Chapter Text
„Ich werde dich besuchen kommen“, rief Betty hinterher, als das Bett mitsamt Samantha vom Krankenpfleger, in Richtung … Keine Ahnung – Wurde schon erwähnt, dass sie nichts sehen konnte?!
„Du hast ein schönes nette Einzelzimmer“, Gabe sagte nahe an ihrem Ohr, „denn du wirst in nächster Zeit viel Besuch bekommen.“
Mit einem Schmunzeln erwiderte Sam, dass Bücher und Luftballons nicht nötig wären, denn es war noch immer finster. So sehr der Wunsch auch da war, da war noch immer etwas, das das Sehvermögen blockierte.
Es dauerte nicht lange, da war ein Klopfen an der Tür zu hören.
„Herein“, schmunzelte sie.
Gabriel stand auf und ging zur Tür. Dort deutete er den beiden Besuchern mit dem Zeigfinger auf den Lippen, leise zu sein.
„Hier sind Besucher 1 und 2“, sagte er, „Honey, du wirst sie ertasten. Zieht eure Socken aus!“
Das war natürlich ein Scherz gewesen.
Samantha setzte sich im Bett auf und hoffte, niemanden unsittlich zu berühren. Und wenn doch – dann war es keine Absicht ...
Das Bett senkte sich, als der erste Besucher sich darauf setzte. Dann streckte er die Hände aus.
Die junge Frau fühlte. Okay; es war eindeutig ein Mann und verheiratet – das traf so gut wie auf jeden zu. Eine Uhr war zu ertasten, ansonsten kein Schmuck. Die Tastreise ging an seinem Handgelenk weiter nach oben. Als nächstes sollte er seine Jacke ausziehen.
Ihre beiden Hände glitten an seinem Oberkörper entlang. Das war gar nicht so einfach. Der Besucher hatte einen gut definierten Oberkörper und war groß. Weiter ging es bei seinem Gesicht. Ihre Finger streiften über seine Lippen, den kurzen Bart und die Ohren. Samantha hatte ein gutes Gedächtnis und wusste, dass MarkP einen kleinen Ohrstecker hatte.
„Hey Sunny“, schmunzelte der dunkelblonde Mann und drückte einen Kuss auf die Wange seiner Freundin.
Beim zweiten Besucher war ebenfalls sofort klar, dass es sich um einen Mann handelte. Begonnen wurde wieder bei den Händen. Er war trug ebenfalls einen Ehering, aber ansonsten keinen Schmuck oder Armbanduhr. Dazu kam, dass er kleiner war, als sein Vorgänger. So viele Möglichkeiten gab es ja nun nicht mehr. Dieser Mann hatte sehr ausgeprägte Lachfältchen und dadurch hatte er sich auch verraten.
„Hey, MarkS“, schmunzelte Samantha.
„Hey Cinderella.“
Der Nachmittag verging wie im Flug. Samantha erfuhr alle Neuigkeiten, über das Privatleben und über die Arbeit. Es ließ sich nicht vermeiden, bei den lustigen Geschichten immerzu zu lachen und das war natürlich auch mit Schmerzen im Bauch verbunden.
Das wurde aber gerne in Kauf genommen. Schließlich legte Gabriel eine Hand auf die Schulter seiner Frau und meinte, dass es genügte.
Einige Augenblicke später kam eine Krankenschwester herein und schmiss den Besuch raus.
„Meine Herren, ich muss Sie bitten zu gehen. Mrs. Novak, ein Pfleger wird gleich kommen und mit Ihnen in die Gynäkologie fahren.“
„Wir kommen wieder. Du hast ein schönes Zimmer“, kicherte MarkS.
„Sehr witzig“, antwortete Sam mit einem Augenrollen.
Im Großen und Ganzen ging der Heilungsprozess gut voran, jedoch das Problem war die Langeweile, wenn kein Besuch da war. Die Blindheit war noch immer da. Hätte sie doch wenigstens fernsehen können ...
Und dann war da der Ruf der Natur. Niemand hatte gesagt, dass sie nicht aufstehen durfte. Dieser Gedanke wurde aber sofort wieder verworfen, weil ihre Augen erneut einen Strich durch die Rechnung machten.
Alleine in einem fremden Zimmer, keinerlei Anhaltspunkte. Keine Chance zu erahnen, wo sich die Toilette befand. Oh, wie sie es hasste, auf andere angewiesen zu sein.
Mit einem tiefen Seufzen drückte sie den Knopf.
Tag neun.
Mittlerweile waren alle dagewesen und natürlich hatte sie alle ertasten müssen. Bei den Mädels war das natürlich einfacher gewesen. Unzählige Untersuchungen musste sie bereits über sich ergehen lassen und schlussendlich wurde sie von ihrem Mann auf die Toilette begleitet, damit der Weg auch alleine gefunden werden konnte.
Das Gehen funktionierte auch immer besser, die Schmerzen waren nicht mehr so schlimm. Kurzum – jeder sah der Entlassung fröhlich entgegen. Alle außer Samantha.
„Was ist los?“
Am Nachmittag streichelte Gabriel mit besorgter Miene über den Rücken seiner Frau.
Mit einem tiefen Seufzen kuschelte Samantha sich näher an ihn, vergrub ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Sie wollte wieder sehen können. Warum dauerte das bloß so lange?!
Und auf einmal ging es Schlag auf Schlag. Aus einiger Entfernung war ein Feuerwerk zu hören.
Das Geräusch war so erschreckend, sodass die junge Frau von Kopf bis Fuß versteifte.
Aus weiter Ferne war die Stimme ihres Mannes zu hören, der wissen wollte, ob alles in Ordnung war.
Aber ein Film lief vor ihrem inneren Auge ab, der die volle Aufmerksamkeit benötigte.
Erneut war sie im Supermarkt, wo die Männer zu sehen und die Schreie der Leute zu hören waren. Der Stoß in ihre Seite war beinahe zu spüren, der Samantha zu Boden brachte. Hektik, Panik, Verzweiflung.
Klar und deutlich konnte sie sich selber sehen, die Hände über dem Kopf, zu Tode erstarrt. In diesem Augenblick wollte sie nichts mehr hören und sehen. Es sollte nur vorbei sein ...
Wie in Zeitlupe, aber gleichzeitig auch Schlag auf Schlag prasselten die Ereignisse ein. Plötzlich war da dieser junge Mann, der nicht weit entfernt neben ihr zu hyperventilieren anfing. Inmitten des Chaos am Boden, zwischen Lebensmittel und anderen Dingen, entdeckte die junge Frau Papiertüten.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, oder darüber nachzudenken, robbte Sam auf allen vieren vorwärts.
„Was zum Teufel soll das werden? Bleib liegen!“ schnauzte einer der Männer.
„Der Mann wird sterben!“, schrie Samantha zurück.
„Wenn du nicht sterben willst, dann lass das sein!“, zischte der maskierte Mann, fuchtelte mit der Pistole herum, gefolgt von einem Tritt, der Sam stolpern ließ. Aber die Papiertüte war in ihrer Hand und war so fest umklammert, dass die Knöchel weiß waren. Der Mann bekam kaum Luft, starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Decke. Er war nicht weit entfernt – vielleicht zwei Meter.
Das Herz raste in ihrer Brust und Sam wollte auch nicht die Heldin spielen, aber sollte der Mann vielleicht ersticken?!
In einem unbeobachteten Moment, als der maskierte Mann kurz abgelenkt war, nahm sie all ihren Mut zusammen, robbte zu dem hilflosen Menschen und warf ihm die Tüte mit den Worten, er solle atmen, zu, bevor die Aufmerksamkeit des Peinigers wieder auf sie gerichtet wurde.
„Hoch mit dir!“ wurde sie angeschnauzt, grob am Hemdkragen gepackt und auf die Beine gezogen.
Dann ging alles ganz schnell. Sich zu wehren, war bei diesem festen Griff beinahe unmöglich, dennoch wurde jeder Versuch unternommen. Plötzlich fiel ein Schuss.
Die Gänsehaut stellte sich auf, als sie in ihr eigenes, erschrockenes Gesicht blicken konnte. Die Augen waren aufgerissen starrten in das Gesicht ihres Gegenübers, der langsam von ihr abließ und dann mit den anderen aus dem Supermarkt lief. Samantha sank zu Boden und erst jetzt war klar, was passiert war.
Da waren keine Schmerzen, da war nur ein Ohnmachtsgefühl. Die letzten Gedanken waren bei ihrem Mann, bevor alles schwarz wurde ...
„Verdammt Honey!“
Immer wieder versuchte er seine Frau zur Besinnung zu bringen und schüttelte ihren regungslosen Körper. Es war, als würde sie schlafwandeln und wäre nicht wachzubekommen. Dieser Zustand dauerte bereits einige Minuten an und er bekam es mit der Angst zu tun.
„Nicht schütteln“, flüsterte Sam plötzlich und erwachte aus ihrer Starre. Das Herz schlug noch immer Purzelbäume.
„Fuck, was war das?!“
„Ich … ich kann mich an alles erinnern.“
Das war alles zuviel und Samantha begann hemmungslos zu weinen. Gabriel fühlte sich so hilflos und konnte nichts anderes tun, als seine kräftigen Arme um den Körper seiner Frau zu legen, sie zu beruhigen und ihr Sicherheit zu geben. Das gerade eben hatte ihm einen Heidenschrecken eingejagt. Nach und nach erfuhr er alles und nickte, als er gebeten wurde, zu bleiben, bis sie eingeschlafen war.
Es tat ihm so leid, was Sam alles durchmachen musste.
Warum kann ich immer noch nicht sehen?!
War es Morgen? War es Abend? Wie lange hatte sie geschlafen? Wären da nicht ab und zu die Schwestern oder Besucher gewesen ... Zeitgefühl wäre keines vorhanden gewesen. Einer der wichtigsten Sinne war weg und das war frustrierend und deprimierend.
Die Erinnerungen waren da und so auch wieder die Polizisten. Im Nachhinein rauchte der Kopf.
Am darauffolgenden Nachmittag klopfte es an der Türe und eine fremde Männerstimme war zu hören. Einer der Ärzte? Oder die Polizei?
„Mrs. Novak? Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern können …“
Mann, ich bin blind, komm zum Punkt!
„Es tut mir leid, aber seit dem Unfall habe ich mein Augenlicht verloren, Sie müssen mir auf die Sprünge helfen.“
Sam zuckte mit den Schultern, konnte aber spüren, dass dieser Mann ziemlich betroffen war.
„Es … das tut mir leid.“
Schwamm drüber, ist ja nicht deine Schuld
„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht“, sagte er und legte etwas in ihre ausgestreckte Handfläche.
Zwei Flügel waren zu fühlen und Samantha musste schmunzeln.
„Sie waren mein Schutzengel in dem Supermarkt und haben mir das Leben gerettet … dafür wollte ich mich bedanken. E-es tut mir leid, dass ich dadurch Ihr Leben in Gefahr gebracht habe, ich habe mir schreckliche Vorwürfe gemacht und … ich habe mich nicht getraut Ihnen gegenüberzutreten. Es tut mir so unendlich leid“, stammelte er. Die letzten Worte waren nicht mehr als ein Flüstern.
Als sie das Zittern in seiner Stimme hörte, streckte sie ihre Hände aus, die einen Moment später ergriffen wurden.
„Es war nicht Ihre Schuld. Wir waren zur falschen Zeit am falschen Ort, machen Sie sich keine Vorwürfe.“ Samantha war froh, dass es ihm gut ging und auch sie war auf dem Weg der Besserung. Nicht eine Sekunde hatte sie diesen Mann für ihre Situation verantwortlich gemacht. Das war Schicksal und dagegen konnte keiner etwas machen.
„Störe ich?“, war plötzlich Gabriel’s Stimme zu hören und das Lächeln war aus seiner Stimme zu hören, „kaum ist dein Mann weg, hast du einen neuen Verehrer?“
„Ihre Frau hat mir im Supermarkt das Leben gerettet, es tut …“, murmelte er noch immer schuldbewusst.
„Genug der Entschuldigungen, wir sind alle am Leben und nur das ist wichtig“, erwiderte Sam mit einem Kopfschütteln.
Als der junge Mann wieder gegangen war, senkte sich das Bett und Gabriel wollte, dass sie den Mund öffnete.
„Warum?“
„Warum nicht?“, erwiderte er mit einem Schulterzucken.
Im nächsten Moment war eine weiche Frucht an ihren Lippen zu spüren und dann eine herrlich, erfrischende Süße, die durch ihre Zähne floss. Das waren Erdbeeren.
„Nicht irgendwelche Erdbeeren. Die ersten Erdbeeren aus unserem Garten“, lachte er.
„Die besten Erdbeeren der Welt“, erwiderte Samantha mit einem Schmunzeln und öffnete erneut den Mund.
„Willst du etwas anderes Süßes haben?“
Liebevoll nahm er ihr Gesicht in seine Hände und einen Moment später waren seine Lippen auf ihren. Dann lag er neben ihr im schmalen Bett und sehnte den Tag herbei, an dem beide wieder in einem bequemen Bett schlafen würden.
„Du siehst verdammt sexy aus in diesem Nachtgewand“, raunte er, „leicht zugänglich. Ich werde fragen, ob wir das behalten können.“
Mit einem Lächeln kuschelte sie sich an ihn, verschränkte die Hand mit seiner und schloss die Augen. Da war ein Gefühl der Zufriedenheit, des Glücks und der Befreiung, welches in den letzten Tagen nicht zu spüren war.
Plötzlich war da ein stechender Blitz, der durch ihren Kopf zuckte. Erschrocken und mit einem Stirnrunzeln kniff sie instinktiv die Augen zusammen.
Dann wurden die Augen wieder geöffnet und sofort wieder geschlossen.
Verdammt ist das hell!
„Honey?“, fragte Gabriel besorgt, als seine Hand fester gedrückt wurde. Dann erhob er sich leicht. „Bleib“, flüsterte Sam und er legte sich wieder zurück.
Langsam hob sie ihren Kopf und drehte sich zu ihm, legte die Hand auf seine Wange und lächelte.
„Was?“, fragte er mit einem Stirnrunzeln, merkte aber sofort, dass etwas anders war, da sich ihre rehbraunen Augen wieder fokussierten.
„Ich habe dich seit zehn Tagen nicht gesehen und werde dich jetzt solange anschauen, wie ich will.“
„Du kannst sehen? Du kannst wieder sehen?“, rief er erfreut und seine Stimme wurde mit jedem Wort höher. Ein Nicken unter Tränen folgte. Das war wunderbar.
„Ich liebe dich, Gabriel.“
„Und ich liebe dich“, antwortete er und küsste sie zärtlich.