese erste Sendung Spaß gemacht. Ehrlich. Sogar richtig, aber trotzdem wäre ich gerade lieber bei ihm als hier in diesem Café. Oder eher als hier in Köln.
Ich setze mich an einen Tisch, bestelle mir einen Latte Macchiato, öffne meinen Laptop und gehe in das Meeting.
»Kai, du bist wirklich gut angekommen. Besonders deine Interviews mit den Spielern waren super. Du hast eine starke Präsenz, das feiern die Leute.«, lobt mich der Redakteur.
»Danke«, lächle ich nickend. Das Lob tut wirklich gut. Trotzdem hat mir das, was Jule mir heute morgen gesagt hat, mehr bedeutet.
‘Ich habe einen Zusammenschnitt von deiner Sendung gesehen. Du redest beim Kommentieren genau wie morgens beim Kaffee. Selbst wenn du etwas kritisierst, klingt es irgendwie charmant.’
Ich habe gelacht, als ich seine Nachricht gelesen habe und ihm gesagt, dass er spinnt. Und jetzt? Jetzt vermisse ich genau das. Ich vermisse, dass er da ist. Nicht, dass ich nichts von ihm höre. Denn wir schreiben. Andauernd. Sprachnachrichten, Bilder, dumme Witze. Wir telefonieren. Jeden Abend. Ich sehe sein Gesicht am Bildschirm, höre ihn lachen, höre, wie er manchmal mitten im Satz aufhört zu reden, weil er weiß, dass ich gerade denke, was er denkt.
Aber ich will mehr. Ich will nicht das Handy. Ich will bei ihm sein. Sein leises Atmen neben mir. Seine nackten Füße auf dem Sofa. Ich will das alles wieder.
Wir gehen das Feedback von den Medien durch und dann besprechen wir die wichtigsten Infos für das nächste Spiel. Ich funktioniere. Ich bin professionell. Es macht Spaß und ich liebe es, weil ich wieder etwas mit Fußball mache. Und es stört mich auch gar nicht, dass ich nicht spiele, ich finde es einfach toll, wieder etwas mit Fußball machen zu können und meine Meinungen teilen zu können, aber sobald das Meeting zu Ende ist, sind meine Gedanken wieder bei ihm. Ich will wieder bei ihm sein. Wieder mit ihm frühstücken. Mit ihm in der Küche stehen. Mit ihm spazieren gehen und mich nicht direkt wieder von ihm verabschieden müssen.
Nach dem Meeting gehe ich wieder in mein Hotel. Auf dem Weg habe ich mir eine Bowl gekauft, damit ich etwas zu essen habe. Ich setze mich auf das Bett, beginne zu essen, hole nebenbei mein Handy aus der Hosentasche und sehe eine neue Nachricht von Jule:
'Training war heute nervig. Und ich habe eine Doku gefunden, die dich safe triggert. Die Typen vergleichen Tennis mit Fußball. Wollen wir später schauen, per Call?'
Ich verdrehe kurz meine Augen und schreibe dann zurück:
'Wenn sie Fußball mit Tennis vergleichen, verdient keiner von denen Rechte. Bin 21 Uhr da.'
Dann ergänze ich noch, 'Ich wäre lieber auf deinem Sofa.'
Aber ich schicke es nicht ab. Ich lösche die Nachricht wieder, weil es mir dann doch unangenehm ist. Weil es sich irgendwie falsch anfühlt. Scheiße, seit wann interessiert mich das? Sonst habe ich doch auch nie darüber nachgedacht, was ich ihm schreibe. Weil ich ihm eigentlich alles sage, schließlich ist es nur Julian.
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Am Abend telefoniere ich mit Jule. Er liegt in seinem Bett und ich höre, wie er die Decke zurechtrückt, wie sein Atem durch die Freisprechanlage rauscht. Ich sitze auf dem Boden in meinem Zimmer mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Nur das Handy leuchtet.
»Ich glaube, ich war nicht fair zu dir«, sage ich leise. Einfach so. Die Worte hängen im Raum wie Nebel, schwer, vorsichtig.
Julian schweigt. Lange genug, dass ich denke, er hätte aufgelegt. Nur seine leisen Atemzüge sagen mir, dass er noch hier ist. Dann spricht er doch wieder, »Nein. Warst du nicht.«
Das zu hören tut weh. Aber ich nicke trotzdem, weil ich weiß, dass es stimmt, »Ich hatte Angst, dass du es bereust«, erkläre ich, »Ich dachte, wenn du wach wirst und siehst, wer ich bin, siehst du mich anders an. Ich wollte nicht, dass du mich siehst wie jemand, der falsch ist.«
Wieder Stille. Dann sagt Julian, »Du bist nicht falsch, aber du hast dich so verhalten, als wärst du es und das hat mir wehgetan.«
Ich schließe die Augen, »Ich weiß. Ich hatte das Gefühl, ich bin nur sicher, solange ich dich nicht zu nah ranlasse. Dass du sonst erkennst, was mit mir nicht stimmt. Ich dachte, ich bin falsch. Ich dachte, das ist nicht normal.«
»Das war dein Bild, Kai. Nicht meins.«, sagt er ehrlich und ich weiß, dass er Recht hat.
»Ich weiß«, flüstere ich.
Julian atmet leise aus. Ich höre, wie er sich im Bett umdreht. Er wartet darauf, dass ich weiter rede.
»Ich habe meine Karriere beendet«, sage ich dann, »weil ich wusste, wenn rauskommt, wie ich wirklich bin, ist sie vorbei. Ich wollte gehen, bevor mir alles genommen wird, weil ich es selbst nicht ausgehalten habe, so zu sein.«
Es dauert, bis er antwortet, dann, »Ich verstehe das. Irgendwie, aber das macht es nicht gut. Ich kann verstehen, wieso du so gefühlt hast, aber das macht es nicht rückgängig.«
Ich nicke. Obwohl er es nicht sehen kann.
»Ich bin nicht bereit, so zu tun, als wäre alles vergessen«, sagt er ruhig, aber bestimmt, »Weil ich das nicht kann. Du hast mich einfach zurückgelassen. Ohne Erklärung. Ohne ein Wort. Ich kann nicht einfach so tun, als wäre das nie passiert.«
Ich beiße mir auf die Lippe, »Ich war feige. Ich dachte, wenn ich verschwinde, bevor du mich wirklich siehst, habe ich wenigstens die Kontrolle. Dann könnte ich noch versuchen, normal zu sein.«
»Du bist normal, Kai.«, sagt er, seine Stimme ernst.
»Ich weiß, es tut mir leid.«, meine Stimme ist leise.
Wieder herrscht Stille zwischen uns. Dann höre ich, wie Julian leise auflacht. Nicht aus Spaß. Mehr wie ein bitteres Schulterzucken, »Als ich im Krankenhaus war, habe ich mich so einsam gefühlt«, wechselt er das Thema.
Mir wird schlagartig kalt, »Jule«
»Ich konnte mich nicht mal mit Fußball ablenken, weil ich nicht spielen durfte. Deshalb habe ich überhaupt erst mit Jannis geredet. Ich habe ihm alles erzählt. Eigentlich wollte ich das nicht. Ich wollte dich nicht outen, aber ich war an dem Punkt, an dem es nicht mehr ging.«
Ich kann nichts sagen. Nichts, das reichen würde, dass er versteht, wie sehr ich es bereue, »Ich dachte, du wärst in Ordnung. Dass du einfach weg bist, weil es dir nichts bedeutet hat und es dir unangenehm war.«
»Es hat mir alles bedeutet«, sage ich sofort, »Ich habe es nur nicht ausgehalten. Nicht mich. Nicht dich. Nicht das Gefühl, das es ausgelöst hat, weil ich nicht mehr verdrängen konnte, wer ich wirklich bin. Darum bin ich gegangen. Weil ich dachte, dann muss ich nicht so sein. Dann muss ich nicht zugeben, dass ich schwul bin.«
Julian schweigt. Wieder. Und ich spüre, wie schwer diese Stille ist.
»Ich will, dass du bleibst«, sagt er dann, »Aber nicht, weil ich dir verziehen habe, sondern weil ich sehen will, ob du es ernst meinst. Ob du wirklich bei mir bleibst.«
Ich lächle. Traurig. Erleichtert. Alles zugleich.
»Ich will es zeigen«, sag ich, »Ich will, dass du alles weißt. Auch das, was ich selbst jahrelang nicht wissen wollte. Ich will bei dir sein. Immer.«
Und zum ersten Mal glaube ich, dass das reichen könnte. Nicht als Antwort, aber als Anfang.
POV Timo
Kai sieht fertig aus. Nicht schlimm-fertig, nicht körperlich-fertig. Eher wie jemand, der seit Tagen zu viel denkt und zu wenig sagt. Wie so oft in den letzten Monaten. Das Bier in seiner Hand ist kaum angerührt und für Kai ist das ungewöhnlich.
Ich sitze ihm gegenüber, draußen, in einem kleinen Restaurant in einer Nebenstraße von Köln, das ich ausgesucht habe, weil hier keine Fußballfans hocken, die ihn erkennen können. Ich bin nach Köln gefahren, um das Wochenende mit Kai zu verbringen, weil wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben.
Ich nehme einen Schluck und warte, dass Kai etwas erzählt. Ich weiß, dass er was erzählen will. Ich sage jedoch nichts, sondern schaue ihn einfach nur an und warte, bis er anfängt, zu erzählen.
Und nach einem Moment fängt er an zu reden., »Wir haben geredet«, sagt er. »Nach dem Spiel. Auf der Afterparty.«
Ich nicke langsam. Ich muss nicht fragen, wen er meint, und er muss es auch nicht sagen. Ich weiß es genau. Er redet nicht viel. Das tut er nie, wenn es wichtig wird, aber was er sagt, ist ehrlich. Er beschreibt es fast nüchtern, wie sie nebeneinander an der Bar saßen, wie sie kaum geredet haben, aber er trotzdem alles gespürt hat und ich beobachte ihn. Wie er die ganze Zeit nicht auf mich schaut, sondern auf das Glas in seiner Hand. Wie seine Schultern manchmal ganz leicht zucken, wenn er von Julian spricht. Wie er den Namen nicht sagt. Kein einziges Mal. Aber er meint ihn. Immer. Ich merke es an der Art, wie er redet, an seinem Blick und daran, wie er nervös mit seinem Glas in der Hand spielt.
»Dann sind wir zu ihm gegangen«, sagt Kai, und ich will schon die Augen verdrehen, weil sie es nicht einmal geschafft haben, richtig miteinander zu reden, aber er winkt gleich ab, »Nicht so. Wir haben geredet. Über alles. Über damals.«
Ich glaube ihm, weil seine Stimme dabei bricht, obwohl er versucht, sie ruhig zu halten. Er erzählt mir von all den Dingen, vor denen er damals Angst hatte und davon, was er Julian erzählt hat. Ich will was sagen, aber ich lasse ihn erst einmal ausreden. Er redet über den nächsten Tag. Wie sie zusammen gefrühstückt haben. Wie es sich angefühlt hat, als wäre Normalität möglich. Als könnten sie wieder so sein wie früher. Und während ich da sitze, ihm zuhöre, wie er stockend von Pfannkuchen am Morgen erzählt und davon, wie sie in Jules Bett liegen und ihre Finger ineinander verhakt sind, merke ich es plötzlich.
Nicht an dem, was er sagt, sondern wie er es sagt. Wie vorsichtig seine Stimme wird, wenn es um Nähe geht. Wie weich sein Blick wird, wenn er etwas beschreibt, das eigentlich banal klingt, aber für ihn wie ein Film in Zeitlupe war. Wie er kurz lächelt, fast so, als würde er in Gedanken wieder da sein. Und wie dieses Lächeln sofort wieder bricht, weil er merkt: Er ist es nicht.
Ich kenne Kai lange. Ich kenne ihn, wenn er traurig ist, wenn er sich freut, in Interviews, auf dem Platz, in Gesprächen über Dinge, die ihn interessieren, aber ich habe ihn noch nie so über jemanden reden hören. Nicht mal ansatzweise.
Und genau da wird es mir klar. Das ist nicht nur Sehnsucht. Das ist Verliebtsein. Still, unsicher, zaghaft, aber echt. Ich habe es fast schon vermutet, aber jetzt bin ich mir sicher. So redet man nicht über irgendwen. So redet man über den einen, mit dem man sein ganzes Leben verbringen will.
Als er fertig ist, sieht er mich an. Erwartungslos. Er will keine Meinung hören.
»Und jetzt? Wie macht ihr jetzt weiter?«, frage ich deshalb leise.
Er zuckt mit den Schultern, »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn wiedersehen will. So schnell wie möglich.«
»Ihr kriegt das schon hin«, versichere ich ihm. Eigentlich dachte ich mir: Du willst nicht nur ihn wiedersehen. Du willst bleiben. Du willst dich an diesen Menschen lehnen. Und du hast keine Ahnung, wie sehr du es brauchst.
Aber ich werde ihm das nicht direkt sagen. Noch nicht. Aber ich weiß, dass ich da sein werde, wenn er es mir erzählen wird.
POV Jascha
Zwei Punkte von meiner Liste der Theorien gestrichen habe und für zwei andere schon Beweise gesammelt habe - wobei ich nie eine Antwort von Transfermarkt bekommen habe und die Theorie, dass Kai ein Spion ist, deswegen keine so hohe Beweislast mehr hat.
Jetzt ist es an der Zeit, dass ich für meine 5. Theorie - Julian hat Kais Lieblingspulli zerstört und Kai konnte ihm nicht verzeihen - Beweise zu sammeln. Und da bin ich gerade zufällig an einem perfekten Ort gelandet: In Julians Waschraum.
Beim Waschen meiner Wäsche habe ich aus Versehen den Deckel des Waschpulvers hinter die Waschmaschine geworfen. Deswegen musste ich die Waschmaschine ein Stück auf die Seite schieben, um wieder an den Deckel zu kommen.
Und was lag da - ein eingelaufener, blauer Wollpullover. Vielleicht Kais?
Auf jeden Fall ein gutes Beweismittel. Ich habe ihn direkt genommen und mit in mein Zimmer zu den Beweisen geholt. Ich habe zwar noch kein Bild gefunden, auf dem Kai einen solchen Pullover trägt, aber ich werde mich noch weiter auf die Suche machen, um Beweise zu finden.
Jetzt gehe ich zu Julian, schließlich muss ich ihn auch weiter zu dem Thema befragen. Diskret natürlich. Ich klopfe an seiner Tür und trete dann direkt ein. Er liegt auf seinem Bett, das Handy in der Hand, sonst ist es im ganzen Raum dunkel.
»Was gibt's, Jascha?«, er dreht seinen Kopf zu mir.
»Kennst du das Gefühl, wenn du etwas kaputt gemacht hast und weißt, dass du deswegen jemanden verlieren könntest?«, stelle ich direkt meine Frage.
»Was hast du angestellt?«, fragt er, ohne auf meine Frage zu antworten.
»Ich? Nichts«, ich bin überrascht von seiner Gegenfrage, »Ich wollte nur fragen, ob du die Situation kennst.«
»Hää?«, er schaut mich verwirrt an.
»Dann halt nicht«, zucke ich mit den Schultern und verlasse seinen Raum wieder. Er tut so, als würde er von nichts wissen. Das ist Taktik. Natürlich. Jule kennt die Situation genau, aber will es nicht zugeben.
Oder vielleicht hat Kai ihm auch doch verziehen, jetzt, wo er wieder zurück ist?
Chapter 27: Salty Pancakes
Chapter Text
Anfang Mai/POV Julian
Ich öffne die Tür,barfuß und habe noch etwas von der Avocadocreme, die ich gerade mit einem Brot gegessen habe, im Gesicht. Es ist Samstagmorgen, ich rechne mit niemandem. Eigentlich bin ich gerade sowieso dabei, mich auf das Champions-League-Spiel heute Abend vorzubereiten.
Also öffne ich die Tür. Vielleicht habe ich etwas bestellt und es einfach nur vergessen?
Aber nein. Jemand anderes steht vor mir.
Kai.
Er trägt eine schwarze Jacke, eine Tasche über der Schulter und die Haare zerzaust vom Wind. Er sieht so gut aus. Seine Augen leuchten auf, als er mich sieht, und ich erkenne sofort ein Lächeln auf seinen Lippen.
»Was machst du hier?«, sage ich ungläubig. Ich muss sofort lächeln, als ich ihn sehe.
»Hatte Lust auf salzige Pfannkuchen und ein bisschen Chaos zu stiften«, er hebt leicht die Schultern. »Und vielleicht habe ich es auch keine Woche mehr ohne dich ausgehalten.«
Ich brauche zwei Sekunden, dann gehe ich auf ihn zu. Ich schlinge meine Arme um ihn und ziehe ihn nah an mich ran. Er riecht nach Zugluft, nach Kaffee von unterwegs und vor allem nach Kai. Er legt seine Arme um mich, vergräbt sein Gesicht in meiner Schulter und hält mich fest.
Ich spüre, wie mein Herz sofort beginnt, etwas schneller zu schlagen. Es fühlt sich so gut an, ihn hier zu haben, auch wenn es noch keine zwei Wochen her ist, seit ich ihn das letzte Mal in echt gesehen habe. Aber ich habe ihn vermisst. Wirklich.
Das einzige, was mich schließlich dazu bringt, ihn wieder loszulassen, ist die Tür der Nachbarwohnung, die aufgeschlossen wird. Also trete ich einen Schritt zurück und sage zu ihm, »Komm, rein mit dir, bevor ich mich umentscheide.«
Er lacht, »Als könntest du mich hier stehen lassen.«
Wir gehen zusammen in die Wohnung, ich schließe die Tür und irgendwas in meinem Brustkorb beruhigt sich sofort bei dem Gedanken, dass er jetzt bei mir ist.
»Also«, sagt er, nachdem wir in die Küche gegangen sind, er seine Jacke über den Stuhl geworfen und die Tasche in die Ecke gestellt hat, »Ich habe seit 4 Uhr nichts mehr gegessen. Ich bin kurz davor, Nutella pur zu löffeln, hast du nicht vielleicht doch etwas von deinen salzigen Pfannkuchen?«
Ich öffne meinen Schrank, hole ein Glas Nutella raus und halte es ihm hin. Er schaut mich entsetzt an und schüttelt mit seinem Kopf, »Du bist echt wahnsinnig«
Dann habe ich doch Mitleid mit ihm, deshalb öffne ich meine Schränke, hole Mehl, Eier und Zucker heraus und mache mich an die Arbeit. Natürlich mache ich welche. Er steht hinter mir, lehnt sich gegen die Wand, Hände in den Hosentaschen. Es ist still. Kein unangenehmes Schweigen, nur das Knistern von Öl in der Pfanne und der Rhythmus unserer Atemzüge.
»Wie viele willst du?«, frage ich, als ich Teig in die Pfanne gieße.
»Zwei. Drei. Oder fünf.«, überlegt er lauf.
»Also sieben.«, stelle ich fest.
»Du kennst mich zu gut«, murmelt er grinsend.
Ich drehe mich nicht um. Wenn ich ihn jetzt ansehe, fange ich vielleicht an, Fragen zu stellen, auf die ich keine Antworten hören will. Wie lange bleibst du? Wohin musst du danach? Wirst du wieder einfach gehen?
Stattdessen schiebe ich ihm einen Teller hin. Drei Pancakes, das Glas Nutella, hat er immer noch neben sich stehen. Er nimmt den Teller, setzt sich an den Küchentisch und probiert davon.
Dann kommt seine Wertung, »Zu salzig.«, er grinst mich an, »Also perfekt«
Ich schnaube, »Das ist nicht mal möglich.«
»Du kriegst das jedes Mal hin.«, sagt er mit vollem Mund.
»Du hast keinen Geschmack.«, schüttle ich enttäuscht den Kopf.
»Und du keine Ehre.«, kontert er.
Ich werfe einen Apfel in seine Richtung Er lacht, fängt ihn mit einer Hand.
Für einen Moment ist alles leicht. Wie früher oder vielleicht wie es nie war, aber immer hätte sein können.
Wir essen still nebeneinander. Kai beobachtet den Dampf aus seinem Tee, den ich ihm ebenfalls gekocht habe. Ich lehne mich im Stuhl zurück, Beine auf die Sitzkante gezogen und meine Hände um meine eigene Tasse.
»Ich habe dich vermisst«, sagt er irgendwann. Ganz einfach.
Ich nicke. Nicht, weil ich nichts dazu sagen will, sondern weil ich es sonst nicht aushalte.
»Waren nur zwei Wochen«, flüstere ich, obwohl ich weiß, dass ich ihn auch vermisst habe.
»War trotzdem zu lang.«, zuckt er mit den Schultern.
Ich sehe ihn an und frage ihn ehrlich, »Warum jetzt? Warum heute?«
»Weil ich es sonst rausgezögert hätte und das wäre unfair gewesen. Gegenüber mir. Gegenüber dir.«
Ich lege die Stirn auf meine Arme. Atme durch. Ich will ihn. Ich will ihn hier haben. Bei mir. Aber ich will auch, dass das nicht wieder wehtut. Dass ich ihn nicht wieder vermissen muss. Und, dass er mich nicht wieder verletzt.
Er steht langsam auf, kommt um den Tisch herum und stellt sich hinter mich. Seine Hände finden meine Schultern. Nur ein sanfter Druck, als wolle er sagen: Ich bin da. Ich lege meine Hand über seine. Und wir bleiben eine Weile so.
Er kniet sich hin und lehnt sich vor zu meinem Ohr, »Ich lass dich nicht wieder allein. Ich werde es dieses Mal besser machen.«
Er zieht mich ein Stückchen nach hinten, legt seinen Kopf in meine Halsbeuge und hält mich fest. Ich spüre, wie meine Wangen warm werden und ich leichte Gänsehaut bekomme, wenn seine Haare meinen Hals streifen.
Ein wenig später sitze ich auf der Couch. Kai liegt neben mir, leicht an mich gelehnt, seine Beine auf dem Tisch abgelegt und eine neue Tasse Tee in der Hand. Die Sonne kitzelt durch die halboffene Balkontür. Ich habe ein Sweatshirt übergezogen und genieße die frische Oktoberluft, die meine Haut streift. Wir reden nicht wirklich
»Ich habe später ein Spiel«, sage ich irgendwann.
»Ich weiß«, er grinst mich an, »Ich habe gehofft, ich kann dir zuschauen«
»Klar, gerne«, nicke ich sofort, »Du musst nur Jascha aushalten. Der ist in letzter Zeit ein bisschen komisch drauf.«
»Das krieg ich schon hin«, er klingt überzeugt, »So lange ich dich spielen sehen kann, nehme ich das in Kauf«
Ich schau zu ihm. Unsere Blicke treffen sich. Ich will ihn fragen, ob er das wirklich ernst meint. Aber ich muss das nicht tun. Ich sehe es ihm an. Er meint es ernst.
Er stellt seine Tasse auf dem Tisch ab und lehnt sich zurück, »Weißt du«, sagt er, »ich dachte, ich pack das. Diese Woche. Mit Arbeit, mit Training. Mit Ablenkung. Aber das war eine Lüge. Ich habe ständig aufs Handy geglotzt. Gescrollt, gewartet, gehofft, dass du irgendwas sagst, das mich beruhigt, aber nichts hat es gebracht.«
Ich will etwas erwidern, aber er redet weiter, »Du fehlst mir. Du fehlst mir in der Art, wie ich sonst atme, ohne darüber nachzudenken. Ohne dich ist alles ein bisschen dumpfer.«
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Stattdessen rücke ich näher. Unsere Arme berühren sich. Unsere Beine auch. Ich lege meinen Kopf gegen seine Schulter und er legt seinen Arm um meine Schultern.
»Ich hatte Angst, dass es wieder so wird wie früher«, sage ich leise, »Ich hatte Angst, dass du wieder den Kontakt abbrichst, als du wieder nach London gegangen bist.«
»Nein«, er schüttelt mit dem Kopf, »Diesmal laufe ich nicht weg.«
Ich glaube ihm. Noch nicht hundert Prozent. Aber genug für jetzt.
Wir bleiben weiter auf der Couch liegen, ich spiele leise Musik von meinem Handy ab. Nichts passiert. Kein Kuss. Kein großes Geständnis. Nur Nähe. Nur das Gefühl, dass er da ist.
Und ich bin froh, dass ich ihn nicht gefragt habe, wie lang er bleibt.
Denn gerade reicht es, dass er da ist. Und gerade will ich auch nicht wissen, wann ich ihn wieder gehen lassen muss.
Aber irgendwann wird es Thema werden.
Und ich weiß jetzt schon: Es wird früher sein, als ich es möchte. Die Zeit wird sich zu kurz anfühlen. Egal wie lang es bleibt.
---
Ich stehe am Spielfeldrand, direkt vor dem Anstoß und mein Herz rast. Nicht, weil das hier ein wichtiges Spiel ist, sondern eher, weil er da ist. Weil Kai auf der Tribüne sitzt.
Ich weiß genau, wo er sitzt. Jannis hat es mir gesagt, ohne dass ich fragen musste und ich war ihm sehr dankbar dafür. Ich habe zur Tribüne hoch geguckt, direkt nachdem ich auf den Platz gegangen bin. Nur so ganz kurz. Und da war er. Sonnenbrille auf den Augen, schwarzer Hoodie, die Arme verschränkt und der Blick auf das Feld.
Der Blick auf mir.
Es ist ein völlig anderes Gefühl, wenn er da ist.
Nicht wie die Scouts. Nicht wie Fans.
Anders. Aber schön.
Als würde ich nicht beobachtet werden, sondern gesehen.
Das Spiel beginnt und ich laufe los. Mein Körper funktioniert. Instinkt, Routine.
Ich passe. Ich laufe in die Tiefe. Ich höre das Rufen meines Trainers. Alles wie immer. Und doch nicht.
Ich spüre ihn.
Ich spüre seinen Blick.
Er sitzt in einer der vorderen Reihen und kann ihn deshalb jedes Mal sehen, wenn ich in seine Richtung laufe. Jedes Mal, wenn ich in Richtung Tribüne laufe, zuckt mein Blick kurz nach oben. Ich will es nicht. Aber ich muss es. Und jedes Mal, wenn ich ihn sehe – wie er sich leicht nach vorne beugt, wie er sich durch die Haare fährt, wie er mich verfolgt – kribbelt alles in mir.
Ich dachte, es wäre unangenehm. Ich dachte, ich würde mich beobachtet fühlen, verunsichert. Aber es ist fast das Gegenteil. Es ist wie Geborgenheit. Wie Gewohnheit. Als würde ich wissen: Da ist einer, der mich kennt. Der weiß, wie ich funktioniere. Es fühlt sich an, als wäre er wieder mit mir auf dem Platz, auch wenn er das nicht wirklich ist. Aber er ist hier und das ist gut.
Irgendwann laufe ich auf das Tor zu. Die Verteidiger der Gegner waren noch damit beschäftigt, sich richtig zu positionieren. Ich habe einen freien Blick auf das Tor. Ich schieße. Und treffe.
Meine Teamkollegen kommen auf mich zugelaufen, umarmen mich und freuen sich über das Tor, die Fans springen jubelnd auf, da ich das Tor zum Ausgleich geschossen habe, aber das ignoriere ich nahezu. Ich drehe meinen Kopf zu dem Ort der Tribüne, wo Kai steht. Ich sehe, wie er jubelt, grinse ihm zu, fasse an mein Herz und zeige dann zu ihm.
Das Tor war für ihn. Nur für ihn. Und ich hoffe, dass er das weiß.
Während der Taktikbesprechung in der Halbzeit setze ich mich auf die Bank, trinke etwas und atme tief durch. Meine Gedanken wirbeln. Mein Puls rast.
»Was ist los mit dir?«, fragt Jadon.
»Nichts«, schüttle ich meinen Kopf. Ich meine, es stimmt vielleicht sogar. Es geht mir gut und es ist nichts los, außer, dass mein Herz sich anfühlt, als hätte jemand eine extra Batterie eingebaut. Ich denke an heute Morgen. Seine Stimme in meiner Küche. Seine Hände an meiner Schulter. Wie er gesagt hat, er hätte es keinen Tag länger ohne mich ausgehalten. Nach zwei Wochen. Ich weiß nicht, was das mit mir macht. Aber es macht was. Es lässt meinen Bauch kribbeln und meine Knie ganz weich werden.
Zweite Halbzeit. Mein Fokus kehrt zurück, wird etwas klarer. Ich spiele besser, härter, präziser, aber mein Blick wandert trotzdem immer wieder nach oben. Er ist noch da. Natürlich ist er da und er pusht mich. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke kurz treffen – wenn er es merkt, dass ich ihn suche – nickt er ganz leicht, so, als würde er sagen : Ich bin da. Ich sehe dich. Mach weiter. Und das reicht.
Es ist mehr als alles andere. Mehr als Applaus. Mehr als Tore. Mehr als jeder verdammte Pokal.
Etwas später pfeift der Schiri ab. Das Spiel ist vorbei. 3:1. Gegen uns.
Es jetzt ist es endgültig und es tut doch mehr weh, als noch vor einigen Minuten, als es mich nur interessiert hat, dass Kai hier ist. Jetzt bin ich durch. Nicht verletzt, nicht am Boden, aber leer. Im Champions-League-Halbfinale rauszufliegen, ist enttäuschend. Zu wissen, dass wir unseren Fans den Traum vom Champions-League-Sieg nicht erfüllen konnten. Die traurigen Gesichter zu sehen, war das schlimmste an der Sache.
Ich laufe langsam Richtung Kabine, die Schultern hängen mir tief. Die Fans klatschen trotzdem und ich hebe kurz die Hand, nicke. Mehr krieg ich nicht hin.
Als ich durch den Tunnel zur Kabine gehe, sehe ich ihn.
Kai.
Er steht am Rand, Hände in den Jackentaschen, die Kapuze über den Kopf gezogen. Und er sieht mich. Nicht nur im Vorbeigehen. Er beobachtet mich.
Ich bleibe kurz stehen. Nur einen Moment. Unsere Blicke treffen sich. Er zieht die Augenbrauen ein Stück zusammen, so als würde er fragen: Geht es dir gut?
Ich zucke mit den Schultern. Mehr kann ich gerade nicht, aber es reicht, damit er mir entgegenkommt und mich umarmt. Ich halte ihn fest. Für einen Moment halte ich ihn ganz nah bei mir. Und es geht mir gleich besser.
Kai löst sich kurze Zeit später wieder von mir. Er reicht mir eine Wasserflasche und sieht mich mit einem halben Lächeln an, »Du warst trotzdem gut, du hast alles gegeben.«
»Ist nur scheiße gelaufen«, ergänzt er leise.
Ich nicke, »Es war so viel mehr drin. Wir waren da, wir waren stark und dann drei blöde Fehler.«
Er legt eine Hand vorsichtig an meine Wange und ich merke sofort, wie mir Hitze in die Wangen steigt, »Du warst gut.«
Ich verdrehe die Augen, »Wir haben verloren.«
»Und trotzdem warst du gut«, wiederholt er.
»Das hilft nicht.«, winke ich nur ab.
»Ich weiß.«, er lässt seine Hand von meiner Wange zu meinen Schultern und zieht mich an sich ran. Nur kurz. Und ich merke, wie ich tief einatme, obwohl ich das Gefühl hatte, das nicht mehr zu können.
Ich will mehr sagen. Irgendwas. Aber ich kann es nicht. Also bleiben wir einfach da. Ich mit meinem Frust, er mit seiner Geduld.
Und das ist irgendwie genau das, was ich gerade brauche.
---
Nachdem ich mich umgezogen und geduscht habe, verlasse ich die Kabine wieder.
Kai wartet draußen mit Jannis und Jascha.
»Du warst echt okay«, sagt Jannis, während wir loslaufen.
»Gutes Kompliment, richtig emotional«, murmelt Kai, »Du könntest Motivationscoach werden«
»Ist halt keinen Oscar wert, Bro«, grinst Jannis.
Jascha sagt erstmal nichts. Schaut mich kurz an, dann Kai, dann wieder weg. Ich habe keine Ahnung, was in letzter Zeit in seinem Kopf los ist, aber er wirkt entspannt genug, um mit uns essen zu gehen.
Wir laufen zu einem kleinen Restaurant, ein bisschen abseits vom Zentrum. Kai hat es vorgeschlagen. Die Wände sind hauptsächlich mit dunklem Holz verkleidet. Im Hintergrund spielt ruhige Musik. Ich war noch nie hier, aber es riecht gut.
Wir setzen uns. Ich neben Kai, gegenüber von uns Jannis und Jascha.
Die Karte ist überteuert, aber ich sage nichts. Leisten kann ich es mir ja ohnehin. Kai bestellt für sich, ohne zu zögern. Ich tue so, als ob ich mir noch was überlege, obwohl ich sowieso das Gleiche nehme wie immer.
»Also, wie lange bleibst du hier?«, fragt Jannis irgendwann, ganz beiläufig.
Ich kaue gerade, will nichts sagen. Ich weiß es ja selbst nicht einmal.
Und dann höre ich Kai, »Ich muss morgen Abend weiter.«
Ich schlucke. Hart. Fast zu schnell.
»Morgen?«, frage ich. Meine Stimme klingt ruhiger, als es sich anfühlt.
Kai nickt, »Muss zu Besprechungen mit dem Sender. Ging nicht anders.«
Ich nicke auch. Mechanisch, »Klar.«
Das Gespräch läuft weiter. Jascha redet über irgendein Start-up, das angeblich KI einsetzt, um Spielzüge vorherzusagen. Jannis erzählt von einem Dozenten, der immer das Wort 'Ballbesitz' mit 'z' ausspricht. Ich lache, ich rede mit, irgendwie.
Aber ich spüre Kai neben mir. Wie nah er ist. Und wie wenig Zeit uns bleibt. Schon wieder.
Er geht morgen. Ich kaue langsam, aber ich schmecke nichts mehr.
Mein Kopf nickt, mein Mund lächelt halb, als wäre das okay. Als würde ich das verstehen. Ist halt so, kein Ding, klar, Arbeit ruft. Aber innerlich zieht sich alles zusammen.
Es waren nur zwei Wochen. Aber es waren die ersten Wochen wieder ohne ihn. Dann war er plötzlich wieder hier. Und jetzt soll er einfach wieder weg?
Ich habe keine Ahnung, wann ich ihn danach wieder sehe. Und ich weiß nicht, ob ich ihn fragen darf. Ob ich sagen darf: Bleib. Oder komme bald wieder.
Ich schau ihn nicht an. Ich kann nicht. Denn ich weiß, wenn ich es tue, dann sieht er es. Dass ich enttäuscht bin. Dass ich ihn schon jetzt vermisse, obwohl er noch neben mir sitzt. Und ich will nicht, dass er Schuldgefühle hat. Ich will nur, dass er bleibt. Einfach so. Ohne, dass ich darum bitten muss.
Aber ich sage nichts, weil ich weiß, dass er nichts dafür kann. Es ist sein Job, klar.
Ich schieb die Gabel über den Teller, hör halb zu, wie Jascha über Drohnen und Bundesliga redet. Und innerlich zähle ich Minuten. Die, die noch bleiben, bis er gehen muss.
.
Wir bezahlen. Kai besteht darauf, mein Essen zu übernehmen, »Du machst mir einfach wieder salzige Pfannkuchen als Ausgleich«, sagt er.
Ich lache schwach.
Auf dem Rückweg gehen wir zu Fuß. Es ist kühl, der Wind weht leise, fast vorsichtig. Jannis und Jascha nehmen sich ein Taxi, aber Kai und ich laufen weiter zu Fuß. Wir brauchen einen Moment für uns zu zweit.
»War schön, heute«, sagt er.
Ich nicke, »Ja, war es.«
Ein paar Schritte in der Stille. Dann sage ich wieder etwas, »Ich wusste nicht, dass du morgen schon gehst.«
»Ich wusste nicht, wie ich es sagen soll.«, gibt er leise zu.
Ich bleibe stehen.
Er auch.
»Du hättest es sagen sollen.«, entgegne ich ihm.
»Ich weiß.«, nickt er.
Ich sehe ihn an. Ich will ihn fragen, warum es so kurz sein muss. Warum er nicht länger bleiben kann, aber ich sage, »Ich bin traurig, dass du gehst.«
Er antwortet nicht. Stattdessen macht er einen Schritt auf mich zu. Seine Hand findet meine.
»Ich will auch nicht weg.«, gibt er zu und drückt meine Hand.
Ich schlucke. Spüre, wie meine Finger sich fester um seine legen, »Dann bleib.«
»Du weißt, dass ich es nicht kann.«, seine Stimme klingt traurig, »Ich muss zur Arbeit«
Ich nicke. Langsam, »Aber du willst.«
»Jede Sekunde.«, sagt er, ohne zu zögern.
Ich lehne meine Stirn gegen seine Schulter. Nicht, weil ich zusammenbreche, sondern weil ich mich halten will. Weil ich will, dass er spürt, was ich nicht sagen kann.
Wir stehen da, mitten in der Nacht. Hände ineinander. Atem synchron.
Und irgendwann sagt er leise, »Es waren nur zwei Wochen ohne dich, Jule, aber es hat sich angefühlt wie ein Jahr.«
Ich schließe die Augen. Weil ich weiß, was er meint. Und weil ich das Gefühl habe, dass sich die nächste Zeit genauso anfühlen wird. Weil ich nicht weiß, wann ich ihn wieder sehen werde.
Wir gehen nun durch die dunklen Straßen von Dortmund, Händchen haltend. Und ich weiß nicht, was das zwischen uns ist. Ich weiß nur, dass er morgen geht und ich nicht weiß, wann ich ihn wieder sehen werde.
Chapter 28: Your Lips, My Lips
Chapter Text
POV Kai
Ich habe alle meine Sachen wieder gepackt. Die Tasche ist zu, die Jacke liegt bereit, das Zugticket ist auf dem Handy, alles ist vorbereitet – alles außer mir. Denn jetzt schon wieder von Jule zu gehen, fühlt sich nicht richtig an. Lieber würde ich bei ihm bleiben. Lieber würde ich irgendwo in seiner Nähe wohnen. Es wäre schon besser, wenn ich in Deutschland leben würde. Dann könnten wir uns zumindest öfter besuchen.
Julian steht in der Küche, den Rücken zu mir gedreht, während ich meine Schuhe anziehe. Er sagt nichts. Ich auch nicht. Weil es nichts gibt, was wir sagen könnten, das diese Stille besser machen würde. Das es den bevorstehenden Abschied leichter machen würde.
Es sind nicht mal 48 Stunden gewesen, die ich hier war. Aber zu gehen fühlt sich schon wieder falsch an. Als hätte ich mich kurz daran erinnert, wie es ist, wenn es sich richtig anfühlt, aber jetzt muss ich wieder zurück in eine andere Welt. Ohne ihn.
»Ich fahr dich zum Bahnhof«, sagt Julian, ohne sich umzudrehen.
Ich nicke, »Danke.«
Seine Stimme klingt neutral. Vielleicht ein bisschen zu neutral. Ich will ihn fragen, was er denkt, wie es ihm geht, aber ich weiß, ich würde es selbst nicht gut aushalten, wenn ich höre, dass er nicht will, dass ich gehe. Ich weiß, dass es so ist. Er hat es mir gestern Abend oft genug gesagt, als wir im Bett lagen und einfach die Zeit miteinander genossen haben. Die letzten Stunden, bis ich wieder gehen muss.
Im Auto ist es still. Keine Musik. Nur das leise Surren der Reifen auf dem Asphalt. Ich schaue aus dem Fenster. Die Stadt zieht an mir vorbei, vertraut und fremd gleichzeitig. Wie Julians Wohnung. Wie Julian selbst.
»Du fährst nach Köln?«, fragt er plötzlich.
»Ja, ich muss zum Sender. Direkt Meeting. Planung für die nächsten Live-Sendungen.«, erzähle ich ihm.
Er nickt ein bisschen traurig. Ich sehe es im Augenwinkel. Er fragt nicht weiter.
Ich schaue zu ihm rüber, »Willst du darüber reden? Oder willst du es einfach nur hören, damit es nicht so still ist?«
Er sieht mich kurz an. Dann zurück auf die Straße, »Beides.«
Ich nicke nur zustimmend. Ich verstehe es. Die Stille drück, weil wir wissen, dass wir bald nur noch telefonieren und schreiben können, um in Kontakt zu bleiben. Allein bei dem Gedanken daran, spüre ich einen Stich in meinem Herzen.
Am Bahnhof angekommen ist es windig. Ich zieh meine Kapuze über, Julian zieht die Schultern hoch. Wir gehen schweigend durch die große Bahnhofshalle, die voller Menschen ist und sich trotzdem seltsam still anfühlt. Alles rauscht. Alles zieht vorbei. Nichts bleibt hängen, außer er.
Wir laufen schweigend nebeneinander her. Unsere Schultern streifen sich immer wieder, wenn wir aneinander vorbeilaufen. Mein Zug kommt in 10 Minuten. Wir bleiben vor der Anzeigetafel am Gleis stehen. Um uns herum sind einige Menschen, aber trotzdem fühlt es sich an, als gäbe es nur Jule und mich. Alles andere ist mir gerade sowieso egal.
Jule schiebt die Hände in die Taschen. Ich will was sagen. Irgendwas. Dass ich ihn vermissen werde. Das wir uns bald wiedersehen werden. Aber ich weiß nicht, ob es hilft oder den bevorstehenden Abschied nur noch schwerer macht.
»Ich wünschte, du müsstest nicht weg«, sagt er dann, plötzlich, leise.
Ich atme aus, »Ich auch.«
Ich drehe mich zu ihm. Zum ersten Mal seit wir losgefahren sind, sehe ich ihn wieder an. Er steht einfach da, als hätte er all seine Energie nur noch in diesen Blick gelegt. In diesem Moment. Seine Augen sind traurig.
»Aber du gehst trotzdem«, sagt er dann. Nicht vorwurfsvoll. Nur ehrlich.
»Weil ich muss.«, sage ich vorsichtig.
»Ich weiß«, nickt er vorsichtig, »Aber ich werde dich trotzdem vermissen.«
Er sieht mich lange an. Dann macht er einen Schritt auf mich zu. Unsere Stirnen berühren sich. Mein Herz rast. Ich spüre seinen Atem, der meine Haut streift und ich merke, wie mein Gesicht an der Stelle beginnt zu kribbeln. Wir sagen nichts mehr. Alles andere blende ich aus. Es gibt nur Julian und mich.
Im Hintergrund höre ich eine Durchsage. Mein Zug fährt ein. Ich lehne mich wieder zurück und schaue Julian an.
Er steht direkt vor mir. Die Hände immer noch in den Jackentaschen vergraben, die Schultern hochgezogen. Ich habe schon alles gesagt, was ich konnte. Alles, was ich mich getraut habe.
»Melde dich, wenn du angekommen bist«, sagt er leise, fast beiläufig. Als wäre es okay, aber ich sehe ihm an, dass er traurig ist. Ich höre, was zwischen den Zeilen mitschwingt: Sag mir, dass du wiederkommst.
Ich nicke, »Versprochen.«
Und dann, bevor ich es wieder überdenke, beuge ich mich vor. So nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre. So nah, dass ich die Wärme seiner Haut spüre. Es bleibt kein langer Blick, kein großes Ankündigen. Ich greife vorsichtig nach seinen Fingern, mein Gesicht nah an seinem, und dann schließe ich den letzten Abstand zwischen uns.
Ein Kuss. Kurz. Zart. Ohne Druck. Nur unsere Lippen, die sich berühren, einen Atemzug lang. Mehr nicht. Aber es reicht, um alles in mir einmal kippen zu lassen. Mein ganzer Körper ist auf einmal am Zittern, aber auf eine schöne Art. Ich löse mich wieder von ihm. Wir sagen nichts. Unsere Augen bleiben aneinander hängen, als würden sie versuchen, den Rest mitzuteilen.
»Bis bald, Jule«, schenke ich ihm noch ein Halblächeln.
»Bis bald, Kai«, er drückt meine Fingern leicht, dann lässt er mich los.
Ich nehme meine Tasche und drehe mich um, dann steige ich ein und er bleibt dort. Mit diesem Kuss auf den Lippen, den ich am liebsten nicht loslassen will.
Der Zug ist hell, steril und leise. Ich setze mich ans Fenster und mein Blick sucht ihn. Er steht immer noch da. Hände in den Taschen. Blick zu mir.
Er sagt nichts. Ich würde ihn sowieso nicht hören, aber alles in seiner Haltung schreit und ich schreie zurück, innerlich. Ich vermisse ihn jetzt schon, aber der Zug fährt an und Julian bleibt da.
Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe. Der Zug rattert und ich vermisse ihn jetzt schon mehr, als ich in Worte fassen könnte. Es dauerte nur zwei Wochen, bis wir uns wieder gesehen haben. Dann dieses Wochenende. Und jetzt fühlt es sich an, als hätte ich mich wieder von etwas entfernt, das ich eigentlich nicht loslassen will.
Ich denke an heute Nacht. An seine Nähe. An sein ruhiges Lachen, als er meinte, ich schnarche leise. Ich denke an das Frühstück, an die Pfannkuchen, an sein Spiel und an das Essen gehen mit Jannis und Jascha am Abend. Ich merke: Ich will zurück. Nicht, weil es perfekt war, sondern weil es echt war. Ich will wieder nach Deutschland. Ich will mein Handy rausholen und ihm schreiben, aber ich tue es nicht. Ich will nicht bedürftig wirken, will nicht zu viel sein.
Ich will, dass ich bleibe oder er mitkommt. Oder irgendwas dazwischen.
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Ich laufe durch Köln wie durch eine fremde Stadt. Im Grunde genommen ist es das ja auch, aber es ist trotzdem komisch. Leute eilen an mir vorbei, Cafés sind voll, Busse quietschen, die Stadt lebt, aber ich fühle mich, als würde ich auf Pause laufen.
Das Meeting beim Sender war okay. Smalltalk, Planung, ein paar neue Ideen Ich habe genickt, geredet, sogar gelacht. Das Meeting war gut, die Vorbereitung für die nächste Sendung lief super und ich freue mich schon, wieder kommentieren zu dürfen. Es hat mir mehr Spaß gemacht als erwartet und ich will es wieder tun.
Jetzt sitze ich mit einem viel zu süßen Latte Macchiato in irgendeinem hippen Café in Köln und versuche, meine Notizen durchzugehen, aber mein Blick hängt am Fensterglas. Auf der anderen Straßenseite läuft ein Typ vorbei. Gleiche Körpergröße wie Julian, gleicher schwarzer Hoodie, sogar dieselbe Haarfarbe wie er. Mein Herz zuckt kurz, bis mein Kopf aufholt. Das ist nicht er. Natürlich nicht.
Ich schüttle den Gedanken ab. Schlürfe den Kaffee. Versuche, mich an die To-Dos zu erinnern. Ich muss heute Abend noch etwas für die Expertenrunde vorbereiten, bei der ich zugesagt habe, teilzunehmen. Aber alles, woran ich denken kann, ist, dass Julian wahrscheinlich gerade trainiert. Oder isst. Oder nichts tut. Und ich bin nicht dabei.
Ich schlendere später durch die Straßen, Google Maps offen, Kopfhörer drin und versuche mich zu orientieren. Eine Playlist läuft auf Shuffle. Und natürlich spielt plötzlich sein Song. Der, der gestern Abend im Hintergrund lief, als wir im Restaurant waren. Der, bei dem er meinte, ‘Der Refrain ist irgendwie traurig, aber ich mag den Beat.’ Ich habe gelacht, aber eigentlich hatte ich es genauso empfunden.
Ich will ihn überspringen, mache es aber nicht. Ich höre zu und erinnere mich an seine Stimme, wenn er leise redet, an die Art, wie er mit der Teetasse auf dem Sofa sitzt, an diesen Blick, den er mir zuwirft, wenn er weiß, dass ich ihn gerade heimlich beobachte und plötzlich fühlt sich Köln viel zu groß an und Dortmund viel zu weit weg.
Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, schlendere ich durch einen Supermarkt und mir fällt auf, dass ich automatisch zu der einen falschen Nutella-Sorte greife. Ich lege sie zurück, dann wieder ins Körbchen.
Ich stehe ewig vor dem Tiefkühlregal und sehe ein Eis, das mir sehr bekannt vorkommt. Apfel-Kiwi. Die Eissorte, die ich nur gekauft habe, weil Jule mich dafür aufgezogen hat, dass ich immer Vanilleeis nehme und es sich als Fehler herausgestellt hat, das dieses eine Mal nicht zu machen. Ich lächle kurz bei der Erinnerung an diesen Tag im Sommer.
Ich merke es selbst: Ich versuche, mich zu beschäftigen. Einkaufen gehen, obwohl ich im Hotel eigentlich Essen gebucht habe, Podcasts hören während ich durch die Stadt laufe, durch Notizen scrollen, aber nichts übertönt das Gefühl, dass er fehlt. Nicht laut oder dramatisch, aber leise, konstant, wie ein Hintergrundrauschen.
POV Jascha
Heute Abend rede ich mit Julian. Direkt. Ohne Umwege. Kein Rumschleichen mehr. Ich leg ihm meine Theorie hin und entweder er lacht, oder er beichtet. Egal was es wird, ich werde wissen, was er wirklich getan hat. Ich habe eine Kamera schon perfekt platziert, um seine Reaktion aufnehmen zu können. Danach schicke ich das Video zu einer dieser Personen, die Gesichtsausdrücke von Menschen lesen können und finde dadurch heraus, wo er nervös war. Und weiß dadurch, was wirklich passiert ist. Das ist zumindest der Plan. Und sobald Jule wieder hier ist, werde ich ihn mit allem konfrontieren.
Ich schaue auf mein Laptop-Display. Die Präsentation, die ich vorbereitet habe, um Jule meine Theorien und Beweise vorzustellen.
'Fall K.H. – Die unausgesprochene Wahrheit'
Ich gehe alle Folien noch einmal durch und nicke zufrieden. Perfekt. Daneben liegen Notizzettel, damit ich auch keinen der Punkte vergesse. Wenn ich ruhig bleibe und logisch vorgehe, wird Julian entweder alles bestätigen – oder sagen, dass ich völlig spinne. Beides wäre okay, denn ich habe noch den Gesichtsleser, der Jules Gesichtsausdrücke interpretiert.
Ich höre Schritte im Flur. Die Wohnungstür. Schlüssel. Und dann eine Stimme. Julian kommt nach Hause. Mein Herz schlägt sofort schneller. Jetzt ist es soweit. Das ist der Moment. Jetzt oder nie.
Ich klappe den Laptop halb zu und lege mich innerlich schon seine Einstiegssätze zurecht: ' Ich weiß, was du verheimlichst.' Oder vielleicht subtiler: ' Ich habe da mal was vorbereitet.'
Ich stehe auf. Meine Hände schwitzen. Ich bin nervös. Ich gehe zur Tür und hebe die Hand zum Türgriff. Innerlich zähle ich leise runter. Drei. Zwei. Eins—
Klingeln.
Nicht die Wohnungstür.
Sondern mein Handy.
Ich schaue auf das Display. Unbekannte Nummer – Schule
Ich zögere. Eigentlich muss ich jetzt runter und Jule konfrontieren, bevor er mit etwas anderem beschäftigt ist. Dann gehe ich doch ran. So lange wird das Telefonat schon nicht dauern.
»Hallo? Ist das Jascha Brandt?«, fragt eine Stimme über den Lautsprecher
»Ähm... ja?«, ich bin etwas verwirrt.
»Hier ist Frau Neumann vom Schulprojekt ‚Digitale Medien und Verschwörungstheorien'. Du hast dich angemeldet, korrekt?«, fragt sie nach.
»Ja genau«, nicke ich etwas zögerlich. Fuck, das habe ich ja total vergessen.
»Dein Interviewtermin ist jetzt. Du bist dran.«, sagt sie.
»Okay, äh—ja. Einen Moment.« Nein, das kann doch nicht sein. Nicht jetzt, wie konnte ich das nur vergessen?
Ich renne zurück zum Bett und schließe die Präsentation auf meinem Laptop. Ich öffne panisch ein leeres Word-Dokument.
»Ich bin bereit«, sage ich dann ins Handy, in der Hoffnung, dass das schnell geht. Sein Herz rast. Aber aus ganz anderen Gründen als eben.
In diesem Moment klopft es an meiner Zimmertür.
»Alles gut bei dir?«, fragt Julian von draußen.
Ich drehe mich nicht um. Ich sehe die offenen Notizen noch neben dem Laptop liegen. Hoffentlich sieht Jule sie nicht.
»Ja. Gleich. Fast«, antworte ich.
Julian schaut etwas irritiert, aber geht schließlich weiter. Tür zu. Schritte entfernen sich.
Ich lehne mich zurück und atme tief ein.
Und während das Interview beginnt – zu Filterblasen, QAnon und Deepfakes – bleibt da nur dieses nagende Gefühl. Ich war so kurz davor. So kurz davor, die Wahrheit zu hören. Und jetzt...
Jetzt rede ich über Telegram-Gruppen, während Julian draußen ahnungslos Teewasser aufsetzt und vielleicht schon den nächsten Mord plant.
Ich schwöre mir: Beim nächsten Mal, da zieh ich es durch. Da entkommt er mir nicht so einfach.
Chapter 29: Apocalypse
Chapter Text
POV Julian
Der Shuttlebus ist ruhig. Die Sitze sind weich, das Licht zu grell, der Sicherheitsgurt drückt leicht gegen meine Hüfte. Ich starre aus dem Fenster. Es regnet nicht, aber der Himmel ist grau genug, dass es sich so anfühlt. Paris zieht langsam an mir vorbei. Bäume, Straßenschilder, weiße Häuser mit kupferfarbenen Ziegeln, die alle gleich aussehen.
Ich lehne meinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. In ein paar Stunden werde ich Kai wiedersehen.
Mein Herz setzt einen Schlag aus bei diesem Gedanken. Ich versuche, mich auf das Spiel zu konzentrieren. Ich sollte fokussiert sein. Diszipliniert. Kopf im Spiel, nicht in der Vergangenheit. Aber mein Kopf ist ganz woanders. Genauer gesagt, immer noch am Bahnsteig, vor ein paar Tagen. Ich sehe Kai vor mir. Und dann: Der Kuss.
Nur kurz. Nicht stürmisch, nicht dramatisch. Kein Händefesthalten, kein 'Ich liebe dich'. Nur ein Kuss, leicht und warm, aber er war echt und er hat mir alles bedeutet. Schon wieder. Ich habe es nicht erwartet. Nicht da, nicht so. Ich dachte, wir würden uns umarmen, vielleicht ein letzter Blick, vielleicht gar nichts und dann hat er sich einfach vorgebeugt – ganz vorsichtig – und unsere Lippen haben sich berührt. Nicht lange, aber ich habe ihn gespürt. Noch Stunden danach und noch jetzt.
Ich denke an seine Hand, die leicht an meinem Ärmel gezogen hat. An seinen Blick danach, diese Mischung aus Ruhe und Glücklich-sein und daran, dass ich nichts gesagt habe. Zumindest nichts Wichtiges. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil ein Teil von mir schreien wollte: Bleib doch hier. Und ein anderer: Geh. Bevor es wehtut.
Aber ich habe nichts gesagt. Nur seine Hand gehalten und dann habe ich ihn gehen lassen.
Der Bus biegt auf die Hotelauffahrt. Ein großes Gebäude mit großen Glasscheiben. Na super, nicht mal Privatsphäre hat man hier. Ich atme tief durch. Ein paar Jungs schnappen sich schon ihre Taschen. Ich bleibe ein bisschen länger sitzen, denn ich brauche noch eine Sekunde.
Ich frage mich, was Kai gerade macht. Vielleicht sitzt er gerade in irgendeinem Konferenzraum oder geht seine Notizen durch. Vielleicht hat er schon von meiner Ankunft gehört. Vielleicht denkt er gerade an mich. Oder auch nicht. Ich weiß nie genau, was in seinem Kopf vorgeht und das stört mich, aber ich weiß, was in meinem los ist. Ich bin bei ihm. Immer, wenn er da ist. Und irgendwie auch, wenn er weit weg ist.
Im Hotel ist alles wie immer. Einchecken, Schlüsselkarte, Zimmer 140. Dann habe ich endlich Zeit für mich. 3 Stunden Selbstbeschäftigung, bis wir zum Spiel losfahren. Ich stelle meinen Koffer in der Ecke ab, ziehe meine Jacke aus und lasse mich kurz auf das Bett fallen.
Drei Sekunden Augen zu. Drei Sekunden Ruhe.
Ich denke daran, wie Kai bei meinem letzten Spiel auf der Tribüne saß. Wie er danach neben mir im Auto saß und nichts gesagt hat, aber alles ausstrahlte. Wie wir danach zusammen in meinem Bett geschlafen haben, eng aneinander gekuschelt, als wäre das Alltag. Ich spüre, wie mein Brustkorb sich zusammenzieht. Ich vermisse ihn. Und ich weiß nicht mal genau, was ich am meisten vermisse. Seine Nähe? Seine Stimme? Oder nur das Gefühl, dass ich bei ihm kurz vergessen kann, wie anstrengend alles ist? Oder vielleicht auch nur seine Präsenz.
Keine fünf Minuten, nachdem ich mich auf das Bett gelegt habe, geht die Tür auf. Ich hebe meinen Kopf und schaue, wer reinkommt. Joshua. Anscheinend wird er sich ein Zimmer mit mir teilen.
»Ey Jule, hast du Lust auf Kicker?«, fragt er, während er seinen Koffer neben meinen stellt.
»Warum nicht«, sage ich und zwinge ein Lächeln. Ich habe eigentlich nichts dagegen. Bisschen Ablenkung, ein bisschen Zeit mit den anderen verbringen.
Also stehe ich auf und folge ihm. Wir laufen vorbei an der Lounge, durch den leicht zu kühlen Hotelflur. Der Kicker steht hinten bei der Bar, direkt neben einer hölzernen Statue. Manuel und Leon stehen bereits dort und warten.
»Du mit mir, Jule?«, fragt Jo.
»Klar«, sage ich, »Das gewinnen wir mit links«
Ich drehe am Griff, spüre das angenehme Gewicht der Metallstange in der Hand. Ein bisschen Kontrolle. Wenigstens hier.
Wir spielen.
Erstes Match: Wir haben knapp verloren.
Zweites: Wir gewinnen.
Irgendwer macht dumme Sprüche über Joshuas Reaktion, als ich einen Ball ins leere Tor schiebe. Ich lache. Ein echtes Lachen. Kurz zumindest.
Dann, wie aus dem Nichts, sagt Leon, »Ey, habt ihr eigentlich gesehen, dass Kai das letzte Spiel kommentiert hat? Der war am Spielfeldrand und hat für irgendeinen Fernsehsender gearbeitet.«
Ich friere für eine Millisekunde ein. Wie kommt er jetzt auf Kai? Wir kickern doch!
Joshua nickt, »Ja, habe ich gesehen. Schon krass irgendwie. Der Typ war so gut. Und dann zack. Weg.«
»Ich checke das eh nicht«, sagt Manuel, während er den Ball einklemmt, »Wieso hört man auf, wenn man so eine Karriere hat? Der hätte noch so viele Titel gewinnen können.«
»Vielleicht eine Verletzung?«, sagt Leon.
Manuel schüttelt den Kopf, »Dann fällt man mal ein paar Wochen aus, aber man pausiert nicht seine Karriere und zieht sich komplett zurück«
»Oder Burnout?«, meint Joshua, »Oder… keine Ahnung. Er hat einen Skandal oder so? Und versucht das so zu vertuschen«
Alle lachen. Ich versuche mitzulachen. Es gelingt mir nicht ganz. Mein Griff am Kicker zittert kurz. Ich presse die Lippen aufeinander.
»Jule?«, sagt Leon, plötzlich interessiert, »Ihr wart doch befreundet, oder? Und ihr habt doch auch zusammengespielt.«
Ich glaube, ich schaue ihn auf einmal sichtlich erschrocken an, »Ist schon eine Weile her«, versuche ich vom Thema abzulenken.
»Aber hattest du mal Kontakt zu ihm? Weißt du, warum er aufgehört hat?«, hakt er weiter nach.
Ich zucke mit den Schultern, »Nicht wirklich.«
Lüge. Ich weiß es genau. Ich bin ja sogar Teil des Grundes. Aber das kann ich jetzt schlecht sagen, ohne ihnen die ganze Wahrheit zu erzählen. Und dazu bin ich definitiv noch nicht bereit.
Joshua schiebt nach, »Er war ja immer eher zurückhaltend. Vielleicht hatte er einfach keinen Bock mehr auf die Medien? Aber dann Kommentator werden ist auch komisch, oder?«
Leon grinst, »Ich meine, er sah nie unglücklich aus. Aber wer weiß, was hinter den Kulissen abging. Vielleicht gab es da was dramatisches?«
»Man«, sage ich, halb lachend, halb genervt, »Ihr spekuliert zu viel. Vielleicht hat er einfach etwas Neues gebraucht.«
»Klingt so, als wüsstest du mehr«, sagt Joshua und hebt eine Augenbraue.
Ich schlucke.
»Ich weiß echt nicht viel«, sage ich und ich hasse, wie dünn meine Stimme klingt.
Die Bälle klacken wieder. Aber das Gespräch hat eine Richtung angenommen, die ich nicht stoppen kann. Immer wieder schiebt einer was hinterher. Immer wieder landen wir bei dem Thema Kai. Und immer wieder versuche ich, das Thema zu wechseln.
Ich fühle mich, als würde ich mitten auf dem Spielfeld stehen, nur diesmal nicht mit Ball, sondern mit einer tickenden Bombe in der Brust.
Und dann eine Frage, die mich komplett aus dem Nichts trifft, »Du warst doch auf dieser Afterparty in der Bar nach dem Spiel gegen Estland, oder?«, fragt Leon plötzlich an mich gerichtet.
»Was?«, sage ich, völlig aus dem Konzept.
»Ich habe irgendwo gehört, Kai war da auch. Nur kurz. Warst du nicht auch da?«, erklärt er seine Frage.
Ich nicke, langsam, »Ich war nur kurz. Ich habe ihn nicht mal gesehen.«
Lüge Nummer zwei. Mir wird heiß. Nicht von außen, sondern innen. So ein Druck, der langsam zwischen den Rippen hochzieht.
Als das Spiel vorbei ist, greife ich schnell zu einer Flasche Wasser, die ich zwischen den Runden gekauft habe, nehme einen Schluck und sage, »Ich glaube, ich gehe mich noch etwas ausruhen vor dem Spiel.«
»So pflichtbewusst«, murmelt Manuel. Dann gehe ich schnell. Zu schnell, wahrscheinlich. Aber besser, als zu bleiben. Besser, als noch eine Frage zu hören, die ich nicht beantworten kann, ohne uns zu verraten.
---
Nach dem Spiel schiebe ich die Hoteltür auf. Ich bin müde, aber mein Kopf ist voller Gedanken. Wir haben 4:0 gewonnen. Ein gutes Spiel. Saubere Pässe, gute Chancen. Alles hat funktioniert.
Ich steige gemeinsam mit Timo in den Aufzug, drücke den Knopf zu meinem Stock und schaue auf mein Handy. Kai hat mir geschrieben.
Zimmer 539
Wenn du reden willst, ich bin da
Ich wusste, dass ich hingehe, noch bevor ich die Nachricht zu Ende gelesen habe. Ich schaue noch einmal auf die Stockwerk-Auswahl und drücke den 5. Stock.
Timo schaut mich etwas verwirrt an, sagt aber nichts. Er steigt früher aus und ich mache mich auf den Weg zu Kais Zimmer.
Jetzt stehe ich vor der Tür. Atme ein. Aus. Dann klopfe ich. Ein Moment ist Stille, dann wird die Tür geöffnet und Kai steht da.
Er trägt eine Jogginghose, ein weites Shirt und seine Haare sind zerzaust, als wäre er gerade erst aufgewacht. Er sieht mich an, als könnte er nicht glauben, dass ich wirklich vor ihm stehe, obwohl er mich eingeladen hat.
»Hey«, sagt er und schenkt mir ein Lächeln.
»Hey«, nicke ich, ebenfalls lächelnd. Er tritt einen Schritt zur Seite und ich gehe an ihm vorbei in das Zimmer. Es ist still und warm. Nur eine Lampe über dem Nachtkästchen brennt. Ich lasse mich auf das Bett fallen, er setzt sich neben mich auf die Bettkante.
Er wirkt nervös. Ich bin es auch.
»War ein gutes Spiel«, beginnt er ein Gespräch.
Ich nicke, »War es. Besser als erwartet.«
»Die Tore waren alle stark. Und dein Assist war perfekt getimed.«, erzählt er mit Begeisterung.
Ich lache kurz, »Du klingst wie der Trainer.«
Er zuckt mit den Schultern, »Gute Kommentatoren erkennen sowas.«
»Du bist mehr als gut«, sage ich. Und ich meine nicht nur das Spiel. Er schaut mich kurz an. Dann senkt er den Blick.
Ein paar Sekunden vergehen, in denen nichts passiert. Niemand sagt etwas, wir schauen uns einfach nur an. Weil wir wissen, dass wir reden müssen, aber genau davor Angst haben.
Irgendwann breche ich das Schweigen, »Ich denke, wir müssen noch reden.«
Kai nickt, »Ich weiß. Ich habe es auch gemerkt.«
Ich atme tief durch. Mein Herz schlägt zu laut. Dann beginne ich, »Der Kuss am Bahnhof…Ich...Ich denke die ganze Zeit darüber nach. Was es bedeutet hat. Was das jetzt für uns heißt«
Kai streicht sich über die Stirn. Atmet aus. Er legt sich neben mich auf das Bett und dreht sich so, dass er mich ansieht, »Ich habe dich nie losgelassen, aber ich konnte mir selbst nie eingestehen, was da zwischen uns ist. Als ich es verstanden habe, sahst du so aus, als könntest du gut ohne mich weitermachen.«
Ich schlucke, »Ich habe es versucht, aber du warst überall. In jeder Ecke von meinem Kopf. In jedem verdammten Spiel, in jeder Bewegung.«
Kai schaut mir in die Augen, »Ich dachte, wenn ich gehe, dann kann ich es vergessen. Kann ich dich vergessen und wer ich bin, aber ich konnte es nicht. Es wurde nur schlimmer.«
Ich rutsche ein Stück näher. Nicht viel. Nur, dass ich ihn besser sehen kann, »Ich habe mir Vorwürfe gemacht. Wochenlang. Ich dachte, ich hätte was falsch gemacht. Ich dachte, du wärst deswegen sauer auf mich.«
Kai schließt kurz die Augen, aber ich rede weiter, weil ich es muss, »Ich dachte, du hast es bereut. Und dann habe ich gedacht, du kannst mich deswegen nicht mehr ansehen und das hat mich fertig gemacht.«
Kai atmet ruhig. Er rutscht näher an mich ran, wie ein Zeichen, dass das nicht stimmt. Unsere Schultern berühren sich, ich spüre seine Wärme. Ich könnte mich reinfallen lassen, aber irgendwas in mir zuckt noch zurück. Ich fahre mir über die Stirn, spüre, wie sich meine Gedanken zusammenziehen.
»Weißt du, was mir am schwersten gefallen ist, nachdem du weg warst?«, frage ich leise.
Kai schaut zu mir rüber, sagt nichts, wartet einfach bis ich weiterspreche.
»Ich hatte das Gefühl, ich verliere die Kontrolle«, sage ich, »Über alles. Über dich, über mich, über das, was ich dachte, dass wir sein könnten. Nach dieser Nacht.«
Ich drehe mich leicht zu ihm, halte seinen Blick nicht ganz, »Ich habe oft das Gefühl, dass ich die Dinge in der Hand haben muss. Ich brauche Struktur, Ablauf und Plan. Und als du einfach weg warst, ohne Erklärung, da war nichts mehr planbar. Ich habe mich machtlos gefühlt. Komplett ausgeliefert.«
Kai legt den Kopf ein Stück schief, sein Blick ist weich, nicht wertend, eher verständnisvoll.
»Und ich wusste nicht, wohin mit dem Gefühl. Also habe ich trainiert. Mehr als vorher. Immer mehr. Ich habe mich reingeworfen, weil das das Einzige war, was ich noch steuern konnte. Mein Körper. Meine Leistung. Mein Pensum. Alles andere war Chaos, aber das war greifbar.«
Ich schlucke, fahre mit der Hand über meinen anderen Arm, »Ich glaube, ich habe versucht, dich durch Training zu vergessen. Oder mich davon zu überzeugen, dass ich keine Schwäche habe. Kein Loch. Aber da war eins.«
Kai sieht mich an, als würde er das alles schon längst gespürt haben. Sein Blick ist weich.
»Und ich war das Loch?«, fragt er vorsichtig.
Ich schüttle den Kopf, »Du warst das, was gefehlt hat. Und ich habe alles getan, um nicht zu merken, dass genau das weh tut.«
Kai nickt, »Du musst nicht immer alles kontrollieren.«
Ich lache leise, bitter, »Aber wenn ich es nicht tue, fall ich.«
»Dann halt ich dich«, sagt er. Leise. Ruhig. Aber ehrlich. Wie ein Versprechen. Und für einen Moment glaube ich ihm. Er sieht mich mit einem Blick an, der gleichzeitig bricht und heilt.
»Jule, du warst nie das Problem. Ich war es. Ich hatte so viele Baustellen in mir, dass ich nicht mal gemerkt habe, dass ich vor mir selbst davonrenne.«
Ein paar Sekunden Schweigen. Dann sagt Kai, »Ich habe durch diese Nacht gemerkt, dass ich wirklich schwul bin. Ich konnte es nicht mehr verdrängen. Ich konnte nicht mehr so tun, als würde ich irgendwie wieder hetero werden. Aber dadurch wurde mir klar, dass das nicht passieren wird und ich habe Panik bekommen.«
Ich nicke. Langsam. Ich will ihn nicht unterbrechen.
»Mein Vater hat mir, seit ich denken kann, klargemacht, dass das falsch ist. ‚Unnatürlich‘, hat er gesagt. Oder: ‚Das macht dich schwach.‘ Und ich wollte nie schwach sein. Ich wollte spielen. Funktionieren.«, seine Stimme bricht leicht. Er räuspert sich, »Als er mich damals mit einem Jungen erwischt hat, war ich vierzehn. Es war nichts Großes. Ein Kuss. Ein kurzer Moment in meinem Zimmer. Aber mein Vater hat mich angeschrien, als wäre ich ein Verbrecher. Und dann...naja, dann hat er mich geschlagen.«
Mir schnürt es die Kehle zu. Ich sage nichts. Ich höre einfach zu.
»Seitdem habe ich zugemacht. Komplett. Ich habe es vergraben und gedacht, ich komme klar, wenn ich einfach gut bin. Wenn ich gewinne. Wenn ich auf dem Platz alles bin, was man von mir erwartet. Ich dachte, irgendwann finde ich eine Frau, die ich lieben kann.«, er sieht mich wieder an, »Und dann kamst du. Und alles wurde anders.«
Ich schlucke hart.
»Ich wollte nie, dass du Angst vor mir hast«, flüstere ich.
»Ich hatte keine Angst vor dir«, sagt er, »Ich hatte Angst vor dem, was ich für dich empfinde. Weil es mich gezwungen hat, mich selbst anzusehen. Und da war so viel, was ich nicht sehen wollte.«
Ich nicke, »Ich wollte dich einfach nur nicht verlieren.«
»Hast du nicht«, sagt er. Er rutscht ein Stück näher zu mir und legt seine Hand auf meine. Ganz leicht.
»Ich weiß nicht, was wir sind«, sage ich leise.
»Ich auch nicht«, sagt er, »Aber ich weiß, dass ich dich nicht mehr verletzen möchte.«
Wir liegen lange da. Reden über Nähe. Zukunft. Was es bräuchte, damit wir es diesmal nicht verkacken. Keiner von uns macht Vorwürfe. Keiner von uns flüchtet.
Es ist nicht kitschig. Nicht einfach, aber echt.
Und irgendwann sagt Kai, »Ich will das versuchen. Mit dir. Ohne Drama. Ohne Lügen. Mit allem, was dazugehört.«
Ich sehe ihn an und weiß, dass er es ernst meint. Dass er dieses Mal wirklich bleiben will, »Ich auch.«
»Also«, frage ich leise, »Sind wir jetzt sowas wie ein Paar?«
Kai nickt vorsichtig, »Wenn du das möchtest, dann ja.«
»Klar«, ich beginne zu lächeln und spüre, wie mein Herz beginnt, schneller zu schlagen. Ich lehne mich näher zu ihm vor, seine Stirn gegen meine. Ich spüre seine Wärme, seinen Atem auf meiner Haut und seine weichen Haare, die mein Gesicht kitzeln. Ich schließe meine Augen, weil ich gerade einfach nur seine Berührung brauche.
Irgendwann, ich weiß nicht, wie lange wir dort liegen, schließt er den Abstand zwischen uns. Er bewegt seine Lippen gegen meine. Vorsichtig, weich.
Seine Hände legt er in meinen Nacken, um mich näher zu sich zu ziehen und ich lasse es zu. Mein ganzer Körper fühlt sich auf einmal unfassbar weich an.
Und es gibt nur uns.
Kai und Jule.
Jule und Kai.
Alles andere ist in diesem Moment egal.
Chapter 30: If You Were Here
Chapter Text
POV Julian
Ich wache auf, weil Kai sich bewegt. Ganz langsam, ganz vorsichtig und ganz leise. Ich spüre seine Hand noch auf meiner. Wir liegen auf seinem Bett, seine Arme um mich geschlungen und mein Kopf halb auf seiner Brust. Oder zumindest lagen wir so da, bis Kai aufgestanden ist. Jetzt liegt mein Kopf auf seinem Kissen, das nach Shampoo und einem Hauch von Kaffee riecht. Es ist noch ziemlich dunkel im Zimmer, nur die Straßenlaterne draußen und die gerade aufgehende Sonne wirft etwas Licht in den Raum.
Kai steht am Fenster. In Boxershorts, T-Shirt und die Haare wild durcheinander. Er sieht gut aus mit diesem Gerade-Aufgewacht-Look. Ich beobachte ihn eine Weile und schmunzle. Er guckt aus dem Fenster raus und sagt nichts.
Irgendwann stütze ich mich auf den Ellbogen, »Wie spät ist es?«
»Sechs«, sagt er.
»Scheiße«, murmle ich, während ich verschlafen meine Augen reibe, »Mein Shuttle kommt in einer Stunde.«
Er nickt. Irgendwas zieht sich in meiner Brust zusammen. Ich will nicht schon wieder gehen. Will ihn nicht schon wieder verlassen. Ich weiß, dass wir uns in ein paar Tagen wiedersehen, aber eigentlich würde ich ihn am liebsten mit ins Trainingslager nehmen wollen.
Ich werfe die Decke zurück und gehe zu Kai rüber. Wir stehen nebeneinander, gucken raus. Keiner sagt was. Ich lehne mich an seine Seite. Bevor ich ihn gleich gehen lassen muss, will ich ihn wenigstens noch so nah bei mir haben, wie möglich.
»Du musst auch gleich los, oder?«, frage ich leise.
Er nickt, »Ja. Sendermeeting in Köln. Wir müssen das nächste Spiel vorbereiten.«
»Und ich fahre wieder ins Trainingslager.«
»Ich weiß.«, er legt seinen Arm um meine Schultern, zieht mich noch näher an sich ran. Einen Moment Stille.
»Drei Tage«, sage ich schließlich.
»Klingt wenig.«, flüstert Kai, »Fühlt sich aber an wie drei Wochen.«
Kai sieht mich kurz an. Und genau so, wie er das tut, wird mir wieder klar, warum sich alles mit ihm immer so intensiv anfühlt. Als würde ein Blick reichen, um alles zu wissen, was ich denke und gleichzeitig gar nichts.
Ich lege meine Arme um ihn, »Ich will nicht, dass du gehst.«
Er legt seine Stirn kurz an meine, »Ich gehe nicht weit. Nicht lange. Und ich komme wieder.«
Ich nicke, aber das ändert nichts daran, wie leer sich das jetzt anfühlt und wie sehr ich die Zeit jetzt einfach stoppen würde. Damit wir hier bleiben können. Zusammen.
Zwanzig Minuten später steht er an der Tür. Koffer in der einen Hand, die Schlüsselkarte in der anderen. Ich lehne am Türrahmen, habe einen Hoodie von Kai angezogen und ein trauriges Lächeln auf den Lippen.
»Komm gut an«, sage ich.
»Du auch.«
Ein letzter Blick. Er legt seine Hand an mein Kinn und zieht es näher zu ihm hin. Ein Kuss. Und dann ist er weg.
Ich bleibe noch kurz im Türrahmen stehen, bis ich das Klacken des Fahrstuhls höre. Dann verlasse ich selbst den Raum, um meine eigenen Sachen noch aus meinem Zimmer, in dem ich eigentlich nicht wirklich war, zu holen.
---
Zwei Stunden später sitze ich im Shuttlebus zum Flughafen. Kopfhörer drin, aber ohne Musik. Ich brauche nur die Illusion von Ruhe. Ich möchte nicht reden, stattdessen schaue ich zu, wie draußen Felder, Bäume und Häuser vorbeiziehen.
Neben mir sitzt Jo, der mich schon die ganze Zeit komisch angrinst.
Gerade guckt er wieder zu mir rüber, »Na? Gut geschlafen?«
Ich zucke mit den Schultern, »Geht so.«
»Komisch«, sagt er; »Dein Bett war leer heute Nacht.«
Ich verdrehe die Augen, will eigentlich nicht mit ihm darüber reden, »Jo...«
»Sag es einfach. Du hattest ein geheimes Date. Oder du hast dich im Gym eingeschlossen, weil du heimlich nachts an deiner Beinpresse arbeitest.«
»Ich sag gar nichts«, murmle ich etwas genervt.
»Das ist verdächtig«, singt er und lehnt sich weiter nach vorn. »Ich meine, sonst bist du immer der Erste am Buffet. Und heute? Kein Frühstück, kein Hallo, nichts. Was war da los, Jule?«
»Ich habe einfach nur geschlafen, Mann.«, winke ich ab.
»Wo? In der Tiefgarage?«, hört er nicht auf.
Ich lache. Nicht weil es witzig ist, sondern weil ich sonst explodieren würde, »Du hast echt zu viel Fantasie.«
»Ich habe ein Gespür für sowas. Vielleicht war es ja auch jemand vom Team? Hm? Leon? Manuel? Oder der Koch? Oder—«
»Jo.«, unterbreche ich ihn.
»Ja?«, sagt er scheinheilig.
»Kannst du einmal, wirklich nur einmal. Nicht so tun, als wärst du eine Verschwörungssendung?«
Er hält sich dramatisch die Hand aufs Herz, »Wow. Hat da jemand was zu verbergen?«
Ich schüttle nur den Kopf und gucke wieder aus dem Fenster. Die Landschaft zieht weiter. Ich lasse die leichte Oktobersonne über meine Wange streifen und denke daran, wie Kai heute früh aussah. Wie seine Finger kurz meinen Nacken gestriffen haben, als er mich zum Kuss ein Stück näher herangezogen hat. Und wie ich sofort Gänsehaut bekommen habe. Wie er nach 3-in-1 Shampoo gerochen hat. Wie warm seine Arme waren und wie schön es war, von ihm gehalten zu werden.
Jo labert weiter, aber ich höre nur halb hin. Irgendwann gibt er auf. Oder lenkt sich selbst ab.
Und ich bin wieder bei Kai. Wieder bei dem Moment, in dem wir uns angesehen haben und keiner sagen musste: Ich will dich nicht loslassen. Weil wir es wussten. Weil wir es gespürt haben.
---
Das Trainingslager ist wie immer: ordentlich, strukturiert, effizient. Die Zimmer sind funktional, die Betten zu hart, die Mahlzeiten exakt abgestimmt. Ich kenne das alles. Ich funktioniere hier gut. Und trotzdem fehlt irgendwas.
Ich stehe auf dem Balkon meines Zimmers, die Sonne geht gerade unter. Kühler Wind streift mein Gesicht und ich lausche dem Vogelgezwitscher. Die Jungs sind noch beim Abendessen unten, ich habe mich früher rausgezogen. Ich brauchte kurz Luft. Brauchte kurz Kai.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und öffne den Chat mit ihm. Die letzte Nachricht war ein kurzes 'Viel Spaß beim Training!' von ihm heute Morgen.
Ich halte den Aufnahmebutton gedrückt.
»Hey... ich weiß, ich habe heute noch gar nichts geschrieben. Irgendwie war der Tag voll mit Training und Besprechungen, aber gleichzeitig habe ich dich die ganze Zeit im Kopf gehabt. Ich habe dauernd auf mein Handy geschaut, obwohl ich wusste, dass du beschäftigt bist. Ich freue mich schon so, dich übermorgen wiederzusehen. Das klingt so lächerlich kurz, aber es fühlt sich lange an. Und irgendwie ist es verrückt, wie schnell ich mich wieder dran gewöhnt habe, dich in meiner Nähe zu haben. Also ja. Ich wollte nur sagen: Ich vermisse dich. Schon wieder.«
Ich lasse los und schicke die Nachricht ab. Kein großes Drama. Nur ehrlich. Trotzdem fühlt es sich ein bisschen lächerlich an. Ich bleibe noch einen Moment stehen, bevor ich wieder reingehe.
Später am Abend liege ich im Bett, Kais Hoodie übergezogen und der Laptop auf der Brust.
Das Licht ist gedimmt, meine Beine sind unter der Decke eingekuschelt und ich suche einen Film aus.
Dann. Endlich. Mein Handy vibriert. Kai ruft an.
Ich gehe ran, lächelnd, »Hey.«
»Hey. Ich habe gerade deine Nachricht gehört«, sagt er. Seine Stimme ist ruhig und ein bisschen müde. Er sitzt auf der Bettkante in seinem Hotelzimmer.
»Und?«, frage ich.
»Ich habe dich auch vermisst. Die ganze Zeit.«, er klingt ein bisschen schüchtern, wie er die Worte ausspricht.
Ich lächle und drehe mich auf die Seite, der Film ist schon wieder vergessen, »Was hast du heute gemacht?«
»Meeting-Marathon. Informationen gesucht, besprochen und gelernt. Danach war ich noch kurz spazieren und habe an dich gedacht.«, erzählt er eine Kurzfassung. Ich kann sehen, wie seine Wangen beim letzten Teil etwas rot werden.
»Spazieren? In Köln?«, frage ich verwundert, dass Kai einfach so in der Stadt rumläuft.
»Mit Kopfhörern und Hoodie, damit mich keiner erkennt. Ich bin undercover unterwegs.«, er demonstriert es, indem er die Kapuze seines Hoodies bis über seine Augen zieht.
Ich lache leise, »Der James Bond der Sportkommentatoren.«
»So ungefähr.«, grinst er in die Kamera, während er sich nach hinten in sein Bett fallen lässt.
Wir reden noch ein bisschen. Über mein Training. Über seinen Meeting-Chef, der ständig das Wort 'Harmonie' benutzt, als wäre es ein Zaubertrick. Über den neuen Kameramann, der zu laut atmet.
Dann fragt er, »Wollen wir noch einen Film schauen?«
»Dachte, du fragst nie.«, stimme ich zu, »Ich habe sowieso vorhin nach Filmen geguckt«
Ich setze mich auf und ziehe meinen Laptop wieder zu mir.
Wir starten den Film gleichzeitig – irgendein Indie-Film, den Kai vorgeschlagen hat. Ich kenne ihn nicht, aber es ist mir auch egal. Ich habe die Kopfhörer drinnen, das Handy liegt neben meinem Kopf auf dem Kissen, Kai atmet ruhig am anderen Ende und wir schauen beide auf unser Display.
Keiner von uns redet. Aber wir sind da.
Und irgendwann denke ich: Wie schön wäre es jetzt, wenn er einfach neben mir liegen würde.
Nur sein Atem. Seine Wärme. Vielleicht seine Hand, die meine findet, so wie damals auf meinem Bett. Vielleicht hat er seine Arme um mich gelegt. Vielleicht liegt mein Kopf auf seiner Brust.
Ich sehe rüber zum zweiten Kissen. Ich bilde mir ein, da liegt er. Ich schließe kurz die Augen. Lächle. Und bin, für diesen Moment, nicht allein in diesem Raum.
POV Kai
Die letzten zwei Tage habe ich hauptsächlich in Besprechungen mit dem Sender verbracht und bin durch Köln gelaufen. Am Abend habe ich mit Jule telefoniert, wir haben geredet, über alles, was passiert und Filme geschaut. Und jetzt sitze ich wieder hier auf dem Sessel neben dem Fenster, meine Beine angewinkelt und mein Handy mit einem Facetime-Anruf in der Hand.
Julian liegt quer auf seinem Hotelbett, das Kissen halb übers Gesicht gezogen. Draußen ist es spät geworden, viele Fenster um mich herum sind schon dunkel geworden. Wir reden schon seit einer Stunde über alles, was in den letzten Tagen passiert ist. Jules Training, meine Meetings, die anderen Jungs und was ich in Köln gemacht habe. Dazwischen haben wir immer wieder geschwiegen und die Zweisamkeit zu genießen. Ich sehe aus dem Fenster raus und beobachte, wie kleine Regentropfen gegen die Scheibe prasseln.
Dann sagt Julian plötzlich, »Du…hast du mal darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn du einfach hier bleiben würdest? Also...nicht im Hotel«, er grinst leicht, »sondern bei mir. In Dortmund.«
Ich schaue wieder auf das kleine Display in meiner Hand. Mein Herz setzt zwar nicht aus, aber da ist ein Moment, in dem mein Kopf schreit: Stopp. Zu viel. Zu nah.
Ich setze mich etwas gerader hin. Verschränke die Arme locker. Nicht abwehrend, sondern vorsichtig, »Du meinst... ganz?«
Er nickt, »Ich meine, du bist ja sowieso ständig in Deutschland. Der Sender ist in Köln. Das ist zwar ein Stück weg von Dortmund, aber du bist dort ja sowieso selten und machst die meisten Meetings digital. Wenn du bei mir wärst, hätten wir weniger Distanz.«
Ich schlucke und will was sagen, aber es ist, als würde meine Zunge versuchen, den nächsten Satz sagen, »Köln ist schon ein Stück weg«, sage ich schließlich, tonlos.
»Aber nicht so wie London.«, hebt Jule die Augenbraue, »Du bist in den letzten zwei Wochen fast öfter in Deutschland gewesen als ich.«
Ich lächle weich, aber mein Magen zieht sich zusammen, »Ja, okay. Stimmt.«
Er wartet. Ich merke es. Er wartet auf eine Zusage. Oder irgendwas anderes. Aber ich starre nur auf meine Hände. Auf meine Schuhe. Auf alles, was nicht seine Augen sind, »Es ist nur, ich habe mir gerade alles in London aufgebaut. Ich habe die Wohnung da. Mein Zeug. Alles.«
»Das könntest du ja rüberholen.«, er zieht die Augenbrauen zusammen, weil es logisch ist. Klar.
Ich nicke langsam, »Vielleicht. Ich weiß nicht, ob das mit dem Sender so einfach ist. Meetings, Studiosachen, spontane Einsätze «
»Die sind in Köln, Kai.«, er seufzt genervt, »Das ist nicht aus der Welt«
»Ja, aber manchmal auch in Hamburg oder München. Ich weiß noch nicht, wie sich das entwickelt mit dem Job.«
Er sagt nichts. Ich spüre, wie er mich ansieht. Wie er auf etwas wartet, das ich ihm nicht gebe.
Dass ich ihm nicht geben kann. Noch nicht.
Ich lache kurz, schüttle den Kopf, spiele es runter, »Du willst mich einfach nur loswerden aus deinem Handybildschirm.«
»Ich will dich neben mir, nicht auf Lautsprecher.«, sagt er leise, seine Stimme klingt etwas traurig. Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange.
Und dann sage ich, »Es ist ein schöner Gedanke. Wirklich. Aber ich glaube, das Timing ist gerade einfach noch schwierig. Weißt du? Ich bringe gerade erst alles wieder auf die Reihe. So mit mir. Mit meinem Leben. Ich will nicht wieder alles durcheinanderbringen.«
Julian nickt. Ganz langsam. Er wirkt nicht enttäuscht. Nicht wirklich. Aber ich sehe, wie etwas in ihm leiser wird. Wie seine Augen nicht mehr direkt zu mir schauen, sondern ein Stück daran vorbei.
»War ja nur ne Idee«, murmelt er. Und lächelt. Aber es ist nicht das Lächeln von vorhin. Es ist nicht echt.
Wir bleiben in der Stille sitzen. Wir schweigen uns an, beenden den Anruf aber nicht.
Ich sitze neben dem Fenster, mein Gesicht gegen die kühle Scheibe gelehnt. Jule liegt in seinem Bett, das Handy lehnt am Kissen neben ihm und ich kann ihn dabei beobachten, wie er einschläft. Sein gleichmäßiger Atem füllt das Zimmer und ich starre raus in die Nacht, denke an das, was er gesagt hat. Und an das, was ich nicht gesagt habe.
Ich stelle mir vor, wie es wäre. Jeden Tag aufzuwachen, und er ist da. Neben mir. Sein Kopf in meinem Kissen. Sein Shirt auf meinem Stuhl. Seine Haare zerzaust und seine Stimme rau vom Schlaf. Sein Leben neben meinem.
Und ich weiß: Ich will das. Aber ich habe Angst, dass ich es kaputt mache, noch bevor es überhaupt steht. Also sage ich nichts. Noch nicht. Weil ich Zeit brauche. Weil es zu früh ist. Weil Nähe gut ist, aber immer noch auch ein bisschen gefährlich. Besonders für jemanden wie mich.
Chapter 31: Escape
Chapter Text
POV Julian
Sobald wir im Hotel für unser Spiel gegen Nordirland angekommen sind, bin ich sofort auf mein Zimmer gegangen und habe mich auf das Bett gesetzt. Die Tür ist hinter mir ins Schloss gefallen, aber mein Kopf ist immer noch bei Kai. Bei unserem Telefonat gestern Abend. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Dass er bleibt? Dass er diesmal wirklich bei mir bleiben will? Dass er sofort zu mir ziehen will? Aber es kam nichts. Nur, dass er nach London muss. Er hat die Arbeit vorgeschoben.
Die, die in Köln ist. Es war nur eine Ausrede, das habe ich gemerkt. Und wieder fühle ich mich verletzt. Er will nicht zu mir ziehen, das hat er mir ziemlich deutlich gemacht, aber er konnte es mir nicht einmal ins Gesicht sagen, er hat mich hingehalten. Er hat einfach nichts mehr gesagt, als er nicht mehr wusste, was. Als er keinen Grund mehr finden konnte.
Ich atme langsam aus, stehe irgendwann auf und dusche. Nicht, weil ich mich schmutzig fühle, sondern weil ich etwas anderes spüren will als dieses Ziehen in der Brust. Danach ziehe ich mir Jeans und ein schlichtes schwarzes Shirt über, schnappe meine Jacke und mein Handy, bevor ich rausgehe. Ich muss mich irgendwie ablenken und Bewegung hilft mir immer am besten.
In der Hotellobby treffe ich Leon, der gerade mit Jo diskutiert, ob man morgens schon Pizza essen darf. Serge steht daneben und isst ein Croissant, als wäre es das normalste auf der Welt. Ich bin sehr verwirrt von der ganzen Situation, bleibe kurz stehen, bevor ich auf sie zugehe.
»Was geht, Jule?«, fragt Jo, als er mich sieht.
»Ich... nichts. Ich brauche bisschen frische Luft.«, erkläre ich, als sich auch Leon und Serge zu mir hindrehen.
»Wir wollten was essen gehen und ein bisschen spazieren. Komm doch mit«, schlägt Leon vor.
Ich überlege. Dann nicke ich, »Klar, warum nicht.«
Wir laufen zu viert durch die Innenstadt und setzen uns später draußen in ein kleines italienisches Restaurant. Die Sonne scheint, aber es ist frisch. Klar, ist ja auch Mitte Oktober. Ich ziehe die Ärmel über meine Hände, beobachte Jo, wie er Serge erzählt, dass er 'die beste Margherita seines Lebens' erwartet, sonst schreibt er eine Google-Rezension mit drei Absätzen. Serge kontert mit einem 'Du bist der Grund, warum Servicekräfte weinen', und Leon schüttelt nur leicht den Kopf und grinst.
Ich sage wenig. Lache manchmal, wenn es angebracht ist. Es tut gut, mit den Jungs zu sein. Keiner stellt Fragen. Keine Andeutungen. Niemand, der mich mit zu viel Blickkontakt aus der Balance bringt. Es ist einfach ein freundschaftlicher Ausflug mit meinen Kollegen vor einem Spiel. Und doch ist er da. Kai. In meinem Kopf. Wie ein leises Echo. In meinem Blick, wenn ich einen freien Stuhl sehe. Als ich Pfannkuchen sehe und mich frage, ob er ihn auch salzig finden würde.
Aber er ist nicht hier. Bevor wir in Deutschland losgeflogen sind, habe ich ihn gefragt, ob er sich vor dem Spiel noch treffen will und wir was machen wollen, vielleicht die Stadt erkunden. Er hat lange nicht geantwortet. Erst, als ich im Aufzug auf dem Weg in mein Hotelzimmer bin, bekomme ich eine Nachricht von ihm.
Muss noch was mit dem Sender besprechen
sorry
Mehr kam nicht mehr von ihm. Den ganzen Tag. Keine Frage, ob ich schon angekommen bin, wie der Flug war oder wie es mir geht.
Als wir wieder im Hotel waren, schaue ich sofort auf mein Handy und hoffe, dass Kai mir geschrieben hat - aber nein. Natürlich nicht.
Immer wieder öffne ich den Chat und warte auf eine Nachricht. Eine Nachricht, die nie kommt. Also mache ich mich irgendwann auf den Weg in die Hotellobby, wo wir uns alle treffen, um zum Stadion zu fahren.
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Am Abend nach dem Spiel bin ich mit Timo direkt auf das Zimmer gegangen, das wir uns teilen. Er hat vorgeschlagen, dass wir einen Netflix-Abend machen. Keine große Sache. Jogginghose, Tee, Decke. Ich bin zu müde, um nein zu sagen. Also habe ich mich auf mein Bett gelegt, schaue auf mein Handy und warte nun, bis Timo einen Film gesucht hat. Zwischen uns steht eine Schale Chips. Auf dem Fernseher läuft ein mittelguter Film mit viel Dialog und wenig Handlung. Ich schiebe mich tiefer unter die Decke.
Irgendwann beginnt Timo zu sprechen, »Du bist ruhig heute.«
Ich überlege, ob ich lügen soll. Aber dann nicke ich nur, »Ich habe das Gefühl, ich vermisse ihn jedes Mal ein Stück mehr, wenn er wieder nach London geht«, sage ich schließlich. Ich muss nicht sagen, um wen es geht, er weiß es. Natürlich weiß er es, schließlich hat er in London oft Zeit mit Kai verbracht. Kai hat ihm bestimmt erzählt, was zwischen uns passiert ist.
Er reagiert nicht sofort. Dann dreht er den Ton vom Fernseher etwas leiser, »Das klingt, als wärst du ziemlich weit drin.«
»Bin ich auch«, sage ich, »Ich habe gedacht, es wird einfacher, je öfter wir uns sehen, aber es wird schwerer. Ich war so froh, als er das letzte Mal bei mir war. Da war alles leicht. Normal. Und jetzt...«
Timo dreht sich zu mir, »Was ist jetzt?«
»Jetzt fühlt es sich wieder an, als wäre alles auf Pause.«, beende ich meinen Satz von vorhin.
Er sagt nichts. Ich glaube, das ist das Beste, was er tun kann.
»Ich meine, vielleicht ist das auch unfair«, fahre ich fort, »Er hat viel zu klären. In sich und ich verstehe das, aber ich wünsche mir einfach, dass er es mir sagt. Dass er es nicht runterschluckt. Ich komme damit klar, wenn er noch Zeit braucht, aber er kann es mir wenigstens sagen.«
Timo nickt, »Willst du, dass er bleibt?«
Ich zucke die Schultern, »Ich will, dass er ehrlich ist und dass er nicht wieder geht, wenn es ernst wird.«
Timo legt mir kurz eine Hand auf den Rücken, klopft einmal und wir gucken den Film weiter. Oder tun zumindest so. Dann steht er auf, holt noch Tee. Ich bleibe liegen, blicke an die Decke. Und wünsche mir nichts mehr, als dass ich einfach zurückspulen könnte. Zu gestern. Zu seinem Blick auf den Bildschirm. Zu der Wärme in seiner Stimme, bevor er wieder diesen Tonfall angenommen hat, den ich nicht deuten kann.
POV Kai
Nach dem Spiel in Nordirland bin ich direkt wieder nach London geflogen. Ich muss mal wieder in meine Wohnung. Mit Jule habe ich nicht mehr geredet. Ich konnte es einfach nicht. Ich brauche etwas Abstand. Und ich kann die Enttäuschung in seinem Gesicht nicht sehen. Nicht in echt. Also bin ich direkt nach London. Ich habe ihm noch eine Nachricht geschrieben. Ihm zu seinem guten Spiel, seiner Vorlage und seinem Tor gratuliert. Zurück kam nur ein emotionsloses ' Danke' . Danach kam nichts mehr. Von mir auch nicht. Ich hatte zu viel Angst.
Jetzt sitze ich im Wohnzimmer der WG und schaue Declan und Timo bei einer Runde FIFA zu, während Mason die Chips aus der Schale am Tisch futtert.
Timo lacht, Declan schimpft über den Schiedsrichter, der ihm gerade das zweite Tor wegen Abseits aberkannt hat. Mason ruft was von 'Skill issue' und nimmt sich eine neue Dose Cola. Ich lache automatisch. Es kommt raus wie ein Geräusch, nicht wie echtes Lachen.
»Kai, Bruder, du bist dran«, ruft Mason mir zu.
Ich hebe den Blick, nicke und drücke auf Start. Meine Hände machen, was sie sollen. Ich spiele, zwar nicht gut, aber auch nicht scheiße. Es reicht, um nicht aufzufallen. Genau das ist mein Plan für heute. Nicht auffallen.
»Boah, das war mies verteidigt«, sagt Timo, als ich den Ball fast ins eigene Tor schieße.
»Ich bin halt jetzt ein Kommentator und kein Spieler mehr«, ich zucke mit den Schultern und grinse flach.
Sie lachen. Ich auch. Nur innerlich zieht sich etwas zusammen.
Nach ein paar Matches machen wir eine kurze Pause. Declan holt uns zwei Dosen aus der Küche, Mason verschwindet kurz ins Bad und Timo bleibt auf der Couch, den Blick auf die Playlist gerichtet.
Ich bleibe einen Moment stehen und lehne mich gegen die Arbeitsplatte. Die Kälte der Coladose, die mir Declan gerade gegeben hat, drückt gegen meine Hand. Ich starre aus dem Fenster. Lichter flackern, Fenster spiegeln Leben, das ich nicht spüre. Julian war vor zwei Tagen noch neben mir. Und jetzt fühlt sich alles an, als wäre da nie was gewesen. Es ist schon wieder meine Schuld und ich weiß nicht einmal wirklich, wieso ich mich schon wieder von ihm distanziert habe.
»Du bist heute irgendwie leise«, sagt Timo plötzlich.
Ich drehe mich zu ihm um. Er sitzt neben mir, Cola in der einen Hand und Chips in der anderen. Typisch Timo, direkt, aber nie zu direkt.
»Alles gut«, antworte ich, »Einfach viel im Kopf.«
Er nickt. Fragt nicht weiter und ich atme leicht aus. Ich könnte ihm selbst nicht einmal erklären, was los ist. Ich habe Angst, mit Jule zusammen zu ziehen und deswegen habe ich das alles zwischen uns wieder komisch gemacht.
Als die anderen beiden wieder da sind, spielen wir weiter. FIFA, Gelaber und Sprüche. Ich spiele wieder, verliere wieder, diesmal mit einem Eigentor. Declan schmeißt mir ein Kissen an den Kopf., »Junge, bist du heute blind?«
Ich grinse, halte das Kissen fest, »Kreative Spielweise. Du verstehst das nur nicht.«
Mason nimmt mir den Controller ab und startet die nächste Runde, »Okay, jetzt aber Real gegen Barca. Keine Eigentore mehr.«
Ich lehne mich zurück, ziehe die Knie an den Körper und starre auf den Bildschirm, der ohne Pause neue Spielszenen zeigt. Ich höre ihnen zu, aber die Worte rauschen an mir vorbei.
Was, wenn ich es wirklich gerade kaputt mache? Oder schlimmer: wenn es schon kaputt ist, weil ich nichts gesagt habe? Und jetzt auch nicht viel sage.
Ich denke an den Moment, als Julian mich gefragt hat, ob ich bleiben will. In Dortmund. Bei ihm. Und ich habe nichts gesagt. Nicht 'Nein', nicht 'Ich kann nicht', nicht 'Ich will, aber ich kann das jetzt noch nicht'. Ich habe drum herum geredet. London erwähnt, Termine erfunden und er hat genickt, als wüsste er, dass ich lüge, aber zu höflich, um mich zu stellen.
Ich will zurück zu dem Moment und ihn neu machen. Etwas anderes sagen.
»Kennt ihr das«, sage ich irgendwann in die Runde, »wenn man das Gefühl hat, dass man dabei ist, was richtig Gutes zu zerstören, bevor es überhaupt angefangen hat?«
Timo sieht mich von der Seite an. Declan pausiert das Spiel. Mason zögert, dann lehnt er sich vor die Hände über den Knien.
»Boah«, sagt Declan, »Das klingt nach Beziehungszeug. Da kenne ich mich leider nicht aus, bro.«
»Geht es um eine Frau?«, fragt Mason.
»Vielleicht. Vielleicht auch nur um irgendwas, das hätte was werden können«, sage ich und starre weiter auf den Bildschirm. Die Stille ist für zwei Sekunden schwer, dann schwenkt Mason in seine ironische Art zurück, »Klingt nach einem Premier League Vertrag, den du nicht unterschrieben hast.«
Ich lache leise, »Sowas in der Art.«
Timo bleibt ernst. Er schaut mich mit diesem wissenden Blick an. Er weiß, dass ich über ihn rede. Natürlich weiß er es, »Und was genau hast du nicht gemacht?«
»Ich habe... nicht 'Ja' gesagt als ich es hätte tun sollen. Ich habe so getan, als wär alles offen, obwohl ich wusste, dass das 'vielleicht' genauso gut ein 'Ich habe Angst' war.«
Mason nickt langsam, »Dann sag es doch jetzt.«
»Zu spät«, murmle ich; »Ich habe gezögert. Und dann ist es still geworden. Und ich auch. Ich habe es aufgeschoben, mich zu melden.«
»Still bleiben ist nie gut«, sagt Timo, »Still ist meistens das Ende, ohne dass jemand das Licht ausmacht.«
Ich sage nichts. Ich denke an Julian beim Anruf. Da, wo wir nicht mehr geredet haben. Sein Lächeln, das nicht angekommen ist. Seine Frage, ob wir uns vor dem Spiel treffen wollen. Und mein Ausweichen.
»Ich wollte nicht schon wieder zu viel sein.«, sage ich.
»Manchmal verschreckst du Leute mehr mit deiner Abwesenheit als mit deiner Nähe«, sagt Declan, ganz trocken.
Ich sehe ihn an. Für jemanden, der bei FIFA fast nur schreit, hat er manchmal verdammt klare Sätze parat.
Wir spielen noch zwei Runden. Reden über nichts mehr, das tiefer geht. Ich danke ihnen innerlich dafür. Irgendwann macht Mason das Licht etwas dunkler, Declan zieht sich die Kapuze über den Kopf und Timo schläft halb auf dem Sofa ein.
Ich sitze am Fenster. Draußen liegt London unter einer dünnen, kalten Nacht. Ich sehe die Lichter in den Fenstern der anderen Häuser.
Ich habe das Gefühl, ich müsste atmen, aber irgendwas drückt mir die Brust zu.
Julian.
Ich denke an seinen Blick, als ich das mit London gesagt habe. Es war kein Vorwurf darin. Keine Frage. Nur diese stille Erwartung, dass ich vielleicht doch noch etwas sage. Dass ich doch noch den Mut finde, ehrlich zu sein. Und ich? Ich habe geschwiegen. Ich weiß, er will nur Nähe. Kein Drama, kein Plan für die nächsten zehn Jahre. Nur uns. Alltag. Zusammen Kaffee trinken, morgens nebeneinander aufwachen, abends gemeinsam die Zahnbürsten ausspülen. Ohne immer zu planen, wann wir uns wiedersehen können. Ohne das ständige Vermissen. Einfach nur zusammen sein.
Aber was, wenn ich es kaputt mache? Was, wenn ich bei ihm einziehe und plötzlich merke, dass ich nicht atmen kann? Nicht weil er falsch ist, sondern weil ich es bin? Weil ich nie gelernt habe, wie man sich halten lässt, ohne sich dabei selbst zu verlieren? Ich habe so oft gedacht, ich wäre darüber hinweg. Über all das, was mein Vater gesagt hat. Dieses 'Reiß dich zusammen', dieses 'Keiner will einen schwachen Sohn'. Und dann kam Julian. Und alles wurde weich. Und echt. Und ich habe mich das erste Mal gefragt, ob ich wirklich falsch bin oder ob ich einfach nur geglaubt habe, dass ich es bin.
Aber ich habe Angst. Angst, dass ich ihm nicht genüge. Dass er eines Tages aufwacht, sich umdreht, mich ansieht und denkt: Das war ein Fehler. Dass ich zu anstrengend bin. Zu still. Zu kaputt. Dass ich ihm das Herz breche, obwohl ich nur versucht habe, seines zu halten.
Und dann ist da noch das andere: Was, wenn ich ihn brauche, mehr als er mich? Was, wenn ich mich zu sehr an ihn gewöhne, an sein Lächeln, an seine Stimme, an dieses Gefühl von Sicherheit? Was, wenn er irgendwann geht und ich keinen Boden mehr unter den Füßen habe?
Ich fahre mir über das Gesicht, lehne die Stirn gegen das kalte Fenster. Mein Handy liegt neben mir auf dem Boden. Julians Chat ist noch offen. Wie so oft, seit ich gestern von Nordirland wieder nach London geflogen bin. Ich will ihm schreiben. Sagen, dass ich ihn vermisse. Dass ich ein Idiot war. Dass mein Schweigen nichts mit ihm zu tun hatte, sondern mit mir. Mal wieder. Mit dem Teil in mir, der immer noch denkt, dass unsere Liebe etwas ist, was falsch ist, wenn man zu nah dran ist.
Aber ich weiß nicht, wie. Ich weiß nicht, ob ich ihm das alles sagen darf, ohne dass er denkt, ich zweifle an ihm. Dabei zweifle ich nur an mir.
Ich schließe die Augen. Und in meinem Kopf spielt sich alles nochmal ab. Sein Blick, als er mich gefragt hat, ob ich bleiben will. Seine Stimme, ruhig, fast beiläufig. Aber ich habe den Ernst dahinter gespürt. Und ich habe weggesehen.
Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich zu viel wollte und Angst hatte, dass das genau der Fehler ist. Ich atme ein. Leise. Tief. Und greife langsam nach meinem Handy.
Vielleicht reicht es fürs Erste, ihm das zu sagen, was ich wirklich meine.
'Ich vermisse dich.'
Chapter 32: Disconnected
Chapter Text
POV Kai
Ich sitze auf meiner Couch, das Handy in der Hand, und lese Julians Nachricht zum fünften Mal.
Ich vermisse dich auch.
Aber das reicht mir nicht, Kai. Ich will K larheit.
Ich starre auf die Wörter, als würden sie sich verändern, wenn ich nur lang genug hinschaue. Tun sie aber nicht. Sie bleiben genau so. Klar. Schmerzhaft. Und ehrlich.
Das Display leuchtet kurz auf. Er ruft an. Ich zögere. Mein Daumen schwebt über dem grünen Button. Dann atme ich ein, tief und gehe ran.
»Hey«, sage ich leise.
»Hi.«, seine Stimme ist ruhig, aber nicht weich. Da ist was zwischen uns. Eine Spannung, die nicht neu ist, aber sich heute schwerer anfühlt als sonst.
»Danke, dass du rangegangen bist«, sagt er, »Aber ich kann nicht so tun, als wäre alles okay.«
Ich lehne mich zurück. Meine Stirn legt sich in Falten. »Julian…«
»Ich weiß nicht, was du erwartest, Kai«, unterbricht er mich, »Du sagst, du vermisst mich. Und gleichzeitig ziehst du dich zurück. Du weichst aus, wenn es konkret wird. Du sagst, du willst Nähe, aber sobald ich dir welche anbiete, wird es dir zu viel. Ich verstehe es einfach nicht.«
Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt, weil er recht hat, »Es ist nicht, dass ich dich nicht will«, sage ich.
»Dann was ist es?«, fragt er. Und da ist Wut in seiner Stimme. Nicht laut. Aber scharf.
»Ich…ich habe Angst, okay? Ich habe einfach Angst, dass ich das kaputt mache. Dass ich zu viel bin. Dass ich dich mit in meine Unsicherheit ziehe. Ich weiß nicht, wie man das macht.«
»Was genau? Ehrlich sein?«, seine Stimme ist scharf. Sein Ton trifft mich.
Ich atme ein, versuche ruhig zu bleiben, »Ich bin ehrlich. So ehrlich, wie ich es gerade kann.«
»Aber das ist nicht genug«, sagt er.
Stille. Ich will ihm sagen, dass ich es versuche. Dass ich mich wirklich bemühe. Aber das klingt nach einer Ausrede. Nach dem, was ich selbst schon zu oft gehört habe.
»Du hast mich gefragt, ob ich zu dir ziehen will«, sage ich schließlich, »Und ich habe nicht ja gesagt. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich nicht weiß, ob ich das kann. Ob ich das alles jetzt schon kann. Zusammenwohnen, Alltag, diese Nähe. Die Verantwortung. Das hat mich überfordert. Ich habe das nie gelernt. Ich kenne das nicht.«
»Du musst es auch nicht perfekt können«, sagt er, »Aber du musst es wollen und zeigen und verdammt nochmal nicht immer weglaufen.«
Ich schließe die Augen. Es fühlt sich an, als würde mein Brustkorb sich zuziehen. Aber ich weiß, dass er recht hat. Und trotzdem fühlt es sich zu viel an. Zu viel auf einmal.
»Ich weiß nicht, ob ich das so kann«, sage ich und meine Stimme bricht ein wenig.
»Was genau meinst du mit 'so'?«, seine Stimme ist jetzt leiser, aber nicht weicher.
»Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Druck umgehen kann. Diesen Erwartungen. Diese Angst, alles falsch zu machen. Ich habe das Gefühl, sobald ich mich festlege, wird es eng. Nicht, weil du eng bist. Sondern weil ich dann anfange zu funktionieren. Ich habe Angst, dass ich mich selbst einenge und mich verliere.«
»Du verlierst dich nicht«, sagt Julian, »Du fliehst. Immer dann, wenn es wichtig wird.«
Ich schüttle den Kopf, obwohl er es nicht sehen kann, »Ich will dich nicht verletzen, Jule. Aber ich weiß nicht, ob ich das alles so schnell kann.«
»Und ich will nicht der Typ sein, der wartet, bis du bereit bist«, sagt er gereizt, »Ich habe so viel gegeben. So oft versucht, dir zu zeigen, dass ich da bin und alles, was ich zurückbekomme, ist ein 'vielleicht'. Ein 'ich weiß nicht' und ganz ehrlich? Das tut weh. Mehr als wenn du einfach sagen würdest, dass du mich nicht willst.«
»Ich will dich«, sage ich. Und meine Stimme zittert.
»Dann zeig es mir. Nicht mit Worten. Nicht mit halben Nachrichten, sondern wirklich. Und wenn du das nicht kannst, dann sag es. Aber hör auf, mich hoffen zu lassen.«
Ich stehe auf. Laufe durch mein Wohnzimmer. Setze mich wieder. Stehe erneut auf. Mein Kopf ist ein einziges Rauschen.
»Ich habe dich nie losgelassen«, sage ich.
»Aber du hast mich auch nie richtig festgehalten«, antwortet er.
Es ist still.
Ich höre ihn atmen. Schnell. Unruhig. Und ich weiß, dass ich gerade dabei bin, ihn zu verlieren. Zumindest ein Stück.
»Vielleicht brauchst du jemanden, der mehr weiß, was er will«, sage ich plötzlich.
»Vielleicht«, sagt Julian und es ist kein Trotz in seiner Stimme. Nur Müdigkeit. Enttäuschung.
»Ich kann das gerade nicht«, sage ich, »Dieses Gespräch. Diese Nähe. Ich fühle mich, als würde ich gerade zerbrechen.«
»Dann sag das doch. Sag, dass du überfordert bist, aber tu nicht so, als wärst du mir damit näher.«
Ich atme flach, »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Ich auch nicht.«, gibt er zu, »Das weiß ich in letzter Zeit selten bei dir.«
Die Worte tun weh, aber er hat recht. Ich mache in letzter Zeit vieles aus Impuls. Nicht nachvollziehbar. Und vor allem plötzlich. Ich sage nichts. Es ist noch ein paar Sekunden still, bevor Jule wieder spricht, »Ich... ich glaube, wir sollten heute nicht mehr reden«, sagt er.
»Okay.«, stimme ich zu.
Und als er auflegt, fühlt es sich nicht nach Befreiung an. Nicht nach Klarheit. Es fühlt sich an, als hätte ich jemanden weggestoßen, den ich eigentlich nur halten wollte, aber nicht wusste, wie. Ich lasse das Handy neben mir aufs Sofa fallen. Ziehe die Knie an die Brust. Und starre ins Leere. Ich habe keine Ahnung, wie ich das wieder geradebiegen soll, aber ich weiß, dass ich genau das will.
Ihn.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dort sitze. Meine Beine angezogen, die Stirn gegen meine Knie gelehnt und das Display meines Handys längst dunkel. Die Wohnung ist still - und gleichzeitig viel zu hell für das, was sich in mir anfühlt wie Nacht.
Ich strecke die Hand aus, greife wieder nach meinem Handy, scrolle durch meine Kontakte und drücke auf 'Lea anrufen'. Ohne nachzudenken. Ich weiß, dass ich sie jetzt brauche. Dass sie mir jetzt helfen kann. Und wenn sie auch nicht weiß, was ich tun kann, dann ist sie wenigstens da für mich.
Sie geht beim dritten Klingeln ran, »Kai?«
Ich sag erstmal nichts. Ich atme. Zwei Mal. Drei Mal. Ich muss mich sammeln, bevor ich wirklich weiß, was ich sagen will.
»Kai?«, sagt sie nochmal, ihre Stimme eher fragend. Diesmal klingt es leiser. Vorsichtiger. Ich schlucke. Meine Stimme bricht, bevor ich überhaupt etwas sagen kann, »Ich habe es verkackt. Schon wieder.«
»Okay«, sagt sie nur. Kein Schock. Keine Frage. Sie wartet nur, bis ich bereit bin, weiter zu reden. Ich ziehe die Decke enger um meine Schultern, »Ich weiß nicht mal genau, wie. Es war nur ein Gespräch. Aber alles, was ich gesagt habe, war irgendwie falsch.«
Sie atmet hörbar aus, »Julian?«
Ich nicke. Merke dann, dass sie das nicht sehen kann, »Ja.«
Es rauscht kurz in der Leitung, vielleicht, weil sie sich irgendwo hinsetzt. Ich höre eine Tasse und dann einen Stuhl, der gegen den Boden streift.
»Willst du erzählen?«, fragt sie, nachdem ich einen Moment lang nichts gesagt habe.
Ich versuche es. Erzähle bruchstückhaft. Nicht alles. Nur als er mich gefragt hat, was ich will. Wie ich nicht geantwortet habe. Wie er wütend wurde. Wie ich dicht gemacht habe. Und wie ich am Ende wieder das gesagt habe, was alles schlimmer macht, obwohl ich dachte, es wäre ehrlich, »Es war so dumm, Lea. Ich wollte nur, dass er weiß, wie schwer das für mich ist. Aber ich habe es gesagt, als würde ich es ihm vorwerfen.«
»Und was hast du wirklich gefühlt?«, fragt sie nach. Keine Vorwürfe, kein Urteil, nur eine neutrale Frage. Ich streiche mir über die Augen, spüre Tränen, die ich nicht kommen gesehen habe. Mein Hals fühlt sich eng an. In meinem Bauch ist ein Knoten.
»Ich habe nur gedacht: Bitte bleib. Bitte geh nicht. Aber ich wusste nicht, wie ich es sagen soll, ohne dass es nach Schwäche klingt.«, gebe ich ehrlich zu.
»Vielleicht ist Schwäche gar nichts Schlechtes«, sagt sie.
Ich schnaube wütend, »Sag das mal unserem Vater.«
Stille. Sie überlegt, dann sagt sie sanft, »Kai, du bist kein Kind mehr. Du darfst anders lieben als er. Du darfst fühlen, was du fühlst und du darfst Angst haben. Du musst dich nicht in irgendwelche Muster drängen, die dir nur alles zerstören, was dir wichtig ist.«
Ich presse die Lippen aufeinander, »Aber ich will ihn nicht verlieren.« Ich meine nicht meinen Vater. Und Lea weiß es. So wie Lea immer alles weiß, auch, wenn ich es ihr nicht gesagt habe.
»Dann kämpfe.«, sagt sie schließlich, will mich ermutigen.
Ich schüttle den Kopf, »Ich habe ihn gerade verletzt. Wieder. Ich habe ihm das Gefühl gegeben, dass ich ihn nicht will. Dabei ist er das Einzige, was sich seit Monaten richtig anfühlt. Aber jedes Mal, wenn ich ihm nahe bin, fühlt es sich an, als müsste ich wieder fliehen bevor ich alles kaputt mache. Bevor ich ihn verletze und er mich deswegen hasst.«
Sie sagt nichts. Aber sie ist da. Und das reicht mir gerade, weil ich weiß, dass sie mich nicht verurteilt. Dass sie mir helfen will und nur das Beste für mich möchte.
»Was mache ich jetzt, Lea?«, frage ich sie verzweifelt.
»Du atmest«, sagt sie ruhig, »Du schläfst und dann redest du mit ihm. Aber nicht mehr heute. Vielleicht morgen. Und du bist dabei ehrlich. Nicht perfekt. Einfach du. Du erklärst ihm, wieso du gesagt hast, was du gesagt hast. Wieso du fühlst, was du fühlst und dann sucht ihr nach einer Lösung.«
Ich nicke, obwohl sie es nicht sehen kann, »Danke.«
»Immer.«, ich kann in ihrer Stimme hören, wie sie leicht lächelt.
Dann ist es wieder still zwischen uns. Ich höre nur ihre ruhigen Atemzüge in der Leitung und immer mal wieder, wie sie eine Tasse nimmt und etwas trinkt.
Bis Lea erneut etwas sagt, »Willst du zu ihm ziehen? Willst du bei ihm sein?«
»Immer«, gebe ich zu, »Aber ich will ihn nicht verletzen.«
»Dann bekommt ihr das schon irgendwie hin«, sagt sie zuversichtlich. Bevor sie auflegt, sagt sie noch einen Satz, der mich trifft wie ein warmer Schlag, »Man kann Nähe lernen, Kai, wenn man jemanden hat, der einen dabei hält.«
Und dann bin ich wieder allein. Nur diesmal fühlt es sich nicht ganz so hoffnungslos an. Nur ein bisschen verloren. Aber das ist okay, weil irgendwo da draußen jemand ist, der immer noch da ist.
Chapter 33: Hot Tea & Cold Air
Chapter Text
POV Julian
Da steht er. Vor meiner Haustür. Wieder. Nur diesmal ist es anders. Diesmal umarme ich nicht freudestrahlend, dass er hier ist. Diesmal sehe ich ihn verwundert an. Verwundert und verwirrt.
Er hat einen dunklen Hoodie an, die Kapuze tief in sein Gesicht gezogen und das Gesicht leicht gesenkt, so dass ich ihn nicht ansehen kann.
Nach unserem Telefonat vor nicht einmal 36 Stunden habe ich eher damit gerechnet, dass er mir schreibt oder anruft - wenn er sich überhaupt meldet. Aber damit, dass er jetzt hier vor meiner Tür steht, habe ich nicht gerechnet.
Ich sage nichts. Warte, dass er sich erklärt. Wieso er hier ist, was er denkt und was er erwartet. Einen Moment lang sagt er auch nichts, es herrscht Stille zwischen uns, dann beginnt er zögerlich zu reden, »Ich glaube, wir müssen reden...nochmal...über das hier«, er gestikuliert mit seinen Fingern zwischen uns, aber schaut mich weiterhin nicht an, »Aber diesmal richtig.«
Ich nicke zustimmend. Ich weiß, dass er recht hat und ich weiß, dass wir das tun müssen. Dass wir das klären müssen.
»Aber nicht hier«, sage ich danach. Ich will nicht, dass Jascha vorbeikommt und Kai dadurch wieder zumacht. Ich will es wirklich klären, »Warte kurz«
Ich gehe in meine Küche, fülle den Tee, den ich gerade gekocht habe, in eine Thermoskanne, ziehe meine Jacke über und mache mich wieder auf den Weg zur Tür.
Nachdem ich meine Schuhe angezogen habe, gehe ich einen Schritt auf Kai zu und schließe die Tür hinter mir.
Wir laufen eine Weile still nebeneinander her. Das Wetter ist in letzter Zeit ziemlich kalt geworden, obwohl wir Sommer haben, das Rauschen des Windes durch die Bäume ist zu hören, als wir Richtung Park gehen. Es sind wenige Menschen unterwegs, manchmal kommen uns ältere Paare entgegen oder Personen mit Kindern, sonst ist es ruhig..
Als neben dem Parksee eine freie Bank zu sehen ist, gehe ich auf diese zu und setze mich hin. Kai tut es mir gleich. Er bleibt auf Abstand, aber ist trotzdem nah genug an mir, dass ich seine Wärme neben mir deutlich spüre.
»Es tut mir leid«, unterbricht Kai irgendwann die Stille. Ich drehe mich zu ihm. Sein Blick ist auf den See gerichtet, »Ich wollte nicht schon wieder gehen. Und ich will dich. Ich will bei dir sein. Immer. Aber ich habe einfach Angst. Angst, dass ich alles zwischen uns kaputt mache. Dass ich dir irgendwann zu viel bin und du das nicht mehr willst, mich nicht mehr willst. In diesem Moment hat mich alles einfach überfordert. Ich habe Angst, dass du irgendwann merkst, dass ich doch nicht die richtige Person für dich bin und du dann gehst. Das würde ich nicht aushalten. Ich dachte, wenn ich von selbst gehe, tut es nicht so weh, aber das stimmt nicht. Das hat genauso weh getan. Nur anders. Ich will dich nicht ständig verletzen, ich will, dass du glücklich bist und ich dachte, wenn ich nicht da bin, kann ich dich schon nicht verletzen.«
Ich atme einmal tief durch, »Du wirst das nicht zerstören. Solange du mit mir redest und mir erzählst, was du fühlst, können wir das lösen. Irgendwie. Ich will mit dir sein, so richtig, aber wir müssen beide unseren Teil dafür tun, dass wir das nicht zerbrechen. Du wirst nie allein an etwas Schuld sein, wir können über alles reden.«, ich nehme einen Schluck von dem Tee aus der Thermoskanne in meiner Hand, »Wer auch immer dir jemals das Gefühl gegeben hat, dass du alles zerstörst, kennt dich definitiv nicht gut genug. Mein Leben hast du nämlich eigentlich immer besser gemacht.«
Er dreht sich zu mir. Zum ersten Mal seit er hier ist, kann ich ihn richtig sehen. Seine Augen sind leicht gerötet, so, als hätte er geweint, seine Haut ist blass und ich sehe, wie sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen bildet. Nur ganz leicht, aber doch so präsent.
»Ich will das mit dir. Mit uns.«, sagt er ernst, »Aber ich will dich nicht verletzen. Ich will uns nicht zerstören. Ich habe dich zu gerne, um dich irgendwie verletzen zu wollen.«
»Dann bleib hier. Bleib einfach bei mir«, ich rücke ein Stück näher zu ihm, um ihm zu zeigen, dass ich genau das will.
»Okay«, sagt er, lehnt sich leicht gegen meine Seite und ich lasse ihn. Weil ich genau das jetzt brauche. Kai. Seine Nähe. Seinen Geruch von Minzkaugummi und zu viel Kaffee. Und seine Berührung. Wir schauen beide für eine Weile auf den See und beobachten die leichten Wellen, die der Wind erzeugt.
»Es tut mir auch Leid«, sage ich nach einer Weile.
»Mhm?«
»Dass ich dir nicht zugehört habe, beim Telefonat.«, sage ich leise.
»Schon okay«, nickt er, »Du hattest ja recht. Mit allem, was du gesagt hast.«
»Trotzdem hätte ich dir zuhören können.«, meint er, »Ich hatte einen anstrengenden Tag, Training ist scheiße gelaufen, meine Heizung hat nicht mehr funktioniert und ich musste sie reparieren lassen, Jascha hat mir den ganzen Tag komische Fragen gestellt und dann wollte ich mich einfach nur in mein Bett legen und dann hast du angerufen. Das war einfach alles zu viel an dem Tag. Also, wenn du noch etwas Zeit brauchst, dann ist das völlig okay. Dann können wir auch noch warten.«
»Es ist okay, wirklich«, wiederholt Kai, »Ich hätte es auch verstanden, wenn du sauer warst. Ich wäre es auch gewesen, wenn du mich so zurückgewiesen hättest.«
Ich lehne mich gegen seine Seite, lege meinen Kopf etwas gegen seine Schulter und will ihm zeigen, dass ich ihm verzeihe. Oder ihm zumindest eine neue Chance gebe. Ich weiß nicht, ob ich ihm schon ganz verzeihen kann, aber ich hoffe, dass er mir zeigen kann, dass es ihm wirklich leid tut. Dass er es besser machen kann und dass er wirklich bei mir bleiben will.
Wir bleiben für einen Moment genau so, bewegen uns nicht, sondern sitzen einfach nur hier, im Park und schauen auf den See. Ich nehme wieder meine Thermoskanne und trinke einen Schluck Tee. Danach reiche ich die Kanne zu Kai. Ohne Worte. Einfach so. Er nimmt sie entgegen, dreht sich etwas zu mir und schaut mich mit einem dankenden Lächeln an. Er führt die Tasse an seinen Mund, trinkt, doch bevor er überhaupt richtig damit anfängt, kippt er etwas von der Flüssigkeit über sein Kinn und zieht das Gefäß schnell wieder von seinem Mund weg.
»Heiß«, raunt er und versucht, den Tee von seinem Kinn abzuwischen. Bei dem Anblick beginne ich, zu lachen. Er schaut mich entsetzt an, doch das bringt mich dazu, noch mehr zu lachen.
»Soll ich den Tee kalt pusten?«, schlage ich ihm vor.
»Unbedingt«, sagt er, die Ironie in seiner Stimme klar zu erkennen. Trotzdem nehme ich die Thermoskanne aus seiner Hand und beginne vorsichtig, kalte Luft in die Flüssigkeit zu pusten. Er beobachtet mich etwas schockiert, aber auch etwas schmunzelnd dabei.
»So, jetzt müsste der Tee wieder angenehm sein für den kleinen Kai«, sage ich mit einer übertrieben verstellten Stimme nach einer Weile und gebe ihm die Kanne wieder zurück.
»Danke, danke«, nimmt er sie kopfschüttelnd wieder entgegen. Er trinkt einen Schluck, kippt sich dieses Mal nichts über das Gesicht und gibt mir die Kanne mit einem breiten Lächeln wieder zurück.
Danach legt er einen Arm um meine Schulter, zieht mich zu sich und legt seinen Kopf leicht auf meinen. Ich lehne mich gegen seine Brust und schließe meine Augen. Ich genieße einfach nur den Moment mit ihm, folge seinem Atem durch die regelmäßigen Bewegungen seiner Brust und lausche seinem Herzschlag. Er streicht mit seinen Fingern immer wieder vorsichtig über meinen Arm und hält mich nah bei sich. So, als würde er mich nicht mehr loslassen wollen. Als wäre das hier gerade alles, was er braucht. Und genauso fühlt es sich für mich auch an. Es ist einfach ein Moment, den ich nicht mehr loslassen möchte.
Irgendwann - ich weiß nicht einmal genau, wie es dazu kommt - stehen wir auf und machen uns wieder auf den Weg in meine Wohnung. Ich war froh darüber. Es ist außen ziemlich kalt und bei dem Wetter doch schöner, wieder in meiner Wohnung in der vollkommenen Wärme zu sein. Auf dem Heimweg streifen sich unsere Finger immer wieder und bei jeder Berührung muss ich ein wenig lächeln. Es ist schlimm, wie schnell ich mich schon wieder an Kai und seine Nähe gewöhnt habe. Wie schnell ich mich schon wieder in seiner Nähe wohl fühle, obwohl er so schnell einfach gegangen ist. Aber ich kann mich einfach nicht zurückhalten. Es ist einfach Kai. Mein Kai.
»Darf ich mit reinkommen?«, fragt Kai, als wir an meiner Wohnung angekommen sind.
»Was ist das für eine Frage?«, schaue ich ihn ungläubig an, »Natürlich kommst du mit rein, ich will nicht, dass du hier erfrierst!«
Ich packe ihn am Ärmel seiner Jacke und ziehe ihn mit mir in die Wohnung. Wir ziehen unsere Jacken aus, hängen sie an die Garderobe. Danach gehe ich in die Küche, Kai folgt mir. Ich stelle die Thermoskanne an das Waschbecken und drehe mich wieder zu Kai, »Willst du was trinken? Einen Kaffee?«
»Kaffee passt, so wie immer«, nickt er mir lächelnd zu. Ich schalte die Kaffeemaschine an und lasse ihm einen Kaffee raus. Einen Kaffee mit extra viel Milch, so wie immer. Und ich nehme mir selbst ein Glas Wasser. Dann setze ich mich zu Kai an den Tisch. Wir sitzen nebeneinander, lächeln uns immer wieder leicht an und trinken unsere Getränke. Im Hintergrund habe ich wahllose Musik aus meiner Playlist angeschaltet. Immer wieder berührt er meine Füße mit seinen unter dem Tisch und ich muss jedes Mal grinsen.
»Was machst du da?«, frage ich ihn irgendwann. Er zuckt nur mit den Schultern und trinkt weiter fröhlich von seinem Kaffee. Ich schüttle den Kopf und lächle einfach. Ich kann irgendwie einfach nicht anders, als ihn anzugrinsen.
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Es ist etwas später als Kai und ich auf der Couch sitzen, wir haben uns etwas zu essen bestellt und ich suche gerade einen Film auf Netflix raus, während Kai gerade seiner Schwester schreibt.
»Sag mal«, fragt Kai vorsichtig, als er sein Handy neben sich auf die Couch legt, »Das mit dem zusammenziehen...ist das immer noch eine Option?«
Ich schaue etwas überrascht von meinem Laptop hoch, »Hm?«, frage ich ihn, weil ich fast nicht glauben kann, dass ich ihn richtig verstanden habe.
»Ich meine, du hast doch vorgeschlagen, zusammenzuziehen...«, wiederholt er, »Damit wir nicht so lange getrennt voneinander sein müssen...ich mein...ich will dich auch nicht ständig vermissen und...wir können es ja wirklich versuchen «
Ich schiebe den Laptop ein Stück weg von mir, »Ehrlich? Wenn du noch Zeit brauchst, ist das wirklich kein Problem, ich habe das ernst gemeint«, erkläre ich ihm noch einmal, damit er sich auch wirklich nicht dazu gezwungen fühlt.
»Nein, ich meine es wirklich ernst«, nickt er, »Jeden Tag, an dem ich nicht in Dortmund bin, vermisse ich dich. Also können wir es doch probieren, oder? Ich versuche, das hinzukriegen. Mit mir und dem allem.«
»Du kannst auch immer mit mir reden, wenn dich irgendwas überfordert.«, versichere ich ihm. Ich nehme seine Hände in meine, um ihm klar zu machen, dass ich es wirklich ernst meine.
Er nickt, »Ich versuche es, wirklich.«
»Dann würde ich gerne mit dir zusammenziehen«, lächle ich ihn an und kann gar nicht glauben, dass er das wirklich vorgeschlagen hat. Dass er das wirklich machen will. Er rutscht ein Stück näher zu mir auf der Couch, legt seine Hand auf mein Gesicht und zieht mich in einen Kuss. Ich spüre seine weichen Lippen auf meinen, schmecke den Kaffee auf seinen Lippen und bewege meine Lippen sofort gegen seine. Ich lege meine Arme um seinen Nacken und ziehe ihn näher an mich ran. Seine Finger wandern durch meine Haare und er reibt seine Nase leicht gegen meine.
Wir küssen uns weiter, ich ziehe ihn näher an mich und lasse meine Finger langsam durch seine Haare gleiten. Und in diesem Moment ist mir alles um mich herum egal. Es gibt nur Kai und mich und ich bin extrem glücklich, ihn jetzt gerade hier zu haben. Und hoffentlich für immer.
Chapter 34: Together
Chapter Text
POV Kai
Ich wache auf und brauche einen Moment, bis ich realisiere, wo ich bin. Dortmund. Julians Wohnung. Bald auch meine Wohnung. Das Licht fällt leicht durch die Vorhänge, streift über die Bettdecke, meine Schultern und den Boden. Neben mir liegt Julian, das Gesicht halb im Schatten, halb im Morgenlicht. Sein Gesicht ist in das Kissen gedrückt, seine Haare sind zerzaust, seine eine Hand liegt unter seinem Kissen und seine andere Hand liegt in meiner. Er schläft noch und ich beobachte ihn dabei. Wie sein Atem sich hebt und senkt, wie seine Stirn leicht gerunzelt ist und wie er leichte rote Abdrücke vom Bett in seinem Kissen hat.
Ich lege meine andere Hand vorsichtig auf Jules Kopf, um ihn nicht aufzuwecken und streichle durch seine Haare, während ich ihn lächelnd beobachte. Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich hier bin, dass ich das zwischen uns wirklich wieder hinbekommen habe und dass er mich hier sein lässt. Ich weiß, dass das nicht einfach wird, besonders, wenn ich wieder solche Ängste bekomme, aber ich versuche dieses Mal wirklich alles, dass wir es hinbekommen. Dass wir uns hinbekommen, weil ich das will. Hier so neben ihm aufzuwachen und ihn im Schlaf zu beobachten, ist wohl die schönste Sache, die ich mir gerade eben vorstellen kann.
Julian schlägt langsam die Augen auf. Lächelt, schläfrig und sagt mit rauer Stimme, »Kaffee?«
Ich nicke. Und er steht direkt auf. Barfuß und im zerknitterten T-Shirt. Er nimmt meinen Hoodie, den ich gestern Abend wahllos auf den Boden geworfen habe, und zieht ihn sich über, bevor er das Zimmer verlässt und ich seine tapsenden Schritte die Treppe runterlaufen höre. Ich bleibe liegen, höre, wie der Wasserkocher in der Küche klickt, wie Schranktüren geöffnet und geschlossen werden. Alltägliche Geräusche, die sich wie Zuhause anfühlen. Ein Zuhause, das ich genau so haben will. Mit Jule. Hier.
Ein paar Minuten später stehe ich ebenfalls auf und mache mich auf den Weg nach unten. Dort steht Jule, der seine Haare wieder etwas gerichtet hat und mir lächelnd den Kaffee reicht. Ich nehme ihn entgegen, trinke einen Schluck und lehne mich gegen die Küchenzeile.
»Gut geschlafen?«, frage ich ihn.
»Ich habe schon lange nicht mehr so gut geschlafen«, sagt er und ich spüre, wie die Hitze in meine Wangen steigt.
»Schleimer«, grinse ich ihn an und schüttle meinen Kopf. Aber eigentlich habe ich ein Kribbeln unter meiner Haut gespürt, als Jule das gesagt hat.
Dann lacht er. Und ich auch. Nicht, weil es so lustig war, sondern weil sein Lachen einfach so schön ist, dass ich nicht anders kann, als mit einzustimmen. Wir trinken in der Küche unseren Kaffee in der Stille und genießen einfach die Zweisamkeit. Sobald meine Tasse leer ist, stelle ich sie in das Spülbecken, gehe näher zu Jule, umarme ihn von der Seite und platziere immer wieder kleine Küsse in seinen Haaren.
»Musst du nicht zum Training?«, frage ich mit einem Blick auf die Uhr.
»Ne«, schüttelt er mit dem Kopf, »Die Strafzahlung ist schon okay, wenn ich stattdessen Zeit mit dir verbringen kann«
»Du bist verrückt«, sage ich, aber innerlich spüre ich schon wieder dieses Kribbeln in meinem Bauch und merke, wie scheiße verliebt ich in ihn doch bin.
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Ein paar Stunden später haben wir unsere Winterklamotten angezogen und laufen wir durch die Stadt. Mit etwas Abstand laufen wir nebeneinander her - falls uns jemand erkennen sollte - aber dennoch sind wir nah genug nebeneinander, dass ich seine Präsenz neben mir stark spüren kann. Ich spüre seine Wärme und immer wieder streifen sich unsere Hände und jedes Mal, wenn das passiert, schaue ich auf unsere Hände. In meinem Augenwinkel sehe ich, wie Jule immer wieder schmunzelt, wenn das passiert und in diesem Moment könnte ich einfach nicht glücklicher sein. Julian kennt hier schon jetzt jede Seitengasse und jeden unauffälligen Weg abseits der Hauptstraßen, auch wenn er hier erst seit ein paar Wochen wohnt. Er erzählt mir, welche Restaurants gut sind und welche nicht, welche Läden er mag und von Geschichten, die ihm dort passiert sind. Ich lasse mich einfach durch die Stadt treiben und stelle mir jetzt schon vor, wie wir beide hier im Sommer ein Eis essen gehen, wie wir hier durch Läden gehen können und uns neue Klamotten kaufen können und wie wir uns hier neue Einrichtung für die Wohnung finden können.
Es riecht nach Bäckereien, nach Stadt, nach Winter und ein bisschen nach für immer.
Wir laufen an einer geschlossenen Eisdiele vorbei. Julian bleibt vor dem Fenster stehen und liest sich die Auswahl durch. Dann dreht er sich plötzlich freudestrahlend zu mir um, »Die haben hier sogar dein Lieblingseis!«
Er zeigt auf die Karte und ich gucke, was er gesehen hat - Kiwi-Apfel, was denn sonst.
Ich verdrehe schmunzelnd die Augen, »Klar Jule, dann kannst du die immer Sommer ja auch mal probieren.«
»Unbedingt«, lacht er und geht weiter durch die Stadt.
An einer Wand in einem kleinen Laden hängt ein Schild in großen, krakeligen Buchstaben: 'Liebe ist kein Ziel, sondern das, was bleibt, wenn du angekommen bist.'
Ich mache ein Foto. Julian verdreht die Augen, »Kitschig.«
»Oder ehrlich.«
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Später sehen wir einen kleinen Buchladen und Jule zieht mich in den Laden rein. Zielstrebig geht er sofort zu den Architektur-Bildbänden und blättert die Bücher durch. Immer wieder ruft er mich zu sich und zeigt mir Gebäude, die er besonders schön findet.
Ich lasse mich durch den Laden treiben und bleibe irgendwann bei den Romanen stehen. Ich ziehe ein Buch heraus mit dem Titel 'Die Theorie der seltsamen Dinge' und lächle in mich hinein. Ich lese mir ein paar der Ideen durch.
'Kaputte Pullover können Freundschaften zerstören'
Ich muss schmunzeln. Wer kommt denn auf sowas? Wie kann denn durch so eine banale Sache eine Freundschaft zerstört werden? Dann schüttle ich mit meinem Kopf.
Julian kommt mit einem Buch über moderne Stadträume zu mir zurück. Er zeigt mir direkt ein paar Bilder, die er besonders beeindruckend findet.
Die Verkäuferin an der Kasse gibt Jule sein Buch zurück, nachdem er es bezahlt hat und sagt, »Ihr seid ein schönes Paar.«
Julian stockt kurz, bleibt einen Moment einfach nur stehen.
Ich lächle sie nur leicht an und sage, »Danke.«
Es ist nichts Großes. Aber es fühlt sich an, als hätte ich einen Schritt gemacht, ohne wegzulaufen. Und daran, wie Jule mich stolz angrinst, als wir den Laden verlassen, merke ich, dass er es auch so fühlt.
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Zurück in der Wohnung kocht Julian Pasta. Oder er versucht es zumindest. Ich helfe, jedoch bin ich nicht wirklich begabter als er. Ich schneide die Tomaten für die Soße zu grob, schütte die Nudeln halb neben den Sieb. Und er sagt nichts, sondern wischt nur auf und lächelt.
Wir essen auf dem Boden, sitzen auf Kissen, mit einem großen Topf voller Nudeln zwischen uns und Teller mit Essen in unseren Händen. Irgendwann kleckere ich Tomatensoße auf mein T-Shirt. Julian reicht wortlos ein feuchtes Tuch und schmunzelt mich an. Er wischt sie weg, ganz leicht, fast zärtlich. Es fühlt sich an, als würde er sagen: 'Ich liebe dich trotzdem.' Ohne es laut auszusprechen. Und ich sage es zurück. Nicht nur in meinem Kopf.
»Danke Jule«, ich grinse ihn an, »Ich liebe dich. Mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Er schaut nur auf, lächelt mich an und sagt, »Ich liebe dich auch. So sehr.«
Dann setzt er sich wieder ein Stück auf, lehnt sich zu mir vor und küsst mich. Nur ganz kurz, nur ganz leicht, aber es fühlt sich trotzdem so an, als würde die Welt für einen Moment stehen bleiben und überall um mich herum Schmetterlinge explodieren.
Als gäbe es nichts anderes, sondern nur uns.
Hier und jetzt. Zwischen Tomatensoße und Kissen.
Jules Lippen auf meinen.
Und nichts anderes ist hier.
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Gegen Abend laufen wir nochmal los. Ohne Ziel. Einfach nur raus gehen. Die Sonne geht zwischen den Häusern der Stadt unter und es ist irgendwie stiller. Wir sprechen über Dinge, die nichts mit Fußball zu tun haben. Jule erzählt mir davon, wie Jascha ihm immer wieder mit sehr seltsamen Fragen konfrontiert, ihm nie erklärt, was er mit diesen Informationen soll und dann einfach wieder verschwindet.
Ich lache und erzähle, wie ich meinen Bruder früher monatelang davon überzeugen wollte, dass es ein gutes Investment wäre, sich ganz viele Trampoline zu kaufen und einen Trampolinpark zu eröffnen - eigentlich nur zu meinem eigenen Vorteil - natürlich hat er es nie getan. Aber ich bin immer noch davon überzeugt, dass ein Trampolinpark eine gute Sache wäre. Jule verspricht mir, dass er mir den Traum von einem Trampolinpark erfüllen wird, wenn wir irgendwann einmal in ein Haus ziehen. Und die Vorstellung klingt ziemlich schön. Haus mit Garten und Julian. Ich fühle mich nicht bedrängt oder überfordert, es fühlt sich einfach nur schön an.
Wir bleiben an einem Spielplatz stehen. Die Schaukeln quietschen im Wind und wir setzen uns drauf wie zwei Kinder. Wir stoßen uns leicht vom Boden ab und schauen immer wieder zu uns gegenseitig. Ich denke, dass ich das seit Jahren nicht mehr gemacht habe.
»Ich habe Angst«, sage ich irgendwann, »Immer noch. Aber heute weniger als gestern.«
Julian antwortet nicht. Er nimmt meine Hand. Und das ist genug, dass ich lächeln muss.
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Abends schauen wir einen Film. Irgendeine seichte Komödie. Der Inhalt ist mir egal, ich passe sowieso nicht auf, sondern dass wir da sind, ist wichtig. Ich liege halb an seiner Seite, den Kopf an seine Schulter gelehnt und meine Hand spielt mit seinen Fingern. Er spielt mit meinen Haaren, fährt gedankenverloren durch einzelne Strähnen und platziert immer mal wieder einen sanften Kuss auf meinen Kopf. Ich höre seinen Herzschlag. Oder bilde es mir ein. Aber es reicht. Ihn hier zu haben, ist genug.
Nach dem Film sagen wir kaum noch was.
Ich flüstere mehr zu mir selbst, »Wenn du morgen wieder zum Training gehst, werde ich das hier vermissen. Ich werde dich vermissen.«
Er sagt leise, »Ich dich auch.«
Und es fühlt sich an, als könnte ich jeden meiner Tage so verbringen. Hauptsache er ist da. Dann wird alles gut.
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Timo sitzt auf dem Balkon seiner Wohnung, eine Decke über den Knien und eine Tasse Kaffee locker in der Hand. Ich habe mich zu ihm gesetzt, weil ich es ihm sagen will. Muss. Weil ich schon in eineinhalb Wochen zu Julian ziehe.
Kurz bevor ich wieder nach London geflogen bin, haben Julian und ich entschieden, dass ich bald zu ihm ziehe. Deswegen bin ich nun in London, um alle meine Sachen zusammenzupacken, meinen Mietvertrag zu beenden und mich von Timo, Mason und Declan zu verabschieden. Mit den letzteren beiden habe ich schon geredet, doch Timo zu sagen, dass ich gehe, wird wohl am schwierigsten. Weil ich ihm die volle Wahrheit erzählen muss.
Er guckt mich an und sagt nach einer Weile, »Du wirkst irgendwie glücklich für deine Verhältnisse.«
»Bin ich auch«, lache ich leise, »Sehr glücklich.«
»Okay, wer bist du und was hast du mit Kai gemacht?«, fragt Timo.
Ich trinke einen Schluck und atme kurz tief durch. Dann leg ich es einfach auf den Tisch. Kein großes Intro, kein Drama. Nur so, wie es ist, »Ich ziehe zu Julian.«
Timo runzelt die Stirn, »Also…nach Dortmund?«
Ich nicke, »Ja.«
Er schweigt kurz. Guckt irgendwo ins Leere, dann trinkt er langsam und lehnt sich mit dem Rücken an die Balkonwand.
»Krass«, sagt er dann.
Ich nicke, leicht lächelnd, »Ja, irgendwie schon.«
»Du ziehst aus London weg.«, stellt er fest, »Obwohl du erst vor kurzem hergekommen bist.«
»Mhm.«, nicke ich wieder.
Er schaut mich lange an und dann sagt er, »Ich freue mich für dich, weißt du? Also ich bin traurig, dass du gehst, klar. Aber ich freue mich, weil ich sehe, dass du es wirklich willst. Und dass du da gerade jemanden hast, der dich wirklich sieht.«
Ich schlucke. Irgendwie trifft das mehr, als ich gedacht hätte.
»Jule ist… viel«, sag ich leise.
Timo grinst, »Du auch.«
»Es fühlt sich gut an. Trotzdem habe ich Schiss.«, gebe ich ehrlich zu.
»Weil es echt ist?«, fragt Timo nach und ich habe schon wieder das Gefühl, dass er meine Gedanken lesen kann.
Ich nicke, »Weil ich es verkacken könnte.«
Timo lehnt sich vor, »Du verkackst es nicht. Weißt du warum? Weil du merkst, wenn du Mist baust und weil du diesmal einfach nicht wegläufst. Und das ist mehr als die Hälfte von dem, was zählt.«
Ich atme durch. Gucke ihn an, »Du wirst mir fehlen, Mann.«
»Du mir auch.«, lächelt er mich etwas traurig an.
Er stößt sein Glas leicht gegen meines, »Aber hey, du kannst jederzeit zurückkommen. Und ich werde dich regelmäßig besuchen. Natürlich unangekündigt. Ich werde auf deinem Sofa schlafen und alle deine Gläser benutzen. Und ich will dich bei den Länderspielen auf der Tribüne sehen.«
Ich grinse, »Klar.«
»Falls das dein Weg war, mich los zu werden, dann wird das nicht funktionieren.«, grinst er mich an, »So einfach wirst du mich nicht los.«
Chapter 35: Happy Days
Chapter Text
POV Julian
Zwei Wochen später steht Kai mit drei Koffern und zwei Reisetaschen vor meiner Wohnung. Er sieht aus, als hätte er die letzten fünf Jahre seines Lebens eingepackt und auf Rollen gestellt. Sein Blick ist ein bisschen zögerlich, aber gleichzeitig lächelt er auch entschlossen.
Ich gehe ein paar Schritte aus der Wohnung zu Kai und ziehe ihn in meine Arme. Ich atme seinen Geruch ein und ich fühle mich sofort wieder gut, wie angekommen.
»Endlich bist du hier«, hauche ich gegen seinen Hals.
»Endlich«, sagt er und ich kann hören, dass er glücklich ist. Ich löse mich ein Stück von ihm, schaue ihn an und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen. Kurz, aber stark. Dann gehe ich wieder einen Schritt von ihm weg.
»Ich hoffe, du hast auch dein emotionales Gepäck eingepackt.«
Kai grinst, »Das ist im kleinen Rucksack. Ganz hinten, zwischen Zahnbürste und Schuldgefühlen.«
Ich lache, nehme ihm eine Tasche ab und trete zur Seite, »Dann willkommen Zuhause. Offiziell.«
Er nickt fast freudig und tritt ein. Die Wohnung ist noch dieselbe wie gestern und trotzdem fühlt sich heute alles anders an. Kai steht in meinem Flur, seine Schuhe neben meinen, seine Jacke hängt neben meiner und sein Rucksack steht neben meinem Trainingsbeutel. Und er geht nicht mehr, er bleibt hier.
Ich nehme ihm einen der Koffer und eine der Taschen ab und bringe sie nach oben ins Schlafzimmer, nachdem Kai mir gesagt hat, dass dort nur Klamotten und Sachen für das Badezimmer drinnen sind.
Er kommt ebenfalls kurze Zeit später nach oben und wir räumen seine Sachen gemeinsam in meine Schränke ein. Ich habe gestern Abend schon überall Schränke und Schubladen für Kai freigeräumt.
Unsere Schränke. Sobald Kais Sachen dort liegen, sind es unsere Schränke. Unser Bad. Unser Bett. Unsere Küche. Unser Wohnzimmer. Jedes Mal, wenn ich nur daran denke, dass das alles jetzt uns zusammen gehört, spüre ich ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch.
Er stellt seine Zahnpasta neben meine, hängt seine Hoodies neben meine und plötzlich sieht meine Wohnung aus wie ein richtiges Zuhause. Jetzt bin ich nicht mehr so allein hier. Eigentlich wohne ich zwar schon seit Monaten mit Jascha in einer WG, aber das hier ist anders. Schöner. Wir sagen beide nicht viel, räumen einfach Kais Sachen in meine Wohnung, so, als wären sie hier schon immer gewesen.
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Jascha kommt am späten Nachmittag von der Schule nach Hause, gerade als Kai seine zweite Jacke auf den Haken in der Garderobe hängt. Er bleibt im Türrahmen stehen, die Augen leicht geweitet.
»Du schon wieder hier? Also... ist das jetzt ein Ding?«, sagt Jascha verwirrt, dann dreht er sich zu mir, »Er ist gefühlt jede Woche hier, er könnte hier quasi einziehen.«
Kai und ich schauen uns nur grinsend an. Dann sage ich ruhig, »Ja irgendwie wohnt er jetzt auch hier. Bis er eine Wohnung gefunden hat. Kai muss wegen des Senders oft in Deutschland sein.« Kai und ich haben uns darauf geeinigt, Jascha noch nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. Wir wollen erst einmal ankommen und dann überlegen wir, wie wir weiter machen. Außerdem will ich Kai nicht überfordern, indem er sich outen muss, wenn er noch nicht bereit dazu ist.
»Genau, das ist einfach leichter so«, nickt Kai zustimmend, »Der Sender ist zwar in Köln, aber so bin ich auf jeden Fall schneller und einfacher beim Job.«
Jascha nickt ein bisschen zu heftig, »Klar. Logisch. Macht total Sinn. Ähm...nur sagt Bescheid, wenn ich das Bad nicht mehr nackt benutzen darf.«
Ich grinse, »Wir arbeiten an einem Ampelsystem.«
Kai lacht, »Ich schnarche auch nicht. Nur falls das relevant ist.«
»Okay, gut. Aber, also, sind wir dann jetzt Mitbewohner?«, fragt Jascha.
Ich zucke mit den Schultern, »Temporäre WG.«
»Hm.« Jascha lehnt sich gegen die Wand. »Okay. Aber wenn ich irgendwann aufwache und einer von euch zwei auf dem Balkon meditiert und mir sagt, dass wir jetzt alle ein Energielevel teilen, zieh ich aus.«
Ich grinse. Kai sagt: »Keine Sorge. Unser Energielevel ist komplett instabil.«
Jascha hebt die Hände, »Keine weiteren Fragen. Willkommen, Kai, bleib solange, wie du willst.«
Danach verschwindet er mit seiner Schultasche auf einer Schulter die Treppe nach oben in sein Zimmer.
Ich lehne mich gegen die Wand, schaue zu Kai, der mich anschaut.
»Das lief doch okay, oder?«, frage ich.
»Für Jascha? Extrem harmonisch.«, nickt Kai.
Ich nicke und muss lachen. Er wohnt hier. Kai und ich gehen in die Küche, grinsend und irgendwie angekommen. Ich bin froh, dass Jascha kein Problem damit hat, dass Kai nun bei uns wohnt und noch viel glücklicher bin ich, dass er hier ist.
Ich fange an, Kaffee für uns beide zu kochen, während Kai sich hinter mich stellt, legt seine Arme um mich und legt seinen Kopf auf meine Schulter. Ich lehne mich zurück in seine Arme, lege meine Hände auf seine Arme und schließe meine Augen. Ich fühle mich so gut. In diesem Moment ist alles richtig. Kai ist hier. Ich bin hier. Und wir werden beide hier bleiben. Wir müssen uns nicht wieder in ein paar Tagen trennen, denn Kai wohnt jetzt hier und ich kann es immer noch nicht glauben, dass das wahr ist.
»Es ist so schön, dass du hier bist«, sage ich irgendwann.
»Finde ich auch«, er lehnt seinen Kopf gegen meine Wange und ich bin einfach nur glücklich.
Ich halte ihm die Tasse Kaffee hin und als er trinkt, denke ich nur: Ja. Das ist es. Das hier. Genau so. Hier will ich bleiben.
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Ich bin völlig im Eimer.
Das Training war härter als gedacht. Zwei Stunden Taktik, dann Sprints, dann Pressing-Drills. Ich spüre meine Beine nicht mehr und das ist noch der angenehme Teil. Der Unangenehme sitzt irgendwo in meinem Nacken: Müdigkeit, wegen Erschöpfung und Restanspannung. Ich dusche länger als sonst, trödle beim Umziehen, bleibe einen Moment im Kabinengang stehen, bis ich weiß, dass ich mich wieder im Griff habe.
Und dann sehe ich ihn.
Kai steht draußen. An die Wand gelehnt, Hände in den Taschen seiner Jacke und die Kopfhörer locker um den Hals gelegt, der Wind zerzaust ihm die Haare. Und trotzdem, oder genau deswegen, sieht er aus wie aus einem verdammten Musikvideo. Ich lache leise. Muss mich zusammenreißen, nicht wie ein Idiot zu grinsen, nur weil Kai hier ist.
Er sieht mich, hebt die Hand und winkt mit einem breiten Lächeln, »Na, Superstar.«
»Na, Fanclub-Leiter«, murmele ich zurück. Er reicht mir eine Wasserflasche. Ohne Kommentar, einfach so. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Ist es ja irgendwie auch. Ich nehme einen großen Schluck und mustere ihn über den Flaschenrand hinweg.
»Wie lange wartest du schon?«, frage ich dann.
»Lange genug, um dreimal nervös zu sein, als wäre ich ein Typ, der auf seinen Crush wartet.«
Ich grinse, »Tust du ja irgendwie auch.«
»Absolut.« Pause, »Aber süß, oder?«
»Extrem.«, grinse ich ihn an. Wir gehen los zum Auto und fahren dann Richtung Wohnung. Leise schieben sich feine Glücksgefühle unter meine Haut. So leicht, dass ich sie fast nicht merke, aber sie sind da.
»War es schlimm heute?«, fragt er.
»Nee«, lüge ich.
Dann, »Doch. Bin fast gestorben. Wir haben Pressing-Situationen gespielt, als wäre morgen WM-Finale.«
»Und? Warst du gut?«, fragt er, die Augen etwas hochgezogen.
Ich zucke mit den Schultern, »Solide. Keine Glanzleistung. Aber der Trainer war zufrieden.«
Er nickt.
Ich bleibe kurz stehen, »Du bist wirklich hier, oder? Ich bilde mir das nicht ein?«
Er dreht sich zu mir, runzelt die Stirn, dann legt er seine Hand in meine. Ganz leicht. Ganz zärtlich. So, als könnte er sie zerbrechen, »Ich bin hier, Julian.«
Ich lächle. Will was sagen, tue es aber nicht. Er erzählt von einem Artikel, den er gerade für die Website des Senders vorbereitet. Ich erzähle vom internen Teamdrama um die Playlist im Kraftraum. Er lacht, ich lache, wir sitzen nebeneinander im Auto, während leise Musik im Hintergrund läuft und es fühlt sich wie Leben an.
Und ich will, dass er bleibt.
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Unser erstes richtiges Date seit dem offiziellen Zusammenziehen ist absurd unspektakulär. Kino. Danach essen wir eine Pizza, die wir im Restaurant abholen und mit nach Hause nehmen. Weil es dort einfach viel schöner ist. In unserer Wohnung. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das sagen kann.
Wir sitzen auf der Couch und teilen uns eine große Pizza. Kai hält meine Hand in seiner, spielt mit meinen Fingern und ich sehe ihn öfter an als schon vorhin im Kino, aber ich kann es einfach nicht lassen, ihn anzusehen. Ich kann es einfach nicht glauben, dass er hier neben mir sitzt und wir ein Stück näher in unsere gemeinsame Zukunft gegangen sind.
Es ist still, nur das Brummen der Spülmaschine irgendwo aus der Küche. Ich spüre, wie meine Gedanken anfangen, zu laut zu werden und irgendwann platzt es einfach aus mir raus. Leise, aber klar, »Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin zu viel.«
Kai sagt nichts. Kein 'hä?' oder 'was meinst du'. Er wartet einfach darauf, dass ich weiterspreche.
»Zu kontrolliert, zu emotional. Ich nehme Dinge so ernst. Zu intensiv. Ich denke alles durch. Ich will alles im Griff haben und wenn ich das nicht habe, dann drehe ich durch. Nicht äußerlich, aber drinnen. Es macht mich müde, Kai.«
Ich schlucke, dann rede ich weiter, »Und ich habe Angst, dass du das irgendwann siehst und denkst: 'Scheiße, der ist mir zu schwer.' Weil ich weiß, dass ich das manchmal bin. Ich bin nicht leicht. Nicht locker.«
Ich lache leise, aber es klingt eher wie ein Ausatmen. Kai bewegt sich erst einmal nicht, aber dann legt er ruhig seine Hand auf mein Knie. Warm. Fest. Nicht flüchtig. Er ist hier, das merke ich in diesem Moment. Er ist hier und er bleibt.
»Ich bin auch schwer«, sagt er leise, »Nur anders.«
Ich drehe den Kopf zu ihm. Er sieht mich nicht direkt an. Schaut irgendwo zwischen uns in die Luft, als wäre da ein Punkt, an dem wir uns treffen können, ohne Worte.
»Ich habe auch meine Sachen«, sagt er, »Meine Ängste. Mein Chaos. Ich habe gelernt, leise zu sein, weil laut sein nie erlaubt war, aber trotzdem fühle ich mich mit dir nicht kleiner. Weißt du? Ich fühle mich echt.«
Ich atme ein. Langsam. Tief. Irgendwas löst sich in meiner Brust. Ich lehne mich ein Stück näher zu ihm. Nicht ganz, nur so weit, wie ich mich gerade traue, »Ich will, dass du bleibst«, sage ich.
»Ich bin ja schon da«, antwortet er. Und meint es. Und das ist alles, was ich gerade hören muss.
---
Der Alltag kommt langsam, warm und still. Aber es ist gut und richtig so. Plötzlich weiß ich, wo Kai seine Hafermilch lagert, wann er duscht, dass er sich beim Zähneputzen an der Wand abstützt und wie lange er braucht, um seine Haare zu richten. Zu lange, wenn man mich fragt. Und ich weiß, wie es ist, mit jemandem in einer Wohnung zu leben, der nicht Jascha ist und nicht nach ein paar Tagen wieder geht, sondern wirklich bleibt.
Er kocht mittags manchmal Essen - und verbessert sich dabei immer wieder - wenn ich im Training bin und er ein Meeting hat, so dass wir nicht gemeinsam kochen können. Er stellt es auf den Tisch mit einem Zettel, auf die er jedes Mal einen anderen Spruch schreibt.
Ich stelle fest, dass er meine Playlist mit seinen melancholischen Indie-Songs infiltriert, die er immer hört, wenn er denkt, er ist gerade alleine. Dass er Zahnpasta am Spiegel hinterlässt und dass er nie das letzte Stück Schokolade isst, sondern es immer in Papier wickelt und zurück in die Packung legt, wie ein Versprechen, dass noch was übrig ist. Ich finde das alles unfassbar süß und muss jedes Mal lächeln, wenn ich die fast leere Packung im Schrank sehe.
Er legt sich wortlos zu mir, wenn ich vom Training mit brennenden Beinen zurückkomme und fragt nicht, ob es gut war, sondern nur, »Brauchst du eine Umarmung?« Weil Nähe hier nicht bedeutet, dass man ständig redet, sondern dass man weiß, wann Stille reicht.
Einmal stehen wir beide gleichzeitig in der Küche, völlig übermüdet, weil ich zu spät ins Bett bin und er zu früh zum Zug nach Köln musste. Wir stoßen beide gegen dieselbe Ecke des Küchentischs. Ich fluche leise, er verzieht das Gesicht und dann lachen wir, zu müde, um uns zu ärgern, zu vertrauen, um den Moment nicht zu feiern. Ich küsse ihn auf die Wange, weil ich es kann. Weil es nichts Besonderes mehr ist. Und genau deshalb ist es so besonders.
An einem Dienstagabend sitzen wir auf dem Teppich, der halbe Couchtisch ist voller Notizzettel und Take-Away-Boxen. Er liest mir die Fragen vor, die er sich für die Expertenrunde des Senders geschrieben hat, weil er diese am Wochenende moderieren soll. Ich gebe Feedback. Er überarbeitet eine Zeile, murmelt, »Ich weiß nicht, ob das zu viel ist.«
Ich zucke die Schultern, »Vielleicht ist 'zu viel' auch einfach ehrlich.«
Und er sagt, »Das hast du mir beigebracht.«
Es ist nicht alles perfekt. Natürlich nicht. Manchmal vergisst er, den Müll rauszubringen. Manchmal meckere ich zu viel übers Wetter oder über Marco, der im Training anstrengend war. Und es gibt Tage, da reden wir wenig. Aber nicht, weil wir uns nichts mehr zu sagen hätten, sondern weil es auch okay ist, einfach nebeneinander zu existieren.
Einmal erwische ich ihn dabei, wie er meine Jogginghose trägt, während ich dusche. Sie ist ihm zu kurz, aber als ich aus dem Bad komme, steht er da, mit Kaffee und einem schiefen Lächeln und wartet darauf, dass wir zusammen einen Film anschauen.
Das ist unser Alltag.
Nicht laut. Nicht perfekt. Aber ehrlich.
Und ich hoffe, dass er bleibt.
Chapter 36: Out?
Chapter Text
Dezember/POV Kai
Die letzten Monate haben Jule und ich viel Zeit miteinander verbracht. Wir haben uns an den gemeinsamen Alltag gewöhnt, haben die Grenzen des anderen kennengelernt und auch die Dinge, die wir gerne mögen. Ich habe Jule zu Spielen begleitet und habe meinen Job als Kommentator weiter ausgeführt, wenn Länderspiele waren. Sonst haben wir die leisen Momente gemeinsam genossen.
Von unserer Beziehung haben wir noch nicht wirklich Leuten erzählt. Wir wollten erst einmal selbst ankommen und lernen, wie das alles funktioniert, bevor wir andere Personen einweihen. Aber mit jedem Tag, der vergeht, fühlt es sich immer besser an, vielleicht doch jemandem davon zu erzählen.
Gerade sitzen wir auf der Couch. Ein Spiel läuft vor sich hin. Zweite Liga, 50. Minute, null Highlights. Kommentatoren reden über Laufwege, Julian murmelt was über eine falsche Raumaufteilung, während er mit dem Fuß gegen mein Bein drückt. Sein Kopf liegt auf meiner Schulter und sein Oberkörper schräg an mich gelehnt, als wäre das hier das Normalste der Welt. Ist es ja auch. Für uns. Hier. Ich bin glücklich, dass ich wieder zurückgekommen bin und mit ihm zusammengezogen bin.
Ich nicke zu dem Flachpass auf dem Bildschirm, »Solider Ballverlust, würde ich sagen.«
Julian schnaubt, »Und ich dachte, der spielt professionell.«
»Sieht mehr aus wie Probetraining bei uns am Bolzplatz.«
»Würde selbst Jo nicht so kacke machen.«, sagt Jule trocken.
Ich lache leise und dann ist da wieder diese Stille. Nicht unangenehm, sondern schön. Warm. So, wie es sein soll, wenn man neben jemandem liegt, der einen nicht fragt, wie es einem geht, sondern es einfach schon irgendwie spürt. Mit dem man einfach da liegen kann und nicht reden muss, aber trotzdem verstanden wird.
Julian sagt irgendwas über eine Szene, ich höre nur halb zu. Mein Blick bleibt an ihm hängen. An seinen Lippen, seinen tiefblauen Augen und seinen blonden Strähnen, die ihm ein bisschen ins Gesicht fallen. Ich kenne jedes Detail seines Körpers mittlerweile und ich würde es nicht ändern wollen, aber heute sehe ich es anders oder vielleicht sehe ich sie einfach klarer, weil ich endlich weiß, was ich will.
Ich will das hier. Ihn. Uns. Nicht nur in Wohnzimmern mit zugezogenen Vorhängen. Nicht nur wenn keiner hinsieht. Ich will, dass er zu meiner Welt dazugehört. So richtig dazugehört. Nicht nur hinter verschlossenen Türen, wenn gerade niemand da ist.
Ich will, dass er mein Zuhause ist , auch außerhalb dieser Wände und der Gedanke geht nicht mehr weg. Ich kann ihn nicht mehr verdrängen, ich kann ihn nicht mehr ausblenden, er ist ständig präsent in meinem Kopf. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt und ich weiß, ich muss es sagen. Jetzt. Ich kann es nicht mehr zurückhalten. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten.
»Julian?«, frage ich vorsichtig.
Er hebt leicht den Kopf, blinzelt mich nervös an, »Was? Ist was passiert?«
»Ne. Also...ja. Ich meine...ich will mit dir reden.«, stammle ich vor mich hin.
Er richtet sich leicht auf. Jetzt sieht er mich richtig an, fast ernst. Kein Rumgelaber mehr.
Ich atme tief durch, bin etwas nervös, als ich die nächsten Worte ausspreche, »Ich habe in letzter Zeit oft darüber nachgedacht. Wie wir leben. Wie ich lebe. Zwei Leben irgendwie. Das hier mit dir. Und dann dieses andere. Bei der Arbeit, bei der Familie, bei Freunden und ich will das nicht mehr. Dieses ständige Hin- und Her. Ich will nicht, dass du 'der Typ bist, mit dem ich wohne'. Oder 'nur ein Freund'. Ich will, dass du dazugehört. Richtig. Ohne Filter. Ich will, dass du mein Freund sein kannst.«
Er sagt erstmal nichts. Sein Blick ist wach, aber ruhig. Kein Schock. Kein direktes Lächeln. Er verarbeitet es und denkt darüber nach.
»Du meinst...?«, er beendet seinen Satz nicht. Ich weiß, was er sagen will und nicke nur. Dann warte ich für einen Moment und hoffe, dass er etwas sagt.
»Ich meine, dass ich nicht mehr so leben will, als wärst du ein Geheimnis. Ich will, dass die Menschen wissen, wer du bist. Was du für mich bist. Ich will, dass du in meinem Leben sichtbar bist. Zumindest für die Leute, die uns wichtig sind.«
Er schaut mich an, als würde er sichergehen wollen, dass ich das auch wirklich ernst meine. Ich halte dem Blick stand, denn ich meine es ernst. Jedes Wort.
Dann hebt er eine Hand und legt sie vorsichtig auf mein Knie., »Du meinst das wirklich.«
Ich nicke, »Ja.«
Es dauert einen Moment, dann kommt sein Lächeln. Nicht groß. Nicht überzogen, sondern dieses echte, weiche Lächeln, das er manchmal hat, wenn er überrascht ist und sich trotzdem sicher fühlt, »Das wäre schön. Vielleicht noch nicht in der Öffentlichkeit, aber ich würde es meiner Familie gerne erzählen.«
»Ich auch«, lächle ich und streiche über seine Hand, die immer noch auf meinem Schoß liegt.
»Ich hätte auch eine Idee.«, sagt Jule dann, immer noch lächelnd.
»Okay?«, bin ich gespannt auf seinen Vorschlag.
»Weihnachten ist nächste Woche. Ich fahre zu meinen Eltern und wenn du willst, kannst du mitkommen?«, schlägt er vor.
Mein Herz setzt einen Moment aus. Oder es macht einen doppelten Haken. Keine Ahnung. Ich starre ihn nur an und spüre, wie meine Hände ein bisschen anfangen zu zittern.
»Du meinst...mitkommen? Als...dein Freund?«, frage ich etwas zögerlich.
»Ja. Als mein Freund. Nicht als mein Mitbewohner oder mein bester Freund. Nicht als 'Kai, der spontane Plus-Eins', sondern als der Typ, den ich liebe. Ich will, dass sie dich kennenlernen. Als mein Freund.«, versichert er mir.
Ich schlucke, plötzlich doch etwas unsicher, schließlich will ich Julian nicht Weihnachten ruinieren, »Und du denkst...sie...?«
»Ich weiß es. Meine Eltern haben uns immer gesagt, dass sie uns lieben, egal wen wir lieben und dass das nie ein Problem sein wird.«
Ich muss einen Moment lang nichts sagen, weil meine Kehle zu eng ist. Weil da so viel ist. Zu viel.
»Das ist...cool.«, ist das einzige, was ich in diesem Moment rausbekomme.
»Ja«, sagt Jule leise, »Ist es.«
Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare, schaue zur Seite und dann wieder zu ihm, »Ich habe so oft gedacht, das passiert irgendwann. Dass ich irgendwann soweit bin, aber ich habe es immer wieder aufgeschoben. Aus Angst. Wegen meiner Familie. Wegen allem. Und dann warst du da und ich habe trotzdem gezögert.«
»Weil du Zeit brauchtest und das ist okay.«, sagt er, so viel Verständnis in seiner Stimme.
»Ich will es trotzdem sagen. Ich habe mich lange genug vor mir selbst versteckt und ich will das einfach nicht mehr.«, ergänze ich noch.
Julian lehnt sich zurück, schaut mich an, »Und was ist mit deiner Familie?«
Ich zucke mit den Schultern, »Ich weiß nicht. Lea hat kein Problem damit und mein Vater offensichtlich nicht, aber bei dem Rest weiß ich nicht, ob sie es gut finden. Vielleicht nicht sofort. Vielleicht nie. Aber ich will es trotzdem. Ich will nicht mehr für sie und ihre Träume leben, sondern für mich. Und für dich. Und für uns.«
Er nickt. Dann sagt er nur, »Danke.«
Ich schüttle den Kopf, »Ich sollte dir danken. Dafür, dass du mich liebst, auch wenn ich es lange nicht zugelassen habe.«
Julian lehnt sich wieder an mich und legt seinen Kopf auf meine Schulter. Plötzlich ist alles ruhig, aber trotzdem schön. Es ist friedlich ruhig.
Wir schauen das Spiel weiter. Der Ball geht ins Aus. Irgendwer schießt daneben. Irgendwer jubelt zu früh. Aber das einzige, woran ich denken kann, ist, dass das vielleicht das erste Mal war, dass ich in meinem Leben wirklich zu mir gestanden bin. Nicht als Spieler. Nicht als Kommentator. Nicht als der, der Erwartungen von anderen erfüllt, sondern als Kai. Der Mann, der sich verliebt hat und der endlich bereit ist, das nicht mehr zu verstecken.
Irgendwann zieht Jule sein Handy heraus, tippt irgendwas auf dem Bildschirm und dreht es dann zu mir, »Ist das so okay?«
Eine noch ungesendete Nachricht an seine Mama:
Kann ich an Weihnachten jemanden mitbringen?
Ich sehe ihn lächelnd an und nicke. Er nimmt das Handy wieder zu sich, sendet die Nachricht ab und legt sich dann auf die Couch, seinen Kopf in meinem Schoß und seinen Blick auf den Fernseher gerichtet. Ich vergrabe meine Hände in seinen Haaren und streichle ihm sanft über die Kopfhaut.
Einige Minuten später bekommt Jule direkt eine Antwort von seiner Mama, er grinst kurz auf den Bildschirm und zeigt ihn dann zu mir:
Klar, ich freue mich, sie oder ihn kennenzulernen!
»Sie werden uns akzeptieren«, sagt er nur und ich merke, wie sich ein Lächeln auf seinen Lippen bildet und bei der Nachricht kann ich auch nicht anders als zu Lächeln. Zu sehen, dass seine Eltern kein Problem mit unserer Beziehung haben werden, ist so schön. Es fühlt sich so ungewohnt an, zu sehen, dass seine Eltern ihn akzeptieren, egal wen er liebt, aber auch so gut zu wissen, dass ich bei seiner Familie ich selbst sein kann.
»Ich freue mich auch auf deine Eltern«, sage ich schließlich und lehne mich vor, um ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen zu geben.
POV Jascha
Ich habe alles vorbereitet. Wirklich alles.
In meiner Tasche habe ich einen gefalteten Zettel mit Stichpunkten, in exakt der Reihenfolge, wie ich die Theorien bearbeitet habe und mir zurechtgelegt habe, daneben einen USB-Stick und meinen Laptop mit der Präsentation, die ich vorbereitet habe und daneben noch mein Notizbuch, damit ich alles noch einmal durchgehen kann, falls ich irgendwas vergessen habe. Ich habe die Präsentation vor dem Badezimmerspiegel geübt, so, dass ich überzeugend wirke und Julian sehen kann, dass ich es ernst meine.
Ich habe alle Sachen mit nach Hause genommen und bin extra schon früher nach Hause gefahren als Jule, um dort noch einmal alles in Ruhe üben zu können und den perfekten Platz für die Konfrontation zu finden. Ich habe ihn auch gefunden: Sein altes Zimmer. Ein Whiteboard, auf das ich die Präsentation perfekt projizieren kann, und eine Pinnwand, an der ich alle Verbindungen mit Fäden verbinden kann, um auch die Verbindungen zu zeigen.
Aber dann kam das Weihnachtsessen.
Das große Wiedersehen. Familie, Wärme und eine Lichterkette im Flur, die freudig in allen möglichen Farben blinkt. Es riecht nach Zimt und Orangen, die Stereoanlage im Wohnzimmer spielt irgendein Michael-Bublé-Weihnachtsalbum in Endlosschleife und ich bin noch halb im Modus 'Verhör beginnt in 15 Minuten', als ich durch die Tür komme und direkt einfriere.
Weil er da ist.
Kai.
Schon wieder. Verfolgt er Jule etwa überall hin?
Er steht im Wohnzimmer. Locker. Mit einem Glas Wasser in der Hand und redet mit unserer Mama, als würde er das regelmäßig tun. Als hätte er keine Leiche im Keller, kein dunkles Geheimnis und keine verschwiegene Geschichte mit meinem Bruder, die Julian mich wochenlang hat ignorieren lassen.
Ich bleibe im Türrahmen stehen und schreie innerlich. Ich kann nicht schon wieder wegen Kais Anwesenheit davon abgehalten werden, dass ich Jule mit allem konfrontiere. Seit Kai bei uns in der Wohnung wohnt, kann ich ihn nicht mit den Theorien konfrontieren, aber noch viel wichtiger: Was zur Hölle macht der hier?
Julian kommt aus der Küche, trägt zwei Teller mit Zimtkeksen und bleibt stehen, als er mich sieht, »Hey, Jascha. Da bist du ja.«
Ich starre ihn an. Kurz. Dann lasse ich den Blick zu Kai wandern, der mir zunickt. Ganz normal. Ganz menschlich.
»Ich habe dich nicht erwartet«, sage ich nur.
»Hier? Bei der Familien-Weihnachtsfeier?«, fragt er und schaut dabei etwas verwirrt.
»Nein«, schüttle ich den Kopf, natürlich wusste ich, dass er kommt, das ist schließlich das einzige, worauf ich seit Wochen warte, »Dich. Hier im Wohnzimmer. Jetzt.«
»Habe ich gemerkt«, sagt Julian. Und dann grinst er. Als wäre alles normal. Als wäre ich der, der sich komisch benimmt. Wobei er das in den letzten Wochen auch nicht mehr getan hat. Wahrscheinlich ist er einfach besser im Vortäuschen geworden, denke ich.
Ich setze mich auf die Sofakante, während die anderen weiter hin und her laufen. Kai hilft beim Tischdecken und ich beobachte alles. Jede Bewegung. Jede Berührung zwischen ihm und Julian. Und wie sie sich manchmal ansehen. So kurz, so beiläufig, aber doch nicht beiläufig genug für mein Auge. Und es ist verdächtig. Es schreit: Verschwörung.
Ich greife in meine Hosentasche, ertaste den Zettel mit den Notizen. Ich wollte ihn konfrontieren. Heute. Endlich. Aber wie soll ich das machen, wenn alle gerade Plätzchen in Herzform essen und Weihnachtslieder summen? Wenn meine Mutter Kai gerade fragt, ob er sich noch einen Löffel von der Bratensoße will? Wenn Kai hier ist und es nicht so wirkt, als würden die beiden auch nur eine Sekunde voneinander abweichen?
Ich sitze fest. In der perfekten Falle aus Harmonie, Duftkerzen und einer zu guten Gesellschaft für Misstrauen.
Also sag ich nichts. Noch nicht, aber ich beobachte und schreibe gedanklich alles auf, denn irgendwas läuft hier falsch. Und ich werde es herausfinden. Nur halt nicht vor dem Dessert, aber danach ist auch noch genug Zeit.
Chapter 37: Christmas
Chapter Text
POV Julian
Es ist Weihnachten und ich stehe gerade mit Kai vor der Haustür meiner Familie, kurz davor uns vor ihnen zu outen. Ich habe meiner Mama zwar gesagt, dass sie noch niemandem erzählen soll, dass ich meinen Partner mitbringe, weil wir es selbst erzählen wollen, trotzdem wird es nicht lange dauern. Und zumindest meine Mama weiß sofort davon, wenn wir reingehen.
Vorsichtig drücke ich die Klingel und warte, bis diese geöffnet wird. Kai steht neben mir und spielt nervös mit seinen Fingern, wie schon während der ganzen Autofahrt. Ich lehne mich kurz ein Stück näher an ihn und streiche vorsichtig über seine Hand. Er schaut zu mir auf und lächelt leicht, aber ich kann trotzdem sehen, dass er immer noch nervös ist.
»Alles wird gut«, flüstere ich zu ihm, um ihn etwas zu beruhigen, auch wenn ich selbst noch sehr nervös bin.
Dann geht auch die Tür auf und meine Mama schaut uns freudestrahlend an. Erst schaut sie zu mir und dann zu Kai, keine Sekunde ist in ihrem Blick Ablehnung zu sehen.
»Endlich seid ihr da«, sagt sie, kommt einen Schritt auf mich zu und zieht mich in eine Umarmung, »Schön dich wieder zu sehen«
»Schön, wieder hier zu sein«, sage ich.
Dann lässt sie mich wieder los und geht auf Kai zu und begrüßt ihn lächelnd, »Schön dich kennenzulernen, ich bin Andrea«
»Schön Sie kennenzulernen«, nickt er mit einem unsicheren Lächeln, »Ich bin Kai«
»Ach, du musst mich doch nicht siezen«, winkt sie ab. Kai nickt immer noch nervös, dann geht sie ein paar Schritte nach hinten und sieht uns ein paar Sekunden an.
»Ihr seid ein schönes Paar«, kommentiert sie schließlich, bevor sie sich wieder umdreht und sagt, »Kommt mit, die anderen können es sicher nicht abwarten, euch zu sehen.«
Ich drehe mich zu Kai, berühre ihn sanft am Rücken und schiebe ihn fast zur Tür.
Wir gehen nach innen, hängen unsere Jacken an die Garderobe und dann führe ich Kai in unsere Küche. Dort steht Jannis schon, der direkt auf uns zukommt.
»Hey, schön euch mal wieder zusammen zu sehen«, er schlägt sowohl mit mir als auch mit Kai ein, »Wie geht's?«
Ich schaue zu Kai rüber, der schon etwas entspannter wirkt als noch vorhin vor der Haustür.
»Gut«, sage ich schließlich und nicke Jannis zu.
»Sind die Gerüchte, die man über euch hört, wahr?«, flüstert er uns danach zu.
»Wer erzählt was?«, fragt Kai leicht erschrocken.
»Niemand«, winkt Jannis ab, »Aber ihr wisst schon...«
Ich zucke nur mit den Schultern, »Das wirst du schon noch früh genug herausfinden.«
Er schaut zwischen Kai und mir hin- und her, sagt dann aber nichts mehr und geht ins Wohnzimmer.
Ich stelle Kai noch meinen Papa und meine Oma vor, die sich alle freuen, ihn kennenzulernen und ich merke, dass Kai immer entspannter wird, je länger wir hier sind. Irgendwann verwickelt meine Mama Kai in ein Gespräch und ich gehe in die Küche, um meinem Papa zu helfen, das Gemüse für das Essen vorzubereiten.
Irgendwann treffe ich Jascha, der sich komisch verhält, wie so oft in letzter Zeit, aber nicht hinterfragt hat, warum Kai hier ist. Naja, er wird es früh genug noch erfahren.
Etwas später sitzen wir alle gemeinsam am Tisch und beginnen zu essen. Kai sitzt neben mir und unterhält sich mit meiner Oma und meiner Mama über sein Leben in London. Jascha und Papa reden über eine neue Sportzeitschrift, die Jascha gefunden hat. Jannis sitzt gegenüber von mir und grinst mich nur an, während er von seinem Braten isst und ich sitze hier und denke nur: Das ist es. Das ist alles, was ich haben will. Hier. Mit Kai und meiner Familie sein. Sehen, wie sie sich verstehen und Kai sofort aufgenommen haben, obwohl sie noch nicht einmal wissen, dass er mein Freund ist. Aber ich weiß, dass es sie nicht stören wird. Uns wurde immer gesagt, dass es egal ist, wen wir lieben, solange wir glücklich sind und das bin ich. Wirklich. Besonders gerade. Hier.
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Die Spülmaschine brummt leise im Hintergrund. Auf dem Tisch stehen halbleere Gläser, Kerzen brennen langsam runter und eine Schale M&Ms steht in der Mitte des Tisches. Es riecht immer noch nach Braten, Zimt und dem typisch weihnachtlichen Nelkenduft. Im Hintergrund läuft eine Weihnachtsplaylist und am Tisch versuche ich die verschiedenen Gespräche meiner Familie zu verfolgen, aber ich könnte nicht wirklich sagen, worüber sie reden, denn mein Herz schlägt zu laut. Denn ich weiß, dass wir es meiner Familie bald erzählen werden und ich bin etwas nervös.
Kai sitzt neben mir und unsere Schultern berühren sich ganz leicht. Niemand sieht es, aber ich spüre es. Ich spüre ihn.
Jannis lehnt sich zurück und spielt mit einem zerknüllten Serviettenrest. Jascha kaut an einem der Zimtsterne, die eigentlich zur Deko auf dem Tisch legen und mustert Kai. Mein Papa nippt an seinem Bier, meine Mama füllt sich Orangensaft nach und meine Oma ist gerade mitten in einer Geschichte aus ihrer Jugend über einen Glühweinstand auf einem Weihnachtsmarkt, der wohl in Flammen aufgegangen ist.
Ich greife nach Kais Hand unter dem Tisch. Er hebt den Kopf, schaut zu mir und nickt mir kaum merklich zu. Er sieht ein bisschen nervös aus, deswegen drücke ich seine Hand kurz, um ihm zu sagen, dass ich hier bin. Und dass alles gut wird. Obwohl ich selbst spüre, dass meine Hände beginnen, leicht zu schwitzen bei dem Gedanken, dass wir es jetzt sagen werden.
Ich schaue noch einmal zu Kai, um sicherzugehen, dass es Kai gut geht und dann räuspere ich mich, »Ich…würde gerne kurz was sagen.«
Die Gespräche verstummen und die Musik hört sich leiser an, obwohl sie gleich laut bleibt. Alle Blicke drehen sich zu mir. Meine Mama schaut mich an, liebevoll und wachsam. Sie weiß, was ich sagen will und ich sehe, wie sie mir ein bisschen Sicherheit geben kann. Mein Vater hebt die Augenbrauen, Jannis richtet sich ein bisschen auf und Jascha schaut, als würde er gleich ein Millionenquiz lösen.
Ich atme tief ein. Mein Herz klopft nicht schneller, aber stärker. Seit dieser Nacht wusste ich immer, dass dieser Moment kommen würde, aber ich wusste nie, wie er sich anfühlen würde.
»Es ist nichts Schlimmes. Eigentlich sogar was richtig Schönes. Ich… wollte euch sagen, dass Kai und ich zusammen sind.« Die Worte fallen einfach in den Raum. Ohne Filter. Ohne Umweg. Stille. Nur einen Moment. Kein Schock, kein Luftschnappen. Nur dieses kollektive Einatmen, wenn alle etwas verstanden haben und noch überlegen.
Dann sagt Oma trocken, ohne aufzusehen, »Ich habe es gewusst. So wie du den Jungen anschaust, das ist nicht einfach nur dein bester Freund.«
Jannis prustet los. Ich kann nicht anders als zu lachen. Kai auch leise, überrascht, aber auch sichtlich erleichtert. Ich merke, wie ich endlich wieder richtig atme.
Meine Mama lächelt mich stolz an, »Wir lieben dich. Und Kai, wenn ihr glücklich seid, dann sind wir das auch. Ich bin froh, dass du es uns erzählt hast.«
Mein Vater steht auf, aber er sagt kein Wort. Ich spüre, wie sich mein Magen kurz zusammenzieht. Akzeptiert er es doch nicht so, wie ich es mir gedacht habe. Doch dann kommt er zu mir und legt mir die Hand auf die Schulter, fester als erwartet. Ich sehe ihn an und er sieht mich an.
»Ich bin stolz auf dich, Julian«, sagt er, »Und ich freue mich, dass du jemanden gefunden hast, der dich glücklich macht.«, dann dreht er sich zu Kai, »Willkommen in der Familie, Kai.«
Ich nicke nur. Worte würden mir jetzt nicht helfen. Kai atmet neben mir so tief aus, als hätte er es sich wochenlang verkniffen. Und ich weiß, dass es genau deswegen wichtig war. Damit Kai merkt, dass er auch von anderen Leuten akzeptiert wird. Und damit wir uns nicht immer verstellen müssen, sondern auch hier wir selbst sein können.
»Na endlich.«, Jannis steht auf, klopft Kai und mir auf die Schulter, »Ich dachte schon, ihr schafft es gar nicht mehr, eure Probleme zu lösen.«
Dann bleibt nur noch Jascha. Der sitzt da mit halb gegessenem Zimtstern in der Hand und diesem Blick, den ich nicht deuten kann. Ich bin nervös. Wirklich. Er guckt mich an. Dann Kai. Dann zurück zu mir. Und dann zu Jannis.
»Du wusstest, was los ist?«, fragt Jascha ihn schockiert, »Du wusstest, dass es kein Mord war und hast mir nichts gesagt?«
Ich starre ihn an, »Was?«
Jascha zieht einen zerknitterten Zettel aus der Jackentasche und legt ihn mir hin, »Ich hatte eine Theorie. Und eine PowerPoint. Seit Monaten arbeite ich daran und ich habe Jannis jedes Detail gezeigt.«
Ich nehme den Zettel und lese mir die Punkte durch, die drauf stehen, danach gebe ich den Zettel zu Kai, der auch nur schmunzelnd mit dem Kopf schüttelt und starre Jascha verstört an, »Wie bist du denn darauf gekommen?«
»Irgendwer musste ja mal versuchen, eure Probleme zu verstehen, weil du nicht reden wolltest«, Jascha zuckt nur mit den Schultern, dann dreht er sich wieder zu Jannis und funkelt ihn böse an, »Und du. Wie konntest du mir nicht sagen, dass meine Theorien komplett falsch sind?«
»Deine Theorien zu beobachten war ganz lustig«, sagt Jannis nur amüsiert, »Ich hätte dich schon aufgehalten, wenn es eskaliert wäre.«
»Ich habe Informationen dazu gesammelt, ob die beiden jemanden umgebracht haben«, sagt Jascha klar, »Wie konntest du noch nicht gedacht haben, dass das eskaliert ist?«
Jannis zuckt nur mit den Schultern, »War lustig.«
Kai bricht in Gelächter aus. Ich lache ebenfalls und unsere Eltern und Oma schauen sich nur verwirrt an.
»Ich hatte so viele Beweise«, Jascha schüttelt seinen Kopf enttäuscht, »Aber nicht für Theorie 6.«
»Theorie 6?«, hakt Kai nach, denn auf dem Notizzettel stehen nur fünf Theorien.
»Theorie 6: Eine Beziehungskrise.«, gibt er geschlagen zu, »Die Theorie, mit der ich nicht gerechnet habe.«
Irgendwann, als die Stimmung sich wieder beruhigt hat und Jascha eine Geschichte von seinem Urlaub in Florida erzählt, lehnt Kai sich leicht gegen mich, legt seinen Kopf an meine Schulter und sagt kaum hörbar, »Ich hatte so Angst vor diesem Moment. Und jetzt will ich gar nicht mehr zurück.«
Ich lege meinen Arm um seine Schulter und flüstere zu ihm, »Musst du ja auch nicht.«
Er lächelt, »Danke.«
Und ich merke, wie alles in mir aufatmet. Dieser Moment, den ich jahrelang gefürchtet habe, ist keiner, der wehtut. Es ist der Anfang von etwas Neuem. Etwas, das frei wurde für uns beide.
»Ich dachte, sowas gibt’s nur in Serien«, murmelt er.
»Was?«, ich sehe ihn an.
»Dass es gut ausgeht. Dass man sich zeigt, wie man ist und niemand geht.«
Ich halte kurz inne. Dann sage ich, »Vielleicht passiert das, wenn man die richtigen Menschen hat.«
Und in diesem Moment weiß ich, wir haben sie. Hier.
POV Jascha
Ich sitze auf der Treppe im Flur, mein Notizbuch neben mir und meinen Kopf in den Nacken gelegt. Ich kann es nicht glauben. Jule und Kai sind ein Paar. So. Jetzt ist es raus. Nicht nur offiziell, sondern mit Weihnachtsessen und Eltern und allem Drum und Dran.
Und ich? Ich bin...nicht überrascht. Nicht wirklich. Nicht mehr. Aber ich bin trotzdem...irgendwie verwirrt. Ich habe damit nicht gerechnet und irgendwie bin ich fast etwas enttäuscht, dass nichts Spannenderes passiert ist.
Ich höre Schritte. Dann setzt sich jemand neben mich. Jannis, natürlich Jannis. Er sagt nichts. Typisch. Er kann besser schweigen als jeder andere Mensch auf diesem Planeten und trotzdem fühlt es sich nie leer an. Ich starre weiter auf meine Schuhe.
»Ich dachte wirklich, die haben jemanden umgebracht«, sage ich leise.
Jannis schnaubt. Ein halbes Lachen.
»Ich meine es ernst«, fahre ich fort, »So richtig. Ich hatte diese ganzen Theorien und Beweise. Verdächtige. Ein PowerPoint Präsentation, mit der ich Jule konfrontieren wollte. Ich hatte alles..«
»Natürlich hattest du das«, sagt Jannis trocken.
Ich nicke, »Und dann kam das gerade.«
Er sagt nichts, sondern mustert mich nur von der Seite. Also rede ich weiter.
»Ich hatte diesen Moment, weißt du? Als sie es gedacht haben, war ich irgendwie enttäuscht und verwirrt. Ich dachte nur: Oh. Okay. Das ist es also. Kein Mord. Keine Verschwörung. Nur Liebe.«
Jannis grinst, »Nur Liebe, wie schlimm.«
Ich werfe ihm einen Blick zu, »Naja, irgendwie haben sie trotzdem mein Weltbild getötet. Zählt das?«
»Definitiv.«, Jannis nickt etwas zu energisch und ich weiß, dass er es nicht ernst meint.
»Ich weiß nicht, was mich mehr fertig macht«, sage ich, »Dass ich komplett falsch lag oder dass es eigentlich Sinn ergibt.«
Jannis hebt die Augenbraue.
»Ich meine…rückblickend war alles da. Das Drama. Die Blicke. Das Verschwinden. Die Nervosität. Die stille Kommunikation. Und ich habe das alles nicht gesehen.«
Jannis lehnt sich zurück, »Vielleicht bist du einfach gut in Drama und schlecht in Romantik.«
Ich lache, »Danke. Wirklich hilfreich.«
»Weißt du, was das Krasseste war?«, frage ich.
Er schaut mich an.
»Wie normal es sich angefühlt hat. Ich dachte, ich bin der Einzige, der überfordert ist, aber es waren einfach sie. Julian und Kai. Wie immer. Nur ehrlicher und sie haben irgendwie überfordert ausgesehen.«
Jannis nickt. »Ich glaube, das war für die beiden das erste Mal wirklich ehrlich.«
Ich seufze, »Ich will nicht, dass sie denken, ich war gegen die Beziehung.«
»Bist du nicht.«, sagt Jannis, wie ein Fakt.
»Aber ich habe es auch nicht gecheckt.«, bin ich immer noch enttäuscht, dass ich nicht drauf gekommen bin, was wirklich zwischen den beiden passiert ist.
»Weil sie es dir nicht gesagt haben.«, Jannis zuckt mit den Schultern, »Du bist nicht verpflichtet, irgendwas zu erraten und sie sind nicht verpflichtet, alles sofort zu sagen.«
»Trotzdem fühlt sich es an als hätte ich einen ganzen Krimi gelesen und am Ende kam raus, es war gar kein Mord, sondern eine Liebesgeschichte.«
»Plot Twist«, sagt Jannis stumpf und zuckt wieder mit den Schultern.
Ich grinse, »Und der Ermittler war ich.«
Wir lachen beide, laut und ehrlich. Dann lehne ich mich zurück.
»Okay«, sage ich, »Vielleicht war es kein Mord. Aber irgendwas haben sie vergraben.«
Jannis schaut mich an, »Was denn?«
Ich zucke mit den Schultern, »Vielleicht einfach das alte Bild, das ich von Julian hatte. Dieser Typ, der immer alles im Griff hat, immer perfekt, immer nur Fußball und dann siehst du ihn mit Kai und du merkst, da ist so viel mehr. Zerbrechlichkeit. Wärme. Zweifel. Gefühle«, Ich schlucke, »Und ich frage mich, wie viel davon ich nie sehen durfte oder nie sehen wollte.«
Jannis legt den Kopf schief, »Denkst du, er hätte es dir früher sagen sollen?«
»Weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wollte er nur erstmal selbst klar kommen.«, Ich seufze, »Aber ich hoffe, er weiß, dass ich trotzdem hier bin auch wenn ich dramatische Theorien gebaut habe.«
»Dann sag es ihm.«, nickt er mir zu.
»Ich will nicht, dass es komisch wird.«
»Du hast mal geglaubt, er hätte jemanden ermordet. Ich glaube, komischer kann es kaum werden.«
Ich lache laut und befreit. Dann stehen wir irgendwann auf und ich schaue zur Küchentür im Gang, »Vielleicht back ich ihm was.«
»Bitte nicht.«, hält Jannis mich sofort auf.
»Warum?«, ich schaue ihn verwirrt an.
»Weil du einmal statt Zucker Salz genommen hast und behauptet hast, das sei Absicht gewesen.«
»War es auch. Ein Geschmacksexperiment.«
Jannis lacht und dann gehen wir wieder rein zu den anderen in die Küche und ich nehme mir fest vor, heute noch mit Jule zu reden.
—
Ein paar Stunden später geht Oma nach Hause. Julian bringt sie zur Tür und ich beobachte es aus dem Flur. Seine Hand liegt kurz an ihrer Schulter, ihr Lächeln ist weich und faltig. Sie winkt Kai zum Abschied noch zu und Kai grinst. Ich stehe ein bisschen verloren da. Die Hände in meinen Hosentaschen, das Herz irgendwo zwischen schlechtem Gewissen und zu viel Schokopudding und ich atme tief durch. Jetzt oder nie, Jascha. Kein Rückzug mehr. Julian dreht sich um, kommt von der Tür zurück in Richtung Küche gelaufen und ich trete vor.
»Ey, warte kurz«, sage ich leise.
Er bleibt stehen und sieht mich mit einem überraschten Blick an. Ich mache ein vages Zeichen zur Seite, raus aus dem Sichtfeld sind. Hinter dem Bücherregal ist so ein kleiner verdeckter Ort, wo wir früher als Kinder Karten gespielt haben. Ich stelle mich genau dorthin. Julian folgt mir.
Ich schlucke, dann sage ich: »Ich wollte mich nicht dafür entschuldigen, dass ich sie hatte«, sage ich schnell und ergänze, »Die Mordtheorie«
Er wartet und ich hasse, wie gut er einfach ruhig sein kann, während ich innerlich alles durchscanne, was ich je gesagt und getan habe.
»Ich will mich entschuldigen, dass ich mich überhaupt so eingemischt habe«, sage ich, »Dass ich dachte, ich müsste irgendwas aufklären oder verstehen, was euch gehört und mich nichts angeht.«
Er schaut mich jetzt anders an. Wärmer, aber auch ein bisschen verletzter.
»Ich dachte, wenn ich es irgendwie in eine Geschichte packe mit einer Theorie, dann kann ich es besser verstehen und dir vielleicht helfen, aber stattdessen habe ich mich einfach in euere Beziehung – oder auch nicht Beziehung – gemacht.«
Ich sehe auf meine Schuhe.
»Es war nicht böse gemeint, wirklich nicht«, murmele ich, »Ich habe dich nur vermisst. Also den echten Julian. Du warst nicht mehr du selbst und ich habe mir Sorgen gemacht. Ich wollte dir helfen.«
Julian sagt lange nichts, dann hebt er die Hand und legt sie kurz auf meine Schulter.
»Du bist manchmal komplett verwirrt, weißt du das?«, sagt er.
Ich nicke. Dann fährt er fort: »Aber du bist auch mein Bruder und dass du dich entschuldigst, bedeutet mir viel.«
Ich lächle und dann schiebt er noch hinterher: »Aber die Theorie mit dem Mord musst du mir noch mal genauer erklären.«
Ich lache, »Ich zeige dir irgendwann die Powerpoint-Folien.«
Er grinst, »Deal.«
Jule zieht mich in eine Umarmung und für den Moment ist alles okay. Nicht perfekt, aber ehrlich und ehrlich reicht manchmal.
»Aber jetzt muss ich endlich mal was trinken«, Jule löst sich wieder von mir.
»Okay«, nicke ich, »Ich bleib noch kurz hier«
Julian nickt mir zu und verschwindet in Richtung Küche. Ich bleibe noch kurz stehen und lehne mich gegen das Bücherregal. Ich atme durch. Okay. Gespräch geführt. Entschuldigung angekommen.
Ich bleibe hier noch einen Moment stehen, bevor ich mich durch den Flur schiebe und direkt in der Küchentür stehen bleibe. Julian steht da, den Rücken zu mir gedreht und Kai sitzt auf der Anrichte. Er sieht Julian an, als wäre der gerade das Erste, was ihn heute wieder richtig atmen lässt. Julian dreht sich halb zu ihm um und grinst. Kai beugt sich vor, greift nach Julians Ärmel und zieht ihn sachte ran. Kein Kuss, nur Stirn an Stirn. Zwei Leute, die still sind, aber in dieser Stille so viel sagen. Ich bleibe stocksteif in der Tür stehen.
Mein Gehirn sagt, dass ich wieder gehen soll und die beiden alleine lassen soll, aber meine Füße bewegen sich nicht.
Und dann sagt Kai, flüsternd, aber laut genug, dass ich ihn höre, »Ich bin froh, dass du da bist.«
Und Julian sagt, »Ich war nie wirklich weg.«
Ich mache ein Geräusch. So ein versehentliches Luft-Kichern, das ich nicht unterdrücken kann und beide schrecken auseinander und drehen sich zu mir.
»Ich habe nix gesehen«, sage ich, »Außer ein bisschen was fürs Herz.«
Julian hebt eine Augenbraue. Kai schmunzelt fast so, als würde er mich durchschauen. Ich gehe weiter in die Küche, nehme mir demonstrativ ein Glas, schraube mit voller Konzentration die Wasserflasche auf.
Ich gieße Wasser langsam in mein Glas, während ich spüre, wie die beiden mich genau beobachten und drehe mich danach halb zu ihnen, »Ihr seid süß. Das ist verstörend. Ich hasse es. Macht weiter so.«
Julian lacht jetzt auch. Kai zuckt nur mit den Schultern und ich trinke mein Wasser.
»Ihr zwei«, sage ich, »seid wirklich schlimmer als jede Theorie, die ich hatte.«
Julian grinst. »Und trotzdem hast du uns analysiert wie Tatverdächtige.«
»Tja«, sage ich. »Ich dachte, ihr hättet was vergraben.«
Kai sieht mich an. »Haben wir ja. Nur halt uns und das ganze Versteckspiel.«
Ich nicke langsam, wirklich langsam. Dann hebe ich mein Glas. »Auf das und auf eine Zukunft ohne PowerPoints über eure emotionale Instabilität.«
Julian stößt grinsend mit seinem Glas an und Kai auch. Und zum ersten Mal seit ein paar Monaten fühle ich mich nicht wie der Außenstehende mit wilden Theorien, sondern wie jemand, der endlich gecheckt hat:
Liebe ist kein Plot Twist.
Sie ist das, was bleibt, wenn die letzte Folie durchgeklickt ist.
Chapter 38: Proud Of You
Chapter Text
POV Julian
Später am Abend, nachdem wir alle beschlossen haben, schlafen zu gehen, öffne ich die Tür zu meinem alten Kinderzimmer langsam. Der vertraute Geruch nach alten Büchern, Holz und irgendwas, das man wohl nur mit der eigenen Kindheit verbindet, steigt mir sofort in die Nase. Ich fühle mich direkt wohl.
»Willkommen in meiner Kindheit«, sage ich und trete einen Schritt zur Seite, damit Kai an mir vorbei ins Zimmer gehen kann.
Er bleibt im Eingang stehen und schaut sich um, als wäre er gerade mit einer Zeitmaschine gereist. Die Wände sind immer noch hellblau gestrichen, aber stellenweise vergilbt. Meine alten Poster kleben noch immer an der Tür: alte Nationalspieler, One-Piece-Charaktere und ein zerknittertes FIFA-Cover. Das Bett ist schmal und die Bettdecke kariert, daneben steht ein kleiner Schreibtisch mit eingeritzten Buchstaben, die ich mit acht Jahren da reingekratzt habe.
Kai sagt erstmal nichts. Nur ein vorsichtiges Lächeln zieht über sein Gesicht, während er langsam hineingeht. Ich bleibe an der Tür stehen, lehne mich gegen den Rahmen und beobachte ihn, wie er sich umsieht. Es ist fast so, als würde er meine Kindheit im Schnelldurchlauf erleben. Meine Eltern haben alle meine Dinge hier aufgehängt und reingebracht, als ich ausgezogen bin. Falls ich sie einmal für meine eigenen Kinder brauche, meinten sie damals, ich habe nur meine Augen verdreht, aber jetzt bin ich ganz froh, dass sie die Sachen aufgehoben haben.
»Ist das ein Original-Fußballheft da hinten?« fragt er und deutet auf das Regal neben dem Schreibtisch.
Ich nicke, »Natürlich. Mit Panini-Stickern. Vollständig. Ich war in der vierten Klasse absolut besessen davon. habe sogar mit anderen in der Pause getauscht. Das war ernster als illegales Drogendealen.«
Kai lacht leise und nimmt das Heft in die Hand. Er blättert vorsichtig durch die Seiten, als könnte er etwas kaputt machen.
»Du hattest echt alle?«, stellt er erstaunt fest.
»Ich habe meinem Bruder mal einen Monat Keksvorrat gegeben, nur um Bastian Schweinsteiger zu bekommen.«, erkläre ich ihm stolz.
Er schaut auf, grinst, »Würdest du das heute auch noch machen?«
Ich tue so, als würde ich überlegen, »Kommt auf den Keks an.«
Kai lässt sich auf mein altes Bett fallen, das leicht quietscht, lehnt sich zurück, sieht zur Decke und dann wieder zu mir, »Es ist komisch, mich dich hier als Kind vorzustellen.«
»Wieso?«, frage ich und verschränke meine Arme.
»Ich meine, du warst hier Kind. Und jetzt bist du...na ja, du. Julian. Erwachsen. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie dein Kinderzimmer aussieht und irgendwie ist das hier ganz anders. Aber irgendwie passt das auch zu dir.«, erzählt er.
Ich gehe zu ihm rüber und setze mich neben ihn, »Ich habe mich hier oft versteckt. Vor dem Lärm. Vor allem. Wenn alles zu viel war, vor allem die Erwartungen im Training oder in der Schule.«
Er sieht mich ernst an, »War es so schlimm?«
»Nicht immer, aber oft. Ich hatte dieses ständige Gefühl, dass ich irgendwas leisten muss. Dass ich nur dann genug bin, wenn ich etwas erreiche und besser bin, als die anderen.«
Kai legt seine Hand auf meine und streicht mit seinen Fingern sanft drüber, »Du musst nichts leisten, um genug zu sein. Nicht für mich.«
Ich schlucke, »Ich weiß, aber das hier erinnert mich daran, wo das angefangen hat.«
Er nickt langsam, dann steht er auf und geht langsam zu einem kleinen Regal neben dem Fenster, »Was ist das?«
Ich schaue zu ihm rüber, »Das ist mein erster Pokal. Jugendturnier, als ich neun war. Ich habe da mein erstes Tor geschossen. Ich habe ihn mir damals auf das Nachtkästchen gestellt und drei Wochen lang jeden Abend angeschaut, bevor ich eingeschlafen bin.«
Kai nimmt den Pokal vorsichtig in die Hand und betrachtet ihn von allen Seiten, »Du hast echt viel durchgemacht, schon als Kind.«
»Ich glaube, ich wusste gar nicht, dass es anders geht.«, gebe ich ehrlich zu.
Er stellt den Pokal zurück ins Regal und dreht sich wieder zu mir, »Ich wünschte, ich hätte dich früher kennengelernt. Vielleicht hätte ich dann auch eher gemerkt, dass es okay ist, anders zu sein.«
Ich stehe auf, gehe zu ihm, »Aber wir sind jetzt hier. Und das ist echt.«
Er nickt und lehnt sich an mich, »Es ist mehr als das. Es ist Zuhause.«
Ich lache leise, »Und das sagst du, obwohl du hier aufgewachsen bist?«
»Vor allem deshalb.«, stimme ich zu.
Dann setzt er sich neben mich und wir bleiben so. Einfach nur für einen Moment. Dann zeige ich ihm meine alten One-Piece-Hefte, die ich unter dem Bett aufbewahrt habe, Fotos von mir und Jannis beim Baden im Planschbecken und eine Kurzgeschichte, die ich irgendwann in der 5. Klasse selbst geschrieben habe. Sie ist katastrophal, aber Kai liest sie mir laut vor, mit dramatischer Stimme und wir lachen.
»Es ist irgendwie heftig«, sagt Kai leise, »Zu sehen, wo du herkommst. Und dann daran zu denken, wo du jetzt bist.«
Ich sehe ihn an, »Ich bin da, wo du auch bist.«
Er lächelt, »Dann hoffe ich, dass ich auch irgendwann so ein Zimmer habe. Eins, wo ich auch auf solche Erinnerungen zurückschauen kann.«
Ich greife nach seiner Hand, »Vielleicht bauen wir uns irgendwann eins. Zusammen.«
Und für einen Moment ist es ganz still, aber trotzdem irgendwie voll von all dem, was war und all dem, was noch kommt.
---
Etwas später liegen wir im Bett, Kai liegt neben mir auf dem Rücken, in seine Decke gekuschelt und schaut in sein Handy und ich beobachte ihn dabei, wie so oft in den letzten Wochen. Ich spüre, wie er schon seit einer ganzen Weile nicht richtig entspannt ist. Das Display seines Handys leuchtet sein Gesicht an, während er scrollt. Irgendwann seufzt er laut und lässt den Arm mit seinem Handy auf die Matratze fallen. Ich setze mich etwas auf und stütze meinen Kopf auf den Ellenbogen ab.
»Was ist los?«, frage ich, weil ich merke, dass bei ihm etwas nicht stimmt.
Kai sagt nicht, stattdessen dreht er das Handy, dass noch in seiner Hand liegt und dreht das Display weg, »Nichts, ist nicht wichtig.«
Ich warte darauf, dass er noch etwas sagt, lasse ihm etwas Zeit, um sich zu sammeln. Er zögert, doch dann greift er das Handy wieder, entsperrt es, scrollt kurz und hält mir das Display hin. Es ist ein Chatverlauf in seiner Familiengruppe. Ich lese mir den ganzen Verlauf durch:
Mama: Kai, Schätzchen, kannst du bitte kurz Bescheid geben, ob du über die Feiertage noch zu uns kommst? Ich koche auch deinen Lieblingsbraten!
Hey, Mama. Ich komme dieses Jahr nicht. Bin schon woanders eingeladen.
Mama: Oh! Okay, darf ich fragen, bei wem? Hast du etwa endlich eine Freundin?
Nein.
Bin bei meinem Freund.
Lea: Endlich!!! Ich freu mich so sehr für dich!!!
Jan: Broo...Proud of u. Ich will ihn unbedingt kennenlernen!
Mama: Oh, Kai. Das freut mich sehr. Du kannst ihn gerne auch bald mitbringen
Papa:
Was soll das heißen?
DEIN Freund???
Freund. Partner. Seelenverwandter.
Nenn es, wie du willst.
Papa: Du bist doch nicht schwul!!!
Ich habe dich nicht so erzogen. Ich dachte, wir haben das bereits geklärt!!!
Lea: Stopp Papa!!!
Doch, bin ich und ich bin trotzdem derselbe, ob du es akzeptierst oder nicht.
Papa:
Das ist eklig. Unnatürlich. Das ist nicht mein Sohn.
Das ist nicht normal!
Jan: Was?
Lea: Sag mal, was ist falsch bei dir?! Du redest hier über deinen Sohn.
Ich habe mich nicht verändert. Ich habe nur aufgehört, so zu tun, als wäre ich jemand anders. Und das hätte ich schon viel früher tun sollen.
Mama: Bitte streitet euch nicht...
Papa: Ich halte mich seit Jahren zurück, aber das geht zu weit. Wenn du wirklich denkst, das sei normal, dann brauchst du hier nicht mehr auftauchen. Mein Sohn ist nicht schwul, dass ist nicht normal!
Okay, dann komm ich nicht, aber nicht, weil ich mich schäme, sondern, weil ich mich nicht mehr klein machen lasse.
Lea:
Ich liebe dich.
So wie du bist. Immer.
Jan:
Ich auch.
Wir stehen hinter dir.
Danke Lea und Jan.
Ich brauche kurz Pause.
Ich melde mich später.
Der Chat endet dort. Kein weiteres Wort von Kai und auch keine Nachricht von seiner Mama oder jemandem anderem in der Gruppe. Nur Stille danach.
Ich halte das Handy fest. Mein Herz zieht sich zusammen.
»Hat er dir jedes Mal solche Sachen gesagt?«, frage ich leise. Kai hat mir nie gesagt, was genau sein Vater zu ihm gesagt hat, aber die Nachrichten gerade waren schon heftig.
Kai blickt an die Decke. Starr, ohne zu blinzeln, »Nicht seit Jahren. Nicht so direkt. Früher ja. Immer wieder kleine Kommentare und Abwertungen, wenn irgendwas im Fernsehen lief oder wenn er das Gefühl hatte, ich wäre zu schwach oder zu sensibel.«
Ich rutsche näher an ihn ran und lege meine Hand auf seinen Unterarm, »Möchtest du darüber reden?«
Er nickt und dann fängt er einfach an, kein Zögern diesmal.
»Ich war vierzehn. Luca ist nach dem Training mit zu mir gekommen. Wir hatten uns...keine Ahnung...angenähert. Er war mein erster Crush. Meine erste...echte Nähe. Ich habe nicht viel darüber nachgedacht. Es war Sommer und ich war einfach nur glücklich und dann hat mein Vater uns gesehen. Er ist früher von seiner Arbeit zurückgekommen.«, Kai schluckt hart und seine Stimme wird leiser, »Er hat uns angeschrien. Ich habe nur noch den Blick in seinen Augen gesehen. Ekel. Richtig echter Ekel. Als wäre ich...dreckig. Abnormal. Er hat gesagt, ich soll das lassen. Dass ich krank sei. Dass er mich so nicht ertragen könne.«
Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht. Nicht aus Mitleid, sondern aus Wut auf Kais Vater. Ich würde ihn am liebsten...ich weiß nicht. Einfach konfrontieren. Aber ich schweige, weil ich weiß, Kai braucht jetzt etwas anderes. Jemanden, der zuhört und für ihn da ist.
»Als Luca irgendwann gegangen ist, hat er mich...geschlagen und mich so angeschrien, dass ich fast geheult hätte. Ich bin dann zu Lea gerannt und habe es ihr gesagt. Sie hat mich einfach nur in den Arm genommen.«
Ich rutsche näher zu ihm, »Und danach?«
»Seitdem habe ich nie mehr ein Wort darüber verloren. Er hat es auch nie wieder erwähnt. Als wäre es nie passiert, aber ich habe gespürt, dass es immer mitläuft. In jedem Blick. In jedem Ton, wenn er gefragt hat, ob ich eine Freundin habe. In jedem sarkastischen Spruch, wenn ich früher Interviews gegeben habe. Er hat mir immer klar gemacht, was er davon hält, bis ich es irgendwann selbst geglaubt habe.«, erklärt er leise.
Ich lege meine Hand zärtlich an Kais Wange. Er dreht den Kopf leicht zu mir und sieht mich an.
»Ich kann nichts sagen, was das auslöscht«, flüstere ich, »Aber ich sehe dich. Ganz. Und ich bleibe da. Egal, was irgendwer zu dir sagt.«
»Das hast du schon gesagt«, sagt Kai leise, »Aber es ist was anderes, wenn man es spürt.«
Er nimmt meine Hand und drückt sie fest, »Und gerade spüre ich es. Wirklich. Ich dachte früher immer, ich bin falsch. Nicht nur schwul. Falsch. Schwach. Weich. Eine Enttäuschung.«
»Du bist nichts davon«, sage ich sofort.
»Ich weiß. Jetzt, aber manchmal ist da dieser Junge in mir, der in seinem Zimmer stand, sich verliebt hat und dachte, dass genau das der größte Fehler seines Lebens war.«
Wir sagen erstmal nichts. Ich streiche ihm mit dem Daumen über den Handrücken. Die Dunkelheit im Zimmer fühlt sich nicht schwer an. Nur still.
»Und jetzt?«, frage ich.
»Jetzt... habe ich dir von allem erzählt. Das habe ich noch nie gemacht. Nicht mal Lea kennt die Details. Nur, das, was war.«
Ich küsse seine Schläfe, vorsichtig. Ein Dankeschön für sein Vertrauen, aber ohne Worte.
»Ich hatte Angst, dass ich nie so lieben kann, ohne mich zu schämen«, sagt er leise, »Und dann warst du da. Und hat alles verändert.«
Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Nicht vor Traurigkeit, sondern weil er das gerade wirklich zulässt. Sich. Mich. Uns. Weil er sich mir noch nie so geöffnet hat, wie gerade eben.
»Ich will, dass du weißt, dass ich dich nicht nur liebe, wenn es schön ist, sondern auch, wenn es schwer ist, auch wenn du mich wegstoßen willst. Ich bleibe.«, sage ich ihm ehrlich.
Er sieht mich an und ich sehe diese Mischung aus Angst, Verletzlichkeit, und trotzdem Hoffnung in seinen Augen. Ein kleiner Funke, der reicht. Er zieht mich in seinen Arm. Ich streiche ihm immer noch langsam über den Handrücken und unsere Finger sind ineinander verschränkt. Er atmet ruhig, aber sein Blick ist irgendwo im Dunkeln zwischen der Decke und all den Gedanken, die gerade in ihm toben. Ich sehe ihn an und dann kommt dieser Gedanke, der raus muss, bevor er untergeht in dem ganzen Schmerz, den er gerade mit mir geteilt hat.
»Kai?«, sage ich vorsichtig. Er dreht leicht den Kopf zu mir, seine Augen müde, aber aufmerksam.
»Ich bin so stolz auf dich«, sage ich. Leise, aber mit allem, was in mir steckt.
Er runzelt die Stirn, »Worauf denn? Darauf, dass ich jahrelang nicht akzeptiert habe, wer ich bin oder dass ich in einem Chat geschrieben habe, dass ich mit einem Typen zusammen bin.«
Ich schüttle den Kopf, »Nein. Du hast mehr getan, als das. Du hast etwas ausgesprochen, vor dem du dein ganzes Leben Angst hattest. Du hast deiner Familie gesagt, wer du wirklich bist und du hast nicht zurückgerudert, als es hart wurde. Du hast zu dir gestanden. Und zu mir. Zu uns.«
Er schaut mich an und ich sehe, wie er sich erst gegen das Kompliment wehren will. Wie er es kleinreden will, aber dann sagt er nur, »Es war trotzdem nicht mutig. Ich habe es einfach irgendwann nicht mehr ausgehalten.«
Ich rücke näher an ihn und lege meine Stirn leicht gegen seinen Kopf, »Du musst nicht kämpfen, um mutig zu sein, aber ich sehe, wie sehr du das immer tust. Und ich bin stolz, dass du dieses Mal nicht den leichten Ausweg genommen hast.«
Er atmet leise aus, »Ich habe nie gedacht, dass jemand mal so über mich spricht.«
Ich grinse ein bisschen, »Tja, du hast dir halt den Typ ausgesucht, der ziemlich oft und ziemlich laut über dich denkt.«
Ein kleines Lächeln taucht auf seinem Gesicht auf. Ich liebe das. Diese Lächeln, das nur ich kriege. Nicht das für Kameras, nicht das für Freunde, sondern das, was nur mir gehört.
»Ich habe echt Schiss gehabt«, sagt er dann, »Nicht mal vor den Antworten, aber davor, wie ich mich danach fühlen würde und ob ich es bereuen werde.«
»Und?«, frage ich nach, »Tust du es?«
»Ich bereue nur, dass ich es nicht früher gesagt habe.«, sagt er und schlingt dabei seine Arme um meine Brust.
Ich nicke und dann lege ich meinen Kopf auf seine Schulter, »Ich liebe dich und ich bin wirklich stolz auf dich.«
»Danke, dass du mich nicht gerettet hast, sondern einfach geblieben bist.«, er drückt mich fest an sich.
»Du brauchst keine Rettung«, flüstere ich, »Du brauchst jemanden, der dich sieht.«
»Dann hast du das ziemlich gut hinbekommen.«, murmelt er gegen meine Haare und in diesem Moment fühlt sich alles leicht tan.
Wir liegen einfach da, in den Armen des anderen und ich weiß:
Er hat heute nicht nur mir vertraut, sondern ist auch für sich selbst eingestanden und jetzt habe ich das Gefühl, dass wir für immer sind.
Egal, was noch kommen mag, Kai steht zu sich und bei mir und das ist alles, was ich brauche, um zu wissen, dass wir gemeinsam alles durchstehen werden.
Chapter 39: Epilog
Notes:
(See the end of the chapter for notes.)
Chapter Text
4 Jahre später/POV Kai
Ich weiß nicht genau, wann der Moment kam, an dem aus Angst Klarheit wurde. Es war kein einzelner Tag. Nicht ein Satz. Eher etwas, das mit jeder Minute, jeder Stunde und jedem Tag klarer wurde, bis wir uns irgendwann sicher waren, dass jetzt der richtige Moment ist.
Vielleicht war es der Morgen, an dem ich neben Julian aufgewacht bin und alles war still. Kein Stress, kein schlechtes Gewissen, keine Gedanken an Konsequenzen. Einfach Stille. Eine schöne Stille.
Oder vielleicht war es der Tag, an dem ich das erste Mal nicht wegsehen musste, als mein Spiegelbild mir sagte, wer ich bin. Vielleicht wusste ich schon da, dass dieser Tag kommen wird.
Vielleicht war es auch der Moment, in dem ich die Worte zum ersten Mal getippt habe, die ich jahrelang in mir getragen habe wie eine tickende Zeitbombe:
'Ich war lange leise. Jetzt spreche ich für die, die es nicht können.'
Auf Instagram. Mit einem dezenten Bild von Julian und mir, wie wir Händchen halten. Der Verlobungsring an seinem Finger zu erkennen. Keine Filter, sondern nur Ehrlichkeit. Wir haben auf 'Teilen' gedrückt und kurz das Gefühl gehabt, dass mein Herz stehen bleibt.
Und dann war da plötzlich Stille. Likes. Kommentare. Nachrichten. Tausende. Fremde Menschen, die mir ihre Geschichten erzählen. Queere Jugendliche. Eltern. Spieler. Reporter. Anfragen für Interviews. Auch genügend Hassnachrichten und Drohungen.
Wir haben sie nicht gelesen. Nicht sofort zumindest. Wir haben die ersten Tage nach der Veröffentlichung allein verbracht, ohne unsere Handys. Wir sind zu den Jungs nach England geflogen, um uns abzulenken.
Irgendwann, als wir wieder daheim waren, haben wir die Nachrichten dann doch geöffnet. Viele positive Kommentare, viele Leute, die sich für uns gefreut haben, viele Leute, die uns öffentlich unterstützt haben, viele Leute, die ihre Geschichten mit uns geteilt haben.
Eine Geschichte von einem Jungen, der in einem queerfeindlichem Umfeld lebt und der durch unsere Posts etwas Hoffnung gefunden hat, hat mich besonders berührt. Tränen sind meine Wangen heruntergerollt und Jule hat mich in seine Arme genommen.
Ich habe viele Nachrichten gelesen, auch wenn uns eigentlich davon abgeraten wurde. Die negativen Hasskommentare haben mich runtergezogen, manchmal habe ich geweint und Julian hat mich in die Arme genommen und die glücklichen und hoffnungsvollen Kommentare haben mich schmunzeln lassen.
Und dann war da eine Nachricht, mit der ich niemals gerechnet haben. Von Luca.
'Ich habe es gesehen und ich bin stolz auf dich. Ich weiß, wie schwer das ist, besonders nach dem, was damals passiert ist. Alles Gute für euch, wirklich.'
Ich lese die Nachricht mehrmals. Fühle mich, als hätte die Vergangenheit mich umarmt und mich ein bisschen geheilt. Als würde ein Teil, der damals so schmerzhaft auseinandergefallen ist, einfach sagen: Es ist okay. Du darfst weitermachen. Als würde eine Last von mir fallen, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie trage.
Es gab auch einige Zeitungsartikel zu unserer Beziehung. Einige Artikel, die den Fortschritt, der dadurch im Männerfußball gemacht wurde, zu betonen und darüber aufzuklären, aber auch einige, die unseren Schritt kritisiert haben. Das ging zu schnell. Das passt nicht in den Sport. Das könnte ein mögliches Karriereende für Julian bedeuten.
Davor hatte ich am meisten Angst. Jules Karriere zu gefährden. Und in diesem Moment ist die Angst wieder ausgebrochen. Auch, wenn Jule mir versichert hat, dass der Verein hinter ihm steht und es ihm egal wäre, wenn das seine letzte Saison wäre, weil er endlich öffentlich mit mir sein kann, ist dieser Gedanke immer wieder präsent bei mir. Und die Angst, Jules Karriere zu zerstören auch. Aber jedes Mal, wenn er das mitbekommt, macht er mir klar, dass ihm das egal ist und irgendwie gibt mir das ein bisschen Hoffnung.
Dann gibt es noch Artikel von der Klatschpresse, die unsere ganzen gemeinsamen öffentlichen Momente auf eine mögliche Beziehungsandeutung analysieren. Wir ignorieren sie einfach. Diese Sachen sind sowieso haltlose Spekulationen.
Und dann gibt es da noch die Presseanfragen. Interviewanfragen, Anfragen für mögliche Werbepartner, Anfragen für Fotoshootings und Einladungen zu irgendwelchen Events. Wir lehnen alles ab. Wir wollen unsere Beziehung nicht zur Vermarktung verwenden.
Aber eine Anfrage schaue ich mir länger an. Ich zeige sie Jule und der sie kurze Zeit durchliest und dann nur nickt und wir beschließen, diese anzunehmen. Nicht für Geld, nicht für Marketing, nicht für uns, sondern für die, die nicht sie selbst sein können.
Zwei Wochen sind seitdem erst vergangen. In dieser Zeit haben wir angefangen, gemeinsam zu leben, statt uns zu verstecken und heute ist es soweit und wir gehen zum ersten Mal als Paar zusammen zu einem öffentlichen Event. Kein Artikel, keine Paparazzibilder, sondern wir. Live und in Farbe auf dem Platz. Gemeinsam. Zum ersten Mal seit so vielen Jahren.
Ein Charity-Spiel um für Sichtbarkeit von queeren Jugendlichen im Sport zu sorgen. Organisiert von einer Stiftung, die sich für Gleichberechtigung von queeren Personen einsetzt.
Jetzt stehen wir hier im Spielertunnel. Ich trage wieder ein Trikot. Es fühlt sich fremd an, aber gut. Julian steht neben mir. Seine Schulter berührt meine ganz leicht. Ich sehe es an seinem Blick, auch er ist nervös, aber er ist da. Und ich bin es auch.
»Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst«, flüstert er.
Ich schüttle den Kopf, »Ich will aber.«
Der Platz ist kleiner als die Stadien, in denen wir früher gespielt haben, aber heute fühlt es sich riesig an, weil es nicht um Punkte geht. Es geht um Sichtbarkeit. Um Zukunft. Um Hoffnung. Es geht darum, anderen Leuten zu helfen und ihnen ein Gefühl von Sichtbarkeit zu geben.
Der Veranstalter kündigt mich an, »Doch vor dem Spiel hören wir noch ein paar Worte von Kai Havertz.«
Das Publikum applaudiert und ich nehme das Mikrofon. Mein Herz rast und meine Hände zittern, aber ich sehe in die Menge und ich sehe einen Jungen, vielleicht vierzehn. Neben ihm ein Mann, wahrscheinlich sein Vater, der den Arm um ihn gelegt hat und der Junge weint. Nicht aus Angst, das kann ich sehen, sondern aus etwas anderem. Vielleicht aus Erleichterung. Vielleicht, weil er zum ersten Mal das Gefühl hat, er ist nicht allein. Auf jeden Fall sieht er glücklich aus und das macht mich in diesem Moment auch glücklich. Ich bin hier und mache Leuten eine Freude. Ich kann wirklich etwas verändern. Etwas, was ich früher auch gebraucht habe. Und das ist wichtig.
Ich räuspere mich, »Ich habe zu lange geglaubt, dass es im Fußball keinen Platz für Menschen wie mich gibt, aber das ist nicht wahr. Fußball ist kein Sport, der nur für bestimmte Personen ist, denn wenn wir auf dem Platz stehen oder im Stadion auf der Tribüne stehen, dann ist es egal, wer wir sind, wen wir lieben oder wie wir aussehen. Dann gibt es nur ein Ziel: Gemeinsam gewinnen. Oder gemeinsam verlieren. Es geht um das Gemeinschaftsgefühl. Gemeinsam etwas erreichen. Und das möchte ich Leuten weitergeben, denn Fußball ist für alle da, egal, wen man liebt oder wer man ist: Fußball verbindet tiefer. Fußball verbindet nicht, weil man ein bestimmtes Geschlecht liebt, sondern weil man dasselbe Ziel hat.«
Ein paar Sekunden lang ist es still. Dann kommt Applaus, laut und warm. Ich höre auch ein paar Pfiffe, natürlich, aber sie treffen mich nicht mehr, denn diesmal sind sie nicht lauter als alles andere. Julian tritt auf mich zu und greift meine Hand. Ich drehe mich zu ihm und lächle ihn an.
»Bereust du es?«, fragt er leise.
»Nie wieder.«, schüttle ich den Kopf und drücke stolz seine Hand.
Wir gehen auf den Platz. Hand in Hand. Kameras klicken und die Menge jubelt. Wir spielen, lachen, passen den Ball und jubeln, als wäre es ein echtes Spiel. Und irgendwie ist es das auch. Für uns ist es das Spiel unseres Lebens.
Julian schießt ein Tor. Ich renne zu ihm, wie früher. Und dieses Mal küsse ich ihn auf die Wange. Einfach so, weil ich es will und weil ich es kann. Weil ich keine Angst mehr habe, wer zusieht.
Später, nach dem Spiel, sitzen wir nebeneinander auf dem Rasen. Sonnenuntergang über dem Stadion. Die Leute gehen langsam. Das Feld leert sich. Julian lehnt sich gegen mich und ich lege meinen Arm um ihn. Wir sagen nichts, weil Worte nicht nötig sind.
Und ich denke:
Die Angst ging nicht ganz, aber die Liebe ist geblieben.
Notes:
So, das war's mit dieser Fanfiction!
Ich hoffe, sie hat euch gefallen und ihr hattet Spaß beim Lesen.
Eigentlich habe ich noch überlegt, ob ich noch weitere Kapitel schreiben soll, noch genauer auf das Outing der beiden eingehen soll oder noch andere Momente dazuschreiben soll, aber letztendlich fand ich den Punkt, an dem Kai sich vor seinen Eltern im letzten Kapitel geoutet hat als einen geeigneten Punkt, die Geschichte zu beenden, da die Reaktionen v.a. von seinem Vater aufgrund der internalisierten Homophobie, einer der Hauptgründe für seine Angst vor der Beziehung zu Jule waren und diese durch das Outing "gelöst sind".
Deswegen gab es hier noch einmal einen Epilog, mit einer möglichen Zukunft der beiden, in der sie ganz offiziell sie selbst sein können.Ich möchte mich auf jeden Fall dafür bedanken, dass ihr das alles bis hierhin gelesen habt! Vielen Dank, dass ihr diese Geschichte unterstützt habt und vielleicht bis zum nächsten Mal,
Liz
Okayletsgooo on Chapter 3 Mon 30 Jun 2025 10:05PM UTC
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