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Traum im Kopf

Summary:

2. Juni 2015: Der Hamburger SV hat das Relegations-Rückspiel beim Karlsruher SC mit 2:1 gewonnen und damit in letzter Sekunde den Klassenerhalt in der Bundesliga geschafft. Seinen Teil dazu beigetragen hat auch der 19-jährige Martin, der gerade seine erste Saison im Profibereich hinter sich hat. Er ist entschlossen, alles dafür zu tun, mit seinem Verein in der kommenden Spielzeit nicht noch einmal in Abstiegsnöte zu geraten. Doch in der Sommerpause wird seine Konzentration auf den Fußball gestört: Als er sich in London das Musical „Love Never Dies“ ansieht, verliebt er sich in Ramin, den Darsteller des Phantoms. Der bewegt sich in den Londoner Schwulenklubs genauso sicher wie auf der Bühne – und nicht nur Martin, der im NLZ des HSV mit dem Wissen die Jahrgänge nach oben geklettert ist, seine Sexualität verstecken zu müssen, fällt es schwer, die Welt des anderen zu akzeptieren …

Chapter 1: Vorbei

Chapter Text

  1. Kapitel: Vorbei

 

Die Sonne ging gerade auf, als der Bus wieder aufs Gelände am Volksparkstadion rollte. Ich blinzelte in die hellen Strahlen, die durch die Bäume schienen und lange Schatten auf Asphalt und Rasen malten. Die Grashalme glänzten im Morgenlicht, die Vögel verkündeten fröhlich den neuen Tag. Ich schloss die Augen noch einmal und ließ den Kopf an die Lehne zurücksinken. Kein Stress mehr. Keine Angst. Endlich frei.

Was für ein Kontrast zum letzten Abend, den letzten Wochen, zur kompletten Saison. Es war so knapp gewesen. So knapp. Und wir hatten so viel Glück gehabt. Auf dem Platz in Karlsruhe gestern hatte ich das noch nicht realisiert. Da war ich voll im Tunnel gewesen, immer überzeugt, dass wir es noch schaffen konnten. Auch nach Celos Freistoß, dem Last-minute-Ausgleich zum eins zu eins, war nicht wirklich Anspannung abgefallen, nicht mal nach Nicos Führungstreffer in der Verlängerung. Ich war die ganze Zeit nur fokussiert gewesen, auf den nächsten Pass, den nächsten Zweikampf, das nächste Kopfballduell. Gewinnen, gewinnen, gewinnen. Das war alles, was gezählt hatte. Wirklich kapiert, was da gestern Abend im Wildpark passiert war, hatte ich erst irgendwann auf der Reise zurück: Wir hatten das Relegationsrückspiel gegen den KSC nach einem eins zu eins im Hinspiel mit zwei zu eins gewonnen. Nach Verlängerung, nach einem Ausgleich in der Nachspielzeit der regulären Spielzeit. Und damit war es vorbei. Wir waren nicht abgestiegen. Wir waren immer noch der Bundesliga-Dino.

Ich atmete, langsam und tief. Die Morgensonne schien durchs Fenster und wärmte mein Gesicht. Es war vorbei. Vorbei, vorbei, vorbei. Jetzt kam kein nächstes Training mehr, kein nächstes Spiel, dass wir wieder gewinnen mussten, weil wir sonst keine Chance mehr haben würden. Jetzt hatten wir es geschafft. Mal wieder. Wir waren frei.

Ich öffnete die Augen, blinzelte und grinste schwach. Als Joe Zinnbauer im September, kurz nachdem er Cheftrainer geworden war, zu mir gesagt hatte, „Martin, du kommst mit nach oben“, hatte ich mir meine erste Profisaison ganz sicher nicht so vorgestellt. Von Anfang an nur Abstiegskampf, und als Bruno Mitte April unser Trainer geworden war, waren wir Letzter gewesen. Es hatte aussichtslos ausgesehen. So oft waren wir eigentlich schon weg gewesen. In der Saison, während eines Spiels, auch in der Relegation. Aber jetzt hatten wir es doch noch geschafft.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und ließ im Sitz sanft die Schultern kreisen. Wie sehr der Druck mich belastet hatte, war mir erst irgendwo zwischen Karlsruhe und Hamburg klar geworden. Jetzt, wo er weg war, fühlte ich mich, als sei die riesige Bronzereplik von Uwe Seelers Fuß, an der wir eben vorbeigefahren waren, endlich von meinem Rücken heruntergewuchtet worden, aber ich war auch völlig platt. Ich wollte nur noch heim und schlafen. Am besten eine ganze Woche lang.

Der Bus rollte in die Halle im Bauch des Stadions, und die Türen öffneten sich. Meine Mitspieler um mich herum, die alle in einem ähnlichen schlafartigen Dämmerzustand wie ich gewesen waren, wurden lebendig. Wir quälten uns aus den Sitzen und verließen nacheinander den Bus. Bruno stand an der Tür und verabschiedete uns alle per Handschlag. Als ich vor ihm stand, legte er mir die Hand auf die Schulter. „Martin, ruh dich jetzt aus. Fahr runter, schalte komplett vom Fußball ab. Dann kannst du wieder frisch zurückkommen. Es war eine ganz schön harte erste Saison.“

Ich brachte nur ein müdes Lächeln zustande. Oh ja. Das war es gewesen.

Gähnend wankte ich hinüber zu unserem Zeugwart Miro, der mir meine Sporttasche in die Hand drückte. Ich nickte ihm zu und verabschiedete mich von den Jungs. Lewis und Maxi versuchten, für den Abend einen Feiertrupp zusammenzukriegen, aber ich wimmelte die beiden ab. Ich wollte nur noch heim.

Ich trat aus der Bushalle, suchte mit den Augen den Parkplatz ab und wurde sofort fündig. Ich lächelte. Auf Finn war einfach Verlass. Nachdem ich die Sporttasche in den Kofferraum gewuchtet hatte, öffnete ich die Beifahrertür und ließ mich auf den Sitz fallen. Tür zu. Durchatmen.

Finn musterte mich. „Bist du okay?“

Ich ließ den Kopf gegen die Lehne sinken, schloss die Augen und nickte. „So langsam, ja.“

„Kaffee trinken? Oder willst du heim?“

„Nach Hause. Aber so was von.“

„Dachte ich mir.“

Er startete den Motor. Auf der Fahrt sprachen wir kein Wort. Finn kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich jetzt nicht reden wollte.

Er war achtzehn, ein Jahr jünger als ich. Wir hatten uns auf dem Internat kennengelernt, dort ein Zimmer geteilt und wohnten seit knapp einem Jahr zusammen in einer WG. Bis letztes Jahr hatten wir gemeinsam in der U19 gespielt, aber dann war ich in der Sommervorbereitung in die zweite Mannschaft, die U23, die in der Regionalliga Nord spielte, gewechselt, und als mein Trainer Joe Zinnbauer zum Profichefcoach befördert worden war, hatte er eine ganze Gruppe Talente mit hochgezogen, auch mich. Unter ihm hatte ich mich festgespielt, und als Bruno Trainer geworden war, hatte ich auch unter ihm meine Spielanteile bekommen. In die Sommerpause ging ich jetzt mit einem Dreijahresvertrag bis 2018 und als festes Mitglied des Profikaders. Ich hatte den Sprung geschafft, und auch bei Finn würde es sicher nicht mehr lange dauern. Vielleicht durfte er ja schon in diesem Sommer mit ins Trainingslager fahren. Leider hatte er in letzter Zeit sehr viel Pech mit Verletzungen gehabt.

Obwohl wir im letzten Jahr in verschiedenen Mannschaften gespielt hatten, blieb Finn mein bester Kumpel – und seit meine Mutter vor zwei Jahren an Krebs gestorben war, war er auch der Einzige, der wusste, dass ich schwul war. Sonst hatte ich es niemandem erzählt. Profifußball und Homosexualität war keine gute Kombination. Aber Finn hatte ich es gesagt, als ich mich mit sechzehn zum ersten Mal verliebt hatte, und ich hatte es nie bereut. Es tat gut, wenigstens einen Menschen zu haben, der mich ganz kannte, und über Thomas, der damals achtzehn gewesen war und mit dem ich tatsächlich zusammengekommen war, hatte ich auch mit ihm sprechen können. Vier Monate hatte die Beziehung gehalten, aber dann war er nach seinem Abitur zum Studieren nach München gegangen und wir hatten es beide für vernünftiger gehalten, uns zu trennen. Der Rausch, in dem ich am Anfang gewesen war, war da schon wieder verflogen, und außerdem hatte ich damals vor meinem zweiten Jahr in der U17 gestanden und hatte auch immer wieder in der U19 trainieren und spielen sollen. Und je näher ich dem Herrenbereich kam, desto vorsichtiger hatte ich werden müssen. Wir hatten uns im Guten getrennt und in den ersten Wochen danach noch ein bisschen geschrieben, aber dann war der Kontakt eingeschlafen. Ich dachte gerne an die Zeit zurück, denn seitdem herrschte an der Beziehungsfront Funkstille, und manchmal fehlte es mir schon sehr. Aber ich war jetzt Profi, und das machte alles, was sich in diese Richtung eventuell mal entwickeln könnte, zum Pulverfass. Ich wollte mein Leben nicht als Eremit verbringen, aber ich musste eben vorsichtig sein.

Auf der Fahrt zu unserer Wohnung kamen wir an einigen schwarz-weiß-blau gekleideten Fans vorbei, die die Nacht offensichtlich in diversen Kneipen verbracht hatten. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als eine Gruppe sturzbesoffener Anhänger den Fangesang „Sechsmal Deutscher Meister, dreimal Pokalsieger, IMMER ERSTE LIGA! HSV …“ nicht mehr richtig zusammenbrachte: „Dreimal Deutscher Meister, sechsmal erste Liga, IMMER POKALSIEGER! HSV …“

„Ich wusste noch gar nicht, dass das Pokalfinale von Berlin nach Karlsruhe verlegt worden ist.“

„Klar.“ Finn bog in unsere Straße ein. „Wird jetzt auch durch Hin- und Rückspiel entschieden.“

Ich gähnte.

Finn grinste breit. „Du siehst auch aus, als hättest du durchgefeiert.“

„Haben wir auch, bis Mannheim. Aber im Flieger war dann Schluss. Zum Glück.“

Von Mannheim waren wir nach Hannover geflogen, und von dort die letzten zwei Stunden nach Hamburg noch mal Bus gefahren. Die stundenlange Reise hatte mir komplett den Rest gegeben. Ich schaute aus dem Fenster, auf die vertraute Straße mit ihren Bäumen, Laternen und der Bushaltestelle genau an den richtigen Orten, und da vorne das Haus, in dem unsere Wohnung lag. Ich atmete ein. Endlich zu Hause.

Finn parkte und stellte den Motor ab. Ich stieg aus und ging zum Kofferraum, um meine Sporttasche zu holen, aber Finn kam mir zuvor. „Lass mal, du siehst aus, als könntest du auf der Stelle umkippen. Ich mach das schon, du gehörst ins Bett.“

„Du bist echt ein Engel, weißt du das?“ Stufe für Stufe schleppte ich mich die Treppen in den dritten Stock hinauf. Es gab zwar einen Aufzug, aber den nahm ich nicht – Sportlerehre.

„Nicht quatschen, laufen!“ Finn hielt mich gerade noch so am Arm fest, bevor ich stolpern und einfach umkippen konnte. „Ehrlich, Martin, du siehst aus, als hättest du eine Woche lang nicht geschlafen!“

„Spiel du mal eine Relegation. Dann siehst du nachher auch so aus.“

„Danke, ich verzichte.“

Er schloss die Wohnungstür auf. Unter gütiger Mithilfe der Wände fand ich den Weg in mein Zimmer, wo ich mich bis auf die Boxershorts auszog und ins Bett fiel. Ich hörte noch, wie Finn hinter mir die Tür schloss, dann schlief ich ein.

***

Titelreferenz (gesamte Geschichte): „Traum im Kopf“ – Lied aus dem Album „Unabsteigbar“ von Michael Kröger / Elvis (2015).

 

Disclaimer:

Bis auf die Hauptfigur weisen nahezu alle Figuren in dieser Geschichte hinsichtlich ihres Namens, ihres Aussehens und mehr oder weniger detailgetreu ihres beruflichen Werdegangs Übereinstimmungen mit realen Personen auf. Die Persönlichkeiten aller Figuren sind dennoch, gleichgültig, ob sie auf die oben beschriebene Weise Übereinstimmungen mit realen Personen aufweisen oder nicht, frei von mir erfunden. Zu keinem Zeitpunkt und auf keine Weise möchte ich mit dieser Geschichte irgendeine Aussage oder auch nur eine Andeutung über die Persönlichkeiten der realen Personen machen, deren Namen, Aussehen und ggf beruflichen Werdegang ich mir für die Figuren in der Geschichte geliehen habe. Alles, was in dieser Geschichte steht, ist zu jeder Zeit ausschließlich im Kontext der Geschichte zu lesen und ausdrücklich nicht auf die Welt außerhalb der Geschichte anwendbar. Die einzige reale Person, über die aus der Figurencharakterisierung in dieser Geschichte irgendwelche Rückschlüsse gezogen werden können, bin ich – der Autor. Sonst niemand.

AN:

Ich begrüße jeden ganz herzlich, der es bis hierher geschafft hat :D

„Traum im Kopf“ ist meine erste fertiggestellte längere Geschichte. Sie hat 34 Kapitel. Die ersten sieben lade ich auf einmal hoch, damit die Geschichte hier auf demselben Stand ist wie auf FF.de, danach kommt das neue Kapitel im Wochenrhythmus immer am Mittwoch. Die Geschichte spielt überwiegend während der Saison 2015/16 – das ist zwar schon ein bisschen her, aber ich hoffe, ihr findet euch trotzdem schnell zurecht. Und das Hauptthema der Geschichte hat seine Aktualität leider noch nicht verloren, eher im Gegenteil. Auf meinem Profil findet ihr einen ausführlichen Kommentar zur Geschichte, die wichtigste Information gebe ich euch kurz und knapp auch hier (ausführlicher im Profil):

Ich habe die Geschichte in zwei Sprachen verfasst. Einige Figuren sind englischsprachig, und die Dialoge mit und zwischen ihnen habe ich auch auf Englisch geschrieben. Hochladen werde ich die Geschichte in zwei Versionen, jeweils in zwei parallel geposteten Kapiteln: zuerst das Original und ggf. (wenn englischsprachige Stellen vorhanden sind) die deutsche Übersetzung (im Kapiteltitel gekennzeichnet durch ein "D"). Nähere Informationen und Erläuterungen für diese Vorgehensweise findet ihr auf meinem Profil.

Ohne meine Betaleserinnen une chat noire und neonchocolatemilk könnte ich die Geschichte heute nicht hochladen. Sie haben mir beide, jede auf ihre eigene Weise, unfassbar geholfen, mich weitergebracht, bestärkt, an den richtigen Stellen kritisiert und die Geschichte dabei mit jeder Anmerkung besser gemacht. Wie froh ich bin, euch an meiner Seite gehabt zu haben, kann ich nicht in Worte fassen. Ein Danke ist zu wenig. Trotzdem bekommt ihr es hier. Ihr wisst ja, was dahintersteckt.

Liebe Lesende, ich hoffe, euch hat das erste Kapitel gefallen und ihr lest weiter – und über einen Kommentar würde ich mich wahnsinnig freuen!

Chapter 2: The Beauty Underneath

Chapter Text

  1. Kapitel: The Beauty Underneath

 

Dreieinhalb Wochen später saß ich auf einem der besten Plätze im Parkett des Adelphi Theatre im Londoner West End und wartete auf den Beginn des Musicals „Love Never Dies“. Meinen Urlaub hatte ich in Schottland verbracht – Wandern, Natur, Runterkommen. Es war schön gewesen, aber jetzt, zwei Tage vor Vorbereitungsstart, konnte ich es kaum erwarten, wieder einen Ball am Fuß zu haben. Außerdem freute ich mich darauf, Finn wiederzusehen. Am Dienstag würde die Vorbereitung beginnen, morgen würde ich zurückfliegen, aber jetzt wollte ich erst mal das Musical genießen. Meine Mutter hatte diese Musikrichtung geliebt, und so war ich zwangsläufig damit groß geworden. Ich mochte zwar nicht alles, aber im Großen und Ganzen fand ich es schon okay. Und weil ich für das letzte Urlaubswochenende sowieso einen Londonaufenthalt geplant hatte, nahm ich eine Aufführung im West End gerne mit. Natürlich würden die Lyrics auf Englisch sein, aber das störte mich nicht. Ich war generell nie ein schlechter Schüler gewesen, aber Englisch war das Fach, in dem ich immer nur Einser geschrieben hatte. Meine Mutter war Dozentin für englische Literatur gewesen, wir hatten unseren Sommerurlaub jedes Jahr in einem englischsprachigen Land verbracht, und sie hatte schon ganz früh angefangen, mir nebenbei ein paar englische Worte beizubringen. Sobald ich in der fünften Klasse zum ersten Mal ernsthaften Englischunterricht bekommen hatte, hatte sie Filme und Serien mit mir nur noch im englischen Original angeschaut, und dabei war ich seitdem auch geblieben. Englisch war nicht nur mein bestes, sondern auch mein liebstes Fach gewesen, und wenn ich von meinen Lehrern oder im Urlaub von Leuten gehört hatte, wie hervorragend ich doch Englisch sprach, hatte ich jedes Mal geglüht vor Stolz.

Dass das Musical auf Englisch war, war für mich also kein Minus-, sondern ein Pluspunkt, und weil in Hamburg überall Plakate von „Love Never Dies“ herumhingen, hatte ich mich dafür entschieden. Es war die Fortsetzung von „Phantom of the Opera“, einem der Lieblingsmusicals meiner Mutter. Die CD, die ihr gehört hatte, stand jetzt bei mir im Regal, und als ich mir vorstellte, wie meine Mutter mich hier im Theater direkt vor der Bühne sitzen sah, lächelte ich. Aber ich spürte auch den vertrauten Stich im Bauch.

Sie war sehr lange krank gewesen, und am Ende hatte sie einfach nicht noch eine Chemo durchmachen können. Wir hatten gewusst, dass sie sterben würde, und wir hatten uns vorbereiten und verabschieden können. Getrauert hatte ich trotzdem. Vor ihrem Tod und danach, geschrien, geheult und das Schicksal verflucht. Wenn nicht der gesamte HSV, von Finn über die Trainer, Physios, Ärzte, Betreuer und den Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, für mich da gewesen wären, hätte ich es nicht überstanden. Mit dieser Unterstützung und der Zeit war es langsam besser geworden, und der Alltag – Fußball und Schule – hatte auch geholfen. Leb weiter, mein Schatz, hatte meine Mutter zu mir gesagt, immer und immer wieder. Stirb nicht mit mir. Du musst leben!

Ich sah mich im halb erhellten Saal des Theaters um, der jetzt fast komplett gefüllt war. Langsam verebbte der Stich in meinem Bauch. Es würde ihr gefallen, dass ich hier war.

Pünktlich um halb acht öffnete sich der Vorhang. Interessiert beobachtete ich die ersten Szenen. Hauptfiguren traten noch nicht auf, aber die Handlungsschauplätze wurden vorgestellt und außerdem ein mysteriöser Mr. Y erwähnt, der der Boss der ganzen Anlage war. Ich grinste. Mr. Y – natürlich Englisch als „Mister Why“ ausgesprochen – fand ich ausgesprochen passend, schön nichtssagend und doch irgendwie attraktiv. Sicher war das Phantom damit gemeint. Aber selbst aufgetreten war es immer noch nicht. Ich blätterte im Programmheft und wurde im Licht der Bühne, von dem meine Reihe gerade noch etwas abbekam, schnell fündig. Das nächste Lied, „‘Till I Hear You Sing“, würde vom Phantom gesungen werden.

Ich lehnte mich zurück und schaute wieder zur Bühne hoch. Nebel waberte darüber, floss in wirbelnden Fäden umeinander und strömte vorne und an den Seiten über die Ränder, wie ein über die Ufer tretender nachtschwarzer See. Im jetzt ganz schwachen Scheinwerferlicht glänzte er überirdisch. Langsam, Schicht für Schicht, schälten sich die Konturen einer dunklen Gestalt daraus hervor.

Der Darsteller des Phantoms stand vor einem schwarzen Klavier mit aufgeklapptem Deckel. Die weißen Tasten schienen durch den Nebel ein eigenes Licht auszustrahlen. Auf dem Klavier standen brennende Kerzen, hoch und schlank, rundherum mit Wachstropfen verhangen. Der Darsteller selbst trug einen schwarzen Mantel, der ihn bis zu den Füßen umhüllte, und einen ebenso schwarzen Hut mit breiter Krempe. Als er das Gesicht vom Klavier abwandte und langsam, erhaben, wie gefangen in seiner eigenen Welt, ins Publikum blickte, konnte ich auch die Maske sehen. Sie zog sich vom rechten Kinn an der Oberlippe entlang über die Nase bis zur Stirn schräg über dem linken Auge, bedeckte eine komplette Hälfte seines Gesichts. Nur für das Auge gab es ein kleines Loch. Sie war weiß, und wie die Tasten des Klaviers schien sie inmitten des schwarzen Kostüms und der dunklen Bühne zu leuchten.

Musik setzte ein. Langsam, lockend, verführerisch, bedrohlich. Meine Arme und Beine kribbelten, und als ich schlucken wollte, merkte ich, dass mein Mund trocken war. Die Melodie wurde schneller, schneidender. Der Umhang des Phantoms flatterte, und unter der Maske teilten sich seine Lippen.

 

Ten long years, living a mere facade of life

Ten long years, wasting my time on smoke and noise

In my mind, I hear melodies pure and unearthly but I find

I can’t give them a voice – without you

 

Beim letzten Wort ging die Stimme hoch, der Ton war getragen, sehnsüchtig, leidend.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Oberlippe und lehnte mich leicht vor. Diese Stimme … Ich wollte lauter. Näher ran. Mehr.

 

My Christine

My Christine

Lost and gone

Lost and gone

 

Die Musik gab ein Echo der Zeilen, und das Lied begann richtig. Er sang, und ich saß da. Erstarrt, gefesselt. Wie lange hatte es gedauert? Fünf Sekunden? Zehn? Ein paar Zeilen, ein paar Worte, ein paar Töne, und das war genug. Ich wusste nicht, warum und wieso, aber ich wollte diesen Mann. Wollte ihn, wie ich Thomas nie gewollt hatte, nicht mal beim allerersten Mal. Es war verrückt, ich wusste nichts über ihn, seinen Namen, sein Alter, nicht mal sein Aussehen konnte ich wegen der Maske richtig ausmachen. Nur seine Stimme hörte ich. Hörte ich, wie sie in mich hinein- und durch mich hindurchdrang, sich in mich bohrte und mich zerschnitt. Und da war Schmerz, süß, tief, echt, ehrlich, quälend. Ich starrte ihn an, ohne zu blinzeln, ohne mit dem kleinen Finger zu zucken, und das Klavier, die Kerzen, der Nebel, die Menschen links und rechts von mir waren weg. Bitte, bitte hör nicht auf, mir wehzutun.

Als das Lied vorbei war, brauchte ich einen Moment, um in den Applaus einzusteigen. Der erste Ton aus seinem Mund hatte die Welt erschüttert. Nichts war mehr, wie es vorher gewesen war. Alles war verblasst – vor seiner Stimme, seinen Gesten, seinem Blick. Vor ihm.

Die nächsten Szenen sah ich gar nicht richtig, die Lieder hörte ich nur mit halbem Ohr. Es war egal, was passierte, egal, wer mit wem sprach und wer mit wem sang und wer mit wem stritt. Alles war egal, solange er nicht dabei war. Und als er wieder auftrat, als sich ein Spiegel öffnete und ihn freigab, im Nebeldunst und mit vom Wind aufgewirbeltem Mantel, wäre ich am liebsten auf die Bühne gerannt und hätte ihn zurück in die Dunkelheit gezerrt.

Was er sang, machte es nicht besser. Once there was a night beneath a moonless sky, und alles hätte ich in diesem Moment gegeben für a night beneath a moonless sky mit ihm. Oder zwei. Oder tausend.

Als die letzten Töne des Liedes verklungen waren, bewegte ich leicht den Kopf hin und her. Meine Augen flackerten, nach links, nach rechts, fielen auf die schattenhaften Umrisse der Leute um mich herum. Hallo, das ist ein Theater. Das ist eine Musicalaufführung, und du bist umgeben von hunderten von Leuten. Das ist kein Moment für sexuelle Phantasien. Schon gar nicht für dich. Einen schwulen Profifußballer.

Aber meine Gefühle hörten nicht auf meinen Kopf. Und mein Körper leider auch nicht. Ich biss die Zähne zusammen, krallte die Hände in die Armlehnen und zwang mich, lange, tiefe Atemzüge zu nehmen. Warte wenigstens bis zur Pause. Hörst du? Wenigstens bis zur Pause. So lange kann es ja nicht mehr dauern.

Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum die Seiten des Programms umblättern konnte. Naja. So lange war relativ. Ein paar Lieder musste ich mich schon noch kontrollieren. Immerhin fanden die nächsten erst mal ohne das Phantom statt. Aber nach ein paar Minuten war es mit der Erholung vorbei.

Da war er wieder, auf der Bühne, nur wenige Meter von mir entfernt. Er sang, zuerst langsam, leise, zurückhaltend. Ich schluckte, presste die Lippen aufeinander und versuchte, der Enge in meiner Jeans keine Beachtung zu schenken. Und dann, aus dem Nichts, von einem Moment auf den anderen, schlug die Musik um von melancholischer Ballade zu peitschendem Hard Rock. Das Riff brandete mir wie eine Sturmböe ins Gesicht, presste mich gegen Sitz und Lehne, sodass ich nichts tun konnte außer sitzen, starren, zuhören. Ein kurzes Brodeln der Melodie, und er begann zu singen.

 

Have you ever yearned to go

Past the world you think you know

Been enthralled to the call of the beauty underneath?

Have you let it draw you in

Past the place where dreams begin

Felt the full, breathless pull of the beauty underneath?

 

When the dark unfolds its wings

Do you sense the strangest things?

Things no one would ever guess

Things mere words cannot express?

 

Ja. Wenn du die Dunkelheit bist, und the beauty underneath.

 

Do you find yourself beguiled

By the dangerous and wild

Do you feed on the need for the beauty underneath?

Have you felt your senses surge

And surrender to the urge

And been hooked as you looked at the beauty underneath?

 

When you stare behind the night

Can you glimpse its primal might?

Might you hunger to possess

Hunger that you can’t repress?

 

Oh ja. Und wie. Und zwar auf dich. Meine Jeans fühlte sich an, als müsste sie gleich platzen. Von seiner Stimme. Nicht mal anfassen musste der Typ mich.

Ich blinzelte. Er hatte aufgehört zu singen, sein Blick war durch den Saal gehuscht und – für einen Sekundenbruchteil – an mir hängengeblieben. Oder? War es so? Hatte ich das gesehen, oder hatten meine wild gewordenen Hormone mir das vorgespiegelt? Sicherlich Letzteres. Hoffentlich Letzteres. Oder? Wollte ich, dass er mich wahrnahm, jetzt, in diesem Zustand, der mir sicher für jeden offensichtlich ins Gesicht geschrieben stand?

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den Zeilen zu lauschen, die jetzt der andere Darsteller durch den Saal hallen ließ.

 

It seems so beautiful

So strange yet beautiful

Everything’s just as you say

 

Und dann sang er wieder, und wieder sah er bei den ersten Zeilen nicht nur den anderen Darsteller an, sondern auch ins Publikum – zu mir. Diesmal war es keine Einbildung. Er sang, und er schaute mir ins Gesicht, und es war, als hätte ich die Zeilen eben gesprochen, als wäre das, was er jetzt sang, seine Antwort an mich.

 

And he’s so beautiful

Perhaps too beautiful

What I suspect cannot be

And yet somehow we both see

The very same way!

 

Ich schnappte nach Luft. Hoffentlich waren die Musik und der Gesang, der jetzt wieder vom anderen Darsteller kam, laut genug, um die Ohren meiner Sitznachbarn zu füllen. Was war das gewesen eben? Was sollte das bedeuten? And yet somehow we both see the very same way

Hieß das, dass es ihm so ging wie mir? Dass sein Verstand sich verabschiedet hatte, dass er nur noch aus Trieben bestand, dass er wollte, dass er mich wollte?

Meine Güte, mach dich nicht lächerlich. Es ist eine Liedzeile aus einer Nummer dieses Musicals. Es hat nichts mit dir zu tun. Aber warum hatte er mich dann so angesehen?

Die Strophe war vorbei, und mit dem Refrain setzte auch das Phantom wieder mit ein.

 

When it lifts its voice and sings

Don’t you feel amazing things?

Things you know you can’t confess

Things you thirst for nonetheless?

 

Things you know you can’t confess. Ich war Profifußballer. Fußballer waren nicht schwul, und Profifußballer schon gar nicht. Wenn es je herauskam, war meine Karriere vorbei.

Things you thirst for nonetheless. Ich wollte ihn. Wollte ihn küssen, vor ihm auf die Knie fallen, wollte ihn über mir, in mir. Ich wollte ihn. Zur Hölle, was der Rest der Welt dazu sagte.

Für den Rest des Liedes – ein wilder Wechselgesang zwischen beiden Sängern – hing ich an seinen Lippen, saugte jedes Wort auf. Es war pure Magie. Dieses Lied sprach zu mir, bewegte etwas in mir, streckte den Finger aus und berührte etwas tief in mir drin. Und er – er war der Magier der Musik, der Engel der Erregung, der Gott der Gefühle, das Phantom der Phantasie.

Und dann war Pause. Die Lichter gingen an, und um mich herum begannen die Leute, sich zueinander zu drehen, aufzustehen, sich zu unterhalten und sich langsam durch die Gänge Richtung Türen zu bewegen. Ich lehnte mich zurück und holte zitternd Luft. Erst jetzt merkte ich, dass ich komplett durchgeschwitzt war. Als hätte ich selbst die letzte Stunde auf der Bühne im Scheinwerferlicht gestanden.

Ich atmete noch einmal tief durch, stemmte die Hände auf die Armlehnen und wuchtete mich hoch. Erst, als ich sicher war, dass meine Beine mich tragen würde, ließ ich die Lehnen los und richtete mich ganz auf. Ich wandte mich nach links und schloss mich der in Richtung Foyer strebenden Menge an, wobei ich versuchte, mir das Programmheft möglichst unauffällig vor die Wölbung in meiner Jeans zu halten. Was ich jetzt brauchte, war eine Klokabine und eigentlich noch irgendwas zum Draufbeißen, damit ich nicht die ganze Männertoilette unterhielt. Notgedrungen würde wohl meine Hand herhalten müssen. Ich hatte ja zum Glück zwei. Und dann wollte ich wissen, wer der Mann war, der all das in mir ausgelöst hatte. Wer mich allein durch seine Stimme so in seinen Bann gezogen hatte. Vielleicht würde das ja helfen. Vielleicht würde sein Name ihn ja irgendwie realer machen, weniger magisch, weniger begehrenswert. Aber glaubte ich das wirklich? Und wollte ich das überhaupt?

 

*

 

„Seen the guy? Fourth row centre, red hair?”

“Yes, Ramin, I saw him.”

“That’s my night taken care of.”

“Whatever.”

“What, Sierra? Have you seen his face? If he’s not in the bathroom jerking off thinking about me right now, I’ll never fuck another guy again.”

“Good.”

“Oh come on, Sierra, who stuck a rod up your arse tonight? I mean, he’s so up for it.”

“He can’t be more than twenty years old, Ramin.”

“Yeah. Looks like he works out, too. That’s how I like ‘em best. Young, hot and tight.”

“You know, sometimes, Ramin, I really don’t know why I even talk to you.”

 

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Referenzen:

 

„The Phantom of the Opera“: Musical von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

„‘Til I Hear You Sing“ / „Beneath A Moonless Sky“ / „The Beauty Underneath“: aus dem Musical „Love Never Dies“ von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Glenn Slater, Buch von Andrew Lloyd Webber und Ben Elton, mit Glenn Slater und Frederick Forsyth. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 2010.

Chapter 3: The Beauty Underneath - D

Chapter Text

  1. Kapitel: The Beauty Underneath

 

Dreieinhalb Wochen später saß ich auf einem der besten Plätze im Parkett des Adelphi Theatre im Londoner West End und wartete auf den Beginn des Musicals „Love Never Dies“. Meinen Urlaub hatte ich in Schottland verbracht – Wandern, Natur, Runterkommen. Es war schön gewesen, aber jetzt, zwei Tage vor Vorbereitungsstart, konnte ich es kaum erwarten, wieder einen Ball am Fuß zu haben. Außerdem freute ich mich darauf, Finn wiederzusehen. Am Dienstag würde die Vorbereitung beginnen, morgen würde ich zurückfliegen, aber jetzt wollte ich erst mal das Musical genießen. Meine Mutter hatte diese Musikrichtung geliebt, und so war ich zwangsläufig damit groß geworden. Ich mochte zwar nicht alles, aber im Großen und Ganzen fand ich es schon okay. Und weil ich für das letzte Urlaubswochenende sowieso einen Londonaufenthalt geplant hatte, nahm ich eine Aufführung im West End gerne mit. Natürlich würden die Lyrics auf Englisch sein, aber das störte mich nicht. Ich war generell nie ein schlechter Schüler gewesen, aber Englisch war das Fach, in dem ich immer nur Einser geschrieben hatte. Meine Mutter war Dozentin für englische Literatur gewesen, wir hatten unseren Sommerurlaub jedes Jahr in einem englischsprachigen Land verbracht, und sie hatte schon ganz früh angefangen, mir nebenbei ein paar englische Worte beizubringen. Sobald ich in der fünften Klasse zum ersten Mal ernsthaften Englischunterricht bekommen hatte, hatte sie Filme und Serien mit mir nur noch im englischen Original angeschaut, und dabei war ich seitdem auch geblieben. Englisch war nicht nur mein bestes, sondern auch mein liebstes Fach gewesen, und wenn ich von meinen Lehrern oder im Urlaub von Leuten gehört hatte, wie hervorragend ich doch Englisch sprach, hatte ich jedes Mal geglüht vor Stolz.

Dass das Musical auf Englisch war, war für mich also kein Minus-, sondern ein Pluspunkt, und weil in Hamburg überall Plakate von „Love Never Dies“ herumhingen, hatte ich mich dafür entschieden. Es war die Fortsetzung von „Phantom of the Opera“, einem der Lieblingsmusicals meiner Mutter. Die CD, die ihr gehört hatte, stand jetzt bei mir im Regal, und als ich mir vorstellte, wie meine Mutter mich hier im Theater direkt vor der Bühne sitzen sah, lächelte ich. Aber ich spürte auch den vertrauten Stich im Bauch.

Sie war sehr lange krank gewesen, und am Ende hatte sie einfach nicht noch eine Chemo durchmachen können. Wir hatten gewusst, dass sie sterben würde, und wir hatten uns vorbereiten und verabschieden können. Getrauert hatte ich trotzdem. Vor ihrem Tod und danach, geschrien, geheult und das Schicksal verflucht. Wenn nicht der gesamte HSV, von Finn über die Trainer, Physios, Ärzte, Betreuer und den Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, für mich da gewesen wären, hätte ich es nicht überstanden. Mit dieser Unterstützung und der Zeit war es langsam besser geworden, und der Alltag – Fußball und Schule – hatte auch geholfen. Leb weiter, mein Schatz, hatte meine Mutter zu mir gesagt, immer und immer wieder. Stirb nicht mit mir. Du musst leben!

Ich sah mich im halb erhellten Saal des Theaters um, der jetzt fast komplett gefüllt war. Langsam verebbte der Stich in meinem Bauch. Es würde ihr gefallen, dass ich hier war.

Pünktlich um halb acht öffnete sich der Vorhang. Interessiert beobachtete ich die ersten Szenen. Hauptfiguren traten noch nicht auf, aber die Handlungsschauplätze wurden vorgestellt und außerdem ein mysteriöser Mr. Y erwähnt, der der Boss der ganzen Anlage war. Ich grinste. Mr. Y – natürlich Englisch als „Mister Why“ ausgesprochen – fand ich ausgesprochen passend, schön nichtssagend und doch irgendwie attraktiv. Sicher war das Phantom damit gemeint. Aber selbst aufgetreten war es immer noch nicht. Ich blätterte im Programmheft und wurde im Licht der Bühne, von dem meine Reihe gerade noch etwas abbekam, schnell fündig. Das nächste Lied, „‘Till I Hear You Sing“, würde vom Phantom gesungen werden.

Ich lehnte mich zurück und schaute wieder zur Bühne hoch. Nebel waberte darüber, floss in wirbelnden Fäden umeinander und strömte vorne und an den Seiten über die Ränder, wie ein über die Ufer tretender nachtschwarzer See. Im jetzt ganz schwachen Scheinwerferlicht glänzte er überirdisch. Langsam, Schicht für Schicht, schälten sich die Konturen einer dunklen Gestalt daraus hervor.

Der Darsteller des Phantoms stand vor einem schwarzen Klavier mit aufgeklapptem Deckel. Die weißen Tasten schienen durch den Nebel ein eigenes Licht auszustrahlen. Auf dem Klavier standen brennende Kerzen, hoch und schlank, rundherum mit Wachstropfen verhangen. Der Darsteller selbst trug einen schwarzen Mantel, der ihn bis zu den Füßen umhüllte, und einen ebenso schwarzen Hut mit breiter Krempe. Als er das Gesicht vom Klavier abwandte und langsam, erhaben, wie gefangen in seiner eigenen Welt, ins Publikum blickte, konnte ich auch die Maske sehen. Sie zog sich vom rechten Kinn an der Oberlippe entlang über die Nase bis zur Stirn schräg über dem linken Auge, bedeckte eine komplette Hälfte seines Gesichts. Nur für das Auge gab es ein kleines Loch. Sie war weiß, und wie die Tasten des Klaviers schien sie inmitten des schwarzen Kostüms und der dunklen Bühne zu leuchten.

Musik setzte ein. Langsam, lockend, verführerisch, bedrohlich. Meine Arme und Beine kribbelten, und als ich schlucken wollte, merkte ich, dass mein Mund trocken war. Die Melodie wurde schneller, schneidender. Der Umhang des Phantoms flatterte, und unter der Maske teilten sich seine Lippen.

 

Ten long years, living a mere facade of life

Ten long years, wasting my time on smoke and noise

In my mind, I hear melodies pure and unearthly but I find

I can’t give them a voice – without you

 

Beim letzten Wort ging die Stimme hoch, der Ton war getragen, sehnsüchtig, leidend.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Oberlippe und lehnte mich leicht vor. Diese Stimme … Ich wollte lauter. Näher ran. Mehr.

 

My Christine

My Christine

Lost and gone

Lost and gone

 

Die Musik gab ein Echo der Zeilen, und das Lied begann richtig. Er sang, und ich saß da. Erstarrt, gefesselt. Wie lange hatte es gedauert? Fünf Sekunden? Zehn? Ein paar Zeilen, ein paar Worte, ein paar Töne, und das war genug. Ich wusste nicht, warum und wieso, aber ich wollte diesen Mann. Wollte ihn, wie ich Thomas nie gewollt hatte, nicht mal beim allerersten Mal. Es war verrückt, ich wusste nichts über ihn, seinen Namen, sein Alter, nicht mal sein Aussehen konnte ich wegen der Maske richtig ausmachen. Nur seine Stimme hörte ich. Hörte ich, wie sie in mich hinein- und durch mich hindurchdrang, sich in mich bohrte und mich zerschnitt. Und da war Schmerz, süß, tief, echt, ehrlich, quälend. Ich starrte ihn an, ohne zu blinzeln, ohne mit dem kleinen Finger zu zucken, und das Klavier, die Kerzen, der Nebel, die Menschen links und rechts von mir waren weg. Bitte, bitte hör nicht auf, mir wehzutun.

Als das Lied vorbei war, brauchte ich einen Moment, um in den Applaus einzusteigen. Der erste Ton aus seinem Mund hatte die Welt erschüttert. Nichts war mehr, wie es vorher gewesen war. Alles war verblasst – vor seiner Stimme, seinen Gesten, seinem Blick. Vor ihm.

Die nächsten Szenen sah ich gar nicht richtig, die Lieder hörte ich nur mit halbem Ohr. Es war egal, was passierte, egal, wer mit wem sprach und wer mit wem sang und wer mit wem stritt. Alles war egal, solange er nicht dabei war. Und als er wieder auftrat, als sich ein Spiegel öffnete und ihn freigab, im Nebeldunst und mit vom Wind aufgewirbeltem Mantel, wäre ich am liebsten auf die Bühne gerannt und hätte ihn zurück in die Dunkelheit gezerrt.

Was er sang, machte es nicht besser. Once there was a night beneath a moonless sky, und alles hätte ich in diesem Moment gegeben für a night beneath a moonless sky mit ihm. Oder zwei. Oder tausend.

Als die letzten Töne des Liedes verklungen waren, bewegte ich leicht den Kopf hin und her. Meine Augen flackerten, nach links, nach rechts, fielen auf die schattenhaften Umrisse der Leute um mich herum. Hallo, das ist ein Theater. Das ist eine Musicalaufführung, und du bist umgeben von hunderten von Leuten. Das ist kein Moment für sexuelle Phantasien. Schon gar nicht für dich. Einen schwulen Profifußballer.

Aber meine Gefühle hörten nicht auf meinen Kopf. Und mein Körper leider auch nicht. Ich biss die Zähne zusammen, krallte die Hände in die Armlehnen und zwang mich, lange, tiefe Atemzüge zu nehmen. Warte wenigstens bis zur Pause. Hörst du? Wenigstens bis zur Pause. So lange kann es ja nicht mehr dauern.

Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum die Seiten des Programms umblättern konnte. Naja. So lange war relativ. Ein paar Lieder musste ich mich schon noch kontrollieren. Immerhin fanden die nächsten erst mal ohne das Phantom statt. Aber nach ein paar Minuten war es mit der Erholung vorbei.

Da war er wieder, auf der Bühne, nur wenige Meter von mir entfernt. Er sang, zuerst langsam, leise, zurückhaltend. Ich schluckte, presste die Lippen aufeinander und versuchte, der Enge in meiner Jeans keine Beachtung zu schenken. Und dann, aus dem Nichts, von einem Moment auf den anderen, schlug die Musik um von melancholischer Ballade zu peitschendem Hard Rock. Das Riff brandete mir wie eine Sturmböe ins Gesicht, presste mich gegen Sitz und Lehne, sodass ich nichts tun konnte außer sitzen, starren, zuhören. Ein kurzes Brodeln der Melodie, und er begann zu singen.

 

Have you ever yearned to go

Past the world you think you know

Been enthralled to the call of the beauty underneath?

Have you let it draw you in

Past the place where dreams begin

Felt the full, breathless pull of the beauty underneath?

 

When the dark unfolds its wings

Do you sense the strangest things?

Things no one would ever guess

Things mere words cannot express?

 

Ja. Wenn du die Dunkelheit bist, und the beauty underneath.

 

Do you find yourself beguiled

By the dangerous and wild

Do you feed on the need for the beauty underneath?

Have you felt your senses surge

And surrender to the urge

And been hooked as you looked at the beauty underneath?

 

When you stare behind the night

Can you glimpse its primal might?

Might you hunger to possess

Hunger that you can’t repress?

 

Oh ja. Und wie. Und zwar auf dich. Meine Jeans fühlte sich an, als müsste sie gleich platzen. Von seiner Stimme. Nicht mal anfassen musste der Typ mich.

Ich blinzelte. Er hatte aufgehört zu singen, sein Blick war durch den Saal gehuscht und – für einen Sekundenbruchteil – an mir hängengeblieben. Oder? War es so? Hatte ich das gesehen, oder hatten meine wild gewordenen Hormone mir das vorgespiegelt? Sicherlich Letzteres. Hoffentlich Letzteres. Oder? Wollte ich, dass er mich wahrnahm, jetzt, in diesem Zustand, der mir sicher für jeden offensichtlich ins Gesicht geschrieben stand?

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den Zeilen zu lauschen, die jetzt der andere Darsteller durch den Saal hallen ließ.

 

It seems so beautiful

So strange yet beautiful

Everything’s just as you say

 

Und dann sang er wieder, und wieder sah er bei den ersten Zeilen nicht nur den anderen Darsteller an, sondern auch ins Publikum – zu mir. Diesmal war es keine Einbildung. Er sang, und er schaute mir ins Gesicht, und es war, als hätte ich die Zeilen eben gesprochen, als wäre das, was er jetzt sang, seine Antwort an mich.

 

And he’s so beautiful

Perhaps too beautiful

What I suspect cannot be

And yet somehow we both see

The very same way!

 

Ich schnappte nach Luft. Hoffentlich waren die Musik und der Gesang, der jetzt wieder vom anderen Darsteller kam, laut genug, um die Ohren meiner Sitznachbarn zu füllen. Was war das gewesen eben? Was sollte das bedeuten? And yet somehow we both see the very same way

Hieß das, dass es ihm so ging wie mir? Dass sein Verstand sich verabschiedet hatte, dass er nur noch aus Trieben bestand, dass er wollte, dass er mich wollte?

Meine Güte, mach dich nicht lächerlich. Es ist eine Liedzeile aus einer Nummer dieses Musicals. Es hat nichts mit dir zu tun. Aber warum hatte er mich dann so angesehen?

Die Strophe war vorbei, und mit dem Refrain setzte auch das Phantom wieder mit ein.

 

When it lifts its voice and sings

Don’t you feel amazing things?

Things you know you can’t confess

Things you thirst for nonetheless?

 

Things you know you can’t confess. Ich war Profifußballer. Fußballer waren nicht schwul, und Profifußballer schon gar nicht. Wenn es je herauskam, war meine Karriere vorbei.

Things you thirst for nonetheless. Ich wollte ihn. Wollte ihn küssen, vor ihm auf die Knie fallen, wollte ihn über mir, in mir. Ich wollte ihn. Zur Hölle, was der Rest der Welt dazu sagte.

Für den Rest des Liedes – ein wilder Wechselgesang zwischen beiden Sängern – hing ich an seinen Lippen, saugte jedes Wort auf. Es war pure Magie. Dieses Lied sprach zu mir, bewegte etwas in mir, streckte den Finger aus und berührte etwas tief in mir drin. Und er – er war der Magier der Musik, der Engel der Erregung, der Gott der Gefühle, das Phantom der Phantasie.

Und dann war Pause. Die Lichter gingen an, und um mich herum begannen die Leute, sich zueinander zu drehen, aufzustehen, sich zu unterhalten und sich langsam durch die Gänge Richtung Türen zu bewegen. Ich lehnte mich zurück und holte zitternd Luft. Erst jetzt merkte ich, dass ich komplett durchgeschwitzt war. Als hätte ich selbst die letzte Stunde auf der Bühne im Scheinwerferlicht gestanden.

Ich atmete noch einmal tief durch, stemmte die Hände auf die Armlehnen und wuchtete mich hoch. Erst, als ich sicher war, dass meine Beine mich tragen würde, ließ ich die Lehnen los und richtete mich ganz auf. Ich wandte mich nach links und schloss mich der in Richtung Foyer strebenden Menge an, wobei ich versuchte, mir das Programmheft möglichst unauffällig vor die Wölbung in meiner Jeans zu halten. Was ich jetzt brauchte, war eine Klokabine und eigentlich noch irgendwas zum Draufbeißen, damit ich nicht die ganze Männertoilette unterhielt. Notgedrungen würde wohl meine Hand herhalten müssen. Ich hatte ja zum Glück zwei. Und dann wollte ich wissen, wer der Mann war, der all das in mir ausgelöst hatte. Wer mich allein durch seine Stimme so in seinen Bann gezogen hatte. Vielleicht würde das ja helfen. Vielleicht würde sein Name ihn ja irgendwie realer machen, weniger magisch, weniger begehrenswert. Aber glaubte ich das wirklich? Und wollte ich das überhaupt?

 

*

 

„Hast du den Typ gesehen? Vierte Reihe Mitte, rotes Haar?”

„Ja, Ramin, ich hab ihn gesehen.”

„Also ich weiß, was ich heut Nacht mach.”

„Wie auch immer.”

„Was, Sierra? Hast du ihn mal angeschaut? Wenn er sich nicht jetzt grade auf dem Klo einen runterholt und dabei an mich denkt, fick ich nie wieder einen Typen.”

„Gut.”

„Oh komm schon, Sierra, wer hat dir denn heute Abend nen Stock in den Arsch geschoben? Ich mein, er ist dermaßen geil auf mich.”

„Er kann nicht älter sein als zwanzig, Ramin.”

„Jap. Und durchtrainiert sieht er auch aus. So mag ich sie am liebsten. Jung, sexy und eng.”

„Weißt du, Ramin, manchmal weiß ich wirklich nicht, wieso ich überhaupt mit dir rede.”

 

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Referenzen:

 

„The Phantom of the Opera“: Musical von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

„‘Til I Hear You Sing“ / „Beneath A Moonless Sky“ / „The Beauty Underneath“: aus dem Musical „Love Never Dies“ von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Glenn Slater, Buch von Andrew Lloyd Webber und Ben Elton, mit Glenn Slater und Frederick Forsyth. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 2010.

 

 

Dass die Lyrics und alle Textstellen, die darauf Bezug nehmen, auch in dieser übersetzten Version noch auf Englisch sind, ist kein Fehler, sondern eine bewusste Entscheidung von mir (eine Begründung findet ihr in meinem Profil). Wem das Verständnisschwierigkeiten bereitet – in diesem und noch einmal im neunten Kapitel nimmt es schon viel Raum ein –, biete ich sehr gerne eine sinngemäße Übertragung ins Deutsche, allerdings dann ausdrücklich ohne Beachtung von dem in den Originallyrics vorhandenen Rhythmus und Reim. Sollte der Wunsch danach bestehen, schreibt mir bitte, entweder als PN oder in einem Review (über das ich mich natürlich auch unabhängig davon freuen würde ;)).

Chapter 4: Mr. Y

Chapter Text

  1. Kapitel: Mr. Y

 

Als ich dem Gewirr im Foyer entkommen und wieder an meinem Platz war, schlug ich das Programmheft auf. Sicher stand da irgendwo was über die Darsteller drin. Relativ am Ende wurde ich fündig. Viel war es nicht, nur ein paar Zeilen zu jeder Rolle. Hektisch suchten meine Augen nach ihm. Als ich ihn fand, ging ein Stich durch meinen ganzen Körper.

 

The Phantom: Ramin Karimloo, born 19th September 1987

Ramin was part of the original cast of “Love Never Dies,” which he performed in until August 2011. After four years of other engagements, he has now returned to the show for its West End comeback, again accompanied by Sierra Boggess as Christine (see above for more information).

 

Ramin Karimloo. RaminKarimloo. Ramin. Karimloo.

Ich ließ meine Augen über den Namen wandern, saugte ihn in mich auf. Hatte ich vorhin wirklich gedacht, sein Name würde ihn realer, alltäglicher machen? Ich stieß ein Lachen aus. Yeah right. Sein Name war wie seine Stimme: außergewöhnlich, fremd, ein bisschen mysteriös. Und unglaublich anziehend.

Ich nahm einen kurzen Atemzug und riss meine Augen von den kursiven, geschwungenen Lettern los. Langsamer und konzentrierter las ich die anderen zwei Sätze noch mal. Geboren war er am 19. September 1987. Dann war er also 27, acht Jahre älter als ich. Das war zwar ein recht großer Unterschied, wäre mir aber egal. Thomas war auch älter als ich gewesen, es war mir lieber, wenn mein Partner der Ältere war.

Ein Ruck ging durch meinen Körper. Ich schlug das Programmheft zu, lehnte den Kopf in den Nacken und starrte mit zusammengepressten Lippen zur Saaldecke hinauf. Sag mal, hast du sie noch alle? Partner?!

Er war nur ein Typ, den ich heute Abend einmal sah und danach nie wieder sehen würde. Nicht nur das, er hatte ja noch nicht mal irgendeine Ahnung, dass ich überhaupt existierte, geschweige denn, was er mit dem ersten Akt der Vorstellung in mir ausgelöst hatte – oder? Bei diesem letzten Lied, „The Beauty Underneath“, an diesen zwei Stellen, wo sein Blick mich gestreift hatte … wo er mich regelrecht angestarrt hatte …

Ach was, das war völliger Unsinn, sicher nur ein Zufall. Wahrscheinlich schaute er an diesen Stellen bei jeder Aufführung genau hier hin, ganz egal, wer da saß. Er hatte mitten in der Vorstellung gesteckt, er konnte mich ja gar nicht aktiv wahrgenommen haben. Und selbst wenn er mich irgendwie doch wahrgenommen und meinen Gesichtsausdruck gelesen hatte, war er mit Sicherheit nicht schwul. Und selbst wenn er schwul war, war noch lange nicht gesagt, dass er mich auch wollen würde. Und selbst wenn er mich wollte, wäre es für mich viel zu riskant, einfach mit irgendjemand Wildfremdem Sex zu haben. Für einen schwulen Profifußballer waren One-Night-Stands ein No-Go. Was, wenn er mich erkannte und zur Presse ging? Nein, ich würde schön hier sitzen bleiben, mich im zweiten Akt gefälligst zusammenreißen, danach zurück ins Hotel gehen und morgen in den Flieger steigen, nach Hause, in mein Leben, in die Normalität. Weg von Kerzen und Klavieren und schwarzen Mänteln. Weg von Masken und Nebel und dunkler Musik … dunkel, bedrohlich, gefährlich … sanft, lockend, verheißungsvoll … verführerisch … weg von der Stimme, seiner Stimme, die … die …

Mein Kopf flog hin und her, bis mir schwindelig wurde, und meine Daumennägel bohrten sich in die Kuppen meiner Zeigefinger. Shut up. Just shut up. PLEASE!

Um mich herum wurde das Saallicht schwächer und erlosch. Ich zwang meinen Rücken und meine Arme, sich entlang ihrer Lehnen auszustrecken, und versuchte krampfhaft, mich zu entspannen, während der Vorhang sich für den zweiten Akt öffnete.

 

*

 

Während des zweiten Teils der Vorstellung kämpfte ich die ganze Zeit dagegen an, mich noch mal so sehr zu verlieren wie vor der Pause. Ich hatte damit insofern Erfolg, dass zumindest mein Blut diesmal da blieb, wo es hingehörte, aber ansonsten scheiterte ich auf ganzer Linie. Die Musik, seine Gesten, seine Mimik, selbst mit einem durch die Maske halb verdeckten Gesicht – es war einfach zu gut. Und seine Stimme. Oh, seine Stimme, die mich zerriss und die mich ganz machte und die auf mich einstach und die mich umschmeichelte, die mir die Tränen in die Augen trieb und die jede Faser meines Körpers zum Singen brachte.

Als die Vorstellung vorbei war und die Darsteller sich ihren Applaus abholten, war er natürlich der Letzte, der an die Reihe kam, und natürlich der, der den längsten und lautesten erhielt. Ich stand und klatschte und klatschte und fühlte mich, als seien wir in den letzten zweieinhalb Stunden miteinander verschmolzen. Aber als er jetzt im hellerleuchteten Saal auf der Bühne stand, die Maske noch immer auf dem Gesicht, und sich nacheinander nach links, zur Mitte und nach rechts verbeugte, kam er mir plötzlich so weit weg vor, als stünde er auf der anderen Seite der Welt.

Fünf Meter, schätzte ich. Etwa fünf Meter war der vordere Rand der Bühne von meinem Platz entfernt. Drei Zuschauerreihen waren noch zwischen uns, ein schmaler Gang, die Stufe nach oben. Sonst nichts. Aber jetzt streifte sein Blick meine Reihe nur teilnahmslos und routinemäßig, und ohne innezuhalten glitt er weiter über die klatschenden Zuschauer hinten im Parkett und oben auf den Rängen. Obwohl meine Augen so starr auf ihn fixiert waren, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er die Hitze auf seinem Gesicht hätte spüren können, flackerte sein Blick danach kein einziges Mal auch nur in meine Nähe.

Nachdem er sich seinen Einzelapplaus abgeholt hatte, traten alle anderen Schauspieler auch noch einmal nach vorn. Er fasste die Darsteller von Christine und Raoul bei den Händen, und gemeinsam verbeugte sich die Kette noch ein paarmal. Dann gingen sie ab.

Um mich herum drehten sich die Zuschauer nach links und rechts, und englische Gesprächsfetzen schwirrten durch den Saal, während sie sich Richtung Ausgänge bewegten. Ich ließ mich langsam wieder auf meinen Platz sinken. Es ist vorbei. Das wars, er ist weg, jetzt siehst du ihn nie wieder. Geh nach Hause und vergiss ihn.

Ich wollte es tun. Aber meine Beine hörten nicht. Geh!, befahl ich, immer und immer wieder, aber sie blieben stumm. Also blieb ich sitzen. In mir spielte noch immer die Musik.

Als fast eine halbe Stunde nach dem Abgang der Schauspieler alle anderen Zuschauer den Saal verlassen hatten und um mich herum schon die ersten Reinigungskräfte durch die Reihen gingen, verhärtete sich etwas in meinem Kopf. Der Befehl, der jetzt ausging, vertrieb das Blei aus meinen Beinen. Ich stemmte mich aus dem Sitz, und während ich energisch Richtung Ausgang schritt, schnitten weitere scharfe Anweisungen durch mich hindurch. Okay, das waren jetzt drei Stunden Wahnsinn. Drei Stunden Lust, Gier und Geilheit. Aber jetzt geht es zurück ins Hotel, morgen nach Hamburg, und der Name Ramin Karimloo bleibt hier. Striktes Kofferverbot. Explosionsgefahr.

Ich trat durch die Saaltür ins fast komplett leere Foyer, wandte mich nach rechts und ging mit schnellen Schritten an der Wand entlang Richtung Ausgang. Auf der anderen Seite der Wand lag der Saal, aber ich hatte ja fast ganz vorne gesessen. Bestimmt war ich jetzt schon auf Höhe der Bühne. Dahinter waren vermutlich die Umkleiden für die Darsteller, und in einer davon … SHUT. THE. FUCK. UP!

Ich fixierte den Blick geradeaus auf die geöffneten Ausgangstüren. Alles andere nahm ich nur noch schemenhaft wahr. Deshalb realisierte ich erst, dass die weiße Wand rechts von mir durch eine schwarze Tür mit der Aufschrift „Staff only“ unterbrochen wurde, als ich schon fast daran vorbei war. Und dass diese Tür nicht geschlossen war, sondern einen Spalt breit offenstand – oder besser gesagt, offengehalten wurde – merkte ich erst, als sich schon eine Hand um meinen Unterarm geschlossen und mich mit einem Ruck durch sie hindurchgezogen hatte. Aus dem Gleichgewicht gerissen, stolperte ich und wäre gefallen, wenn mich nicht eine zweite Hand am Schulterblatt abgefangen und gestützt hätte. Gleich darauf ließen beide Hände mich wieder los. Ich hörte ein dunkles, volltönendes Lachen, und dann eine Stimme, die eher tief als hoch und rau und sanft zugleich war.

Sie klang anders. Anders als auf der Bühne. Und doch vollkommen gleich. „Wow there! You weren’t gonna run away from me, now, were you?“

Ich starrte hinab auf schwarze Sneakers, die aussahen, als seien die Füße, die darin steckten, etwas größer als meine. Ich starrte und starrte, und ich hörte nichts als ein Geräusch, das klang wie eine kaputte Dampflokomotive.

Ich presste die Augen zu und zwang mich, den Mund zu schließen. Das grässliche Schnaufen verstummte. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Zentimeter für Zentimeter hob ich den Kopf.

Meine Augen wanderten entlang an einer schwarzen Jeans, die von einem schwarzen Gürtel mit silberner Schnalle tief – sehr tief – auf den Hüften gehalten wurde. Es folgte ein schwarzes T-Shirt, das so eng war, dass es jeden Muskel offenlegte. Ein gebräunter Hals, ein Kinn mit Bartschatten – der letzte Ruck, der finale Millimeter war der schwerste. Meine Zähne gruben sich in meine Zungenspitze. Dann kippte mein Kopf das winzige Stück nach hinten.

Seine Augen waren braun. Das hatte ich während der Vorstellung unter der Maske und nur mithilfe der Bühnenbeleuchtung nicht ausmachen können. Ein tiefes Braun, ganz dunkel, fast schwarz. Etwas in ihnen flackerte. Wie ein Feuer, das tief unten in einer Höhle brannte. Seine Wangenknochen traten leicht hervor, seine Augenbrauen waren voll und genauso schwarz wie sein Haar, das relativ hoch über der Stirn ansetzte und nachlässig-unordentlich zur Seite gekämmt war. Einzelne Strähnen glänzten feucht. Vermutlich hatte er eben geduscht. Seine Lippen waren eher blass, und sie waren verzogen zu einem Lächeln, das kaum mehr war als ein gehobener Mundwinkel und das mir trotzdem heiße und kalte Schauer den Rücken hinunterjagte.

Ich wusste, was dieses Lächeln sagte. Ich hatte es so zwar nie zuvor gesehen, schon gar nicht auf diesem Gesicht, aber es schrie seine Botschaft so laut, als stünden die Worte weiß auf schwarz auf seinem T-Shirt.

Meine Daumennägel fanden meine Zeigefinger und gruben sich hinein. Ein Zucken ging durch meine Hände, aber der halb erleuchtete Gang, in dem wir uns befanden, verschwand nicht, und er verschwand auch nicht. Er stand immer noch hier, vor mir, und sah mich mit diesem Lächeln an, das schrie: I’M GONNA FUCK YOU.

Ich stand da und starrte. Mein Mund hatte sich schon wieder leicht geöffnet. Wenigstens ging meine Atmung trotzdem noch geräuschlos, wenn auch so flach, dass kaum Luft in meinen Lungen ankam.

Das Schweigen wurde länger und länger. Er hob leicht die Augenbrauen, und sein Mundwinkel wanderte einen Hauch weiter nach oben. “What’s the matter? Haven’t you ever seen another guy before?”

Ich hörte ihn, aber es dauerte eine Weile, bis ich es verarbeitet hatte und realisierte, dass er eine Antwort erwartete. Stolpernd brachte ich meine Zunge dazu, sich zu bewegen. „Ah … I, ah … wh-what?“

Jetzt wanderte auch sein anderer Mundwinkel nach oben. „Don’t tell me you didn’t realise this was coming. The way you were staring at me the entire time? You must’ve known I wasn’t gonna turn that down.”

“I … I don’t know what … what you mean.” Meine Stimme war eine Oktave höher als sonst, und sie zitterte. Ich musste doch träumen. Konnte das hier die Wirklichkeit sein? So was passierte doch nicht. Nicht im richtigen Leben. Mit der linken Hand wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.

„Come on.“ Sein Grinsen ging mittlerweile von Ohr zu Ohr. „Of course you do, don’t be so – hey, what’s that on your hand?”

Ich versuchte, sie wegzuziehen, aber seine rechte Hand war hervorgeschossen und hatte sich meine linke geschnappt, die auf dem Weg von meiner Stirn zurück zu meiner Seite gewesen war. Seine langen, kräftigen Finger übten sanften Druck auf meine aus, als er sich ausgiebig meinen Zeigefinger und die annähernd halbkreisförmigen, dünnen Einkerbungen besah, die auch nach zwei Stunden immer noch auszumachen waren.

Ich starrte auf meine Hand, dann in sein Gesicht. Ein diebisches Funkeln war in seine Augen getreten. „Well, well, well.“ Er öffnete seine Finger, und meine Hand fiel schlaff an meine Seite. „What’s that then? A little by-product of intermission entertainment?“

Ich biss die Zähne zusammen. Bitte, Erde, tu mir einen Gefallen, reiß auf, verschling mich und spuck mich nie wieder aus.

Er lachte. Vibrierend, melodiös. „You should have come to my dressing room.” Er machte einen Schritt nach vorne, lehnte seinen Kopf leicht nach unten und hauchte, seine Lippen direkt neben meinem rechten Ohr: „I’d have … given you a hand.“ Seine Fingerspitzen strichen über den Schrittbereich meiner Jeans.

Ich keuchte. Kurz, aber unzweideutig. Ich schlug mir die Hand vor den Mund und presste sie vor meine Lippen.

„Don’t.” Sanft, aber bestimmt löste er meine Finger. „Groan all you like. Let it all out.“

„What about the others?“

Ein kohärenter Satz. Ich bekam meine Atmung etwas besser unter Kontrolle. Aber er wich keinen Millimeter von mir zurück.

„Fuck the others. Who gives a shit what they think?“ Jetzt schaute er mich an. Unsere Gesichter waren sich so nah, dass unsere Nasenspitzen aneinandergestoßen wären, wenn er nicht ein paar Zentimeter größer wäre als ich. „And anyway, they’re used to it.”

Ich starrte in seine Augen. Braun. Funkelnd. Das Feuer in den Höhlen züngelte und knisterte. „You mean, you … do this every night?”

Wieder dieses Lachen. Ich schluckte. Kontrolle, Martin. Beherrschung.

„Well, no. Usually, I hit the clubs after work. But it wouldn’t be the first time, either.”

Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. Ich presste die Lippen aufeinander.

“Anyway, they’re all gone now.” Sein Blick huschte über den Gang und die Türen, die zur bühnenabgewandten Seite abgingen. Dann sah er mich wieder an. Seine Augen schrien immer noch FUCK YOU, FUCK YOU, FUCK YOU!

„And what about us? Shall we go, too?“ Seine Lippen verzogen sich wieder zu einem Grinsen. „Or did you have a previous engagement?“

Ich starrte in seine Augen, in die prasselnden Flammen. Sex. One-Night-Stand. Fußballer. No-Go. Ich schluckte. “No.” Das war so leise herausgekommen, dass selbst ich es mehr gespürt als gehört hatte. Ich räusperte mich. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. „No. No, I … I didn’t.“

In seinen Augen gab es eine Stichflamme. „Excellent. Come on.“

Er schob zwei Finger unter meinen Gürtel, lief rückwärts den Gang hinab und zog mich mit sich. Ich lief halb stolpernd und halb rennend mit. Mir war schwindelig. Aber als er mit dem Rücken eine Feuertür aufstieß und mich nach draußen auf einen menschenleeren Parkplatz und zu seinem Auto führte, war das Lachen, das durch die Nachtluft klang, zweistimmig.

Chapter 5: Mr. Y - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Mr. Y

 

Als ich dem Gewirr im Foyer entkommen und wieder an meinem Platz war, schlug ich das Programmheft auf. Sicher stand da irgendwo was über die Darsteller drin. Relativ am Ende wurde ich fündig. Viel war es nicht, nur ein paar Zeilen zu jeder Rolle. Hektisch suchten meine Augen nach ihm. Als ich ihn fand, ging ein Stich durch meinen ganzen Körper.

 

Das Phantom: Ramin Karimloo, geboren am 19. September 1987

Ramin war Teil des Original Casts von “Love Never Dies”, mit dem er bis August 2011 aufgetreten ist. Nach vier Jahren in anderen Rollen ist er jetzt für das West-End-Comeback zum Stück zurückgekehrt, wobei er wieder Sierra Boggess als Christine an seiner Seite hat (s. oben für weitere Informationen).

 

Ramin Karimloo. RaminKarimloo. Ramin. Karimloo.

Ich ließ meine Augen über den Namen wandern, saugte ihn in mich auf. Hatte ich vorhin wirklich gedacht, sein Name würde ihn realer, alltäglicher machen? Ich stieß ein Lachen aus. Ja klar. Sein Name war wie seine Stimme: außergewöhnlich, fremd, ein bisschen mysteriös. Und unglaublich anziehend.

Ich nahm einen kurzen Atemzug und riss meine Augen von den kursiven, geschwungenen Lettern los. Langsamer und konzentrierter las ich die anderen zwei Sätze noch mal. Geboren war er am 19. September 1987. Dann war er also 27, acht Jahre älter als ich. Das war zwar ein recht großer Unterschied, wäre mir aber egal. Thomas war auch älter als ich gewesen, es war mir lieber, wenn mein Partner der Ältere war.

Ein Ruck ging durch meinen Körper. Ich schlug das Programmheft zu, lehnte den Kopf in den Nacken und starrte mit zusammengepressten Lippen zur Saaldecke hinauf. Sag mal, hast du sie noch alle? Partner?!

Er war nur ein Typ, den ich heute Abend einmal sah und danach nie wieder sehen würde. Nicht nur das, er hatte ja noch nicht mal irgendeine Ahnung, dass ich überhaupt existierte, geschweige denn, was er mit dem ersten Akt der Vorstellung in mir ausgelöst hatte – oder? Bei diesem letzten Lied, „The Beauty Underneath“, an diesen zwei Stellen, wo sein Blick mich gestreift hatte … wo er mich regelrecht angestarrt hatte …

Ach was, das war völliger Unsinn, sicher nur ein Zufall. Wahrscheinlich schaute er an diesen Stellen bei jeder Aufführung genau hier hin, ganz egal, wer da saß. Er hatte mitten in der Vorstellung gesteckt, er konnte mich ja gar nicht aktiv wahrgenommen haben. Und selbst wenn er mich irgendwie doch wahrgenommen und meinen Gesichtsausdruck gelesen hatte, war er mit Sicherheit nicht schwul. Und selbst wenn er schwul war, war noch lange nicht gesagt, dass er mich auch wollen würde. Und selbst wenn er mich wollte, wäre es für mich viel zu riskant, einfach mit irgendjemand Wildfremdem Sex zu haben. Für einen schwulen Profifußballer waren One-Night-Stands ein No-Go. Was, wenn er mich erkannte und zur Presse ging? Nein, ich würde schön hier sitzen bleiben, mich im zweiten Akt gefälligst zusammenreißen, danach zurück ins Hotel gehen und morgen in den Flieger steigen, nach Hause, in mein Leben, in die Normalität. Weg von Kerzen und Klavieren und schwarzen Mänteln. Weg von Masken und Nebel und dunkler Musik … dunkel, bedrohlich, gefährlich … sanft, lockend, verheißungsvoll … verführerisch … weg von der Stimme, seiner Stimme, die … die …

Mein Kopf flog hin und her, bis mir schwindelig wurde, und meine Daumennägel bohrten sich in die Kuppen meiner Zeigefinger. Sei still. Sei einfach still. BITTE!

Um mich herum wurde das Saallicht schwächer und erlosch. Ich zwang meinen Rücken und meine Arme, sich entlang ihrer Lehnen auszustrecken, und versuchte krampfhaft, mich zu entspannen, während der Vorhang sich für den zweiten Akt öffnete.

 

*

 

Während des zweiten Teils der Vorstellung kämpfte ich die ganze Zeit dagegen an, mich noch mal so sehr zu verlieren wie vor der Pause. Ich hatte damit insofern Erfolg, dass zumindest mein Blut diesmal da blieb, wo es hingehörte, aber ansonsten scheiterte ich auf ganzer Linie. Die Musik, seine Gesten, seine Mimik, selbst mit einem durch die Maske halb verdeckten Gesicht – es war einfach zu gut. Und seine Stimme. Oh, seine Stimme, die mich zerriss und die mich ganz machte und die auf mich einstach und die mich umschmeichelte, die mir die Tränen in die Augen trieb und die jede Faser meines Körpers zum Singen brachte.

Als die Vorstellung vorbei war und die Darsteller sich ihren Applaus abholten, war er natürlich der Letzte, der an die Reihe kam, und natürlich der, der den längsten und lautesten erhielt. Ich stand und klatschte und klatschte und fühlte mich, als seien wir in den letzten zweieinhalb Stunden miteinander verschmolzen. Aber als er jetzt im hellerleuchteten Saal auf der Bühne stand, die Maske noch immer auf dem Gesicht, und sich nacheinander nach links, zur Mitte und nach rechts verbeugte, kam er mir plötzlich so weit weg vor, als stünde er auf der anderen Seite der Welt.

Fünf Meter, schätzte ich. Etwa fünf Meter war der vordere Rand der Bühne von meinem Platz entfernt. Drei Zuschauerreihen waren noch zwischen uns, ein schmaler Gang, die Stufe nach oben. Sonst nichts. Aber jetzt streifte sein Blick meine Reihe nur teilnahmslos und routinemäßig, und ohne innezuhalten glitt er weiter über die klatschenden Zuschauer hinten im Parkett und oben auf den Rängen. Obwohl meine Augen so starr auf ihn fixiert waren, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er die Hitze auf seinem Gesicht hätte spüren können, flackerte sein Blick danach kein einziges Mal auch nur in meine Nähe.

Nachdem er sich seinen Einzelapplaus abgeholt hatte, traten alle anderen Schauspieler auch noch einmal nach vorn. Er fasste die Darsteller von Christine und Raoul bei den Händen, und gemeinsam verbeugte sich die Kette noch ein paarmal. Dann gingen sie ab.

Um mich herum drehten sich die Zuschauer nach links und rechts, und englische Gesprächsfetzen schwirrten durch den Saal, während sie sich Richtung Ausgänge bewegten. Ich ließ mich langsam wieder auf meinen Platz sinken. Es ist vorbei. Das wars, er ist weg, jetzt siehst du ihn nie wieder. Geh nach Hause und vergiss ihn.

Ich wollte es tun. Aber meine Beine hörten nicht. Geh!, befahl ich, immer und immer wieder, aber sie blieben stumm. Also blieb ich sitzen. In mir spielte noch immer die Musik.

Als fast eine halbe Stunde nach dem Abgang der Schauspieler alle anderen Zuschauer den Saal verlassen hatten und um mich herum schon die ersten Reinigungskräfte durch die Reihen gingen, verhärtete sich etwas in meinem Kopf. Der Befehl, der jetzt ausging, vertrieb das Blei aus meinen Beinen. Ich stemmte mich aus dem Sitz, und während ich energisch Richtung Ausgang schritt, schnitten weitere scharfe Anweisungen durch mich hindurch. Okay, das waren jetzt drei Stunden Wahnsinn. Drei Stunden Lust, Gier und Geilheit. Aber jetzt geht es zurück ins Hotel, morgen nach Hamburg, und der Name Ramin Karimloo bleibt hier. Striktes Kofferverbot. Explosionsgefahr.

Ich trat durch die Saaltür ins fast komplett leere Foyer, wandte mich nach rechts und ging mit schnellen Schritten an der Wand entlang Richtung Ausgang. Auf der anderen Seite der Wand lag der Saal, aber ich hatte ja fast ganz vorne gesessen. Bestimmt war ich jetzt schon auf Höhe der Bühne. Dahinter waren vermutlich die Umkleiden für die Darsteller, und in einer davon … SEI. VERDAMMT. NOCH. MAL. STILL!

Ich fixierte den Blick geradeaus auf die geöffneten Ausgangstüren. Alles andere nahm ich nur noch schemenhaft wahr. Deshalb realisierte ich erst, dass die weiße Wand rechts von mir durch eine schwarze Tür mit der Aufschrift „Zutritt nur für Angestellte” unterbrochen wurde, als ich schon fast daran vorbei war. Und dass diese Tür nicht geschlossen war, sondern einen Spalt breit offenstand – oder besser gesagt, offengehalten wurde – merkte ich erst, als sich schon eine Hand um meinen Unterarm geschlossen und mich mit einem Ruck durch sie hindurchgezogen hatte. Aus dem Gleichgewicht gerissen, stolperte ich und wäre gefallen, wenn mich nicht eine zweite Hand am Schulterblatt abgefangen und gestützt hätte. Gleich darauf ließen beide Hände mich wieder los. Ich hörte ein dunkles, volltönendes Lachen, und dann eine Stimme, die eher tief als hoch und rau und sanft zugleich war.

Sie klang anders. Anders als auf der Bühne. Und doch vollkommen gleich. „Hey, nicht so schnell! Du wolltest doch nicht etwa vor mir weglaufen, oder?”

Ich starrte hinab auf schwarze Sneakers, die aussahen, als seien die Füße, die darin steckten, etwas größer als meine. Ich starrte und starrte, und ich hörte nichts als ein Geräusch, das klang wie eine kaputte Dampflokomotive.

Ich presste die Augen zu und zwang mich, den Mund zu schließen. Das grässliche Schnaufen verstummte. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Zentimeter für Zentimeter hob ich den Kopf.

Meine Augen wanderten entlang an einer schwarzen Jeans, die von einem schwarzen Gürtel mit silberner Schnalle tief – sehr tief – auf den Hüften gehalten wurde. Es folgte ein schwarzes T-Shirt, das so eng war, dass es jeden Muskel offenlegte. Ein gebräunter Hals, ein Kinn mit Bartschatten – der letzte Ruck, der finale Millimeter war der schwerste. Meine Zähne gruben sich in meine Zungenspitze. Dann kippte mein Kopf das winzige Stück nach hinten.

Seine Augen waren braun. Das hatte ich während der Vorstellung unter der Maske und nur mithilfe der Bühnenbeleuchtung nicht ausmachen können. Ein tiefes Braun, ganz dunkel, fast schwarz. Etwas in ihnen flackerte. Wie ein Feuer, das tief unten in einer Höhle brannte. Seine Wangenknochen traten leicht hervor, seine Augenbrauen waren voll und genauso schwarz wie sein Haar, das relativ hoch über der Stirn ansetzte und nachlässig-unordentlich zur Seite gekämmt war. Einzelne Strähnen glänzten feucht. Vermutlich hatte er eben geduscht. Seine Lippen waren eher blass, und sie waren verzogen zu einem Lächeln, das kaum mehr war als ein gehobener Mundwinkel und das mir trotzdem heiße und kalte Schauer den Rücken hinunterjagte.

Ich wusste, was dieses Lächeln sagte. Ich hatte es so zwar nie zuvor gesehen, schon gar nicht auf diesem Gesicht, aber es schrie seine Botschaft so laut, als stünden die Worte weiß auf schwarz auf seinem T-Shirt.

Meine Daumennägel fanden meine Zeigefinger und gruben sich hinein. Ein Zucken ging durch meine Hände, aber der halb erleuchtete Gang, in dem wir uns befanden, verschwand nicht, und er verschwand auch nicht. Er stand immer noch hier, vor mir, und sah mich mit diesem Lächeln an, das schrie: ICH WERDE DICH FICKEN.

Ich stand da und starrte. Mein Mund hatte sich schon wieder leicht geöffnet. Wenigstens ging meine Atmung trotzdem noch geräuschlos, wenn auch so flach, dass kaum Luft in meinen Lungen ankam.

Das Schweigen wurde länger und länger. Er hob leicht die Augenbrauen, und sein Mundwinkel wanderte einen Hauch weiter nach oben. „Was ist? Hast du etwa noch nie einen anderen Typen gesehen?”

Ich hörte ihn, aber es dauerte eine Weile, bis ich es verarbeitet hatte und realisierte, dass er eine Antwort erwartete. Stolpernd brachte ich meine Zunge dazu, sich zu bewegen. „Ähm … ich, ähm … w-was?”

Jetzt wanderte auch sein anderer Mundwinkel nach oben. „ Sag nicht, du wusstest nicht, dass das passieren würde. So wie du mich die ganze Zeit angestarrt hast? Du musst doch gewusst haben, dass ich das nicht ablehnen würde.”

“Ich … ich weiß nicht, was … was du meinst.” Meine Stimme war eine Oktave höher als sonst, und sie zitterte. Ich musste doch träumen. Konnte das hier die Wirklichkeit sein? So was passierte doch nicht. Nicht im richtigen Leben. Mit der linken Hand wischte ich mir den Schweiß von der Stirn.

„Komm schon.” Sein Grinsen ging mittlerweile von Ohr zu Ohr. „Natürlich weißt du das, sei nicht so – hey, was ist das an deiner Hand?”

Ich versuchte, sie wegzuziehen, aber seine rechte Hand war hervorgeschossen und hatte sich meine linke geschnappt, die auf dem Weg von meiner Stirn zurück zu meiner Seite gewesen war. Seine langen, kräftigen Finger übten sanften Druck auf meine aus, als er sich ausgiebig meinen Zeigefinger und die annähernd halbkreisförmigen, dünnen Einkerbungen besah, die auch nach zwei Stunden immer noch auszumachen waren.

Ich starrte auf meine Hand, dann in sein Gesicht. Ein diebisches Funkeln war in seine Augen getreten. „Sieh mal einer an.” Er öffnete seine Finger, und meine Hand fiel schlaff an meine Seite. „Und was ist das, hm? Ein kleiner Nebeneffekt der Pausen-Unterhaltung?”

Ich biss die Zähne zusammen. Bitte, Erde, tu mir einen Gefallen, reiß auf, verschling mich und spuck mich nie wieder aus.

Er lachte. Vibrierend, melodiös. „Du hättest zu meinem Ankleidezimmer kommen sollen.” Er machte einen Schritt nach vorne, lehnte seinen Kopf leicht nach unten und hauchte, seine Lippen direkt neben meinem rechten Ohr: „Ich wäre … dir zur Hand gegangen.” Seine Fingerspitzen strichen über den Schrittbereich meiner Jeans.

Ich keuchte. Kurz, aber unzweideutig. Ich schlug mir die Hand vor den Mund und presste sie vor meine Lippen.

„Nicht.” Sanft, aber bestimmt löste er meine Finger. „Stöhn, so viel du willst. Lass alles raus.”

„Was ist mit den anderen?”

Ein kohärenter Satz. Ich bekam meine Atmung etwas besser unter Kontrolle. Aber er wich keinen Millimeter von mir zurück.

„Zum Teufel mit den anderen. Wen interessiert schon, was die davon halten?” Jetzt schaute er mich an. Unsere Gesichter waren sich so nah, dass unsere Nasenspitzen aneinandergestoßen wären, wenn er nicht ein paar Zentimeter größer wäre als ich. „Und überhaupt, die sind das gewohnt.”

Ich starrte in seine Augen. Braun. Funkelnd. Das Feuer in den Höhlen züngelte und knisterte. „Du meinst, du … machst das jede Nacht?”

Wieder dieses Lachen. Ich schluckte. Kontrolle, Martin. Beherrschung.

„Na ja, das nicht. Normalerweise zieh ich nach der Arbeit durch die Klubs. Aber es wäre auch nicht das erste Mal.”

Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. Ich presste die Lippen aufeinander.

“Jetzt sind sie sowieso alle schon weg.” Sein Blick huschte über den Gang und die Türen, die zur bühnenabgewandten Seite abgingen. Dann sah er mich wieder an. Seine Augen schrien immer noch DICH FICKEN, DICH FICKEN, DICH FICKEN!

„Und was ist mit uns? Sollen wir auch gehen?” Seine Lippen verzogen sich wieder zu einem Grinsen. „Oder hast du schon was anderes vor?”

Ich starrte in seine Augen, in die prasselnden Flammen. Sex. One-Night-Stand. Fußballer. No-Go. Ich schluckte. „Nein.” Das war so leise herausgekommen, dass selbst ich es mehr gespürt als gehört hatte. Ich räusperte mich. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. „Nein. Nein, ich … hab ich nicht.”

In seinen Augen gab es eine Stichflamme. „Perfekt. Komm mit.”

Er schob zwei Finger unter meinen Gürtel, lief rückwärts den Gang hinab und zog mich mit sich. Ich lief halb stolpernd und halb rennend mit. Mir war schwindelig. Aber als er mit dem Rücken eine Feuertür aufstieß und mich nach draußen auf einen menschenleeren Parkplatz und zu seinem Auto führte, war das Lachen, das durch die Nachtluft klang, zweistimmig.

Chapter 6: Who Are You?

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  1. Kapitel: Who Are You?

 

Kalt. Mir war kalt.

Ich schnaufte und tastete nach der Decke. Sie lag um meine Hüften. Warum so weit unten? Ich zog. Sie rührte sich nicht. Ich brummte und zog heftiger. Nichts. Wo konnte sie sich nur verhakt haben? Und warum war sie überhaupt so tief heruntergerutscht?

Ich fröstelte. Es war echt kalt, so ohne Decke und T-Shirt. Deswegen schlief ich sonst auch immer in irgendeinem Schlabbershirt. Aber das hatte ich im Theater natürlich nicht dabeigehabt, und sowieso hatten wir uns nicht wieder angezogen, nachdem … nachdem …

Meine Augen flogen auf. Die Wand nahm ich nur als unscharfen weißen Fleck wahr, während ich von der Matratze hochfuhr und herumwirbelte. Nackt, die Decke über den Beinen, saß ich da und starrte hinunter auf den Mann, der auf der anderen Seite des Bettes schlief.

Ramin lag auf dem Bauch, den Kopf zu mir gedreht. Ihm ging die Decke bis zur Mitte des Rückens, und sein linker Arm lag ausgestreckt neben dem Körper und klemmte sie fest. Sein rechter Arm lag angewinkelt neben dem Kopf, die Fingerknöchel Millimeter von seiner Nasenspitze entfernt. Seine Lippen waren geschlossen. Er atmete ruhig und gleichmäßig, und sein Rücken hob und senkte sich leicht im Rhythmus. Durchs Fenster hinter ihm fiel die Morgensonne auf sein Gesicht und ließ Nase, Stirn und geschlossenes Auge fast weiß, sein Kinn und den Bartschatten merkwürdig dunkel erscheinen.

Ich sah ihn an. Durch die Matratze spürte ich jeden seiner Atemzüge. Wie ruhig er dalag. Wie entspannt. Als hätte er gestern einen langen, anstrengenden Arbeitstag gehabt, von dem er erst spät nach Hause gekommen war. Aber jetzt hatte er sich erholt. Wenn er aufwachte, würde er träge, aber zufrieden ins Licht blinzeln, und seine Augen würden durch den Raum irren, bevor sie sich auf mich fokussierten. Der Mundwinkel, den ich sehen konnte, würde sich zu einem Lächeln verziehen. Hey honey, hörte ich seine tiefe, vibrierende Stimme murmeln. Did you sleep well?

Ich schluckte. Langsam hob ich die Hand. Zentimeter für Zentimeter führte ich sie über die Matratze hinweg und hinab zu seiner Wange. Rau würde sie sich anfühlen. Rau und ein bisschen kratzig. Männlich. Ich hielt inne. Meine Fingerspitzen schwebten Millimeter über seinem Gesicht.

Ich riss die Hand zurück und schüttelte sie, als hätte ich mich verbrannt. Abrupt drehte ich mich von Ramin weg, zog die Beine unter der Decke hervor und schwang sie aus dem Bett. Ein Stück rechts von mir auf dem Boden lagen meine Boxershorts, und ich stand auf und zog sie an. Ich sah mich nach dem Rest meiner Klamotten um, aber ich fand sie nicht. Wahrscheinlich lagen sie irgendwo in der Wohnung verstreut. War ich überhaupt noch komplett angezogen durch die Wohnungstür gekommen, oder würde ich mein T-Shirt im Hausflur suchen müssen?

Ich biss mir auf die Oberlippe. Letzte Nacht … Mein Kopf wanderte nach rechts zum schlafenden Ramin. Wie friedlich er aussah. Und gestern war er so wild gewesen, so leidenschaftlich, so …

Meine Lippen teilten sich, und ich atmete flacher. Gestern Nacht war er … alles gewesen. Einfach alles. Ich hatte an nichts gedacht als nur an ihn. Und jetzt …

Ich schluckte, blinzelte. Schüttelte leicht den Kopf. Jetzt ist es vorbei. Eine Nacht, das war alles. Eine Nacht Pause, aber jetzt musst du zurück. Du bist Fußballer, und du bist neunzehn Jahre alt, und du hast ein Flugzeug zu erwischen.

Richtig. Das Flugzeug. Zurück nach Hamburg. Zurück nach Hause. Zurück … und weg von …

Ich presste die Augenlider aufeinander und biss die Zähne zusammen. Egal. Weg von war so was von egal. Hin zu, das war wichtig. Und dieses Hin zu begann um … eins, richtig. Um ein Uhr ging mein Flieger. Und davor musste ich noch ins Hotel, mein Zeug holen. Also komm in die Gänge.

Ich öffnete die Augen und sah mich nach einer Uhr um. Mein Blick streifte die Wände, aber er glitt nie tiefer als bis auf Hüfthöhe. Wenn es hier im Raum eine Uhr gab, würde sie hängen. Und alles andere interessierte mich nicht.

Aber ich fand keine Uhr. Nur drei weiße Wände, eine von der Tür, eine andere vom Fenster unterbrochen. Neben dem Fenster hing ein bodentiefer Spiegel. Vor die vierte Wand war ein schwarzer Vorhang gezogen, hinter dem sich vermutlich eine Art Kleiderschrank befand. Kurz blieb mein Blick an der Wand hängen, die weiß und nur weiß war. Der Wand, an der das Bett stand. Das Bett, in dem … in dem …

Ich fuhr herum und ging mit langen Schritten über den Parkettboden zur Tür, die nur angelehnt war. Ich zog sie auf, schlüpfte hindurch und drehte mich nicht mehr um, bevor ich sie leise hinter mir schloss.

Mit dem Klick in den Angeln wich ein wenig Spannung aus meinem Körper. Barfuß und bis auf die Boxershorts immer noch nackt sah ich mich um. Gestern Nacht hatte ich nichts von der Wohnung wahrgenommen.

Ich stand nicht in einem Flur, sondern in einem Raum, der größer als das Schlafzimmer, aber trotzdem nicht groß war. Geradeaus an der gegenüberliegenden Wand stand ein kleines Sofa, auf dem zwei Leute locker und drei nur dann Platz hätten, wenn sie gerne miteinander kuschelten. Momentan war es allerdings belegt von einer Gitarre, die der Länge nach darauf lag. Rechts neben dem Sofa lehnte ein Keyboard zusammengeklappt an der Wand, und davor stand ein ziemlich cooles Mikrofon, das in einem spinnenartigen Gerüst steckte und aussah wie die in den Tonstudios. Direkt über dem Sofa war ein Fenster – das einzige im ganzen Raum. Links von mir, neben der Tür zum Schlafzimmer, stand auf einer Kommode ein Fernseher, und links und rechts davon waren zwei gewaltige schwarze Boxen. Ich schmunzelte. Bestimmt gehörten die nicht gerade zu den Lieblingsmöbeln der Nachbarn.

Ich wandte den Blick wieder Richtung Sofa und entdeckte rechts vom Mikrofon zwei Stühle und die Hälfte eines Esstisches. Als ich ein paar Schritte in den Raum hinein machte, fand ich an der anderen Seite des Tisches noch einen dritten Stuhl und um die Ecke in einer Nische eine Kochzeile. Offensichtlich war dieser Raum neben dem Schlafzimmer der einzige Wohnraum, und genauso offensichtlich war diese Wohnung für einen Ein-Personen-Haushalt gemacht.

Die Fliesen, mit denen der Boden im Kochbereich ausgelegt war, waren kalt an meinen nackten Füßen, und ich drehte mich um und trat zurück aufs Parkett. Meine Augen fielen auf die der Kochzeile gegenüberliegende Wand – oder besser gesagt auf das Regal, das davorstand, denn von der Wand selbst war kein Fitzelchen zu sehen. Das Regal zog sich über ihre gesamte Länge vom Boden bis zur Decke, und darin standen was aussah wie alle CDs, die jede Band, die jemals existiert hatte, je veröffentlicht hatte.

Ich trat näher heran. Einige Bands und Künstler kannte ich gut, weil ich auch Songs von ihnen auf meinen Playlists hatte, wie The Police, Billy Joel, Bruce Springsteen, Simon & Garfunkel oder Phil Collins. Bei anderen, wie Black Sabbath, Depeche Mode, Deep Purple oder R.E.M., kannte ich zwar die Namen, hätte aber keinen Song nennen können, der von diesen Bands war. Und wieder andere gab es, von denen teilweise CD um CD im Regal stand, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, wie Tracy Chapman, Frank Zappa, Lou Reed oder Dolly Parton.

Langsam ließ ich den Blick die Reihen entlangwandern, von rechts nach links, Bord für Bord. Die CDs von einer Band standen zusammen, aber in der Reihenfolge der Gruppen und Künstler gab es kein System, oder zumindest keins, das ich entdecken konnte. Schritt für Schritt ging ich das Regal entlang. In der Masse suchte ich nach dem Rücken irgendeiner CD, die ich auch zu Hause hatte. Das waren zwar nur eine Handvoll, und die meisten davon waren von meiner Mutter geerbt, weil ich meine Musik online hörte, aber bei der Menge an Alben, die Ramin hier hatte, musste ja eins dabei sein, das mir vertraut war.

Ziemlich genau in der Mitte des Regals wurde ich fündig. Etwas unterhalb meiner Augenhöhe standen dort eine Reihe Alben, deren Rücken alle mit dem gleichen Wort begannen: Queen. Mein Zeigefinger wanderte die CDs entlang, bis er an einer mit schwarzem Hintergrund und weißer Aufschrift hängenblieb. Ich zog sie heraus. „Queen – The Miracle“ stand in roten Großbuchstaben auf einem blauen Hintergrund. Ich lächelte. Auf dem Cover waren die Gesichter der vier Bandmitglieder abgebildet. Das wäre an und für sich nichts Besonderes, aber das traf es eben nicht so ganz: Alle vier Gesichter saßen auf einem einzigen Hals, und ihre Augen und Haare gingen nahtlos ineinander über. Man musste ganz genau hinschauen, um zu sehen, welches Auge zu wem gehörte. Einen Moment betrachtete ich das Cover. Mein Daumen strich über die Hülle. Dann stellte ich sie zurück ins Regal.

Ich drehte mich um und ließ den Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Es war ein schönes Zimmer. Nicht sehr groß und nicht sehr hell, aber gemütlich. Ein Sofa zum Entspannen, ein Tisch zum Essen, eine Küche, ein Fernseher, eine Wand voll CDs … alles war da. Und trotzdem. Irgendwas fehlte. Etwas … natürlich, die Uhr. Die hatte ich doch eigentlich gesucht. Damit ich wusste, wie spät es war. Wie viel Zeit ich noch hatte, bis ich ins Hotel musste, zum Flughafen. Zurück zu mir.

Aber auch hier hing nirgendwo eine, und in der Küche gab es zwar einen Ofen, aber der hatte keine Leuchtanzeige. Ich stieß die Luft aus. Na gut, dann musste eben mein Handy herhalten. Das war sowieso ein guter Gedanke. Schließlich hatte ich seit gestern Abend um kurz vor halb sieben nicht mehr draufgeschaut, konnte also gut sein, dass ich etwas verpasst hatte. Etwas Wichtiges, im Mannschaftschat oder so. Genau.

Jetzt suchte ich mit den Augen den Boden ab. Mein Handy steckte in meiner Jeans, aber die sah ich nicht, genauso wenig wie den Rest meiner Klamotten. Ich biss mir auf die Oberlippe. Ich würde doch nicht wirklich in Boxershorts in den Hausflur gehen müssen, oder?

Ich versuchte, mich zu orientieren. Die Tür in der Wand rechts von mir, neben dem Fernseher, führte ins Schlafzimmer. Aber gegenüber, in dem Wandvorsprung, neben dem links die Küchennische war, gab es noch eine Tür, und ich meinte mich zu erinnern, dass ich gestern Nacht auf dem Weg ins Bad genau da durchgegangen war – vom Schlafzimmer aus rechts um die Ecke. Ich drückte die Klinke hinunter – vorsichtig, weil Ramin ja nebenan schlief – spähte durch den Spalt und seufzte erleichtert. Hinter der Tür lag ein kleiner, quadratischer Eingangsbereich, der mit Fliesen ausgelegt war, und dort lagen auf einem Haufen zwei paar Jeans, die eine schwarz, die andere blau, und zwei T-Shirts. Ich trat hinein, fand den Lichtschalter, schloss die Tür hinter mir, ging in die Hocke und suchte nach den Taschen der blauen Jeans. Um an die richtige zu kommen, musste ich erst das Bein wieder auf rechts drehen. Meine Güte, hatten wir es eilig gehabt gestern.

Mein Handy war zum Glück noch da und noch ganz. 08:42, sagte die Symbolleiste. Ich atmete aus. Ich hätte es später geschätzt, aber das war ganz entspannt. Mein Flugzeug ging ja erst um eins. Ich nahm den Flugmodus heraus, den ich gestern für die Vorstellung eingeschaltet hatte, und wartete ein paar Sekunden, aber nichts passierte. Kein WhatsApp, keine E-Mails, nichts. Ich atmete durch und richtete mich auf. Was jetzt? Anziehen und gehen?

Meine Füße kribbelten. Die Fliesen waren echt viel kälter als das Parkett. Wo waren überhaupt meine Socken? Ich sah mich in der Garderobe um, fand aber nur meine Schuhe, achtlos zu Boden gepfeffert. Die Socken mussten wohl doch noch im Schlafzimmer sein, vielleicht unterm Bett oder so. Sollte ich mich reinschleichen und sie holen? Aber was dann? Wollte ich wirklich einfach so verschwinden, ohne ein Wort? Aber wecken wollte ich Ramin auch nicht. Und tatenlos hier rumstehen war auch blöd.

Ich drehte mich wieder in Richtung Wohnzimmer, aber auf halbem Weg blieb mein Blick hängen. In der Wand rechts von mir war noch eine Tür – zum Bad, natürlich. Ich schaltete das Licht an und sah mich auch hier zum ersten Mal richtig um. Auch dieser Raum war klein, Toilette, Waschbecken, darüber ein Spiegel, und an der hinteren Wand erstreckte sich über die ganze Breite eine bodengleiche Dusche mit gläserner Schiebetür.

Oh ja. Duschen war eine herrliche Idee. Sicher hatte Ramin nichts dagegen, und vielleicht würde er währenddessen ja von selbst aufwachen. Außerdem würde ich dann noch hierbleiben können. Nicht lange, nur noch ein bisschen. In seiner Dusche duschen, mich mit seinem Shampoo einseifen … seinen Geruch noch ein bisschen mit mir herumtragen …

Ich legte das Handy auf dem Wandvorsprung über dem Waschbecken ab, schnappte mir meine Jeans und mein T-Shirt, legte sie im Bad etwas ordentlicher als zuvor auf den Boden, streifte die Boxershorts ab und legte sie dazu. Dann schob ich die Tür zur Seite, trat ein, schloss sie wieder und drehte das Wasser auf. Der Duschkopf war oben fixiert. Alles, was ich tun musste, war, mich unter den Strahl zu stellen und die Augen zu schließen. Ich legte den Kopf in den Nacken und atmete. Ruhe. Alleinsein. Warmes Wasser.

Ich spürte, wie die Spannung aus meinen Muskeln wich. Alles war gut. Mir ging es gut, mir war warm, ich duschte, ich würde morgen in die Vorbereitung starten, und ich hatte nichts verpasst. Keiner hatte mich vermisst, keiner hatte etwas gemerkt. Niemand wusste, dass ich hier gewesen war. Dass ich mitgegangen war … mit ihm … dass er mich verführt hatte und ich ihn gelassen hatte … dass er … dass ich … dass wir …

Mein Atem hatte sich beschleunigt. Ich öffnete die Augen, schüttelte den Kopf, dass Wassertropfen aus meinem Haar stoben, und drehte mich um, sodass ich mit dem Gesicht zur Wand stand. Niemand wusste, dass ich hier gewesen war. Niemand – außer er. Und jetzt? Was sollte ich jetzt machen? Was wusste er über mich?

Er wusste, wie ich aussah. Und meinen Vornamen. Und, dass ich regelmäßig Sport trieb, denn das war nicht zu übersehen. War das genug? Würde er wissen, wer ich wirklich war? Wusste er es längst? Und wenn er es nicht wusste – würde ich es ihm dann sagen?

Bist du verrückt, klang es durch meinen Kopf. Dann hat er dich in der Hand!

Und wenn er es längst weiß? Diese Stimme war leiser, sanfter, und sie saß tiefer. Sie kam mehr aus dem Bauch.

Unsinn. Das hätte er längst gesagt. Du bist sicher, solange du die Klappe hältst.

Aber wenn er mich erkennt? Irgendwann, später?

Ein Schnauben. Ja, sicher. Weil natürlich jeder Mensch in England einen neunzehnjährigen Bundesligaspieler mit fünfundzwanzig Einsätzen und null Toren erkennen würde. Aber immerhin mit neun Gelben Karten. Für wen hältst du dich eigentlich?

Aber wenn er irgendwann ein Foto sieht! Die leise Stimme ließ nicht locker. So feuerrotes Haar wie ich, das hat sonst niemand. Dann würde er mich erkennen. Bestimmt. Und wenn ich es ihm dann nicht gesagt habe, dann … dann erzählt er es vielleicht herum.

Schweigen.

Die Stimme aus meinem Bauch fuhr fort, lauter und fester. Und außerdem, wie steh ich denn da, wenn ich es ihm jetzt nicht sage und dann findet er‘s irgendwann selber raus? Wird er nämlich bestimmt, und dann wird’s nicht lustig. Das wäre ja dann, als hätte ich gelogen. Ich hätte dann gelogen! Wie soll ich ihm das denn dann erklären?

Jetzt meldete sich die andere Stimme wieder. Mit einem kreischenden Lachen. DAS ist es also, was? Davon träumst du also, du erbärmlicher Idiot? Dann hör jetzt genau zu: DAS IST EGAL, WEIL DU IHN NIE WIEDERSEHEN WIRST. NIE. NIE, NIE, NIE!

Ein Knirschen hinter mir. Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich fast auf dem nassen Boden ausgerutscht wäre.

„Relax.“ An Ramins Stimme hörte ich, dass er grinste. „It’s not that kind of a shower scene.”

Wieder ein Knirschen, dann ein Klacken. Er berührte mich nicht, aber trotzdem spürte ich seinen Körper hinter mir wie einen Hitzestrahler.

Ich atmete tief ein und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. „You’re up.“

„I’m always up.“ Seine Stimme war dunkel, vibrierend, und er grinste noch breiter.

Ich sah wieder über die Schulter. Diesmal schaute ich richtig hin. „Well.“ Auch ich grinste jetzt. „Parts of you are.“

„Insolent boy!“ Mit einem Schritt war er bei mir, presste meinen Körper mit seinem gegen die Wand. Seine Lippen waren so nah an meinem Gesicht, dass ich ihre Bewegung an meinem Ohrläppchen spürte. „Do you know what I think? I think you deserve –“ Seine Zungenspitze tippte mein Ohrläppchen an, und seine Hände fuhren von meinen Schultern hinab, meinen Rücken entlang, meine Hüfte. „– a spanking.“ Das Klatschen übertönte das Rauschen des Wassers. Seine Zähne schlossen sich sanft um mein Ohrläppchen.

Ich war zusammengezuckt und hatte ein gepresstes Keuchen ausgestoßen. Jetzt verzogen meine Lippen sich wieder zu einem Grinsen. „I do? Yes, I suppose … I do …”

Neben meinem Ohr hörte ich das Ratschen eines Plastikpäckchens. Ich schloss die Augen, die Wange an die kühlen Fliesen gepresst, Ramins lodernder Körper an meinem Rücken.

 

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Referenzen:

 

„The Miracle“ – Album von Queen (Freddie Mercury, Brian May, John Deacon, Roger Taylor). Produziert von Queen und David Richards (1989). Coverdesign von Richard Gray, basierend auf einer Idee von Queen.

 

Zitat „Relax. It’s not that kind of a shower scene.“ – Aus der amerikanischen Version der TV-Serie „Queer as Folk“, Season 2, Episode 19, „Bowling for Equality“. Drehbuch von Efrem Seeger, Michael MacLennan, Matt Pyken und Michael Berns, Story von Ron Cowen und Daniel Lipman, Regie von Michael DeCarlo.

Chapter 7: Who Are You? - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Wer bist du?

 

Kalt. Mir war kalt.

Ich schnaufte und tastete nach der Decke. Sie lag um meine Hüften. Warum so weit unten? Ich zog. Sie rührte sich nicht. Ich brummte und zog heftiger. Nichts. Wo konnte sie sich nur verhakt haben? Und warum war sie überhaupt so tief heruntergerutscht?

Ich fröstelte. Es war echt kalt, so ohne Decke und T-Shirt. Deswegen schlief ich sonst auch immer in irgendeinem Schlabbershirt. Aber das hatte ich im Theater natürlich nicht dabeigehabt, und sowieso hatten wir uns nicht wieder angezogen, nachdem … nachdem …

Meine Augen flogen auf. Die Wand nahm ich nur als unscharfen weißen Fleck wahr, während ich von der Matratze hochfuhr und herumwirbelte. Nackt, die Decke über den Beinen, saß ich da und starrte hinunter auf den Mann, der auf der anderen Seite des Bettes schlief.

Ramin lag auf dem Bauch, den Kopf zu mir gedreht. Ihm ging die Decke bis zur Mitte des Rückens, und sein linker Arm lag ausgestreckt neben dem Körper und klemmte sie fest. Sein rechter Arm lag angewinkelt neben dem Kopf, die Fingerknöchel Millimeter von seiner Nasenspitze entfernt. Seine Lippen waren geschlossen. Er atmete ruhig und gleichmäßig, und sein Rücken hob und senkte sich leicht im Rhythmus. Durchs Fenster hinter ihm fiel die Morgensonne auf sein Gesicht und ließ Nase, Stirn und geschlossenes Auge fast weiß, sein Kinn und den Bartschatten merkwürdig dunkel erscheinen.

Ich sah ihn an. Durch die Matratze spürte ich jeden seiner Atemzüge. Wie ruhig er dalag. Wie entspannt. Als hätte er gestern einen langen, anstrengenden Arbeitstag gehabt, von dem er erst spät nach Hause gekommen war. Aber jetzt hatte er sich erholt. Wenn er aufwachte, würde er träge, aber zufrieden ins Licht blinzeln, und seine Augen würden durch den Raum irren, bevor sie sich auf mich fokussierten. Der Mundwinkel, den ich sehen konnte, würde sich zu einem Lächeln verziehen. Hey Schatz, hörte ich seine tiefe, vibrierende Stimme murmeln. Hast du gut geschlafen?

Ich schluckte. Langsam hob ich die Hand. Zentimeter für Zentimeter führte ich sie über die Matratze hinweg und hinab zu seiner Wange. Rau würde sie sich anfühlen. Rau und ein bisschen kratzig. Männlich. Ich hielt inne. Meine Fingerspitzen schwebten Millimeter über seinem Gesicht.

Ich riss die Hand zurück und schüttelte sie, als hätte ich mich verbrannt. Abrupt drehte ich mich von Ramin weg, zog die Beine unter der Decke hervor und schwang sie aus dem Bett. Ein Stück rechts von mir auf dem Boden lagen meine Boxershorts, und ich stand auf und zog sie an. Ich sah mich nach dem Rest meiner Klamotten um, aber ich fand sie nicht. Wahrscheinlich lagen sie irgendwo in der Wohnung verstreut. War ich überhaupt noch komplett angezogen durch die Wohnungstür gekommen, oder würde ich mein T-Shirt im Hausflur suchen müssen?

Ich biss mir auf die Oberlippe. Letzte Nacht … Mein Kopf wanderte nach rechts zum schlafenden Ramin. Wie friedlich er aussah. Und gestern war er so wild gewesen, so leidenschaftlich, so …

Meine Lippen teilten sich, und ich atmete flacher. Gestern Nacht war er … alles gewesen. Einfach alles. Ich hatte an nichts gedacht als nur an ihn. Und jetzt …

Ich schluckte, blinzelte. Schüttelte leicht den Kopf. Jetzt ist es vorbei. Eine Nacht, das war alles. Eine Nacht Pause, aber jetzt musst du zurück. Du bist Fußballer, und du bist neunzehn Jahre alt, und du hast ein Flugzeug zu erwischen.

Richtig. Das Flugzeug. Zurück nach Hamburg. Zurück nach Hause. Zurück … und weg von …

Ich presste die Augenlider aufeinander und biss die Zähne zusammen. Egal. Weg von war so was von egal. Hin zu, das war wichtig. Und dieses Hin zu begann um … eins, richtig. Um ein Uhr ging mein Flieger. Und davor musste ich noch ins Hotel, mein Zeug holen. Also komm in die Gänge.

Ich öffnete die Augen und sah mich nach einer Uhr um. Mein Blick streifte die Wände, aber er glitt nie tiefer als bis auf Hüfthöhe. Wenn es hier im Raum eine Uhr gab, würde sie hängen. Und alles andere interessierte mich nicht.

Aber ich fand keine Uhr. Nur drei weiße Wände, eine von der Tür, eine andere vom Fenster unterbrochen. Neben dem Fenster hing ein bodentiefer Spiegel. Vor die vierte Wand war ein schwarzer Vorhang gezogen, hinter dem sich vermutlich eine Art Kleiderschrank befand. Kurz blieb mein Blick an der Wand hängen, die weiß und nur weiß war. Der Wand, an der das Bett stand. Das Bett, in dem … in dem …

Ich fuhr herum und ging mit langen Schritten über den Parkettboden zur Tür, die nur angelehnt war. Ich zog sie auf, schlüpfte hindurch und drehte mich nicht mehr um, bevor ich sie leise hinter mir schloss.

Mit dem Klick in den Angeln wich ein wenig Spannung aus meinem Körper. Barfuß und bis auf die Boxershorts immer noch nackt sah ich mich um. Gestern Nacht hatte ich nichts von der Wohnung wahrgenommen.

Ich stand nicht in einem Flur, sondern in einem Raum, der größer als das Schlafzimmer, aber trotzdem nicht groß war. Geradeaus an der gegenüberliegenden Wand stand ein kleines Sofa, auf dem zwei Leute locker und drei nur dann Platz hätten, wenn sie gerne miteinander kuschelten. Momentan war es allerdings belegt von einer Gitarre, die der Länge nach darauf lag. Rechts neben dem Sofa lehnte ein Keyboard zusammengeklappt an der Wand, und davor stand ein ziemlich cooles Mikrofon, das in einem spinnenartigen Gerüst steckte und aussah wie die in den Tonstudios. Direkt über dem Sofa war ein Fenster – das einzige im ganzen Raum. Links von mir, neben der Tür zum Schlafzimmer, stand auf einer Kommode ein Fernseher, und links und rechts davon waren zwei gewaltige schwarze Boxen. Ich schmunzelte. Bestimmt gehörten die nicht gerade zu den Lieblingsmöbeln der Nachbarn.

Ich wandte den Blick wieder Richtung Sofa und entdeckte rechts vom Mikrofon zwei Stühle und die Hälfte eines Esstisches. Als ich ein paar Schritte in den Raum hinein machte, fand ich an der anderen Seite des Tisches noch einen dritten Stuhl und um die Ecke in einer Nische eine Kochzeile. Offensichtlich war dieser Raum neben dem Schlafzimmer der einzige Wohnraum, und genauso offensichtlich war diese Wohnung für einen Ein-Personen-Haushalt gemacht.

Die Fliesen, mit denen der Boden im Kochbereich ausgelegt war, waren kalt an meinen nackten Füßen, und ich drehte mich um und trat zurück aufs Parkett. Meine Augen fielen auf die der Kochzeile gegenüberliegende Wand – oder besser gesagt auf das Regal, das davorstand, denn von der Wand selbst war kein Fitzelchen zu sehen. Das Regal zog sich über ihre gesamte Länge vom Boden bis zur Decke, und darin standen was aussah wie alle CDs, die jede Band, die jemals existiert hatte, je veröffentlicht hatte.

Ich trat näher heran. Einige Bands und Künstler kannte ich gut, weil ich auch Songs von ihnen auf meinen Playlists hatte, wie The Police, Billy Joel, Bruce Springsteen, Simon & Garfunkel oder Phil Collins. Bei anderen, wie Black Sabbath, Depeche Mode, Deep Purple oder R.E.M., kannte ich zwar die Namen, hätte aber keinen Song nennen können, der von diesen Bands war. Und wieder andere gab es, von denen teilweise CD um CD im Regal stand, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, wie Tracy Chapman, Frank Zappa, Lou Reed oder Dolly Parton.

Langsam ließ ich den Blick die Reihen entlangwandern, von rechts nach links, Bord für Bord. Die CDs von einer Band standen zusammen, aber in der Reihenfolge der Gruppen und Künstler gab es kein System, oder zumindest keins, das ich entdecken konnte. Schritt für Schritt ging ich das Regal entlang. In der Masse suchte ich nach dem Rücken irgendeiner CD, die ich auch zu Hause hatte. Das waren zwar nur eine Handvoll, und die meisten davon waren von meiner Mutter geerbt, weil ich meine Musik online hörte, aber bei der Menge an Alben, die Ramin hier hatte, musste ja eins dabei sein, das mir vertraut war.

Ziemlich genau in der Mitte des Regals wurde ich fündig. Etwas unterhalb meiner Augenhöhe standen dort eine Reihe Alben, deren Rücken alle mit dem gleichen Wort begannen: Queen. Mein Zeigefinger wanderte die CDs entlang, bis er an einer mit schwarzem Hintergrund und weißer Aufschrift hängenblieb. Ich zog sie heraus. „Queen – The Miracle“ stand in roten Großbuchstaben auf einem blauen Hintergrund. Ich lächelte. Auf dem Cover waren die Gesichter der vier Bandmitglieder abgebildet. Das wäre an und für sich nichts Besonderes, aber das traf es eben nicht so ganz: Alle vier Gesichter saßen auf einem einzigen Hals, und ihre Augen und Haare gingen nahtlos ineinander über. Man musste ganz genau hinschauen, um zu sehen, welches Auge zu wem gehörte. Einen Moment betrachtete ich das Cover. Mein Daumen strich über die Hülle. Dann stellte ich sie zurück ins Regal.

Ich drehte mich um und ließ den Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Es war ein schönes Zimmer. Nicht sehr groß und nicht sehr hell, aber gemütlich. Ein Sofa zum Entspannen, ein Tisch zum Essen, eine Küche, ein Fernseher, eine Wand voll CDs … alles war da. Und trotzdem. Irgendwas fehlte. Etwas … natürlich, die Uhr. Die hatte ich doch eigentlich gesucht. Damit ich wusste, wie spät es war. Wie viel Zeit ich noch hatte, bis ich ins Hotel musste, zum Flughafen. Zurück zu mir.

Aber auch hier hing nirgendwo eine, und in der Küche gab es zwar einen Ofen, aber der hatte keine Leuchtanzeige. Ich stieß die Luft aus. Na gut, dann musste eben mein Handy herhalten. Das war sowieso ein guter Gedanke. Schließlich hatte ich seit gestern Abend um kurz vor halb sieben nicht mehr draufgeschaut, konnte also gut sein, dass ich etwas verpasst hatte. Etwas Wichtiges, im Mannschaftschat oder so. Genau.

Jetzt suchte ich mit den Augen den Boden ab. Mein Handy steckte in meiner Jeans, aber die sah ich nicht, genauso wenig wie den Rest meiner Klamotten. Ich biss mir auf die Oberlippe. Ich würde doch nicht wirklich in Boxershorts in den Hausflur gehen müssen, oder?

Ich versuchte, mich zu orientieren. Die Tür in der Wand rechts von mir, neben dem Fernseher, führte ins Schlafzimmer. Aber gegenüber, in dem Wandvorsprung, neben dem links die Küchennische war, gab es noch eine Tür, und ich meinte mich zu erinnern, dass ich gestern Nacht auf dem Weg ins Bad genau da durchgegangen war – vom Schlafzimmer aus rechts um die Ecke. Ich drückte die Klinke hinunter – vorsichtig, weil Ramin ja nebenan schlief – spähte durch den Spalt und seufzte erleichtert. Hinter der Tür lag ein kleiner, quadratischer Eingangsbereich, der mit Fliesen ausgelegt war, und dort lagen auf einem Haufen zwei paar Jeans, die eine schwarz, die andere blau, und zwei T-Shirts. Ich trat hinein, fand den Lichtschalter, schloss die Tür hinter mir, ging in die Hocke und suchte nach den Taschen der blauen Jeans. Um an die richtige zu kommen, musste ich erst das Bein wieder auf rechts drehen. Meine Güte, hatten wir es eilig gehabt gestern.

Mein Handy war zum Glück noch da und noch ganz. 08:42, sagte die Symbolleiste. Ich atmete aus. Ich hätte es später geschätzt, aber das war ganz entspannt. Mein Flugzeug ging ja erst um eins. Ich nahm den Flugmodus heraus, den ich gestern für die Vorstellung eingeschaltet hatte, und wartete ein paar Sekunden, aber nichts passierte. Kein WhatsApp, keine E-Mails, nichts. Ich atmete durch und richtete mich auf. Was jetzt? Anziehen und gehen?

Meine Füße kribbelten. Die Fliesen waren echt viel kälter als das Parkett. Wo waren überhaupt meine Socken? Ich sah mich in der Garderobe um, fand aber nur meine Schuhe, achtlos zu Boden gepfeffert. Die Socken mussten wohl doch noch im Schlafzimmer sein, vielleicht unterm Bett oder so. Sollte ich mich reinschleichen und sie holen? Aber was dann? Wollte ich wirklich einfach so verschwinden, ohne ein Wort? Aber wecken wollte ich Ramin auch nicht. Und tatenlos hier rumstehen war auch blöd.

Ich drehte mich wieder in Richtung Wohnzimmer, aber auf halbem Weg blieb mein Blick hängen. In der Wand rechts von mir war noch eine Tür – zum Bad, natürlich. Ich schaltete das Licht an und sah mich auch hier zum ersten Mal richtig um. Auch dieser Raum war klein, Toilette, Waschbecken, darüber ein Spiegel, und an der hinteren Wand erstreckte sich über die ganze Breite eine bodengleiche Dusche mit gläserner Schiebetür.

Oh ja. Duschen war eine herrliche Idee. Sicher hatte Ramin nichts dagegen, und vielleicht würde er währenddessen ja von selbst aufwachen. Außerdem würde ich dann noch hierbleiben können. Nicht lange, nur noch ein bisschen. In seiner Dusche duschen, mich mit seinem Shampoo einseifen … seinen Geruch noch ein bisschen mit mir herumtragen …

Ich legte das Handy auf dem Wandvorsprung über dem Waschbecken ab, schnappte mir meine Jeans und mein T-Shirt, legte sie im Bad etwas ordentlicher als zuvor auf den Boden, streifte die Boxershorts ab und legte sie dazu. Dann schob ich die Tür zur Seite, trat ein, schloss sie wieder und drehte das Wasser auf. Der Duschkopf war oben fixiert. Alles, was ich tun musste, war, mich unter den Strahl zu stellen und die Augen zu schließen. Ich legte den Kopf in den Nacken und atmete. Ruhe. Alleinsein. Warmes Wasser.

Ich spürte, wie die Spannung aus meinen Muskeln wich. Alles war gut. Mir ging es gut, mir war warm, ich duschte, ich würde morgen in die Vorbereitung starten, und ich hatte nichts verpasst. Keiner hatte mich vermisst, keiner hatte etwas gemerkt. Niemand wusste, dass ich hier gewesen war. Dass ich mitgegangen war … mit ihm … dass er mich verführt hatte und ich ihn gelassen hatte … dass er … dass ich … dass wir …

Mein Atem hatte sich beschleunigt. Ich öffnete die Augen, schüttelte den Kopf, dass Wassertropfen aus meinem Haar stoben, und drehte mich um, sodass ich mit dem Gesicht zur Wand stand. Niemand wusste, dass ich hier gewesen war. Niemand – außer er. Und jetzt? Was sollte ich jetzt machen? Was wusste er über mich?

Er wusste, wie ich aussah. Und meinen Vornamen. Und, dass ich regelmäßig Sport trieb, denn das war nicht zu übersehen. War das genug? Würde er wissen, wer ich wirklich war? Wusste er es längst? Und wenn er es nicht wusste – würde ich es ihm dann sagen?

Bist du verrückt, klang es durch meinen Kopf. Dann hat er dich in der Hand!

Und wenn er es längst weiß? Diese Stimme war leiser, sanfter, und sie saß tiefer. Sie kam mehr aus dem Bauch.

Unsinn. Das hätte er längst gesagt. Du bist sicher, solange du die Klappe hältst.

Aber wenn er mich erkennt? Irgendwann, später?

Ein Schnauben. Ja, sicher. Weil natürlich jeder Mensch in England einen neunzehnjährigen Bundesligaspieler mit fünfundzwanzig Einsätzen und null Toren erkennen würde. Aber immerhin mit neun Gelben Karten. Für wen hältst du dich eigentlich?

Aber wenn er irgendwann ein Foto sieht! Die leise Stimme ließ nicht locker. So feuerrotes Haar wie ich, das hat sonst niemand. Dann würde er mich erkennen. Bestimmt. Und wenn ich es ihm dann nicht gesagt habe, dann … dann erzählt er es vielleicht herum.

Schweigen.

Die Stimme aus meinem Bauch fuhr fort, lauter und fester. Und außerdem, wie steh ich denn da, wenn ich es ihm jetzt nicht sage und dann findet er‘s irgendwann selber raus? Wird er nämlich bestimmt, und dann wird’s nicht lustig. Das wäre ja dann, als hätte ich gelogen. Ich hätte dann gelogen! Wie soll ich ihm das denn dann erklären?

Jetzt meldete sich die andere Stimme wieder. Mit einem kreischenden Lachen. DAS ist es also, was? Davon träumst du also, du erbärmlicher Idiot? Dann hör jetzt genau zu: DAS IST EGAL, WEIL DU IHN NIE WIEDERSEHEN WIRST. NIE. NIE, NIE, NIE!

Ein Knirschen hinter mir. Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich fast auf dem nassen Boden ausgerutscht wäre.

„Keine Panik.“ An Ramins Stimme hörte ich, dass er grinste. „Das hier ist nicht so eine Duschszene.”

Wieder ein Knirschen, dann ein Klacken. Er berührte mich nicht, aber trotzdem spürte ich seinen Körper hinter mir wie einen Hitzestrahler.

Ich atmete tief ein und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. „Du bist aufgestanden.“

„Ich stehe immer.“ Seine Stimme war dunkel, vibrierend, und er grinste noch breiter.

Ich sah wieder über die Schulter. Diesmal schaute ich richtig hin. „Na ja.“ Auch ich grinste jetzt. „Teile von dir zumindest.“

„Unverschämter Bengel!“ Mit einem Schritt war er bei mir, presste meinen Körper mit seinem gegen die Wand. Seine Lippen waren so nah an meinem Gesicht, dass ich ihre Bewegung an meinem Ohrläppchen spürte. „Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, ich sollte dir –“ Seine Zungenspitze tippte mein Ohrläppchen an, und seine Hände fuhren von meinen Schultern hinab, meinen Rücken entlang, meine Hüfte. „– den Hintern versohlen.“ Das Klatschen übertönte das Rauschen des Wassers. Seine Zähne schlossen sich sanft um mein Ohrläppchen.

Ich war zusammengezuckt und hatte ein gepresstes Keuchen ausgestoßen. Jetzt verzogen meine Lippen sich wieder zu einem Grinsen. „Meinst du? Ja, ich schätze … das solltest du …”

Neben meinem Ohr hörte ich das Ratschen eines Plastikpäckchens. Ich schloss die Augen, die Wange an die kühlen Fliesen gepresst, Ramins lodernder Körper an meinem Rücken.

 

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Referenzen:

 

„The Miracle“ – Album von Queen (Freddie Mercury, Brian May, John Deacon, Roger Taylor). Produziert von Queen und David Richards (1989). Coverdesign von Richard Gray, basierend auf einer Idee von Queen.

 

Zitat „Keine Panik. Das hier ist nicht so eine Duschszene.” – Aus der amerikanischen Version der TV-Serie „Queer as Folk“, Season 2, Episode 19, „Bowling for Equality“. Drehbuch von Efrem Seeger, Michael MacLennan, Matt Pyken und Michael Berns, Story von Ron Cowen und Daniel Lipman, Regie von Michael DeCarlo. Originalversion „Relax. It’s not that kind of a shower scene“, in der Serie übersetzt mit „Sei locker. Diese Art von Duschszene ist das nicht“.

Chapter 8: Masquerade

Chapter Text

  1. Kapitel: Masquerade

 

„So how old are you?“

Zwischen zwei Bissen Marmeladentoast sah Ramin mich erwartungsvoll an. Er saß mit dem Rücken zur Küchenzeile, ich gegenüber und hielt meine Kaffeetasse in den Händen. Er war mittlerweile beim dritten Toast angelangt. Der Rest von meinem ersten lag noch auf meinem Teller. Dass ich überhaupt hier frühstückte, war von ihm ausgegangen – als er das Bad verlassen hatte, hatte er mir ein lockeres „Toast and coffee all right?“ dagelassen, auf das ich einigermaßen perplex mit „Er – yes“ reagiert hatte. Während ich mich angezogen hatte und hinter ihm her ins Wohnzimmer gegangen war, waren pausenlos Fragen durch meinen Kopf gewirbelt.

Was hieß das jetzt? Hieß es, dass ich ihm gefiel? Dass er neugierig war? Dass er mich kennenlernen wollte, also wirklich mich und nicht nur meinen Körper? Oder behielt er alle Typen, die er aufgabelte, am nächsten Morgen noch zum Frühstück da?

An diesem Punkt hatte sich mein Magen zusammengezogen, und das tat er auch jetzt wieder. Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte, den bitteren Geschmack in meiner Kehle zurückzudrängen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf Ramins Frage und kriegte mit einiger Anstrengung sogar ein Grinsen auf mein Gesicht. „How old do you think I am?”

Ramin steckte sich den letzten Bissen Toast in den Mund, kaute, schluckte, lehnte sich zurück und musterte mich. Mir wurde warm. Er grinste. „Stand up.“

Ich lachte. Sogar ich hörte, wie nervös es klang. „Why?“

Jetzt teilte sein Grinsen seine Lippen. Mir schoss das Bild eines Panthers, der sich genüsslich an seine sichere Beute anschlich, durch den Kopf. „I have to study the evidence. Come on.”

Ich stellte meine Tasse auf den Tisch und erhob mich. Ramin beschrieb mit dem Zeigefinger in der Luft eine Kreisbewegung. „Turn around.“

Ach so. Meine Güte. Ernsthaft? Ich lachte. Eigentlich hätte ich es mir denken können. Ramins Blick ließ mich nicht los. Seine Augen blitzten.

Jetzt grinste ich auch. Dass mein Hintern wirklich der wichtigste Anhaltspunkt für ihn sein sollte, um mein Alter einzuschätzen, bezweifelte ich zwar, aber wenn er eine Show wollte, konnte er sie kriegen. Es war ja nicht so, als hätte er nicht eh schon alles gesehen. Ich pendelte mein Grinsen irgendwo zwischen lasziv und lüstern ein und drehte mich ruckartig um. Mit den Händen hob ich den Saum meines T-Shirts an, stemmte sie in die Hüften und ließ die Muskeln spielen. Über die Schulter sah ich ihn an. „Well? What does the evidence say?”

„It’s inconclusive.“ Lasziv und lüstern grinsen konnte er auch. „It warrants prolonged investigation.“

Ich lachte. Oh yeah. He does like me.

Ich gab ihm ein paar Sekunden, dann nahm ich die Hände von den Hüften, drehte mich um und setzte mich wieder. „That’s enough. Your verdict, now, if you please, Your Honour.”

Er legte die Lippen aufeinander und runzelte in gespielter Konzentration die Stirn. „After careful examination of all the evidence, I hereby declare that you’re … twenty.”

Ich grinste. Ziemlich gut, vor allem, wenn man bedachte, dass die meisten Leute mich eher zwei bis drei Jahre zu alt schätzen. Aber die urteilten natürlich auch nach anderen Kriterien. „Almost. I’m nineteen.“

Er hob die Augenbrauen. „Really?“

„Well, nineteen and a half. I turn twenty in January.”

Er grinste. „Wow. Must be one of my youngest fucks ever.”

Ein Fausthieb in den Magen. Das Grinsen rutschte mir vom Gesicht, und einen Moment konnte ich nicht atmen. Idiot. Was hast du denn gedacht? Dass du dich für ihn von der Masse abhebst, nur weil er deinen Arsch noch mal in Ruhe anschauen will?

Ich zwang meine Mundwinkel wieder nach oben. Er sollte bloß nichts merken. Am besten schnell was sagen. Irgendwas. „So you actually do this every night, do you? I mean …” Ich gestikulierte Richtung Schlafzimmertür.

Jaaa, hervorragend, lad ihn doch noch ein, das in allen Einzelheiten auszubreiten! Ist ja nicht so, dass die Vorstellung schon schlimm genug ist, oder? Das Lächeln tat so weh, dass es wie eine Grimasse aussehen musste.

Ramin dagegen grinste immer noch ganz locker. „Well, not necessarily every night. There’s no obligation, you know? But I go to the clubs. I check out the guys. And when I see something I like, I take it.”

Unter dem Tisch ballten sich meine Hände zu Fäusten. Mein Zwangslächeln war verschwunden. „Unless they turn you down.” Ich war selbst überrascht, wie ruhig meine Stimme klang.

„Other guys are turned down. Not me.” Ramin saß da, in den Stuhl zurückgelehnt, grinsend, entspannt, badend in seiner eigenen Ausstrahlung. Was war er arrogant. Aber log er?

Jetzt war ich es, der ihn musterte. Seine leicht gehobenen Augenbrauen, seine funkelnden Augen, sein Grinsen, das vor Selbstsicherheit nur so strotzte, seine Wangen, die Licht und Hitze auszustrahlen schienen. Nein, ich glaubte nicht, dass er log. Ich dachte daran, wie er mich gestern in den Gang gezogen hatte, an seinen Blick, seine Worte, seine Gesten, daran, wie er mich selbst während der Aufführung schon ausgesondert und schon da mit dem Verführen angefangen hatte. Von Anfang an hatte er mit seinem ganzen Verhalten nichts anderes gesagt als Sex, Sex, Sex. Ohne Verstecke, ohne Drumrumreden, ohne Getue. Einfach und hart und ehrlich. Natürlich kassierte er von niemandem einen Korb. Von mir hatte er ja auch keinen bekommen.

Wie viele Männer hatten wohl schon auf genau diesem Stuhl gesessen? Wie viele waren unter seiner Dusche gestanden, wie viele hatten in seinem Bett gelegen? Ich sah das Funkeln in seinen Augen, sah, wie er mit genau diesem Blick andere Männer fixierte, in seinen Bann zog, wehr- und willenlos machte. Nicht log und sich nicht verstellte, und ihnen doch für diesen einen Moment das Gefühl gab, der Einzige zu sein.

Plötzlich konnte ich den Blickkontakt nicht mehr ertragen. Ich sah hinunter auf meinen Teller, auf dem immer noch der Rest Toast lag, und steckte ihn mir in den Mund, nur, um etwas zu tun zu haben. Zwischen meinen Zähnen wurde er zu einer breiigen Masse. Ich musste mich anstrengen, um zu schlucken.

„You’re German, right?“

Ich riss den Kopf hoch. Wäre mein Mund nicht schon leer gewesen, hätte ich mich sicher fürchterlich verschluckt. Ich dachte, er weiß es nicht. Ich war mir so sicher, er weiß es nicht! Warum hat er dann nicht schon längst was gesagt?

„So … so you do know who I am?”

Ramins Augenbrauen wanderten nach oben. „What?“

Ich starrte ihn an. Irgendwas war falsch. Er sah nicht wissend aus, nicht … triumphal. Nicht, als hätte er alle Karten in der Hand. Sein Blick, seine leicht geöffneten Lippen … verwirrt. Überrascht. „Wait. So … you don’t?”

“Don’t what?” Jetzt lag seine Stirn in Falten. „What do you mean, I know who you are? I thought you said you were … not Marius, but something – oh, Martin, yeah, that’s right, Martin.”

Das stach. Sogar jetzt, sogar durch die Flut Adrenalin. Nicht mal meinen Namen hatte er sich problemlos merken können.

„So what else is there to know?”

“Nothing.“ Ich fixierte die Tischkante. Ein paar Macken waren drin. Vielleicht schaffte er es ja nicht mit jedem Typen bis ins Schlafzimmer, bevor ihn die Gier überkam. Das Bedürfnis, zu fliehen, das vor ein paar Sekunden noch fast überwältigend gewesen war, war verschwunden. Ich war für ihn einer von vielen, ein namenloser Körper in einer endlos langen Reihe an Sparringspartnern. Wie sollte er mich auch erkennen? Wahrscheinlich hatte er mir kein einziges Mal wirklich ins Gesicht geschaut.

Ich hob den Kopf. Er sah immer noch einigermaßen verwundert aus. „So how did you know I was German, then?”

“Your accent.” Falls er den aggressiven Tonfall wahrgenommen hatte, ließ er sich nicht beirren. „You know, otherss, supposse, wass …” Das S am Ende sprach er hart aus. „Some other things. It’s slight, but typical German.” Er zuckte die Schultern und lachte. “So what were you talking about?“

Wieder senkte ich den Blick. „Nothing.“ Akzent, na toll. So viel zu deinem hervorragenden Englisch. Hättest du da nicht ein bisschen früher dran denken können? Wie redest du dich da jetzt wieder raus, hm?

„Come on! You just said I knew who you were. What does that mean, are you famous or something? Should I know you?”

Ich sah ihn an. Starrte auf das immer noch ungläubige Lächeln auf seinen Lippen, den leisen Spott in seinen Augen. Ein namenloser Körper, ja? Einer von vielen? Na wart’s mal ab.

Ich richtete mich auf. Meine Augen waren jetzt auf einer Höhe mit seinen. „I don’t know about should. But famous, yeah, I guess you could say that. I’m a professional football player. I play for the Hamburger SV, in the German Bundesliga.”

Stille. Ramins Augen hatten sich geweitet, und auch sein Mund stand leicht offen. Ich musste mich konzentrieren, um meine Züge unbewegt zu lassen. Selten hatte ein Schweigen so schön geklungen wie dieses.

Als Ramin sich schließlich genug gesammelt hatte, um es zu brechen, klang er trotzdem fassungslos. „You’re a professional football player?“

„Yes.“ Jetzt konnte ich nicht mehr verhindern, dass sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich.

„And you play in the first German league?”

“Yes.”

Er starrte mich an, plötzlich mit einem ganz anderen Fokus. Oh ja. Jetzt sah er mir ins Gesicht.

Er lehnte sich leicht nach vorne, als könne er so noch mehr Details entdecken. Dann schüttelte er den Kopf. „You don’t look at all familiar! I mean, I don’t exactly watch a lot a football, just internationals and stuff … What’s your last name?”

“Brant.” Ich lächelte breiter. Gerade hatte er kaum meinen Vornamen gewusst, jetzt wollte er auch meinen Nachnamen wissen. Und beides würde er garantiert nicht so schnell wieder vergessen.

Er studierte mich noch ein paar Sekunden, dann ließ er sich in die Lehne zurückfallen und schüttelte erneut den Kopf. „I’ve never heard of you. How long have you been playing at that level?“

„Just for a year.“ Er war so vor den Kopf geschlagen, da konnte ich ruhig ein bisschen einlenken. Und sowieso konnte ich nichts daran ändern – es war halt die Wahrheit. „And if you’re only watching internationals, you wouldn’t know me. I’ve only just finished my first year in adult football. But I’ve not done so badly.” Ich grinste. “I’m on my way.”

Ramin musterte mich immer noch. Sein Blick glitt von meinem Gesicht nach unten, über Brust und Bauch. „You do look the part of a football player.“ Er sah mir wieder in die Augen. Auf seinem Gesicht war das Grinsen zurück. „The guys must be lining up to fuck you when you go to the clubs.”

War da Neid in seiner Stimme? Missfallen? Nein. Nur Anerkennung und ein wenig Anzüglichkeit. Ich lachte trocken. „Yeah, right.“

„Don’t they?“ Seine Augenbrauen waren wieder gehoben. Er klang ernsthaft überrascht. Aber natürlich war das gespielt. Er machte sich einen Spaß daraus, mich auf den Arm zu nehmen.

Ich hatte keine Lust darauf. „I don’t go to clubs.”

Stille. Er lehnte sich leicht nach vorne. „What?“

„I don’t go to clubs.“ Ich sah ihm direkt in die Augen. „You know I don’t. I can’t.“

„What?“ Er lehnte sich noch weiter nach vorne. Seine ganze Stirn lag in Falten. „Why?“

Ich starrte ihn an. Auf seinem Gesicht stand Ungläubigkeit, Entsetzen. Keine Spur von Witzelei. Meinte er das wirklich ernst?

„Did you hear what I just said?” Ich wartete ab, wartete auf das Einsetzen von Verständnis in seinem Blick. Vergeblich. Langsam und deutlich, Wort für Wort, fuhr ich fort. „I’m a professional football player.”

“So?”

Ich lachte. Bestimmt sah ich mittlerweile mindestens so ungläubig aus wie er. „So I can’t go to gay clubs! I mean, don’t you think that’d be a bit of a give-away?”

“A give-away for what?” Aber dann, endlich, änderte sich seine Miene schlagartig. Er richtete sich auf. „Wait a minute. You mean, you’re not out?“ Auch sein Tonfall war anders. Aber nicht so, wie ich ihn erwartet hatte. Er klang nicht mehr verwirrt-ungläubig, jetzt klang er … aggressiv-ungläubig. Als könnte er nicht fassen, was er da hörte.

Ich konnte dagegen nicht fassen, was ich hörte. „Of course I’m not out! I’m a football player!”

Er gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Lachen und Schnauben lag. „What does that have to do with anything?“

„What does –“ Ich lachte auch. Es klang verzweifelt, aber längst nicht so verzweifelt, wie ich mich fühlte. „Ramin, professional football players aren’t gay! Period, end of story, basta. I mean –“ Ich gestikulierte mit beiden Händen, als könnte ich die Worte, die ich suchte, in der Luft finden. „Can you name a single one who is? Hm?“

Er fiel in die Lehne zurück. „Yeah, actually.“

Ich blinzelte. „What? Who?“

„You?“

Ich stieß den Atem aus. Und ich dachte schon. Der einzige andere Profifußballer, von dem ich wusste, dass er schwul war, war Thomas Hitzlsperger, und der hatte sich erst geoutet, als er seine Karriere schon beendet hatte. Vor anderthalb Jahren war das gewesen, und das hatte ich zwar wahnsinnig mutig gefunden und es hatte mir auch Mut gegeben, dass es richtig war, meinen Traum nicht aufzugeben, aber ein Outing nach der Karriere war eben trotzdem etwas anderes. „That’s not what I mean. I mean one who’s actually out, who has a boyfriend or a husband or something. Well? Can you?”

Ich starrte ihn an. Er starrte zurück. Ohne zu blinzeln. Aber auch ohne Antwort.

„See?“ In meiner Stimme lag Triumph. „There may be others like me, I don’t know. But no one’s ever gonna say. You don’t. As a professional footballer, you just don’t.”

Ramin sah mir immer noch in die Augen. In seinen las ich weiter Ungläubigkeit, aber auch eine Art Skepsis und eine Konzentration, mit der er mich bis jetzt noch nicht angeschaut hatte. Meine Fingerspitzen fingen an zu kribbeln. Ich musste mich anstrengen, um nicht wegzusehen.

„I see.“ Er sprach leise und ruhig. Aber unter diesem Tonfall lag ein Knistern. „And what is it you do say, then? What do you say when your teammates and your other friends ask if you have a girlfriend?”

Ich starrte ihn an. „Well, no, of course.“

„And if they ask why? If they want to know why a handsome, athletic, successful boy like you is happy on his own?”

„I say that I don’t have time, that I’d rather concentrate on football. Or that I haven’t found the right one yet. Things like that.”

Ramin presste die Lippen zusammen. Seine Augen zuckten Richtung Zimmerdecke. Was war nur los?

„Well, what else am I supposed to say?”

Ramins Blick schnellte zu mir zurück, und er lehnte sich so ruckartig nach vorne, dass ich den Rücken unwillkürlich gegen die Lehne presste. „I’m queer, I take it up the ass, and if you don’t like it, you can suck my dick?”

Wir starrten uns an. Nichts war zu hören außer seiner schweren Atemzüge. Ich dagegen atmete gar nicht. Vier Sekunden verstrichen, fünf, sechs. Das Echo seiner Worte hing zwischen uns im Raum. Dann erwachten mein Hirn und mein Mund aus ihrer Starre.

„I see.“ Ich nickte, lachte, zuckte die Schultern. „Sure. Great idea. I‘ll do that. I’ll tell everyone. My teammates, and the coaches, and the fans, and the press, everyone. And I’m sure it’ll be great, you know? I’ll feel really good about it. I mean, there’ll be just a few really minor drawbacks, like having my private life dragged through the media for months, and having homophobic insults shouted at me by the opposing fans, and having my teammates giving me funny looks when we’re in the changing room, and watching the whole club trying to explain and deal with my sexuality, and always being referred to as ‘the gay one’ in every article, every match commentary, every social media post ever made about me, and never, ever being able to just be a normal football player ever again in my whole life! But what does that matter, really, just so long as I’ll have had the pleasure of telling everyone I know that I ‘take it up the ass, and if they don’t like it, they can suck my dick’?”

Ich brach ab, bevor ich wirklich anfing, zu brüllen. Jetzt war ich es, der schwer atmete, und jetzt biss ich mir auf die Zunge und presste die Lippen aufeinander. Ich wollte mich nicht aufregen. Ich wollte nicht mit ihm streiten. Aber warum vertrat er diese lächerliche Position? Ein Profifußballer, offen homosexuell. Und er tat so, als wäre es selbstverständlich.

„Don’t you think you‘re exaggerating?” Seine Stimme war leise. Er hatte sich zurückgelehnt, und die Aggressivität war aus seinem Gesicht verschwunden. Jetzt lag Zweifel in seinem Blick, Nachdenklichkeit, und immer noch diese intensive Konzentration.

„No. I’m not.“

Wenn, dann hatte ich sogar noch untertrieben. Von den gegnerischen Fans würde es sicher Beleidigungen geben, aber das war eh schon so und richtete sich gegen jeden Spieler, der aus ihrer Sicht das falsche Trikot trug, unabhängig von der Sexualität. Noch mehr Angst hatte ich, was das anging, vor unseren eigenen Fans. Einer der schlimmsten Momente der letzten Saison war das Nordderby gegen Werder am zwölften Spieltag gewesen, als wir zu Hause gespielt und durch zwei späte Tore sogar zwei zu null gewonnen hatten. Ich hatte durchgespielt, und eigentlich hätte es ein Highlight sein sollen – Derbysieg, Sprung aus den Abstiegsplätzen. Aber Mitte der zweiten Halbzeit war im linken Teil der Nordtribüne ein Spruchband ausgerollt und minutenlang hochgehalten worden, und nachdem ich während einer Wechselunterbrechung zu den Fans geschaut und es gelesen hatte, hatte ich die restlichen gut zwanzig Minuten mit einem Eisklotz im Magen zu Ende gespielt. Schwarz auf weiß hatte in Großbuchstaben auf dem Banner gestanden „GANZ BREMEN IST SCHWUL – BESONDERS DER WERDER HOOL“. Unsere Tore hatte ich nur alibimäßig bejubelt, und ich hatte mich zwingen müssen, nach dem Spiel mit vor die Kurve zu gehen. Immer wieder hatte ich mir vorgebetet, dass es nur eine Minderheit war, dass die meisten Fans entsetzt über dieses Banner sein würden. Aber was diese Minderheit tun würde, wenn sich ein Spieler ihres eigenen Vereins … Ich unterdrückte ein Schaudern. Ich würde mich nicht zur Zielscheibe für diese Leute machen. Nie, niemals.

Ramin fixierte mich immer noch. Einige Sekunden war es still. Dann atmete er aus. „If you say so.“ Er nahm seine Tasse vom Tisch und trank einen Schluck. „But you know, if every gay player had just spoken out, I bet it wouldn’t be a problem now.”

Ich stieß die Luft aus. GANZ BREMEN IST SCHWUL … “Well, maybe. But they didn’t. And I’m sure as hell not going to be the first.”

Stille. Dann seufzte er. „Well, it’s your business.“

Seine Haltung drückte Resignation aus. Aber in seinen Augen lag immer noch etwas, das mich verunsicherte. Es war einfach zu offensichtlich, wie wenig ihm das Ganze gefiel, und ich konnte nicht gehen, ohne sicher zu sein, dass er dichthalten würde.

„That’s right.“ Jetzt lehnte ich mich nach vorne. „So don’t say anything, okay? Hardly anyone knows I’m gay. Just two others, in fact. My ex and my best friend. And now you. So … just … don’t tell anyone I was here, okay? Please.”

Ich biss mir auf die Unterlippe. Eigentlich hatte ich befehlen wollen. Aber irgendwie … konnte ich es nicht.

Er erwiderte meinen Blick. Seine Augen verengten sich leicht. Ich wollte schlucken und konnte nicht. Wenn er mich jetzt fallen ließ … GANZ BREMEN IST SCHWUL … Nie wieder würde ich einfach ich sein können.

„I won’t.“

Zwei Worte. Ich sog die Luft ein. Mir war schwindelig, und meine Finger zitterten. Gott sei Dank.

Ramin sah mir immer noch in die Augen. „Like I said, it’s your business. But it’s a goddamn waste.” Er lachte, ohne einen Funken Humor. „I mean, you’re nineteen, you’re hot – you should be out there fucking everything that moves.”

Ich blinzelte. You’re hot. Einen Herzschlag stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich kein Fußballer wäre. Sondern Student, Auszubildender, irgendwas. Nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Nur ich. Langsam schüttelte ich den Kopf. „I wouldn’t do that anyway. That’s just … that isn’t me.”

Wir sahen uns an. Er schwieg. In den Höhlen seiner dunkelbraunen Augen brannte das Feuer. In meinem Kopf sah ich diese Augen funkeln, hörte ich seine Stimme, spürte seine Hände, seinen Körper, seine Lippen. You should be out there fucking everything that moves.

Er war … anders. So anders als ich. Und doch hatten wir zueinander gefunden. Für einen Abend, eine Nacht, einen Morgen. Um uns jetzt wieder zu trennen.

Komm schon. Fang an. Steh auf. Du musst es sowieso tun.

Ich schluckte. Ich musste gehen. Ich wollte gehen. Ich wollte bleiben. Nie wieder gehen. Bei ihm sein. Für immer.

Zittrig holte ich Luft. Meine Hand tastete nach meinem Handy. Ein Knopfdruck mit dem Daumen. 9:58. Ich schaute wieder hoch. Ramin beobachtete mich. Irgendwie kriegte ich ein Lächeln auf meine Lippen. „I have to go. I’ve a … plane to catch.“

Ich stand auf. Ramin erhob sich ebenfalls. Er ging voraus zur Tür und öffnete sie. Im Durchgang blieb er stehen. Meine gefühllosen Beine setzten sich in Bewegung. Ein Schritt, zwei, drei, vier. Im Türrahmen hielt ich inne. Wir standen voreinander, er etwas größer, ich etwas kleiner, so nah aneinander wie gestern im Gang hinter dem Saal. Ich schaute zu ihm hinauf. Jeden seiner Atemzüge spürte ich sanft an der Nasenspitze.

„Good luck this season.“

“If you want to see a match one day, you’re always welcome.” Die Worte waren draußen, bevor ich sie herunterschlucken konnte.

Seine Lippen verzogen sich. „We’ll see.“

Ich lächelte auch. Einen Moment verharrte ich noch, dann gab ich mir einen Ruck, glitt in den Eingang und zog meine Schuhe an. Taschen kontrollieren – Handy da, Geld da. Ich richtete mich auf und drehte mich noch mal um. Er stand immer noch an den Rahmen gelehnt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Augen auf mich gerichtet. Einen Herzschlag stand ich da. Es war Wahnsinn. Ich musste los. Aber –

Ein Schritt, und ich war bei ihm. Hände an seinen Hals, ein bisschen strecken, Augen zu. Meine Lippen. Seine Lippen. Schmecken. Fühlen. Bilder im Kopf.

Es dauerte nicht mal zwei Sekunden, bis ich ihn wieder losließ und zurücktrat. Aber es war genug, um alles wieder aufleben zu lassen. Und doch nicht genug, um – um –

Aber dafür würde nichts genug sein. Jedenfalls nichts, was ich jetzt noch bekommen konnte. Und wenn ich jetzt nicht ging, würde ich es niemals tun.

Ramin war einfach stehengeblieben. Er hatte mich weder weggestoßen noch zu sich hergezogen. Ich lächelte. Ich fragte mich, ob meine Augen glänzten. Bitte nicht. „Thank you.“ Meine Stimme war ein Hauch. Aber wenigstens zitterte sie nicht.

Ich drehte mich um, zog die Wohnungstür auf und trat hindurch. Ein Fuß nach dem anderen lief ich die Treppenstufen hinunter. Als ich unten die Haustür öffnete, hörte ich, wie über mir die Wohnungstür zufiel.

 

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Referenz: „Masquerade“ – aus dem Musical „ The Phantom of the Opera“ von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

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Das queerfeindliche Banner auf der Nordtribüne, an das Martin sich erinnert, habe ich mir leider nicht ausgedacht. Der tatsächliche Wortlaut war „GANZ MV IST SCHWUL – BESONDERS DER HANSA HOOL“, und gezeigt worden ist es am 24.07.2022, dem 2. Spieltag der Saison 2022/23, im Spiel gegen Hansa Rostock. Es gibt wenige Momente, in denen ich mich so sehr dafür geschämt habe, HSV-Fan zu sein, wie den, in dem ich dieses Banner gelesen habe. Das Spiel hat mich den ganzen restlichen Tag belastet, und das hatte nichts mit der Niederlage zu tun. Ich habe ständig darüber nachgedacht, wie es sein kann, dass das passiert, 2022, zu Zeiten von Regenbogeneckfahnen, Regenbogenkapitänsbinden, Regenbogentrikotwerbung und Aktionen wie „Ihr könnt auf uns zählen!“. Abends vor dem Einschlafen habe ich mich dann gefragt, wie Martin wohl reagiert hätte, wenn er auf dem Platz gestanden und dieses Banner gesehen hätte. Und sofort wusste ich, dass das kein hypothetisches Szenario bleiben darf. Ich habe mir auf den Schreibtisch eine Notiz gelegt, damit ich es ja nicht vergesse, und am nächsten Tag habe ich die Geschichte um den Vorfall ergänzt. Ich habe ihn acht Jahre zurück- und von Derby zu Derby versetzt, aber sonst Martin alles genau so schildern lassen, wie es meiner Erinnerung entspricht. In der realen Welt gab es dann im darauffolgenden Heimspiel Flugblätter, die auf der Nordtribüne verteilt wurden und auf denen das Banner verurteilt wurde, aber die Tatsache, dass es überhaupt passiert ist, macht mich immer noch so wütend, dass ich gar nicht weiß, wie ich dem Ausdruck verleihen soll. Ich schätze, deswegen war es mir auch so ein Bedürfnis, es in diese Geschichte einzubauen – damit natürlich ihr als Leser, aber auch ICH immer daran erinnert werde, dass es diesen Vorfall gab, dass in Sachen Abbau von Queerfeindlichkeit im Profifußball immer noch sehr viel Arbeit vor uns liegt und dass alle, die dem Profifußball in irgendeiner Weise verbunden sind – als Funktionär, als Spieler, als Journalist, als Fan, ganz egal –, ihren Teil dazu beitragen müssen.

 

(Der Gipfel – nicht, dass es einen Gipfel gebraucht hätte, aber es gab ihn halt trotzdem – war übrigens, dass dieses Heimspiel gegen Rostock, in dem das Banner gezeigt worden ist, das erste Spiel nach dem Tod von Uwe Seeler war. Über dem Unterrang der Nordtribüne, wo das Banner hochgehalten wurde, hing während des gesamten Spiels ein Spruchband zu seinen Ehren: „LOYAL UND BESCHEIDEN – DER GRÖSSTE ALLER ZEITEN“. Und darunter dann diese queerfeindliche … [insert swear word of your choice]. Na ja. Wie gesagt, es macht mich sprachlos.)

 

Chapter 9: Masquerade - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Masquerade

 

„Und, wie alt bist du?“

Zwischen zwei Bissen Marmeladentoast sah Ramin mich erwartungsvoll an. Er saß mit dem Rücken zur Küchenzeile, ich gegenüber und hielt meine Kaffeetasse in den Händen. Er war mittlerweile beim dritten Toast angelangt. Der Rest von meinem ersten lag noch auf meinem Teller. Dass ich überhaupt hier frühstückte, war von ihm ausgegangen – als er das Bad verlassen hatte, hatte er mir ein lockeres „Toast und Kaffee okay?“ dagelassen, auf das ich einigermaßen perplex mit „Ähm – ja“ reagiert hatte. Während ich mich angezogen hatte und hinter ihm her ins Wohnzimmer gegangen war, waren pausenlos Fragen durch meinen Kopf gewirbelt.

Was hieß das jetzt? Hieß es, dass ich ihm gefiel? Dass er neugierig war? Dass er mich kennenlernen wollte, also wirklich mich und nicht nur meinen Körper? Oder behielt er alle Typen, die er aufgabelte, am nächsten Morgen noch zum Frühstück da?

An diesem Punkt hatte sich mein Magen zusammengezogen, und das tat er auch jetzt wieder. Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte, den bitteren Geschmack in meiner Kehle zurückzudrängen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf Ramins Frage und kriegte mit einiger Anstrengung sogar ein Grinsen auf mein Gesicht. „Wie alt schätzt du mich denn?”

Ramin steckte sich den letzten Bissen Toast in den Mund, kaute, schluckte, lehnte sich zurück und musterte mich. Mir wurde warm. Er grinste. „Steh auf.“

Ich lachte. Sogar ich hörte, wie nervös es klang. „Wieso?“

Jetzt teilte sein Grinsen seine Lippen. Mir schoss das Bild eines Panthers, der sich genüsslich an seine sichere Beute anschlich, durch den Kopf. „Ich muss die Beweismittel studieren. Mach schon.”

Ich stellte meine Tasse auf den Tisch und erhob mich. Ramin beschrieb mit dem Zeigefinger in der Luft eine Kreisbewegung. „Dreh dich um.“

Ach so. Meine Güte. Ernsthaft? Ich lachte. Eigentlich hätte ich es mir denken können. Ramins Blick ließ mich nicht los. Seine Augen blitzten.

Jetzt grinste ich auch. Dass mein Hintern wirklich der wichtigste Anhaltspunkt für ihn sein sollte, um mein Alter einzuschätzen, bezweifelte ich zwar, aber wenn er eine Show wollte, konnte er sie kriegen. Es war ja nicht so, als hätte er nicht eh schon alles gesehen. Ich pendelte mein Grinsen irgendwo zwischen lasziv und lüstern ein und drehte mich ruckartig um. Mit den Händen hob ich den Saum meines T-Shirts an, stemmte sie in die Hüften und ließ die Muskeln spielen. Über die Schulter sah ich ihn an. „Und? Was ergibt das Studium der Beweismittel?”

„Noch keine eindeutigen Ergebnisse.“ Lasziv und lüstern grinsen konnte er auch. „Ich muss sie einer eingehenderen Untersuchung unterziehen.“

Ich lachte. Oh ja. Ich gefalle ihm TOTAL.

Ich gab ihm ein paar Sekunden, dann nahm ich die Hände von den Hüften, drehte mich um und setzte mich wieder. „Das genügt. Euer Urteil, wenn ich bitten darf, Euer Ehren.”

Er legte die Lippen aufeinander und runzelte in gespielter Konzentration die Stirn. „Nach sorgfältigem Studium aller Beweismittel stelle ich hiermit fest, dass du … zwanzig bist.“

Ich grinste. Ziemlich gut, vor allem, wenn man bedachte, dass die meisten Leute mich eher zwei bis drei Jahre zu alt schätzen. Aber die urteilten natürlich auch nach anderen Kriterien. „Fast. Ich bin neunzehn.“

Er hob die Augenbrauen. „Echt?“

„Na ja, neunzehneinhalb. Ich werd im Januar zwanzig.”

Er grinste. „Wow. Muss einer meiner jüngsten Ficks ever sein.”

Ein Fausthieb in den Magen. Das Grinsen rutschte mir vom Gesicht, und einen Moment konnte ich nicht atmen. Idiot. Was hast du denn gedacht? Dass du dich für ihn von der Masse abhebst, nur weil er deinen Arsch noch mal in Ruhe anschauen will?

Ich zwang meine Mundwinkel wieder nach oben. Er sollte bloß nichts merken. Am besten schnell was sagen. Irgendwas. „Du machst das also wirklich jede Nacht, ja? Ich meine …“ Ich gestikulierte Richtung Schlafzimmertür.

Jaaa, hervorragend, lad ihn doch noch ein, das in allen Einzelheiten auszubreiten! Ist ja nicht so, dass die Vorstellung schon schlimm genug ist, oder? Das Lächeln tat so weh, dass es wie eine Grimasse aussehen musste.

Ramin dagegen grinste immer noch ganz locker. „Na ja, nicht unbedingt jede Nacht. Es gibt keine Verpflichtung, weißt du? Aber ich geh in die Klubs. Ich schau mir die Typen an. Und wenn ich was seh, das mir gefällt, nehm ich es mir.“

Unter dem Tisch ballten sich meine Hände zu Fäusten. Mein Zwangslächeln war verschwunden. „Solange sie dir keinen Korb geben.” Ich war selbst überrascht, wie ruhig meine Stimme klang.

„Andere Typen kassieren Körbe. Ich nicht.” Ramin saß da, in den Stuhl zurückgelehnt, grinsend, entspannt, badend in seiner eigenen Ausstrahlung. Was war er arrogant. Aber log er?

Jetzt war ich es, der ihn musterte. Seine leicht gehobenen Augenbrauen, seine funkelnden Augen, sein Grinsen, das vor Selbstsicherheit nur so strotzte, seine Wangen, die Licht und Hitze auszustrahlen schienen. Nein, ich glaubte nicht, dass er log. Ich dachte daran, wie er mich gestern in den Gang gezogen hatte, an seinen Blick, seine Worte, seine Gesten, daran, wie er mich selbst während der Aufführung schon ausgesondert und schon da mit dem Verführen angefangen hatte. Von Anfang an hatte er mit seinem ganzen Verhalten nichts anderes gesagt als Sex, Sex, Sex. Ohne Verstecke, ohne Drumrumreden, ohne Getue. Einfach und hart und ehrlich. Natürlich kassierte er von niemandem einen Korb. Von mir hatte er ja auch keinen bekommen.

Wie viele Männer hatten wohl schon auf genau diesem Stuhl gesessen? Wie viele waren unter seiner Dusche gestanden, wie viele hatten in seinem Bett gelegen? Ich sah das Funkeln in seinen Augen, sah, wie er mit genau diesem Blick andere Männer fixierte, in seinen Bann zog, wehr- und willenlos machte. Nicht log und sich nicht verstellte, und ihnen doch für diesen einen Moment das Gefühl gab, der Einzige zu sein.

Plötzlich konnte ich den Blickkontakt nicht mehr ertragen. Ich sah hinunter auf meinen Teller, auf dem immer noch der Rest Toast lag, und steckte ihn mir in den Mund, nur, um etwas zu tun zu haben. Zwischen meinen Zähnen wurde er zu einer breiigen Masse. Ich musste mich anstrengen, um zu schlucken.

„Du bist Deutscher, oder?“

Ich riss den Kopf hoch. Wäre mein Mund nicht schon leer gewesen, hätte ich mich sicher fürchterlich verschluckt. Ich dachte, er weiß es nicht. Ich war mir so sicher, er weiß es nicht! Warum hat er dann nicht schon längst was gesagt?

„Also … also weißt du doch, wer ich bin?”

Ramins Augenbrauen wanderten nach oben. „Was?“

Ich starrte ihn an. Irgendwas war falsch. Er sah nicht wissend aus, nicht … triumphal. Nicht, als hätte er alle Karten in der Hand. Sein Blick, seine leicht geöffneten Lippen … verwirrt. Überrascht. „Warte. Also … weißt dus doch nicht?”

“Weiß ich was nicht?” Jetzt lag seine Stirn in Falten. „Was soll das heißen, ich weiß, wer du bist? Ich dachte, du meintest, du bist … nicht Marius, aber so – ah, Martin, ja, richtig, Martin.“

Das stach. Sogar jetzt, sogar durch die Flut Adrenalin. Nicht mal meinen Namen hatte er sich problemlos merken können.

„Also was gibt’s da sonst noch zu wissen?“

„Nichts.“ Ich fixierte die Tischkante. Ein paar Macken waren drin. Vielleicht schaffte er es ja nicht mit jedem Typen bis ins Schlafzimmer, bevor ihn die Gier überkam. Das Bedürfnis, zu fliehen, das vor ein paar Sekunden noch fast überwältigend gewesen war, war verschwunden. Ich war für ihn einer von vielen, ein namenloser Körper in einer endlos langen Reihe an Sparringspartnern. Wie sollte er mich auch erkennen? Wahrscheinlich hatte er mir kein einziges Mal wirklich ins Gesicht geschaut.

Ich hob den Kopf. Er sah immer noch einigermaßen verwundert aus. „Woher hast du denn dann gewusst, dass ich Deutscher bin?“

„Dein Akzent.” Falls er den aggressiven Tonfall wahrgenommen hatte, ließ er sich nicht beirren. „Du weißt schon, otherss, supposse, wass …” Das S am Ende sprach er hart aus. „Ein paar andere Sachen. Man hört es nur leicht, aber es ist typisch Deutsch.” Er zuckte die Schultern und lachte. „Und was meintest du eben?”

Wieder senkte ich den Blick. „Nichts.“ Akzent, na toll. So viel zu deinem hervorragenden Englisch. Hättest du da nicht ein bisschen früher dran denken können? Wie redest du dich da jetzt wieder raus, hm?

„Komm schon! Du hast grade gesagt, ich weiß, wer du bist. Was soll das heißen, bist du ein Promi oder so? Sollte ich wissen, wer du bist?“

Ich sah ihn an. Starrte auf das immer noch ungläubige Lächeln auf seinen Lippen, den leisen Spott in seinen Augen. Ein namenloser Körper, ja? Einer von vielen? Na wart’s mal ab.

Ich richtete mich auf. Meine Augen waren jetzt auf einer Höhe mit seinen. „Sollte weiß ich nicht. Aber ein Promi, ja, ich schätze, das könnte man so sagen. Ich bin Profifußballer. Ich spiele für den Hamburger SV, in der deutschen Bundesliga.“

Stille. Ramins Augen hatten sich geweitet, und auch sein Mund stand leicht offen. Ich musste mich konzentrieren, um meine Züge unbewegt zu lassen. Selten hatte ein Schweigen so schön geklungen wie dieses.

Als Ramin sich schließlich genug gesammelt hatte, um es zu brechen, klang er trotzdem fassungslos. „Du bist Profifußballer?“

„Ja.“ Jetzt konnte ich nicht mehr verhindern, dass sich ein Lächeln auf meine Lippen schlich.

„Und du spielst in der höchsten deutschen Liga?”

“Ja.”

Er starrte mich an, plötzlich mit einem ganz anderen Fokus. Oh ja. Jetzt sah er mir ins Gesicht.

Er lehnte sich leicht nach vorne, als könne er so noch mehr Details entdecken. Dann schüttelte er den Kopf. „Du kommst mir überhaupt nicht bekannt vor! Ich mein, ich schau jetzt nicht unbedingt viel Fußball, nur Länderspiele und so … Wie heißt du denn mit Nachnamen?“

“Brant.” Ich lächelte breiter. Gerade hatte er kaum meinen Vornamen gewusst, jetzt wollte er auch meinen Nachnamen wissen. Und beides würde er garantiert nicht so schnell wieder vergessen.

Er studierte mich noch ein paar Sekunden, dann ließ er sich in die Lehne zurückfallen und schüttelte erneut den Kopf. „Ich hab noch nie von dir gehört. Wie lange spielst du schon auf dem Niveau?“

„Erst seit einem Jahr.“ Er war so vor den Kopf geschlagen, da konnte ich ruhig ein bisschen einlenken. Und sowieso konnte ich nichts daran ändern – es war halt die Wahrheit. „Und wenn du nur Länderspiele schaust, ist es kein Wunder, dass du mich nicht kennst. Ich hab grade erst mein erstes Jahr im Erwachsenenbereich hinter mir. Aber ich hab mich nicht so schlecht geschlagen.“ Ich grinste. “Meine Karriere geht ja grade erst los.”

Ramin musterte mich immer noch. Sein Blick glitt von meinem Gesicht nach unten, über Brust und Bauch. „Du siehst auf jeden Fall aus wie ein Fußballer.“ Er sah mir wieder in die Augen. Auf seinem Gesicht war das Grinsen zurück. „Die Typen stehen sicher Schlange, um dich zu ficken, wenn du in die Klubs gehst.“

War da Neid in seiner Stimme? Missfallen? Nein. Nur Anerkennung und ein wenig Anzüglichkeit. Ich lachte trocken. „Ja, klar.“

„Etwa nicht?“ Seine Augenbrauen waren wieder gehoben. Er klang ernsthaft überrascht. Aber natürlich war das gespielt. Er machte sich einen Spaß daraus, mich auf den Arm zu nehmen.

Ich hatte keine Lust darauf. „Ich geh nicht in Klubs.”

Stille. Er lehnte sich leicht nach vorne. „Was?“

„Ich geh nicht in Klubs.“ Ich sah ihm direkt in die Augen. „Das weißt du doch. Ich kann nicht.“

„Was?“ Er lehnte sich noch weiter nach vorne. Seine ganze Stirn lag in Falten. „Wieso?“

Ich starrte ihn an. Auf seinem Gesicht stand Ungläubigkeit, Entsetzen. Keine Spur von Witzelei. Meinte er das wirklich ernst?

„Hast du mir grade zugehört?” Ich wartete ab, wartete auf das Einsetzen von Verständnis in seinem Blick. Vergeblich. Langsam und deutlich, Wort für Wort, fuhr ich fort. „Ich bin Fußballprofi.”

“Na und?”

Ich lachte. Bestimmt sah ich mittlerweile mindestens so ungläubig aus wie er. „Na, und deswegen kann ich nicht in Schwulenklubs gehen! Ich mein, glaubst du nicht, das würde irgendwie dafür sorgen, dass ich auffliege?“

„Dass du auffliegst wofür?” Aber dann, endlich, änderte sich seine Miene schlagartig. Er richtete sich auf. „Moment. Du meinst, du bist nicht geoutet?“ Auch sein Tonfall war anders. Aber nicht so, wie ich ihn erwartet hatte. Er klang nicht mehr verwirrt-ungläubig, jetzt klang er … aggressiv-ungläubig. Als könnte er nicht fassen, was er da hörte.

Ich konnte dagegen nicht fassen, was ich hörte. „Natürlich bin ich nicht geoutet! Ich bin Fußballer!“

Er gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Lachen und Schnauben lag. „Was spielt denn das für eine Rolle?“

„Was spielt –“ Ich lachte auch. Es klang verzweifelt, aber längst nicht so verzweifelt, wie ich mich fühlte. „Ramin, Fußballprofis sind nicht schwul! Aus, vorbei, basta. Ich mein –“ Ich gestikulierte mit beiden Händen, als könnte ich die Worte, die ich suchte, in der Luft finden. „Kannst du mir einen einzigen nennen, der schwul ist? Hm?“

Er fiel in die Lehne zurück. „Ja, kann ich.“

Ich blinzelte. „Was? Wen?“

„Dich?“

Ich stieß den Atem aus. Und ich dachte schon. Der einzige andere Profifußballer, von dem ich wusste, dass er schwul war, war Thomas Hitzlsperger, und der hatte sich erst geoutet, als er seine Karriere schon beendet hatte. Vor anderthalb Jahren war das gewesen, und das hatte ich zwar wahnsinnig mutig gefunden und es hatte mir auch Mut gegeben, dass es richtig war, meinen Traum nicht aufzugeben, aber ein Outing nach der Karriere war eben trotzdem etwas anderes. „Das mein ich nicht. Ich mein jemanden, der wirklich geoutet ist, der einen Freund oder einen Mann hat oder so. Na? Fällt dir irgendjemand ein?“

Ich starrte ihn an. Er starrte zurück. Ohne zu blinzeln. Aber auch ohne Antwort.

„Siehst du?“ In meiner Stimme lag Triumph. „Vielleicht gibts noch andere wie mich, keine Ahnung. Aber niemand wird es je öffentlich machen. Das macht keiner. Als Fußballprofi macht man das einfach nicht.“

Ramin sah mir immer noch in die Augen. In seinen las ich weiter Ungläubigkeit, aber auch eine Art Skepsis und eine Konzentration, mit der er mich bis jetzt noch nicht angeschaut hatte. Meine Fingerspitzen fingen an zu kribbeln. Ich musste mich anstrengen, um nicht wegzusehen.

„Aha.“ Er sprach leise und ruhig. Aber unter diesem Tonfall lag ein Knistern. „Und was sagst du dann stattdessen, hm? Was sagst du, wenn deine Mannschaftskollegen und deine anderen Freunde dich fragen, ob du eine Freundin hast?“

Ich starrte ihn an. „Na, nein, natürlich.“

„Und wenn sie fragen, warum? Wenn sie wissen wollen, warum ein gutaussehender, sportlicher, erfolgreicher Junge wie du alleine glücklich ist?“

„Ich sag, dass ich keine Zeit hab, dass ich mich lieber auf Fußball konzentrier. Oder dass ich noch nicht die Richtige gefunden hab. Solche Sachen.“

Ramin presste die Lippen zusammen. Seine Augen zuckten Richtung Zimmerdecke. Was war nur los?

„Na ja, was soll ich denn sonst sagen?“

Ramins Blick schnellte zu mir zurück, und er lehnte sich so ruckartig nach vorne, dass ich den Rücken unwillkürlich gegen die Lehne presste. „Ich bin queer, ich lasse es mir von hinten besorgen, und wenn dir das nicht gefällt, kannst du meinen Schwanz lutschen?“

Wir starrten uns an. Nichts war zu hören außer seiner schweren Atemzüge. Ich dagegen atmete gar nicht. Vier Sekunden verstrichen, fünf, sechs. Das Echo seiner Worte hing zwischen uns im Raum. Dann erwachten mein Hirn und mein Mund aus ihrer Starre.

„Aha.“ Ich nickte, lachte, zuckte die Schultern. „Klar. Super Idee. Das mach ich. Ich sags allen. Meinen Mitspielern, und den Trainern, und den Fans, und der Presse, allen. Und es wird sicher super, weißt du? Ich werd mich richtig gut damit fühlen. Ich mein, es wird nur ein paar klitzekleine Nachteile geben, zum Beispiel, dass mein Privatleben monatelang in den Medien ausgebreitet wird, und dass die gegnerischen Fans mir schwulenfeindliche Schimpfwörter entgegenbrüllen, und dass meine Mitspieler mich in der Kabine schief anschauen, und dass ich zuschauen muss, wie der ganze Verein versucht, meine Sexualität zu erklären und damit klarzukommen, und dass ich in jedem Artikel, jedem Livekommentar, jedem Social-Media-Post, der je wieder über mich gemacht wird, immer als ‚der Schwule‘ bezeichnet werde, und dass ich nie, nie wieder einfach ein normaler Fußballprofi sein kann, mein ganzes Leben lang! Aber was spielt das schon für eine Rolle, solange ich das Vergnügen hatte, allen, die ich kenne, zu erzählen, dass ich ‚es mir von hinten besorgen lasse, und wenn ihnen das nicht gefällt, können sie meinen Schwanz lutschen‘?“

Ich brach ab, bevor ich wirklich anfing, zu brüllen. Jetzt war ich es, der schwer atmete, und jetzt biss ich mir auf die Zunge und presste die Lippen aufeinander. Ich wollte mich nicht aufregen. Ich wollte nicht mit ihm streiten. Aber warum vertrat er diese lächerliche Position? Ein Profifußballer, offen homosexuell. Und er tat so, als wäre es selbstverständlich.

„Meinst du nicht, du übertreibst?” Seine Stimme war leise. Er hatte sich zurückgelehnt, und die Aggressivität war aus seinem Gesicht verschwunden. Jetzt lag Zweifel in seinem Blick, Nachdenklichkeit, und immer noch diese intensive Konzentration.

„Nein. Ich übertreib nicht.“

Wenn, dann hatte ich sogar noch untertrieben. Von den gegnerischen Fans würde es sicher Beleidigungen geben, aber das war eh schon so und richtete sich gegen jeden Spieler, der aus ihrer Sicht das falsche Trikot trug, unabhängig von der Sexualität. Noch mehr Angst hatte ich, was das anging, vor unseren eigenen Fans. Einer der schlimmsten Momente der letzten Saison war das Nordderby gegen Werder am zwölften Spieltag gewesen, als wir zu Hause gespielt und durch zwei späte Tore sogar zwei zu null gewonnen hatten. Ich hatte durchgespielt, und eigentlich hätte es ein Highlight sein sollen – Derbysieg, Sprung aus den Abstiegsplätzen. Aber Mitte der zweiten Halbzeit war im linken Teil der Nordtribüne ein Spruchband ausgerollt und minutenlang hochgehalten worden, und nachdem ich während einer Wechselunterbrechung zu den Fans geschaut und es gelesen hatte, hatte ich die restlichen gut zwanzig Minuten mit einem Eisklotz im Magen zu Ende gespielt. Schwarz auf weiß hatte in Großbuchstaben auf dem Banner gestanden „GANZ BREMEN IST SCHWUL – BESONDERS DER WERDER HOOL“. Unsere Tore hatte ich nur alibimäßig bejubelt, und ich hatte mich zwingen müssen, nach dem Spiel mit vor die Kurve zu gehen. Immer wieder hatte ich mir vorgebetet, dass es nur eine Minderheit war, dass die meisten Fans entsetzt über dieses Banner sein würden. Aber was diese Minderheit tun würde, wenn sich ein Spieler ihres eigenen Vereins … Ich unterdrückte ein Schaudern. Ich würde mich nicht zur Zielscheibe für diese Leute machen. Nie, niemals.

Ramin fixierte mich immer noch. Einige Sekunden war es still. Dann atmete er aus. „Wenn du meinst.“ Er nahm seine Tasse vom Tisch und trank einen Schluck. „Aber weißt du, wenn alle schwulen Spieler einfach an die Öffentlichkeit gegangen wären, wäre es jetzt bestimmt kein Problem mehr.“

Ich stieß die Luft aus. GANZ BREMEN IST SCHWUL … „Na ja, kann sein. Sind sie aber nicht. Und ich werd ganz sicher nicht der erste sein.“

Stille. Dann seufzte er. „Na ja, ist deine Sache.“

Seine Haltung drückte Resignation aus. Aber in seinen Augen lag immer noch etwas, das mich verunsicherte. Es war einfach zu offensichtlich, wie wenig ihm das Ganze gefiel, und ich konnte nicht gehen, ohne sicher zu sein, dass er dichthalten würde.

„Ja, ist es.“ Jetzt lehnte ich mich nach vorne. „Sag also nichts, okay? Fast niemand weiß, dass ich schwul bin. Nur zwei andere Leute, um genau zu sein. Mein Ex und mein bester Freund. Und jetzt du. Also … sag einfach … niemandem, dass ich hier war, okay? Bitte.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Eigentlich hatte ich befehlen wollen. Aber irgendwie … konnte ich es nicht.

Er erwiderte meinen Blick. Seine Augen verengten sich leicht. Ich wollte schlucken und konnte nicht. Wenn er mich jetzt fallen ließ … GANZ BREMEN IST SCHWUL … Nie wieder würde ich einfach ich sein können.

„Werd ich nicht.“

Drei Worte. Ich sog die Luft ein. Mir war schwindelig, und meine Finger zitterten. Gott sei Dank.

Ramin sah mir immer noch in die Augen. „Wie gesagt, ist deine Sache. Aber es ist eine verdammte Verschwendung.“ Er lachte, ohne einen Funken Humor. „Ich mein, du bist neunzehn, du bist sexy – du solltest da draußen sein und alles ficken, was sich bewegt.“

Ich blinzelte. Du bist sexy. Einen Herzschlag stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn ich kein Fußballer wäre. Sondern Student, Auszubildender, irgendwas. Nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Nur ich. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Das würd ich so oder so nicht machen. Das ist einfach … Das bin ich nicht.“

Wir sahen uns an. Er schwieg. In den Höhlen seiner dunkelbraunen Augen brannte das Feuer. In meinem Kopf sah ich diese Augen funkeln, hörte ich seine Stimme, spürte seine Hände, seinen Körper, seine Lippen. Du solltest da draußen sein und alles ficken, was sich bewegt.

Er war … anders. So anders als ich. Und doch hatten wir zueinander gefunden. Für einen Abend, eine Nacht, einen Morgen. Um uns jetzt wieder zu trennen.

Komm schon. Fang an. Steh auf. Du musst es sowieso tun.

Ich schluckte. Ich musste gehen. Ich wollte gehen. Ich wollte bleiben. Nie wieder gehen. Bei ihm sein. Für immer.

Zittrig holte ich Luft. Meine Hand tastete nach meinem Handy. Ein Knopfdruck mit dem Daumen. 9:58. Ich schaute wieder hoch. Ramin beobachtete mich. Irgendwie kriegte ich ein Lächeln auf meine Lippen. „Ich muss los. Ich hab … einen Flieger zu erwischen.“

Ich stand auf. Ramin erhob sich ebenfalls. Er ging voraus zur Tür und öffnete sie. Im Durchgang blieb er stehen. Meine gefühllosen Beine setzten sich in Bewegung. Ein Schritt, zwei, drei, vier. Im Türrahmen hielt ich inne. Wir standen voreinander, er etwas größer, ich etwas kleiner, so nah aneinander wie gestern im Gang hinter dem Saal. Ich schaute zu ihm hinauf. Jeden seiner Atemzüge spürte ich sanft an der Nasenspitze.

„Viel Glück für die Saison.“

„Wenn du mal ein Spiel sehen willst, bist du jederzeit willkommen.“ Die Worte waren draußen, bevor ich sie herunterschlucken konnte.

Seine Lippen verzogen sich. „Mal sehen.“

Ich lächelte auch. Einen Moment verharrte ich noch, dann gab ich mir einen Ruck, glitt in den Eingang und zog meine Schuhe an. Taschen kontrollieren – Handy da, Geld da. Ich richtete mich auf und drehte mich noch mal um. Er stand immer noch an den Rahmen gelehnt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Augen auf mich gerichtet. Einen Herzschlag stand ich da. Es war Wahnsinn. Ich musste los. Aber –

Ein Schritt, und ich war bei ihm. Hände an seinen Hals, ein bisschen strecken, Augen zu. Meine Lippen. Seine Lippen. Schmecken. Fühlen. Bilder im Kopf.

Es dauerte nicht mal zwei Sekunden, bis ich ihn wieder losließ und zurücktrat. Aber es war genug, um alles wieder aufleben zu lassen. Und doch nicht genug, um – um –

Aber dafür würde nichts genug sein. Jedenfalls nichts, was ich jetzt noch bekommen konnte. Und wenn ich jetzt nicht ging, würde ich es niemals tun.

Ramin war einfach stehengeblieben. Er hatte mich weder weggestoßen noch zu sich hergezogen. Ich lächelte. Ich fragte mich, ob meine Augen glänzten. Bitte nicht. „Danke.“ Meine Stimme war ein Hauch. Aber wenigstens zitterte sie nicht.

Ich drehte mich um, zog die Wohnungstür auf und trat hindurch. Ein Fuß nach dem anderen lief ich die Treppenstufen hinunter. Als ich unten die Haustür öffnete, hörte ich, wie über mir die Wohnungstür zufiel.

 

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Referenz: „Masquerade“ – aus dem Musical „ The Phantom of the Opera“ von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

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Das queerfeindliche Banner auf der Nordtribüne, an das Martin sich erinnert, habe ich mir leider nicht ausgedacht. Der tatsächliche Wortlaut war „GANZ MV IST SCHWUL – BESONDERS DER HANSA HOOL“, und gezeigt worden ist es am 24.07.2022, dem 2. Spieltag der Saison 2022/23, im Spiel gegen Hansa Rostock. Es gibt wenige Momente, in denen ich mich so sehr dafür geschämt habe, HSV-Fan zu sein, wie den, in dem ich dieses Banner gelesen habe. Das Spiel hat mich den ganzen restlichen Tag belastet, und das hatte nichts mit der Niederlage zu tun. Ich habe ständig darüber nachgedacht, wie es sein kann, dass das passiert, 2022, zu Zeiten von Regenbogeneckfahnen, Regenbogenkapitänsbinden, Regenbogentrikotwerbung und Aktionen wie „Ihr könnt auf uns zählen!“. Abends vor dem Einschlafen habe ich mich dann gefragt, wie Martin wohl reagiert hätte, wenn er auf dem Platz gestanden und dieses Banner gesehen hätte. Und sofort wusste ich, dass das kein hypothetisches Szenario bleiben darf. Ich habe mir auf den Schreibtisch eine Notiz gelegt, damit ich es ja nicht vergesse, und am nächsten Tag habe ich die Geschichte um den Vorfall ergänzt. Ich habe ihn acht Jahre zurück- und von Derby zu Derby versetzt, aber sonst Martin alles genau so schildern lassen, wie es meiner Erinnerung entspricht. In der realen Welt gab es dann im darauffolgenden Heimspiel Flugblätter, die auf der Nordtribüne verteilt wurden und auf denen das Banner verurteilt wurde, aber die Tatsache, dass es überhaupt passiert ist, macht mich immer noch so wütend, dass ich gar nicht weiß, wie ich dem Ausdruck verleihen soll. Ich schätze, deswegen war es mir auch so ein Bedürfnis, es in diese Geschichte einzubauen – damit natürlich ihr als Leser, aber auch ICH immer daran erinnert werde, dass es diesen Vorfall gab, dass in Sachen Abbau von Queerfeindlichkeit im Profifußball immer noch sehr viel Arbeit vor uns liegt und dass alle, die dem Profifußball in irgendeiner Weise verbunden sind – als Funktionär, als Spieler, als Journalist, als Fan, ganz egal –, ihren Teil dazu beitragen müssen.

 

(Der Gipfel – nicht, dass es einen Gipfel gebraucht hätte, aber es gab ihn halt trotzdem – war übrigens, dass dieses Heimspiel gegen Rostock, in dem das Banner gezeigt worden ist, das erste Spiel nach dem Tod von Uwe Seeler war. Über dem Unterrang der Nordtribüne, wo das Banner hochgehalten wurde, hing während des gesamten Spiels ein Spruchband zu seinen Ehren: „LOYAL UND BESCHEIDEN – DER GRÖSSTE ALLER ZEITEN“. Und darunter dann diese queerfeindliche … [setzt hier ein Schimpfwort eurer Wahl ein]. Na ja. Wie gesagt, es macht mich sprachlos.)

Chapter 10: Zu Hause

Chapter Text

  1. Kapitel: Zu Hause

 

„Du hattest was?!“

„Ich hatte Sex.“

„Aber … du kanntest ihn doch gar nicht.“ Finn saß schräg gegenüber von mir auf dem Sofa, die blauen Augen weit aufgerissen und das Gesicht sogar im Kontrast zu seinen hellblonden Haaren kalkweiß.

In meinen Kopf schoss ein Bild von schwarzen Haaren, glühenden Wangen, lodernden Augen. Seine Hand an meinem Unterarm. You weren’t gonna run away from me, now, were you? „Tja … das war mir halt in dem Moment egal.“

Finn starrte mich an, als würde er sich fragen, ob das wirklich ich war, der da aus dem Urlaub zurückgekommen war, oder nicht doch ein Fremder in meiner Gestalt. „Und du bist einfach mitgegangen? Zu ihm nach Hause? Er hätte sonst was mit dir anstellen können!“

„Hat er ja auch.“ Weder diesen Satz noch ein fettes Grinsen konnte ich mir verkneifen.

Finn schnappte nach Luft. „Das ist nicht witzig, Martin! Was muss das denn für ein Typ sein, der dich einfach so als Sexspielzeug mit nach Hause nimmt?“

Jetzt war ich es, der die Luft einsog. „Jetzt komm mal wieder runter, ja? Wir haben nur Sachen gemacht, die wir beide wollten, gezwungen hat er mich zu gar nichts!“

„Trotzdem.“ Finn sah mich weiter vorwurfsvoll an.

Innerlich seufzte ich. Ich war der Ältere von uns beiden und derjenige, der normalerweise darauf achtete, dass die Putz-, Wasch- und Einkaufspläne eingehalten wurden und dass einmal am Tag ein warmes Essen auf den Tisch kam. Aber wenn es um mein Liebesleben ging, war Finn es, der die Erwachsenenrolle einnahm. Nicht, dass er da in den letzten Jahren viel zu tun gehabt hätte. Aber selbst, wenn sich die anderen Jungs in den Jugendmannschaften in der Kabine oder auf Teamevents auch nur über Mädchen unterhalten hatten, hatte er immer alle Beschützerinstinkte hochgefahren und sichergestellt, dass ich mich raushalten konnte, und zwar immer so geschickt, dass niemandem je irgendetwas aufgefallen war. Er war mein Verbündeter, mein Schutzschild und mein Held, aber jetzt gerade hätte ich ihn gerne stummgestellt, mich noch für eine halbe Stunde vor eine Serie geklatscht und wäre dann ins Bett gegangen. Um zu schlafen, damit ich ausgeruht war für den Trainingsstart morgen. Und um zu träumen. Von der neuen Saison. Aber nicht nur.

Aber auf dem Sofa holte Finn schon wieder Luft, und sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich das alles erst mal vergessen konnte. „Wenn er dich einfach so zack eben schnell mal mitgenommen hat, hat er das garantiert schon mit tausend anderen Typen gemacht. Hast du dir das mal überlegt?“

Ein Messerstich. Schon wieder. Musste das sein? Konnte nicht wenigstens Finn, mein bester Freund, mich damit in Ruhe lassen und mir nicht genau das über Ramin vor Augen führen, woran ich mich nicht erinnern wollte?

Ich sagte erst mal einfach gar nichts, aber Finns erdolchender Blick ließ mich nicht los und verlangte eine Antwort. Ich schaute auf meine Oberschenkel, presste die Lippen zusammen und zuckte die Schultern. „Ja. Na und?“

Na und? Und wenn er was hat? Bei den Tausenden von Typen muss ja mal einer dabei gewesen sein, der krank war!“

Meine Augen schnellten hoch. Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen. Was ich Finn jetzt allerdings ganz sicher nicht auf die Nase binden würde. „Erstens waren es nicht Tausende von Typen“ – I wish, fügte mein Kopf ungebeten hinzu – „und zweitens haben wir natürlich Kondome benutzt! Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“

„An dem Rest deiner Aktionen gestern Nacht gemessen, ehrlich gesagt für ziemlich bescheuert!“

Ich seufzte und ließ mich in die Sessellehne fallen. Was sollte ich darauf sagen? Irgendwo hatte er ja recht. Und den Teil, der ihn am meisten aufregen würde, hatte ich ihm noch gar nicht gebeichtet. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Da ist noch was.“

„Noch was? Da war aber nicht noch ein Typ, oder?“

Trotz allem musste ich lachen. An Finns Reaktion gemessen könnte man glauben, ich sei ein Mönch und Sex eine Todsünde, für die ich entweder verbrannt oder kastriert werden würde. „Ne, quatsch, Ramin hat gereicht, aber … naja, ich … also, wir haben uns dann halt heute Früh noch unterhalten, und da … da hab‘ ich ihm dann gesagt … wer ich bin.“

Ich fixierte den Couchtisch. Meine Finger kneteten meine Oberschenkel. Ein paar Sekunden war es still. Dann sog Finn scharf die Luft ein. „Du meinst, dass du Fußballer bist?“

Ich nickte. Wieder war es still. Dann gab es ein dumpfes Geräusch. Offensichtlich hatte Finn sich in die Sofakissen zurückfallen lassen. „Scheiße, Martin.“

Meine Augen zuckten zu ihm hinüber. Ohne jede Haltung hing er im Sofa. Er sah aus, als hätte er gerade entschieden, dass es wirklich ein Fremder sein musste, der da mit meinem roten Haar und meinen graublauen Augen heimgekommen war. „Warum? Warum legst du einem Fremden deine Karriere in die Hand?“

Einem Fremden.

Ich sah Ramin, wie er sich das T-Shirt vom Leib riss, während wir über die Türschwelle seiner Wohnung stolperten, spürte seine Hände an meinem Rücken, meiner Brust, meinem Bauch, meiner Hüfte, spürte, wie er mich ins Schlafzimmer bugsierte, ohne mich den Bruchteil einer Sekunde loszulassen, wie er seine Lippen auf meine presste, hungrig, gierig, hart, seine Zunge in meinem Mund, sah ihn über mir knien, sein Gesicht halb erhellt vom fahlen Licht einer Straßenlaterne draußen vor dem Fenster, hörte das Reißen des Kondompäckchens, spürte ihn … sah sein Gesicht … seinen Mund, seine Augen, hörte, wie er …

Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger. Jetzt nicht. Kein guter Moment. Später.

Finns Wort echote noch mal durch meinen Kopf. Fremder. Ich war in Ramins Wohnung gewesen. Ich hatte mir seine CD-Sammlung angesehen, wir hatten miteinander gesprochen, er hatte mir Frühstück gemacht. Wir hatten uns nackt gesehen und zusammen geduscht. Wir hatten Sex gehabt. Ich wusste, wie er aussah und klang, wenn er kam, und er wusste es von mir.

„Er ist kein Fremder. Er ist …“ Ich schaute in Finns verständnislose blaue Augen und suchte nach einem Wort. Aber ich fand keins. Alles, was mir in den Kopf kam, war zu wenig. Zu viel. Zu … normal.

Finn starrte mich an. Dann, wie in Zeitlupe, schüttelte er den Kopf. „Scheiße, Martin. Du liebst ihn.“

„Tu ich überhaupt nicht!“ Mein Rücken war von der Sessellehne nach vorn geschossen. „Das ist doch lächerlich! Ich kenn ihn doch gar nicht, ich –“

Ich biss mir auf die Unterlippe. In der Stille dröhnte mir mein eigener Widerspruch in den Ohren. Ich holte tief Luft. „Ich meine, ich kenn ihn nicht wie dich oder die anderen Jungs und so. Aber ein Fremder ist er trotzdem nicht. Ich meine, wir hatten Sex, und wir haben uns ein bisschen unterhalten, und …“

Wieder blitzte das Bild von Ramins Frühstückstisch vor mir auf. Ich hörte ihn sagen, I thought you said you were … not Marius, but something – oh, Martin, yeah, that’s right, Martin. Sah den Spott in seinen Augen, als er gefragt hatte, Should I know you? Ich biss die Zähne zusammen. In aller Deutlichkeit musste ich Finn nicht ausbreiten, warum ich Ramin gesagt hatte, wer ich war.

„Und dann habe ich ihm eben die Wahrheit gesagt. Weil es sich halt scheiße angefühlt hätte, zu lügen, weißt du? Immerhin weiß ich ja auch, wer er ist und was er macht. Und dann hab‘ ich‘s ihm halt gesagt. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich in ihn verliebt bin! Bin ich nämlich überhaupt nicht. Wir hatten einmal Sex“ – eine Nacht lang Sex, korrigierte ich mich in Gedanken, aber auch diese Details musste ich Finn nicht ausbreiten – „und es war schön, aber das war’s dann. Okay? Ich … werd‘ ihn nicht wiedersehen.“

Das winzige Zögern schlich sich ein, ohne dass ich es wollte. Und Finns Gesichtsausdruck sagte mir, dass er es gehört hatte. Hastig setzte ich noch drei Sätze hinten dran. „Und er wird mich nicht verraten, okay? Ganz sicher. Er hat‘s mir versprochen, und er sagt nichts.“

Finns Augen bohrten sich in meine. Ich spürte, wie sich mein Unterkiefer versteifte. Aber ich hielt seinem Blick stand.

Schließlich seufzte Finn und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Na gut. Kann ich ja verstehen, dass man jemand, mit dem man Sex hatte … Und er ist ja auch schwul. Da verrät er dich bestimmt nicht. Das wär‘ schon …“

Ein passendes Wort schien ihm nicht einzufallen. Ich nickte, aber gleichzeitig glitten meine Augen wieder Richtung Couchtisch.

Well, what else am I supposed to say?

I’m queer, I take it up the ass, and if you don’t like it, you can suck my dick?

Irgendwie glaubte ich nicht, dass Ramin uns beide als auf derselben Seite stehend betrachtete, nur, weil wir beide schwul waren.

„Was?“ In Finns Stimme schrillten schon wieder die Alarmglocken. Mist. Er kannte mich einfach zu gut.

„Ach nix.“ Ich murmelte in Richtung Couchtisch, in der halben, sinnlosen Hoffnung, dass er mich einfach nicht hören würde. „Bloß … na ja … Ramin war … nicht grade begeistert davon, dass ich … also, dass es halt nicht alle wissen. Dass ich da ein Geheimnis draus mach.“

Ich schluckte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Dann ruckte mein Kopf wieder hoch. „Ich mein, er ist halt nicht so ein Fußballfan! Er kommt halt aus dem Theater. Und er macht sich da keine Gedanken. Also, ihm ist es halt egal, wer‘s alles weiß.“ Je mehr, desto besser, vermutlich. Vor allem, wenn es attraktive junge Kerle sind, denen er dann seinen …

Ich biss mir auf die Unterlippe. Das wollte ich nicht mal zu Ende denken. „Und deswegen war er da halt … ein bisschen überrascht. Dass ich das so anders mach. Aber er hat’s dann schon verstanden.“ Lügner!, schallte es durch meinen Kopf. Ich senkte den Blick wieder. „Na ja. Wenigstens akzeptiert.“

Stille senkte sich über das Wohnzimmer. Irgendwann brach Finn sie. „Oh Mann, Martin. Oh Mann. Da hast du aber echt … Es musste gleich so jemand sein, oder? Jemand richtig Kompliziertes. Ich verstehe ja, dass du das genossen hast, und ich freu mich ja auch für dich, aber hätte es nicht irgendein schottischer Bauer sein können? Einer, der nie Zeitung liest und wo’s kein WLAN gibt und der nichts im Kopf hat außer seine Schafe und Kühe?“

Ich starrte ihn an. Dann platzte das Lachen aus mir heraus. Ich hing im Sessel und lachte und lachte, und irgendwann machte Finn sogar mit, obwohl er immer noch etwas gequält aussah.

Als ich wieder Luft kriegte, sog ich sie ein paarmal tief ein und wischte mir die Tränen aus den Augen. „Also, ich glaub, der Satz kommt auf Platz eins der diesjährigen Kategorie Was man in der Öffentlichkeit nicht sagen kann.“ Ich schüttelte den Kopf, immer noch kichernd, und Finn grinste etwas verschämt. „Aber egal. Jedenfalls ist es jetzt getan und eh nicht mehr zu ändern. Und das wird schon alles gutgehen.“

Noch einmal sah ich braune Augen vor mir, das Funkeln, sein Grinsen. Nein, verraten würde er mich nicht. Was auch immer er sonst in mir aufgewühlt hatte – zumindest da war ich mir ganz sicher. Und über den Rest wollte ich jetzt nicht mehr reden. Es war genug. Genug für einen Tag. „Wie sieht‘s denn jetzt eigentlich bei dir morgen aus? Bist du beim Trainingsauftakt dabei?“

Ganz kurz zögerte Finn, aber dann ließ er sich zum Glück auf den Themenwechsel ein. „Ne, noch nicht. Ich soll erst mal noch U19 und U23 spielen, bis der Fuß wieder ganz heil ist, und dann kommt‘s auf meine und eure Leistungen an.“ Er lächelte, immer noch etwas angestrengt. „Aber immerhin bin ich jetzt offiziell im Profikader, das ist doch schon mal was.“

Ich nickte, aber ich war trotzdem enttäuscht. Finn hatte sich im Frühjahr den Knöchel gebrochen, und obwohl die Verletzung mittlerweile ausgeheilt war, musste der Fuß sich erst wieder an die hohe Belastung gewöhnen. Deswegen war es vermutlich sinnvoll, mit dem Profitraining zu warten, bis er wieder uneingeschränkt spielen konnte, aber ärgerlich war es trotzdem. Ohne den Knöchelbruch wäre er jetzt sicher dabei. „Dann kommst du wahrscheinlich auch nicht mit ins Trainingslager, oder?“

Er schüttelte den Kopf. „Jetzt sicher noch nicht.“

Meine Laune sank noch tiefer. Ich hatte Finn im Wintertrainingslager schon vermisst, obwohl da auch ein paar andere Jungs dabei gewesen waren, die ich aus dem Nachwuchs schon gekannt hatte. Aber ich war der Einzige aus dieser Gruppe, der sich in der Profimannschaft festgespielt hatte, die anderen würden jetzt in der Vorbereitung alle nicht mehr dabei sein. Und Finn hatte natürlich sowieso keiner von ihnen ersetzen können. „Ach Mann. Was für ein Mist.“

„Hey, Kopf hoch!“ Finn sprach aufmunternd und ohne jeden Hauch von Bitterkeit. Dabei war er es doch, der hierbleiben musste, während ich mitfahren durfte mit der reellen Aussicht, mir einen Stammplatz zu erkämpfen. Meine Güte, Martin. Reiß dich zusammen!

„Ich brauch einfach noch ein bisschen, bis ich wieder richtig fit bin. Aber das wird schon, und wenn ich dann in der Hinrunde gut spiele, darf ich hoffentlich im Winter mit euch mitfahren!“

„Bestimmt!“ Jetzt immerhin fiel es mir nicht schwer, auch zuversichtlich zu klingen. „Bruno geht nach Leistung, alles andere ist ihm egal. Spiel einfach, wie du immer spielst, dann können wir gar nicht auf dich verzichten.“

Finn grinste. „Auf eine Saison wie letztes Jahr kann dafür ich aber sehr gut verzichten. Strengt euch ruhig mal an, dass wir zur Winterpause wenigstens im gesicherten Mittelfeld stehen.“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“ Beim Gedanken an die letzte Spielzeit schüttelte ich mich. Keiner von uns würde das noch mal erleben wollen, diesen Druck, Woche für Woche gewinnen zu müssen, nur um dann meistens doch wieder mit leeren Händen dazustehen und in der Woche danach gleich noch schwerere Felsbrocken auf dem Rücken rumzutragen. Nein, diesmal wollte ich gut starten, gleich punkten, immer wieder gewinnen, um die ganze Saison immer mindestens im Mittelfeld zu stehen. Das würde nicht einfach werden, weil die Bundesliga hart und die Konkurrenten gut waren. Aber wir waren auch gut. Unser Trainer war gut. Meine Mitspieler waren gut. Ich war gut. Und wenn wir hart trainierten, auf dem Platz alles gaben und mit voller Konzentration und Leidenschaft unsere Spiele angingen, würden wir das auch zeigen können.

Volle Konzentration und Leidenschaft. Genau. Denk dran! Keine Ablenkung! Von nichts und gar nichts und niemandem!

Ich nickte leicht, wie um meine eigenen Gedanken vor mir selbst zu bekräftigen.

„Was?“

Meine Augen irrten durch den Raum, bis sie Finn fanden. Immer noch auf dem Sofa. Überraschung! Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf, während ich äußerlich gähnte. „Ach nichts. Ich geh jetzt schlafen.“ Mit beiden Händen wuchtete ich mich aus dem Sessel. Mein Körper war plötzlich doppelt so schwer wie sonst. „Wird ja doch ein langer Tag morgen.“

Finns gute Nacht erwiderte ich abwesend, während meine Füße mich schlurfend aus dem Zimmer trugen. Schlafen, Martin!, wies ich mich an und stolperte über den Flur in den Raum gegenüber dem Wohnzimmer. Schlafen und ausruhen, damit du fit bist für morgen. Für deinen Verein. Der braucht dich! Da gehörst du hin!

„Da gehörst du hin“, murmelte ich, während ich mir die Jeans von den Hüften und das T-Shirt über den Kopf zog und noch mal aus dem Zimmer und ins Bad wankte. Aber als ich ein paar Minuten später unter die Decke kroch und die Augen schloss, war das Letzte, was ich sah, bevor ich einschlief, ein Paar funkelnder, dunkelbrauner Augen.

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Dieses Kapitel enthält einen der wenigen Fälle, in dem die leicht überprüfbaren Fußballdetails aus der realen Welt in dieser Geschichte nicht akkurat wiedergegeben sind: Martin behauptet hier, dass die weiteren Nachwuchsspieler, die in der Saison 14/15 zu Profis geworden sind – Spieler wie Ronny Marcos, Tolcay Cigerci, Ashton Götz, Mohamed Gouaida, Matti Steinmann oder Valmir Nafiu – die Vorbereitung auf die anstehende Spielzeit, 15/16, nicht mehr mitmachen werden. In der realen Welt haben eine ganze Reihe davon die Vorbereitung sehr wohl mitgemacht. Da aber keiner in Pflichtspielen eingesetzt worden ist und auf kicker online, wo ich den Großteil meiner Recherche betrieben habe, nur diejenigen Spieler auf den Kaderlisten vergangener Saisons aufgeführt sind, die mindestens einen Einsatz zu verzeichnen hatten, habe ich dieses Kapitel und die folgenden zuerst in dem Glauben geschrieben, sie hätten unter Labbadia tatsächlich alle nicht einmal mehr die Vorbereitung mitgemacht. Als mir der Fehler auffiel, habe ich kurz überlegt, die entsprechenden Stellen noch umzuschreiben, mich aber dagegen entschieden. Ich hatte inzwischen einen plottechnischen Grund, ihn nicht zu korrigieren – vielleicht findet ihr ihn im nächsten Kapitel ;) Ansonsten wiederhole ich an dieser Stelle nur noch einmal den Hinweis aus dem Disclaimer: Alles, was in dieser Geschichte steht, ist nur im Kontext der Geschichte zu lesen und nicht auf die Welt außerhalb der Geschichte anwendbar.

Chapter 11: Zu Hause - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Zu Hause

 

„Du hattest was?!“

„Ich hatte Sex.“

„Aber … du kanntest ihn doch gar nicht.“ Finn saß schräg gegenüber von mir auf dem Sofa, die blauen Augen weit aufgerissen und das Gesicht sogar im Kontrast zu seinen hellblonden Haaren kalkweiß.

In meinen Kopf schoss ein Bild von schwarzen Haaren, glühenden Wangen, lodernden Augen. Seine Hand an meinem Unterarm. Du wolltest doch nicht etwa vor mir weglaufen, oder? „Tja … das war mir halt in dem Moment egal.“

Finn starrte mich an, als würde er sich fragen, ob das wirklich ich war, der da aus dem Urlaub zurückgekommen war, oder nicht doch ein Fremder in meiner Gestalt. „Und du bist einfach mitgegangen? Zu ihm nach Hause? Er hätte sonst was mit dir anstellen können!“

„Hat er ja auch.“ Weder diesen Satz noch ein fettes Grinsen konnte ich mir verkneifen.

Finn schnappte nach Luft. „Das ist nicht witzig, Martin! Was muss das denn für ein Typ sein, der dich einfach so als Sexspielzeug mit nach Hause nimmt?“

Jetzt war ich es, der die Luft einsog. „Jetzt komm mal wieder runter, ja? Wir haben nur Sachen gemacht, die wir beide wollten, gezwungen hat er mich zu gar nichts!“

„Trotzdem.“ Finn sah mich weiter vorwurfsvoll an.

Innerlich seufzte ich. Ich war der Ältere von uns beiden und derjenige, der normalerweise darauf achtete, dass die Putz-, Wasch- und Einkaufspläne eingehalten wurden und dass einmal am Tag ein warmes Essen auf den Tisch kam. Aber wenn es um mein Liebesleben ging, war Finn es, der die Erwachsenenrolle einnahm. Nicht, dass er da in den letzten Jahren viel zu tun gehabt hätte. Aber selbst, wenn sich die anderen Jungs in den Jugendmannschaften in der Kabine oder auf Teamevents auch nur über Mädchen unterhalten hatten, hatte er immer alle Beschützerinstinkte hochgefahren und sichergestellt, dass ich mich raushalten konnte, und zwar immer so geschickt, dass niemandem je irgendetwas aufgefallen war. Er war mein Verbündeter, mein Schutzschild und mein Held, aber jetzt gerade hätte ich ihn gerne stummgestellt, mich noch für eine halbe Stunde vor eine Serie geklatscht und wäre dann ins Bett gegangen. Um zu schlafen, damit ich ausgeruht war für den Trainingsstart morgen. Und um zu träumen. Von der neuen Saison. Aber nicht nur.

Aber auf dem Sofa holte Finn schon wieder Luft, und sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass ich das alles erst mal vergessen konnte. „Wenn er dich einfach so zack eben schnell mal mitgenommen hat, hat er das garantiert schon mit tausend anderen Typen gemacht. Hast du dir das mal überlegt?“

Ein Messerstich. Schon wieder. Musste das sein? Konnte nicht wenigstens Finn, mein bester Freund, mich damit in Ruhe lassen und mir nicht genau das über Ramin vor Augen führen, woran ich mich nicht erinnern wollte?

Ich sagte erst mal einfach gar nichts, aber Finns erdolchender Blick ließ mich nicht los und verlangte eine Antwort. Ich schaute auf meine Oberschenkel, presste die Lippen zusammen und zuckte die Schultern. „Ja. Na und?“

Na und? Und wenn er was hat? Bei den Tausenden von Typen muss ja mal einer dabei gewesen sein, der krank war!“

Meine Augen schnellten hoch. Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen. Was ich Finn jetzt allerdings ganz sicher nicht auf die Nase binden würde. „Erstens waren es nicht Tausende von Typen“ – Ja sicher, fügte mein Kopf ungebeten hinzu – „und zweitens haben wir natürlich Kondome benutzt! Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“

„An dem Rest deiner Aktionen gestern Nacht gemessen, ehrlich gesagt für ziemlich bescheuert!“

Ich seufzte und ließ mich in die Sessellehne fallen. Was sollte ich darauf sagen? Irgendwo hatte er ja recht. Und den Teil, der ihn am meisten aufregen würde, hatte ich ihm noch gar nicht gebeichtet. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Da ist noch was.“

„Noch was? Da war aber nicht noch ein Typ, oder?“

Trotz allem musste ich lachen. An Finns Reaktion gemessen könnte man glauben, ich sei ein Mönch und Sex eine Todsünde, für die ich entweder verbrannt oder kastriert werden würde. „Ne, quatsch, Ramin hat gereicht, aber … naja, ich … also, wir haben uns dann halt heute Früh noch unterhalten, und da … da hab‘ ich ihm dann gesagt … wer ich bin.“

Ich fixierte den Couchtisch. Meine Finger kneteten meine Oberschenkel. Ein paar Sekunden war es still. Dann sog Finn scharf die Luft ein. „Du meinst, dass du Fußballer bist?“

Ich nickte. Wieder war es still. Dann gab es ein dumpfes Geräusch. Offensichtlich hatte Finn sich in die Sofakissen zurückfallen lassen. „Scheiße, Martin.“

Meine Augen zuckten zu ihm hinüber. Ohne jede Haltung hing er im Sofa. Er sah aus, als hätte er gerade entschieden, dass es wirklich ein Fremder sein musste, der da mit meinem roten Haar und meinen graublauen Augen heimgekommen war. „Warum? Warum legst du einem Fremden deine Karriere in die Hand?“

Einem Fremden.

Ich sah Ramin, wie er sich das T-Shirt vom Leib riss, während wir über die Türschwelle seiner Wohnung stolperten, spürte seine Hände an meinem Rücken, meiner Brust, meinem Bauch, meiner Hüfte, spürte, wie er mich ins Schlafzimmer bugsierte, ohne mich den Bruchteil einer Sekunde loszulassen, wie er seine Lippen auf meine presste, hungrig, gierig, hart, seine Zunge in meinem Mund, sah ihn über mir knien, sein Gesicht halb erhellt vom fahlen Licht einer Straßenlaterne draußen vor dem Fenster, hörte das Reißen des Kondompäckchens, spürte ihn … sah sein Gesicht … seinen Mund, seine Augen, hörte, wie er …

Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger. Jetzt nicht. Kein guter Moment. Später.

Finns Wort echote noch mal durch meinen Kopf. Fremder. Ich war in Ramins Wohnung gewesen. Ich hatte mir seine CD-Sammlung angesehen, wir hatten miteinander gesprochen, er hatte mir Frühstück gemacht. Wir hatten uns nackt gesehen und zusammen geduscht. Wir hatten Sex gehabt. Ich wusste, wie er aussah und klang, wenn er kam, und er wusste es von mir.

„Er ist kein Fremder. Er ist …“ Ich schaute in Finns verständnislose blaue Augen und suchte nach einem Wort. Aber ich fand keins. Alles, was mir in den Kopf kam, war zu wenig. Zu viel. Zu … normal.

Finn starrte mich an. Dann, wie in Zeitlupe, schüttelte er den Kopf. „Scheiße, Martin. Du liebst ihn.“

„Tu ich überhaupt nicht!“ Mein Rücken war von der Sessellehne nach vorn geschossen. „Das ist doch lächerlich! Ich kenn ihn doch gar nicht, ich –“

Ich biss mir auf die Unterlippe. In der Stille dröhnte mir mein eigener Widerspruch in den Ohren. Ich holte tief Luft. „Ich meine, ich kenn ihn nicht wie dich oder die anderen Jungs und so. Aber ein Fremder ist er trotzdem nicht. Ich meine, wir hatten Sex, und wir haben uns ein bisschen unterhalten, und …“

Wieder blitzte das Bild von Ramins Frühstückstisch vor mir auf. Ich hörte ihn sagen, Ich dachte, du meintest, du bist … nicht Marius, aber so – ah, Martin, ja, richtig, Martin. Sah den Spott in seinen Augen, als er gefragt hatte, Sollte ich wissen, wer du bist? Ich biss die Zähne zusammen. In aller Deutlichkeit musste ich Finn nicht ausbreiten, warum ich es getan hatte.

„Und dann habe ich ihm eben die Wahrheit gesagt. Weil es sich halt scheiße angefühlt hätte, zu lügen, weißt du? Immerhin weiß ich ja auch, wer er ist und was er macht. Und dann hab‘ ich‘s ihm halt gesagt. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich in ihn verliebt bin! Bin ich nämlich überhaupt nicht. Wir hatten einmal Sex“ – eine Nacht lang Sex, korrigierte ich mich in Gedanken, aber auch diese Details musste ich Finn nicht ausbreiten – „und es war schön, aber das war’s dann. Okay? Ich … werd‘ ihn nicht wiedersehen.“

Das winzige Zögern schlich sich ein, ohne dass ich es wollte. Und Finns Gesichtsausdruck sagte mir, dass er es gehört hatte. Hastig setzte ich noch drei Sätze hinten dran. „Und er wird mich nicht verraten, okay? Ganz sicher. Er hat‘s mir versprochen, und er sagt nichts.“

Finns Augen bohrten sich in meine. Ich spürte, wie sich mein Unterkiefer versteifte. Aber ich hielt seinem Blick stand.

Schließlich seufzte Finn und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Na gut. Kann ich ja verstehen, dass man jemand, mit dem man Sex hatte … Und er ist ja auch schwul. Da verrät er dich bestimmt nicht. Das wär‘ schon …“

Ein passendes Wort schien ihm nicht einzufallen. Ich nickte, aber gleichzeitig glitten meine Augen wieder Richtung Couchtisch.

Na ja, was soll ich denn sonst sagen?

Ich bin queer, ich lasse es mir von hinten besorgen, und wenn dir das nicht gefällt, kannst du meinen Schwanz lutschen?

Irgendwie glaubte ich nicht, dass Ramin uns beide als auf derselben Seite stehend betrachtete, nur, weil wir beide schwul waren.

„Was?“ In Finns Stimme schrillten schon wieder die Alarmglocken. Mist. Er kannte mich einfach zu gut.

„Ach nix.“ Ich murmelte in Richtung Couchtisch, in der halben, sinnlosen Hoffnung, dass er mich einfach nicht hören würde. „Bloß … na ja … Ramin war … nicht grade begeistert davon, dass ich … also, dass es halt nicht alle wissen. Dass ich da ein Geheimnis draus mach.“

Ich schluckte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Dann ruckte mein Kopf wieder hoch. „Ich mein, er ist halt nicht so ein Fußballfan! Er kommt halt aus dem Theater. Und er macht sich da keine Gedanken. Also, ihm ist es halt egal, wer‘s alles weiß.“ Je mehr, desto besser, vermutlich. Vor allem, wenn es attraktive junge Kerle sind, denen er dann seinen …

Ich biss mir auf die Unterlippe. Das wollte ich nicht mal zu Ende denken. „Und deswegen war er da halt … ein bisschen überrascht. Dass ich das so anders mach. Aber er hat’s dann schon verstanden.“ Lügner!, schallte es durch meinen Kopf. Ich senkte den Blick wieder. „Na ja. Wenigstens akzeptiert.“

Stille senkte sich über das Wohnzimmer. Irgendwann brach Finn sie. „Oh Mann, Martin. Oh Mann. Da hast du aber echt … Es musste gleich so jemand sein, oder? Jemand richtig Kompliziertes. Ich verstehe ja, dass du das genossen hast, und ich freu mich ja auch für dich, aber hätte es nicht irgendein schottischer Bauer sein können? Einer, der nie Zeitung liest und wo’s kein WLAN gibt und der nichts im Kopf hat außer seine Schafe und Kühe?“

Ich starrte ihn an. Dann platzte das Lachen aus mir heraus. Ich hing im Sessel und lachte und lachte, und irgendwann machte Finn sogar mit, obwohl er immer noch etwas gequält aussah.

Als ich wieder Luft kriegte, sog ich sie ein paarmal tief ein und wischte mir die Tränen aus den Augen. „Also, ich glaub, der Satz kommt auf Platz eins der diesjährigen Kategorie Was man in der Öffentlichkeit nicht sagen kann.“ Ich schüttelte den Kopf, immer noch kichernd, und Finn grinste etwas verschämt. „Aber egal. Jedenfalls ist es jetzt getan und eh nicht mehr zu ändern. Und das wird schon alles gutgehen.“

Noch einmal sah ich braune Augen vor mir, das Funkeln, sein Grinsen. Nein, verraten würde er mich nicht. Was auch immer er sonst in mir aufgewühlt hatte – zumindest da war ich mir ganz sicher. Und über den Rest wollte ich jetzt nicht mehr reden. Es war genug. Genug für einen Tag. „Wie sieht‘s denn jetzt eigentlich bei dir morgen aus? Bist du beim Trainingsauftakt dabei?“

Ganz kurz zögerte Finn, aber dann ließ er sich zum Glück auf den Themenwechsel ein. „Ne, noch nicht. Ich soll erst mal noch U19 und U23 spielen, bis der Fuß wieder ganz heil ist, und dann kommt‘s auf meine und eure Leistungen an.“ Er lächelte, immer noch etwas angestrengt. „Aber immerhin bin ich jetzt offiziell im Profikader, das ist doch schon mal was.“

Ich nickte, aber ich war trotzdem enttäuscht. Finn hatte sich im Frühjahr den Knöchel gebrochen, und obwohl die Verletzung mittlerweile ausgeheilt war, musste der Fuß sich erst wieder an die hohe Belastung gewöhnen. Deswegen war es vermutlich sinnvoll, mit dem Profitraining zu warten, bis er wieder uneingeschränkt spielen konnte, aber ärgerlich war es trotzdem. Ohne den Knöchelbruch wäre er jetzt sicher dabei. „Dann kommst du wahrscheinlich auch nicht mit ins Trainingslager, oder?“

Er schüttelte den Kopf. „Jetzt sicher noch nicht.“

Meine Laune sank noch tiefer. Ich hatte Finn im Wintertrainingslager schon vermisst, obwohl da auch ein paar andere Jungs dabei gewesen waren, die ich aus dem Nachwuchs schon gekannt hatte. Aber ich war der Einzige aus dieser Gruppe, der sich in der Profimannschaft festgespielt hatte, die anderen würden jetzt in der Vorbereitung alle nicht mehr dabei sein. Und Finn hatte natürlich sowieso keiner von ihnen ersetzen können. „Ach Mann. Was für ein Mist.“

„Hey, Kopf hoch!“ Finn sprach aufmunternd und ohne jeden Hauch von Bitterkeit. Dabei war er es doch, der hierbleiben musste, während ich mitfahren durfte mit der reellen Aussicht, mir einen Stammplatz zu erkämpfen. Meine Güte, Martin. Reiß dich zusammen!

„Ich brauch einfach noch ein bisschen, bis ich wieder richtig fit bin. Aber das wird schon, und wenn ich dann in der Hinrunde gut spiele, darf ich hoffentlich im Winter mit euch mitfahren!“

„Bestimmt!“ Jetzt immerhin fiel es mir nicht schwer, auch zuversichtlich zu klingen. „Bruno geht nach Leistung, alles andere ist ihm egal. Spiel einfach, wie du immer spielst, dann können wir gar nicht auf dich verzichten.“

Finn grinste. „Auf eine Saison wie letztes Jahr kann dafür ich aber sehr gut verzichten. Strengt euch ruhig mal an, dass wir zur Winterpause wenigstens im gesicherten Mittelfeld stehen.“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“ Beim Gedanken an die letzte Spielzeit schüttelte ich mich. Keiner von uns würde das noch mal erleben wollen, diesen Druck, Woche für Woche gewinnen zu müssen, nur um dann meistens doch wieder mit leeren Händen dazustehen und in der Woche danach gleich noch schwerere Felsbrocken auf dem Rücken rumzutragen. Nein, diesmal wollte ich gut starten, gleich punkten, immer wieder gewinnen, um die ganze Saison immer mindestens im Mittelfeld zu stehen. Das würde nicht einfach werden, weil die Bundesliga hart und die Konkurrenten gut waren. Aber wir waren auch gut. Unser Trainer war gut. Meine Mitspieler waren gut. Ich war gut. Und wenn wir hart trainierten, auf dem Platz alles gaben und mit voller Konzentration und Leidenschaft unsere Spiele angingen, würden wir das auch zeigen können.

Volle Konzentration und Leidenschaft. Genau. Denk dran! Keine Ablenkung! Von nichts und gar nichts und niemandem!

Ich nickte leicht, wie um meine eigenen Gedanken vor mir selbst zu bekräftigen.

„Was?“

Meine Augen irrten durch den Raum, bis sie Finn fanden. Immer noch auf dem Sofa. Überraschung! Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf, während ich äußerlich gähnte. „Ach nichts. Ich geh jetzt schlafen.“ Mit beiden Händen wuchtete ich mich aus dem Sessel. Mein Körper war plötzlich doppelt so schwer wie sonst. „Wird ja doch ein langer Tag morgen.“

Finns gute Nacht erwiderte ich abwesend, während meine Füße mich schlurfend aus dem Zimmer trugen. Schlafen, Martin!, wies ich mich an und stolperte über den Flur in den Raum gegenüber dem Wohnzimmer. Schlafen und ausruhen, damit du fit bist für morgen. Für deinen Verein. Der braucht dich! Da gehörst du hin!

„Da gehörst du hin“, murmelte ich, während ich mir die Jeans von den Hüften und das T-Shirt über den Kopf zog und noch mal aus dem Zimmer und ins Bad wankte. Aber als ich ein paar Minuten später unter die Decke kroch und die Augen schloss, war das Letzte, was ich sah, bevor ich einschlief, ein Paar funkelnder, dunkelbrauner Augen.

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Dieses Kapitel enthält einen der wenigen Fälle, in dem die leicht überprüfbaren Fußballdetails aus der realen Welt in dieser Geschichte nicht akkurat wiedergegeben sind: Martin behauptet hier, dass die weiteren Nachwuchsspieler, die in der Saison 14/15 zu Profis geworden sind – Spieler wie Ronny Marcos, Tolcay Cigerci, Ashton Götz, Mohamed Gouaida, Matti Steinmann oder Valmir Nafiu – die Vorbereitung auf die anstehende Spielzeit, 15/16, nicht mehr mitmachen werden. In der realen Welt haben eine ganze Reihe davon die Vorbereitung sehr wohl mitgemacht. Da aber keiner in Pflichtspielen eingesetzt worden ist und auf kicker online, wo ich den Großteil meiner Recherche betrieben habe, nur diejenigen Spieler auf den Kaderlisten vergangener Saisons aufgeführt sind, die mindestens einen Einsatz zu verzeichnen hatten, habe ich dieses Kapitel und die folgenden zuerst in dem Glauben geschrieben, sie hätten unter Labbadia tatsächlich alle nicht einmal mehr die Vorbereitung mitgemacht. Als mir der Fehler auffiel, habe ich kurz überlegt, die entsprechenden Stellen noch umzuschreiben, mich aber dagegen entschieden. Ich hatte inzwischen einen plottechnischen Grund, ihn nicht zu korrigieren – vielleicht findet ihr ihn im nächsten Kapitel ;) Ansonsten wiederhole ich an dieser Stelle nur noch einmal den Hinweis aus dem Disclaimer: Alles, was in dieser Geschichte steht, ist nur im Kontext der Geschichte zu lesen und nicht auf die Welt außerhalb der Geschichte anwendbar.

Chapter 12: Fokus!

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  1. Kapitel: Fokus!

 

Als ich die Tür zu unserer Kabine öffnete, schlug mir Gelächter und Stimmengewirr entgegen. Obwohl ich nicht zu spät war, waren die meisten meiner Mitspieler schon da, einige schon fertig umgezogen, andere in Boxershorts oder mit freiem Oberkörper. In meinen Kopf schoss ein Bild von einem anderen Oberkörper, mit gebräunter Haut und harten Konturen, die sich meinen hungernden Händen entgegendrängten.

Bist du verrückt?! Gedanklich trat ich mit voller Wucht auf die Bremse. Hier, in der Kabine, vor allen Mannschaftskollegen … Nein, nein und noch mal nein! Fußball war, was hier zählte. Fußball, der HSV, das Team. Und sonst nichts.

Ich erwiderte das Hallo, das mir entgegenschlug, und bahnte mir einen Weg zu meinem Platz. Meine Fingerspitzen kribbelten noch immer.

Mein Spind war hinten links in der Ecke. Letzte Saison hatten die beiden neben mir Ronny Marcos und Ashton Götz gehört, die unser mittlerweile schon wieder Ex-Trainer Joe Zinnbauer auch mit zu den Profis hochgezogen hatte. Aber die beiden hatten unter Bruno keine Einsätze mehr bekommen und würden jetzt auch die Vorbereitung nicht mitmachen. Der Spind schräg rechts neben meinem war noch leer, aber vor dem links daneben saß ein Spieler mit ganz kurzen schwarzen Locken und dunkelbrauner Haut, der sich gerade die Sneakers aufschnürte und selbst sitzend und mit gebeugtem Rücken ziemlich groß aussah. Als er sich aufrichtete, erkannte ich ihn. „Gideon!“

Die ersten paar Spiele hatten wir in der letzten Saison noch zusammen für die U23 gemacht, ich auf der Doppelsechs und er dahinter in der Innenverteidigung. Er war ein gutes Jahr älter als ich, und schon damals hatten wir uns gut verstanden. Aber Gideon war da gerade ganz neu aus Oberhausen nach Hamburg gezogen und hatte damit am Anfang ziemlich viel Stress gehabt, und bevor wir uns richtig kennenlernen konnten, war unser Trainer Joe zum Proficoach befördert worden und hatte mich, Ashton, Ronny und ein paar andere mitgenommen. Gideon hatte dagegen weiter in der U23 trainiert und gespielt, und wir hatten uns aus den Augen verloren. Jetzt begrüßte ich ihn strahlend per Handschlag. „Mit dir hab ich nicht gerechnet! Bist du jetzt fest hier dabei?“

„Vorbereitung. Und dann mal gucken.“ Er grinste. „Ich kann ja zum Glück Innenverteidiger und Sechser spielen. Vielleicht schwächeln ja ein paar Etablierte.“

„Davon träumst du.“ Grinsend schüttelte ich den Kopf, während ich meine Sporttasche hinter mir auf den Boden fallen ließ und meinen Spind öffnete. Gideons spielerischer Seitenhieb tat nicht weh. Konkurrenz gehörte zum Fußball einfach dazu, und ich hatte sie immer gehabt, in jeder Jugendmannschaft und natürlich auch letzte Saison im Profiteam. Wer spielen wollte, musste sich im Training anbieten und auf dem Platz Leistung bringen. Und das war genau das, was ich am Fußball so liebte. „Sind noch mehr von den Jungs mit hochgekommen?“

„Soweit ich weiß nicht.“ Gideon hatte seinen Spind ebenfalls geöffnet und hängte sorgfältig seine Lederjacke hinein. „Kann ja noch kommen, wenn sich irgendwer verletzt oder so. Aber erst mal bin‘s wohl nur ich.“

Er lächelte. Ich meinte, in seinem Tonfall und seinem Blick einen Hauch von Unsicherheit zu erkennen.

Tja. Kein Wunder. Ich dachte daran, wie ich mich gefühlt hatte, als ich letztes Jahr zum ersten Mal in diese Kabine gegangen war. Wie ich mich teilweise jetzt noch fühlte, wenn ich mit Leuten wie René Adler, Rafael van der Vaart oder Ivica Olic auf dem Platz stand, denen ich als Kind im Stadion und vor dem Fernseher zugejubelt hatte und die ich jetzt im Training anpfeifen konnte, wenn ein Pass nicht ankam. Auf dem Platz hatte ich zwar von Anfang an einfach Fußball gespielt, aber daneben hatte es Momente gegeben, an denen ich mich gefragt hatte, ob ich das alles wirklich erlebte oder ob es ein Traum war. Und ich war ja damals nicht als Einziger aus der Jugend hochgekommen. Wie es war, völlig allein am Anfang einer Sommervorbereitung aus dem Regionalligateam zu einer Gruppe gestandener Bundesligaprofis zu stoßen, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Und ganz abgesehen davon hatte ich, als höchstens halb gestandener Bundesligaprofi, auch aus rein egoistischen Motiven ganz und gar nichts dagegen, für Gideon ein bisschen eine Tür ins Team zu sein.

„Sag mal.“ Ich stellte den rechten Fuß auf die Sitzbank und fing an, die Schnürsenkel meines Sneakers zu lösen. „Spielst du gern FIFA?“

Gideon brach in ein breites Grinsen aus. „Junge, ich liebe FIFA.“

„Gut. Dann kommst du heute Nachmittag zu Finn und mir, und wir zocken. Hast du Bock?“

„Klar!“ Gideon strahlte. Er sah mindestens so erleichtert aus, wie ich mich fühlte. Vielleicht würde ich im Trainingslager ja doch nicht so allein sein, trotz Finns Abwesenheit.

Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und holte meine Trainingsklamotten aus dem Spind. Sie sahen ziemlich genau so aus wie die vom letzten Jahr, bis auf einen kleinen, für mich aber riesengroßen Unterschied: Auf der Brust prangte zwischen Vereins- und Sponsorenlogo auf Kurz- und Langarmshirt jetzt eine kleine, weiße Ziffer 6. Auch neben der Spindtür entdeckte ich jetzt eine kleine 6 auf blauem Grund. Letzte Saison hatte ich die Nummer 36 getragen, obwohl die 6 auch da schon frei gewesen war. Aber ich und die anderen Spieler aus dem Nachwuchs hatten uns erst mal keine Nummer unterhalb der 20 aussuchen dürfen. In der Jugend hatte ich immer die 6 oder die 8 getragen, und weil bei der 26 und der 28 zwei andere Jungs schneller gewesen waren, hatte ich eben die 36 genommen. Aber jetzt, nach fünfundzwanzig Bundesligaeinsätzen, einem im Pokal und zwei in der Relegation, hatte ich die 6 haben dürfen. Etabliert, echote es durch meinen Kopf, und ich strahlte.

Während ich mein T-Shirt aus- und das Kurzarmshirt anzog, schaute ich zu Gideon hinüber, der sein Trainingsoberteil auch schon anhatte. Auf seiner Brust prangte die 28. Sven Mende, der sie letztes Jahr gehabt hatte, war in die dritte Liga zu Wehen Wiesbaden gewechselt. Soweit ich mich erinnern konnte, war er ohne Bundesligaeinsatz geblieben, trotz Profinummer. Bei Gideon würde es jetzt aber besser laufen. Und ich würde mein Bestes tun, um ihm dabei zu helfen.

Um Punkt halb zehn betrat das Trainerteam die Umkleide, Bruno an der Spitze. Die Gespräche verstummten sofort. Bruno war kein Trainer, vor dem man Angst haben musste, aber trotzdem hatten wir alle Respekt vor ihm, und er hatte nie Schwierigkeiten, uns unter Kontrolle zu halten. Er sah sich prüfend in der Kabine um, ob auch alle da waren, dann schloss unser Co-Trainer Eddy die Tür, und Bruno begann mit seiner Ansprache.

„Moin Jungs.“ Er sprach ruhig und in perfektem Hamburgerisch, obwohl er selbst nicht aus Norddeutschland kam. „Schön, dass ihr alle gut aus dem Urlaub gekommen seid. Wie gut, werden wir gleich noch sehen.“

Wir lachten. Ich tauschte ein flüchtiges Lächeln mit Gideon. Das war eine Anspielung auf den Laktattest gewesen, der am Anfang jeder Vorbereitung anstand, höllisch anstrengend war und sich höchster Unbeliebtheit erfreute. Aber schlechte Werte würden natürlich Konsequenzen nach sich ziehen. Ich hatte zwar auch keine Lust auf die ganzen Läufe völlig ohne Ball, aber nervös war ich nicht. Gerade für mich als Sechser war eine gute Kondition wichtig, und ich hasste es selbst, wenn ich merkte, dass mir am Ende eines Spiels die Kraft ausging und ich nicht mehr da hinlaufen konnte, wo mein Team mich brauchte. Ich hatte schon in der Jugend immer zu den laufstärksten Spielern gezählt, und auch in dieser Sommerpause hatte ich meine angeordneten Läufe und Kräftigungsübungen in Schottland alle absolviert.

„Ich hoffe, ihr habt euch gut erholt und mit der letzten Saison insoweit abgeschlossen, dass sie euch nicht mehr belastet“, fuhr Bruno fort. „Trotzdem müssen wir natürlich daraus lernen. Ich glaube, auf noch so eine Saison können wir alle verzichten.“

Es gab zustimmendes Gemurmel. Alle Gesichter, die mein Blick streifte, bevor ich Bruno wieder ansah, waren jetzt ganz ernst.

„Aber erinnert euch bitte an die letzten Spiele, die Spiele, die wir zusammen gemacht haben.“

Brunos Blick wanderte von Spieler zu Spieler, und ich sah in seinen Augen wie auf einer Leinwand ein Blitzlicht aus Bildern aus den Spielen gegen Augsburg, Mainz, Freiburg, Schalke, zweimal Karlsruhe. Bruno war ja erst kurz vor dem Ende der Saison unser Trainer geworden. In den Spielen unter ihm hatten wir öfter gewonnen als verloren.

„Erinnert euch an den Kampf, den Einsatz, den Glauben, ans Wir. Wir haben gemeinschaftlich gespielt, wir haben Rückschläge weggesteckt, und jeder hat für den anderen gekämpft. Und alle zusammen haben wir es geschafft. Und mit dem gleichen Einsatz, mit dem gleichen Kampf, mit dem gleichen Wir – Jungs, das ist das Allerwichtigste, wir zusammen miteinander und füreinander – spielen wir jetzt in der neuen Saison von Anfang an. Wir haben gute Leute, es kommen auch noch ein paar gute Leute, und dann können wir in dieser Saison einen Platz im gesicherten Mittelfeld erreichen. Ja? Das ist unser Ziel. Und das können wir schaffen, wir sind gut genug, aber es geht nur zusammen. Nur als Wir. Deswegen, Jungs, sind die wichtigsten Dinge für diese Saison der Glaube an unsere Stärke, das Vertrauen auf unseren Nebenmann, und der bedingungslose Einsatz für unseren Verein und füreinander. Ja? Wenn einer auf dem Feld einen Fehler macht, bügelt ein anderer ihn aus. Wenn einer einen Zweikampf gewinnt, feiert ihn die ganze Mannschaft. Und wenn einer ein Tor schießt, bedankt er sich zuerst beim Vorlagengeber. Wir kämpfen alle füreinander, für die Mannschaft und für den Verein, und so erreichen wir unsere Ziele! Seid ihr dabei?“

Rufen, Klatschen, entschlossene Blicke. Ich machte genauso laut mit wie die anderen. Bruno hatte uns keine neuen Fußballweisheiten eröffnet, aber genau diese Grundtugenden waren es, die in der letzten Saison manchmal gefehlt und die uns am Ende gerade noch so gerettet hatten. Diese Saison mussten wir sie von Anfang an zeigen, in jedem Training und in jedem Spiel. Einsatz, Leidenschaft, Konzentration, für den Verein, für den HSV.

Ich sah in die Gesichter um mich herum, hörte die Rufe in meinen Ohren und sog die Luft ein. Von mir aus hätte jetzt sofort das Saisoneröffnungsspiel gegen die Bayern angepfiffen werden können.

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Weil es ja doch schon eine Weile her ist und nicht mal ich mich noch ohne Hilfe daran erinnern konnte (ausgenommen natürlich die Relegation), hier eine kurze Zusammenfassung der erfolgreichen Spiele ab dem 29. Spieltag 2014/15, als Labbadia seine zweite Amtszeit beim HSV angetreten ist:

  1. ST 3:2 gegen Augsburg (Tore: 1:0 Olic 11., 2:0 Lasogga 19., 2:1 Bobadilla 25., 2:2 Werner 69., 3:2 Lasogga 71.)
  2. ST 2:1 in Mainz (Tore: 1:0 ET Baumgartlinger 37., 1:1 Malli 76., 2:1 Kacar 87.)
  3. ST 1:1 gegen Freiburg (Tore: 0:1 Mehmedi 25., 1:1 Kacar 90.)
  4. ST 2:0 gegen Schalke (Tore: 1:0 Olic 49., 2:0 Rajkovic 58.)

Relegation gegen Karlsruhe:

Hinspiel 1:1 (Tore: 0:1 Hennings 4., 1:1 Ilicevic 73.)

Rückspiel 2:1 n.V. (Tore: 0:1 Yabo 78., 1:1 Diaz 90./+1, 2:1 Müller 115.)

Chapter 13: 'Cause Every Night I Lie in Bed ...

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  1. Kapitel: ‘Cause Every Night I Lie in Bed …

 

Mit einem Ruck fuhr ich aus dem Schlaf. Für einen Moment war ich überzeugt, Ramin über mir zu sehen, seinen schweren Atem zu hören. Aber natürlich war da absolut niemand im Bett außer mir, und mein Atem war der einzige, dem der gerade erlebte Orgasmus deutlich anzuhören war. Ich ließ mich zurück in die Kissen fallen, schloss die Augen und presste die Hände vors Gesicht.

Scheiße.

Es war das zweite Mal, dass ich die Nacht mit Ramin in meinen Träumen wieder erlebt hatte, und schon das erste Mal hatte ich mich nicht gerade darüber gefreut. Aber das war wenigstens zu Hause gewesen, und alles, was sich daran angeschlossen hatte, hatte niemanden gestört und niemanden interessiert, denn Finn hatte – herrlich weggepackt in seinem eigenen Zimmer – einfach weitergeschlafen. Jetzt dagegen war ich im Trainingslager, und da waren die Einzelzimmer den älteren Spielern und Familienvätern vorbehalten. Zu denen ich nicht gehörte.

Ich holte tief Luft, nahm die Hände vom Gesicht und drehte langsam den Kopf nach rechts. Im Bett neben mir lag Gidi, auf der Seite, den Kopf zu mir gedreht.

Er schlief. Gott sei Dank.

Noch einmal schloss ich die Augen und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht. Aber die gestochen scharfen Bilder von Ramin konnte ich mir damit leider nicht von den Augen ziehen.

Scheiße.

Was half es? Ich musste aufstehen, da führte kein Weg dran vorbei. Und ich konnte nur beten, dass Gidi weiterhin einen festen Schlaf haben würde.

Innerlich stöhnend quälte ich mich aus dem Bett und schlich ins Badezimmer, wo ich mich meiner verklebten Shorts entledigte, das T-Shirt auszog und unter die Dusche stieg. Ich drehte sie so kalt, wie ich es gerade noch aushielt, ohne einen Laut von mir zu geben. Das eisige Wasser war gleichzeitig Qual und Genuss. Ich presste die Lippen zusammen und machte die Augen zu.

So konnte es nicht weitergehen. Ich konnte einfach nicht weiter an ihn denken, durfte nicht bei jedem Bezug zu London, Englisch, Musik, irgendwas, an ihn erinnert werden. Ich musste ihn vergessen, ich musste mich auf die Mannschaft konzentrieren. Damit wir eine gute Saison spielten. Und damit ich nicht aufflog.

Aber genau das war leider, was gar nicht ging. Ich konnte die Sache vor mir selbst kleinreden, konnte mir vorpredigen, dass es nichts außer Sex gewesen war, dass Ramin selbst mir egal war, aber vergessen konnte ich ihn nicht. Er war jetzt da, in meinem Kopf, und ich konnte die Gedanken an ihn nicht abstellen.

Der Moment, als ich am Tag des Trainingsauftakts in die Kabine gekommen war und der Anblick meiner halbnackten Mitspieler sofort Bilder von Ramin in meinen Kopf geworfen hatte, war nicht das letzte Mal gewesen, dass er sich in den Vordergrund geschoben hatte, und natürlich immer zu den unpassendsten Zeitpunkten: wenn die anderen sich über ihre Freundinnen unterhielten, wenn von der Sommerpause die Rede war und, am allerschlimmsten, jedes Mal, wenn ich einen nackten oder auch nur halbnackten Männerkörper sah. Was in einer Fußballmannschaft beim Umziehen und Duschen leider leicht unübersehbare Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Wenigstens dazu war es bisher zum Glück nicht gekommen – ich hatte mein Kopfkino immer noch gerade so in unverfänglichere Bahnen lenken können –, aber ein Dauerzustand war das nicht. Die Kabine war ein Ort der Entspannung, des lockeren Beisammenseins, der gut gemeinten Späße, des Teambuildings. Und nicht einer, an dem ich jeden Tag mein eigener Daueraufpasser sein wollte, weil sich ein gewisser Musicaldarsteller weigerte, aus meinem Kopf zu verschwinden. Ich lehnte die Stirn gegen die Wand, atmete langsam und tief, tastete nach dem Wasserhahn und drehte die Dusche noch kälter.

Die ersten zwei Tage hatte ich ihn nicht gegoogelt, aber dann hatte ich der Versuchung nicht mehr widerstehen können. Ich war über meinem Smartphone gehangen und hatte alle Infos aufgesogen, die das Internet über Ramin Karimloo zu bieten hatte. Viel war es nicht gewesen. Eine eigene Website hatte er nicht. Es gab einen Wikipedia-Artikel, der knapp seine bisherige berufliche Laufbahn – außer seiner jetzigen Rolle als Phantom, die er vorher auch schon im ersten Teil, „Phantom of the Opera“, gehabt hatte, hatte mir nur noch die Rolle als Enjolras in „Les Misérables“ überhaupt was gesagt – wiedergegeben und über sein Privatleben kein einziges Wort verloren hatte. Die Amazon-Ergebnisse waren deutlich interessanter gewesen: Es gab DVDs der fünfundzwanzigsten Jubiläen von „Les Misérables“ und „Phantom of the Opera“, in denen er eben als Enjolras und als Phantom mitgewirkt hatte, eine Original-Cast-CD von „Love Never Dies“ und ein Soloalbum. Ich hatte alles in den Einkaufskorb gepackt und die ganze Ladung bestellt. Erst danach war mir der Gedanke gekommen, dass das in Anbetracht meines Ziels, ihn zu vergessen, kein Geniestreich gewesen war. Aber storniert hatte ich die Bestellung auch nicht. Vor dem Trainingslager war das Paket nicht mehr angekommen, aber mittlerweile war es sicher da. Finn hatte es bestimmt entgegengenommen, und jetzt lag es zu Hause und wartete auf mich.

Die Gänsehaut, die ich jetzt spürte, hatte mit dem kalten Wasser nichts zu tun. Ich sollte mir das Zeug nicht ansehen, nicht anhören. Aber … jetzt hatte ich es nun mal bestellt. Und bei den meisten Sachen ging es ja gar nicht nur um ihn. Was sprach dagegen, wenn ich mir zum Beispiel die Phantom-DVD ansah? Ich hatte den zweiten Teil live gesehen und kannte den ersten bisher nur oberflächlich, war es da so schlimm, wenn ich wissen wollte, worum es da ging? Um die Handlungszusammenhänge besser zu verstehen?

Ja, genau. Deswegen willst du dir das ansehen. Wegen der Handlungszusammenhänge, natürlich!

Ich riss den Kopf hoch, schüttelte mir das Wasser aus den Haaren, drehte die Dusche aus, öffnete die Tür und griff nach meinem Handtuch. Mit deutlich mehr Kraft, als nötig gewesen wäre, schrubbte ich meinen Körper trocken. Was, wenn ich mir das ansah und Ramin danach noch häufiger durch meinen Kopf spukte als ohnehin? Wenn er mich dann gar nicht mehr losließ? Was, wenn ich mir danach wirklich eingestehen müsste, dass ich … dass Finn … Du liebst ihn, Martin

Ich riss mir das Handtuch von den Haaren, rammte es zurück über den Halter, zog mir das T-Shirt wieder über den Kopf und öffnete die Badezimmertür. Lächerlich. Einfach lächerlich. Wie ich Finn gesagt hatte, ich kannte ihn ja gar nicht. Sex war es gewesen, Sex, und sonst nichts. Selbstverständlich war ich nicht verliebt. Überhaupt in niemanden, und in Ramin schon gleich gar nicht. Wie war Finn überhaupt darauf gekommen? Lächerlich, das Ganze war einfach lächerlich.

Ich wühlte ein neues Paar Boxershorts aus meinem Koffer, zog sie an und wollte zurück zu meinem Bett schleichen, aber das war leider nicht mehr nötig. Aus dem linken Bett blinzelte Gidi mir mit einem verschlafenen, aber grässlich wissenden Grinsen entgegen. Na super. Gerade blieb mir aber auch nichts erspart.

„Na, wer ist sie?“ Sein breites Feixen troff aus jeder Silbe. „Ziemlich heiß muss sie ja sein, dass sie dir deinen Schlaf raubt.“

„Halt die Klappe, Gidi.“ Ich stieg zurück ins Bett, zog mir die Decke über die Schultern und drehte mich von ihm weg. Ich konnte mir jetzt einfach keine Geschichte ausdenken.

Wenigstens bedrängte er mich nicht. Ich hörte, wie er sich immer noch kichernd auf die andere Seite drehte, und kurz darauf sagten mir seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge, dass er wieder eingeschlafen war.

Kein Wunder. Ich biss die Zähne zusammen. Kein Wunder, dass Gidi gut drauf war, und kein Wunder, dass er gut schlief. Seine Nervosität im Umgang mit der Mannschaft hatte er ganz schnell abgelegt, und auf dem Platz hatte er von Anfang an keine gezeigt. Weil wir in der Innenverteidigung mit Cleber, unserem Kapitän Johan und Neuzugang Emir schon drei etablierte Spieler hatten, war Gidi da nur als Back-up eingeplant. Gespielt hatte er im Training und in Testspielen hauptsächlich im defensiven Mittelfeld – meiner Position. In unserem 4-2-3-1-System gab es da Platz für zwei Spieler, aber mit mir, Gidi, Lewis, unserem Relegationsheld Celo und Gojko waren wir auch da schon überbesetzt, und trotzdem sollte noch ein Spieler für diese Position verpflichtet werden. Im Sommer waren zwar gleich eine ganze Handvoll Leute, die in der letzten Saison oft auf der Sechs gespielt hatten, gegangen, aber mit jetzt fünf und bald sechs Spielern für die Position war der Konkurrenzkampf trotzdem knackig. Und ich wusste, dass ich ihn momentan verlor. Gestern hatten wir unser zweites Testspiel der Vorbereitung gegen einen unterklassigen Gegner mit sieben zu null gewonnen, und ich hatte gerade mal die letzten zwanzig Minuten spielen dürfen. Für ein Testspiel mit unbegrenzten Wechselmöglichkeiten war das fast nichts. Nur ein klares Signal von Bruno an mich, dass ich mehr Gas geben musste. Alle meine Konkurrenten hatten länger gespielt, und im Training waren sie mir momentan auch voraus.

Meine Hand krallte sich in die Bettdecke. Ich starrte auf die dunklen Konturen des Schranks, der vollgestopft war mit Gidis Klamotten. Er hatte massenhaft Zeugs mitgeschleppt, für eine Woche Trainingslager. Und das musste natürlich alles ordentlich aufgehängt und gelagert werden, sonst „ist das kein stylischer Look mehr!“

Ich seufzte. Ich mochte Gidi, sehr sogar, und ich war froh, dass er mein Teamkollege war. Aber für ihn auf die Bank setzen wollte ich mich nicht. Und ob das passieren würde, hatte ich selbst in der Hand, nur ich, sonst keiner. Bruno würde den spielen lassen, der in der Vorbereitung den besseren Eindruck gemacht hatte. Und dass das momentan nicht ich war, war einzig und allein meine Schuld. Meine – und die eines Mannes mit schwarzen Haaren, einer samtharten Stimme und lodernden Augen. Eines Phantoms, das mich einfach nicht loslassen wollte.

Ich schlug dumpf mit der Faust auf die Matratze, drehte mich auf den Bauch und zwang meine Lider zu. Ich musste schlafen, ich musste fit sein morgen, ich musste anfangen, besser zu spielen, und aufhören, mich ständig ablenken zu lassen. Von ihm.

Aber auf Knopfdruck hatte ich leider noch nie einschlafen können. Ich warf mich im Bett hin und her, und es dämmerte schon, als ich schließlich doch noch in einen unruhigen Schlaf fiel. Ich träumte von einem Mann mit riesigen schwarzen Engelsflügeln, dessen Gesicht halb mit einer HSV-Maske verdeckt war und der mir mit Ramins Stimme eröffnete, dass ich die gesamte Saison nur auf der Tribüne sitzen würde.

 

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Referenzen:

 

„‘Cause Every Night I Lie in Bed“: Lyric aus dem Song „A Million Dreams” aus dem Musical “The Greatest Showman”. Songs von Benj Pasek und Justin Paul, Musik von John Debney und Joseph Trapanese, Story von Jenny Bicks (2017).

 

„Les Misérables“: Musical von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg. Französischer Originaltext von Alain Boublil und Jean-Marc Natel, englische Songtexte von Herbert Kretzmer. Basierend auf dem Roman von Victor Hugo. Uraufführung 1985.

 

„Human Heart“: Album von Ramin Karimloo. Produziert von Tom Nichols. Sony Music Entertainment, New York 2012.

 

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Mit diesem Kapitel haben wir jetzt die ersten 20.000 Wörter geschafft. Falls sie euch gefallen haben, reviewt doch mal ;)

Chapter 14: Past the Point of No Return

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  1. Kapitel: Past the Point of No Return

 

Da lag es. Klein, rechteckig, hellbraun, mit Amazon-Logos in schwarzer Schrift und einem weißen Aufkleber mit meinem Namen und Adresse. Kalt und gleichgültig residierte es auf meinem Schreibtisch, zwischen Tastatur und Ronald Rengs Buch „Spieltage“, als ob überhaupt nichts dabei sei. Als ob es jetzt ganz selbstverständlich einfach dazugehörte. Und ich stand davor, in Boxershorts und meinem „Alle-Mann-an-Bord“-Shirt, von dem ich im Chaos der Klassenerhaltsfeierlichkeiten im Juni irgendwie eine XXL-Version abbekommen und das ich deshalb zum Schlafshirt umfunktioniert hatte, mit zerzausten Haaren und nackten Füßen, und starrte es an.

Ich hatte es vergessen. Ich hatte es tatsächlich vergessen. Gestern Nacht waren wir so spät aus dem Trainingslager wiedergekommen, dass ich mit Müh und Not den Weg von der Wohnungstür in mein Zimmer gefunden hatte und sofort eingeschlafen war, und ausnahmsweise hatte ich mal nicht von Ramin geträumt. Ich hatte tief, ruhig und lang geschlafen, und jetzt war ich eigentlich auf dem Weg ins Bad und dann in die Küche zu einer großen Tasse Kaffee gewesen. Aber die konnte ich mir jetzt sparen. Der Anblick des Pakets, das Finn auf meinen Schreibtisch gelegt haben musste, hatte jedes Koffein überflüssig gemacht.

Da waren sie drin. Die CDs. Die DVDs. Ramins Stimme, seine Gesten, seine Mimik, sein Körper, seine Hände, sein Gesicht. Eingefangen auf vier dünnen Scheiben. Und plötzlich meiner Kontrolle unterworfen.

Ich machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu und streckte die Hand aus. Am ganzen Arm sah ich Gänsehaut, und ich glaubte nicht, dass das mit dem kühlen Parkettboden an meinen nackten Füßen zu tun hatte. Als meine Fingerspitzen Millimeter über der Pappe schwebten, hielt ich inne.

Ich sollte das nicht tun. Ich hatte ein Scheiß-Trainingslager gespielt, einzig und allein deswegen, weil Ramin andauernd durch meinen Kopf gegeistert war. Und umgekehrt hatte er mich vermutlich längst vergessen. A fuck, weiter nichts. Einer von vielen. Von tausenden. Ich hatte nichts zu gewinnen und alles zu verlieren, wenn ich ihn nicht sofort losließ. Aus meinem Kopf vertrieb. Aus, Ende, vorbei. Ich sollte dieses Paket nehmen und in der Elbe versenken.

Ich stand da, mit geteilten Lippen, meine Fingerspitzen noch immer Millimeter von ihm entfernt. Schmeiß es weg! Schmeiß es weg!

Meine Hand schoss nach unten, und meine Finger schnappten zu. In einer einzigen Bewegung riss ich den Schreibtischstuhl herum, krachte darauf hinunter und zog so heftig an der Lasche, dass die halbe Verpackung auseinanderfiel. Zwei Zettel fielen zu Boden und blieben liegen, wo sie waren. Ich nahm nichts mehr wahr außer einem Paar tiefbrauner Augen, in denen das Lodern sogar durch die Plastikfassung der CD-Hülle zu erahnen war.

Sein Solo-Album lag zuoberst. Ramins Name stand in großer Schrift genau mittig auf dem Cover. Er selbst schien auf einem niedrigen Hocker zu sitzen. Er trug eine blaue, am rechten Knie abgewetzte Jeans und eine dunkle Jacke über einem helleren, blauen Oberteil. Seine Hände waren aneinandergelegt, die linke etwas weiter hinten als die rechte, die Finger ausgestreckt. Die Qualität war gut genug, um jede einzelne Ader sehen zu können. Ich starrte sie an. Seine Hände. Regungslos eingefangen auf diesem Foto. Aber in meinem Kopf erwachten sie zum Leben. Sie trennten sich voneinander, streckten sich aus, griffen nach mir. Zogen mir das T-Shirt über den Kopf, fuhren über meinen Oberkörper, über Brust, Bauch und …

Ich schluckte. Blinzelte. Holte Luft. Dann riss ich den Blick los und sah Ramin wieder ins Gesicht.

Sein schwarzes Haar war über der hohen Stirn auf eine sorgfältig angeordnete unordentliche Art nach rechts gekämmt, seine Augenbrauen voll und seine Wangen genau so, wie ich sie in echt gesehen hatte: rasiert, aber mit Bartschatten. Seine Lippen waren geöffnet, ganz leicht, nur einen Spalt breit, aber das war genug. Ich spürte sie, kraftvoll, hungrig, dominant, auf meinen Lippen, meinem Hals, meiner Brust, meinen Oberschenkeln …

Ich stieß die Luft aus, legte den Kopf in den Nacken, sah die weiße Zimmerdecke, schüttelte mich. Mein Atem ging schwer. Ich wartete, kämpfte, und erst, als ich mich ein wenig beruhigt hatte, senkte ich den Blick wieder auf die CD.

Ramin schaute direkt in die Kamera. Direkt auf mich. Ich starrte und starrte, und ich fiel, kopfüber in seine Augen, diese Höhlen, tief, unergründlich, aber mit diesem Schimmer, dieser Verheißung von Feuer und Licht und Wärme. Ich fiel und fiel. Wollte nie mehr aufhören. Nie wieder auftauchen.

Als ich es dann doch irgendwann tat, nahm ich zum ersten Mal das Foto als Ganzes wahr. Ich sah ihn dort sitzen, in die Kamera schauen, offen, freundlich, mühelos, und ich wollte, dass er sich bewegte, sicher, geschmeidig, wollte ihn hören, riechen, schmecken, fühlen. Ich wollte mehr.

Ich schluckte und fuhr mir mit der Zunge über die Oberlippe. Mit bebenden Fingern begann ich, mir einen Weg unter die Plastikfolie zu graben. Vielleicht waren im Booklet ja noch mehr Fotos von Ramin.

Das waren sie. Sechs Stück waren drin, und eins fand ich noch auf der Rückseite der CD. Jedes saugte ich auf, in jedem ertrank ich, in seinen Armen, seinen Lippen, seinen Augen. Ramin, gegen eine hölzerne Leiter lehnend, den Blick abgewandt, durch ein Fenster hinter ihm in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Ramin, sitzend auf derselben Leiter. Ramin, in Lederjacke vor einem dunklen Hintergrund. Ramin, breit lachend. Ramin, mit irgendwie fragendem oder vielleicht aufforderndem Gesichtsausdruck vor einer Wand mit orientalischen Malereien. Ramin, auf den Fußballen auf einem Stuhl hockend, den Kopf in die Hände gestützt, nachdenklich. Ramin, stehend, leicht vornübergeneigt, mit dem rechten Ellbogen gegen eine Backsteinwand gestützt und den Kopf in die Innenseite des Arms gelehnt, die linke Hand bis auf den Daumen in der Jeanstasche vergraben.

Ich schaute und schaute. Erst, als sich jedes Detail in mich gebrannt hatte, klappte ich das Booklet zu. Umständlich steckte ich es zurück in die Hülle. Für einen Moment sah ich das Cover noch einmal durch das Plastik hindurch an. Mein Daumen strich hauchzart über sein Gesicht. Mit beiden Händen, als wäre sie ein rohes Ei, legte ich die CD auf „Spieltage“ und wandte mich der nächsten zu, der Original-Cast-Aufnahme von „Love Never Dies“.

Ich atmete gleich etwas leichter, denn auf dem Cover war diesmal kein Ramin abgebildet. Nur eine Maske mit vollen roten Lippen und schwarzen Augenhöhlen. Auf der Rückseite waren nur die Tracks aufgeführt. Auch hier fummelte ich also das Booklet heraus und wurde schon auf der zweiten Doppelseite belohnt: Am rechten unteren Rand war ein kleines Bild von Ramin und einer Frau, die der Unterschrift nach Sierra Boggess war, Arm in Arm und beide strahlend. Ich lächelte. Ramin sah richtig gelöst aus, so hatte ich ihn bis jetzt noch nicht erlebt.

Auch auf der nächsten Seite waren zwei kleine Bilder von ihm, einmal konzentriert über ein Heft gebeugt, das vermutlich Noten oder Text enthielt, den Komponisten Andrew Lloyd Webber an seiner Seite, und noch mal mit Sierra Boggess, diesmal im Scheinwerferlicht und vermutlich bei irgendeiner Veranstaltung. Ich blätterte bis zum Ende, aber Bilder von Ramin waren keine mehr drin. Auch hier steckte ich das Booklet vorsichtig zurück in die Hülle, bevor ich das Album zur Seite legte.

Jetzt waren noch die DVDs übrig. „Les Misérables“ und „Phantom of the Opera“, jeweils das fünfundzwanzigste Jubiläum. Die Les-Mis-DVD lag obenauf, war aber nicht besonders spannend. Auf dem Cover war nur ein aus einiger Höhe aufgenommenes Foto der Bühne, auf der eine ganze Menge winziger Leute standen, und es gab kein Booklet. Ich versuchte, Ramin unter den Schauspielern auf dem Cover auszumachen, aber das konnte ich vergessen. Die Gesichter waren nicht zu erkennen, und um Ramin allein anhand seines Kostüms zu identifizieren, kannte ich das Musical nicht gut genug. Ich legte die DVD zur Seite.

Nur die Phantom-DVD blieb. Ich nahm sie in die Hand. Auf dem Titelbild war wieder kein Ramin, nur ein Haufen anderer Leute. Ich drehte die DVD um, und da war er. Das Foto war relativ klein, und ich hielt die Hülle ganz nah vor meine Augen, damit mir ja nichts entging.

Das Bild stammte aus einer Aufführung. Ramin trug einen schwarzen Mantel über einem weißen Hemd, sogar mit weißer Fliege. Sein linker Arm war gehoben, seine Augen nach oben gerichtet – zumindest das Auge, das ich sehen konnte, das linke. Das rechte war, wie schon bei der „Love-Never-Dies“-Aufführung, nur durch ein Loch in der Maske auszumachen, die sich von seinem rechten Kinn über die Oberlippe schräg hoch zur Stirn zog, direkt über die Nase, bis sie unter einem schwarzen Hut verschwand, den Ramin leicht schräg auf dem Kopf trug. Sein Mund war geöffnet. Er sang.

Ich wollte schlucken und konnte nicht. Ramin … Seine Hand, sein Blick, sein Mund, seine Stimme, die im Foto verloren war und die trotzdem durch meinen Kopf hallte, undeutlich, vage, nur ein Echo, und doch … Er war so übernatürlich. So sehr nicht von dieser Welt. Erhaben, entrückt, mystisch, geheimnisvoll, bedrohlich … Mit einer Aura, die … die …

Ich schauderte. Plötzlich war mir kalt, und wieder spürte ich Gänsehaut am ganzen Körper. Leute, was ist das? Ein Foto, daumengroß, noch nicht mal. Und ich falle hier auseinander.

Ich schüttelte den Kopf, lehnte mich in den Stuhl zurück und atmete, den Blick wieder auf die Zimmerdecke gerichtet. Erst, als sich das Kribbeln halbwegs verzogen hatte, schaute ich wieder hinunter auf die DVD-Hülle.

Da war noch ein zweites Bild auf der Rückseite: ein Mann und eine Frau, die sich lachend in die Arme fielen. Ich wusste genug von der Handlung des Musicals, um ziemlich sicher sein zu können, dass das Raoul und Christine waren. Christine, die junge Sängerin im Ensemble der Oper, die das Phantom als seine beanspruchte. Es lebte dort im Untergrund, ungesehen, nicht zu greifen. Die Eigentümer und auch Raoul glaubten zuerst nicht, dass es überhaupt existierte, und doch hielt es alle Fäden in der Hand. Christine war sein Liebling, seine Schülerin, die ihn verzauberte mit ihrer Stimme, und die es verzauberte mit seiner Musik. Und Raoul war Christines alter Schulfreund, der ihr am Anfang des Musicals nach Jahren wieder begegnete, der sie liebte und der im weiteren Verlauf der Handlung immer versuchte, sie vom Phantom weg und auf seine Seite zu ziehen. Er war das Gegengewicht zum Phantom: jung, gutaussehend, gesellschaftsfähig, sogar adelig, reich. Und trotzdem konnte er Christine nicht völlig vom Phantom lösen. Immer wieder, obwohl sie es selbst gar nicht immer wollte, kehrte sie zu ihm zurück. Unfähig, aus seinem Bann zu entkommen. Egal, was die Konsequenzen waren.

Ich atmete, schüttelte den Kopf. Resolut drehte ich die DVD wieder um. Als mein Blick auf die Namen unter dem Coverfoto fiel, stellte ich fest, dass Christine schon wieder von Sierra Boggess gespielt wurde. Die verfolgte Ramin irgendwie. Die Glückliche.

Ich stieß die Luft aus und presste die Lippen zusammen. Sie ist eine Frau, Martin. Alles gut. Und ganz unabhängig davon ist das einfach lächerlich.

Ich schloss die Augen. Lächerlich, ja. Das war es allerdings.

Ich legte die DVD auf den Schreibtisch und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht. Vor mir lagen jetzt auf einem Stapel die beiden CDs und die Les-Mis-DVD auf „Spieltage“, links daneben die Phantom-DVD auf den Überresten der Verpackung. Und jetzt? In den Schrank stellen, aufräumen?

Ich sah auf die Uhr, die über meinem Bett an der Wand hing. Kurz nach halb elf. Zum Training musste ich erst am Nachmittag, und Finn war nicht da, weil er ein Vorbereitungsspiel mit der U23 hatte. Ich hatte die Wohnung für mich, ich hatte Zeit, und ich hatte offensichtlich keinen Funken Selbstkontrolle mehr im Leib. Mein Kopf hielt einen Strom von Vorwürfen und dunklen Zukunftsaussichten aufrecht, während ich mir eine Trainingshose überzog, die Phantom-DVD vom Schreibtisch nahm, mit ihr ins Wohnzimmer ging und sie in den Blu-Ray-Player schob. Aber es brachte null Komma null. Ich drehte mich um, setzte mich aufs Sofa, fand mit gefühllosen Fingern die richtigen Knöpfe auf der Fernbedienung. Und dann ging es los.

Es ging los, und ich war weg. Weg aus Hamburg, aus dem Wohnzimmer, aus mir. Ich war in Paris, in der Opera Populaire, und ich war nicht mehr Martin, kein Zuschauer, nicht passiv, kein Außenstehender. Ich war Christine. Und ich war dabei. In der Oper. In der Musik. Bei ihm.

Und ich lechzte mit ihr nach seiner Aufmerksamkeit, seiner Anerkennung, und wir bekamen sie … Brava, brava, bravissima … Und dann der Name … Christine … Er sang ihn so sanft, so zärtlich, so umgarnend, so begehrend … Es war das Einzige für ihn. Wir waren das Einzige, das für ihn zählte.

Und er war unser Phantom, unser angel of music, unsere dunkle Seite, und natürlich hatten wir Angst, wir fürchteten uns vor ihm, aber als der Spiegel sich teilte, als er heraustrat und die Hand ausstreckte, da ergriffen wir sie ohne zu zögern, weil wir es nicht anders wollten, weil wir nicht anders konnten.

Und dann … In sleep he sang to me, in dreams he came, that voice which calls to me and speaks my name … Oh ja. Wieder und wieder, ungebeten, unerwünscht, und doch so willkommen … so unbedingt gebraucht … And do I dream again? For now I find the Phantom of the Opera is there, inside my mind … Immer. Ständig. In meinem Kopf, in meinen Träumen, in meinem Herzen. Und er wusste es, er sagte es, my power over you grows stronger yet, and der Chor warnte, rief, schrie, Beware the Phantom of the Opera!, aber es war zu spät, zu wenig, zu schwach, bedeutungslos neben ihm, seiner Maske, seinem Boot, seinen Händen, seiner Stimme, seiner Musik. Und er war undurchschaubar, vielschichtig, wer er wirklich war, wussten wir nicht, aber das war egal, denn in all your fantasies you always knew that man and mystery were both in you, und das war es ja gerade, das Geheimnis, das Dunkle, die Gefahr, die uns so unwiderstehlich anzog, und deswegen waren wir bei ihm, bei ihm und nicht bei Raoul.

Und bei ihm … in seinem Reich, über dem See, inmitten der Kerzen, der Schwärze, der Nacht … da machte er uns sich zu eigen. Silently the senses abandon their defenses … Close your eyes and surrender to your darkest dreams … Open up your mind, let your fantasies unwind, in this darkness which you know you cannot fight … Und wir schüttelten den Kopf; als ob wir es je versuchen würden, als ob wir es je versuchen wollten … Let your soul take you where you long to be … Only then can you belong to me … Oh bitte … dir gehören … ja … Floating, falling, sweet intoxication … Touch me, trust me, savour each sensation … Let the dream begin, let your darker side give in, to the power of the music that I write … The power of the music of the night …

Und die Musik wuchs, fiel, floss und strömte, bis unser ganzer Körper sang, wir spürten seine Hand an unserem Hals, seine Brust an unserem Rücken, und als wir fielen, fing er uns auf und trug uns hinüber zum Boot, wo er uns bettete, sanft, zärtlich, und uns zudeckte mit seinem eigenen Mantel.

Und als wir aufwachten, saß er am Klavier, er komponierte, versunken, entrückt, und dann war da Neugier, who is that shape in the shadow, whose is that face in the mask, und wir schlichen uns an, streckten die Hand nach seiner Maske aus, einmal, zweimal, dann schnappten wir zu, und dann … Sein Zorn, seine Abscheu … Curse you! … This is what you wanted to see? … Now you cannot ever be free

Nein, das konnten wir nicht. Aber das hatten wir auch vorher nicht gekonnt. Nicht seine Entstellungen, seine Maske unter der Maske waren es, was sich in uns eingebrannt hatte, nein … seine Musik … sein Wesen … er … Das alles war schon vorher da gewesen. Und all das war wie sein Gesicht: unvergesslich, einzigartig, hässlich, sicher, auf den ersten Blick und auch danach. Aber auch schön. Wunder-, wunderschön.

Und er ließ uns gehen, zurück zu den anderen, und sie zerrten an uns, versuchten uns zurückzuholen, von ihm zu lösen, aber es ging nicht. Er sah uns, immer, wir spürten seinen Blick, his eyes that burn, und wir sahen ihn töten und hörten ihn kreischend darüber lachen, und wir waren entsetzt, verstört, wir fürchteten uns, so sehr, wir fragten uns, who is this man who hunts to kill? I can’t escape from him, I never will, und als Raoul widersprach, mit der Stimme der Vernunft, there is no Phantom of the Opera … Da erzählten wir es ihm …

Raoul, I’ve been there, to his world of unending night, to a world where the daylight dissolves into darkness … darkness … Raoul, I’ve seen him! Can I ever forget that sight? Can I ever escape from that face? So distorted, deformed, it was hardly a face in that darkness …

Und wir wünschten uns, in diesem Moment, all das nie gesehen zu haben, vergessen zu können, alles, die Musik, seinen Anblick, ihn … und doch … But his voice filled my spirit with a strange, sweet sound, in that night there was music in my mind … and through music, my soul began to soar … and I heard as I’d never heard before … Und das war es wert gewesen … Das wollten wir nicht missen … War es das wert gewesen? Wollten wir gehen? Wollten wir bleiben? Aber konnten wir gehen?

Wir versuchten es, und wir scheiterten. Er ließ uns nicht los, er zog uns wieder zu sich, an unsichtbaren Fäden, und fesselte uns, fesselte uns so, dass wir es erst merkten, als es zu spät war, als er uns unlöslich an sich gebunden hatteHe won’t let me go … It won’t ever end … And he’ll always be there, singing songs in my head …

Verrückt, die anderen glaubten, wir seien verrückt, und ja, wir waren verrückt, aber gleichzeitig sahen wir klarer als alle, und wir wussten, worauf wir uns einließen, und wir wollten fliehen, wollten Nein sagen, aber wir konnten nicht … wir konnten nicht … Twisted every way … I know I can’t refuse and yet, I wish I could … Wildly my mind beats against you, yet my soul obeys …

Wir konnten uns nicht lösen, von unserem angel of music, dem angel of darkness, dem angel of death, dem angel of dark, delicious, dangerous desire. Und deshalb kehrten wir noch einmal zu ihm zurück, und er sang, und wir sangen, und dann sangen wir beide gemeinsam, und endlich sprachen wir es aus, die Essenz, das Einzige, was wirklich zählte, weil es alles Für und Wider und Klare und Vernünftige bedeutungslos machte.

 

Past the point of no return

The final threshold

The bridge is crossed, so STAND

And watch it burn

We've passed the point of no return

 

Past the point of no return. Past the point of no return. Past the point of no return.

Die DVD war zu Ende. Das Wohnzimmer war still. Mein Kopf war auch still. Keine Proteste mehr, kein Bitten, kein Flehen, kein Fluchen. Ich saß auf dem Sofa, durchgeschwitzt von Kopf bis Fuß, meine Augen rot und brennend und meine Wangen nass, jede Faser meines Körpers dumpf und schwer. Und darin klang das Echo der Musik.

 

*

Einen Tag später gewannen wir den Telekom-Cup, ein Miniturnier mit vier Mannschaften, das in jeder Sommervorbereitung ausgetragen wurde. Zur Belohnung und zur Erholung nach Trainingslager und Turnier gab Bruno uns zwei Tage frei. Ein letzter, winziger Teil meines Kopfes erhob noch einmal schwache Proteste. Aber nur ganz leise. Und nur ganz kurz. Noch auf der Rückfahrt aus Mönchengladbach buchte ich für den nächsten Morgen den Neun-Uhr-Flug nach London.

 

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Referenzen:

 

„Past the Point of No Return” – aus dem Musical “Phantom of the Opera” von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986. [Auch alle weiteren zitierten Lyrics in diesem Kapitel entstammen dieser Quelle.]

 

Ronald Reng: Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga. München 2013.

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An die Fußballfans: Es war das letzte so musical-lastige Kapitel, versprochen. Und das erste intensive Fußballkapitel rückt auch immer näher. Haltet durch ;)

 

An die Musicalfans: Ich hoffe, ihr habt es genossen. Eigentlich hoffe ich, ihr habt es GEHÖRT. Das wäre die Idealvorstellung. Ich habe beim Schreiben gehört, gesehen und gespürt, und ich kriege jedes Mal beim Lesen wieder Schnappatmung. I’m sorry, but it’s the truth.

Chapter 15: Past the Point of No Return - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Past the Point of No Return

 

Da lag es. Klein, rechteckig, hellbraun, mit Amazon-Logos in schwarzer Schrift und einem weißen Aufkleber mit meinem Namen und Adresse. Kalt und gleichgültig residierte es auf meinem Schreibtisch, zwischen Tastatur und Ronald Rengs Buch „Spieltage“, als ob überhaupt nichts dabei sei. Als ob es jetzt ganz selbstverständlich einfach dazugehörte. Und ich stand davor, in Boxershorts und meinem „Alle-Mann-an-Bord“-Shirt, von dem ich im Chaos der Klassenerhaltsfeierlichkeiten im Juni irgendwie eine XXL-Version abbekommen und das ich deshalb zum Schlafshirt umfunktioniert hatte, mit zerzausten Haaren und nackten Füßen, und starrte es an.

Ich hatte es vergessen. Ich hatte es tatsächlich vergessen. Gestern Nacht waren wir so spät aus dem Trainingslager wiedergekommen, dass ich mit Müh und Not den Weg von der Wohnungstür in mein Zimmer gefunden hatte und sofort eingeschlafen war, und ausnahmsweise hatte ich mal nicht von Ramin geträumt. Ich hatte tief, ruhig und lang geschlafen, und jetzt war ich eigentlich auf dem Weg ins Bad und dann in die Küche zu einer großen Tasse Kaffee gewesen. Aber die konnte ich mir jetzt sparen. Der Anblick des Pakets, das Finn auf meinen Schreibtisch gelegt haben musste, hatte jedes Koffein überflüssig gemacht.

Da waren sie drin. Die CDs. Die DVDs. Ramins Stimme, seine Gesten, seine Mimik, sein Körper, seine Hände, sein Gesicht. Eingefangen auf vier dünnen Scheiben. Und plötzlich meiner Kontrolle unterworfen.

Ich machte einen Schritt auf den Schreibtisch zu und streckte die Hand aus. Am ganzen Arm sah ich Gänsehaut, und ich glaubte nicht, dass das mit dem kühlen Parkettboden an meinen nackten Füßen zu tun hatte. Als meine Fingerspitzen Millimeter über der Pappe schwebten, hielt ich inne.

Ich sollte das nicht tun. Ich hatte ein Scheiß-Trainingslager gespielt, einzig und allein deswegen, weil Ramin andauernd durch meinen Kopf gegeistert war. Und umgekehrt hatte er mich vermutlich längst vergessen. Ein Fick, weiter nichts. Einer von vielen. Von tausenden. Ich hatte nichts zu gewinnen und alles zu verlieren, wenn ich ihn nicht sofort losließ. Aus meinem Kopf vertrieb. Aus, Ende, vorbei. Ich sollte dieses Paket nehmen und in der Elbe versenken.

Ich stand da, mit geteilten Lippen, meine Fingerspitzen noch immer Millimeter von ihm entfernt. Schmeiß es weg! Schmeiß es weg!

Meine Hand schoss nach unten, und meine Finger schnappten zu. In einer einzigen Bewegung riss ich den Schreibtischstuhl herum, krachte darauf hinunter und zog so heftig an der Lasche, dass die halbe Verpackung auseinanderfiel. Zwei Zettel fielen zu Boden und blieben liegen, wo sie waren. Ich nahm nichts mehr wahr außer einem Paar tiefbrauner Augen, in denen das Lodern sogar durch die Plastikfassung der CD-Hülle zu erahnen war.

Sein Solo-Album lag zuoberst. Ramins Name stand in großer Schrift genau mittig auf dem Cover. Er selbst schien auf einem niedrigen Hocker zu sitzen. Er trug eine blaue, am rechten Knie abgewetzte Jeans und eine dunkle Jacke über einem helleren, blauen Oberteil. Seine Hände waren aneinandergelegt, die linke etwas weiter hinten als die rechte, die Finger ausgestreckt. Die Qualität war gut genug, um jede einzelne Ader sehen zu können. Ich starrte sie an. Seine Hände. Regungslos eingefangen auf diesem Foto. Aber in meinem Kopf erwachten sie zum Leben. Sie trennten sich voneinander, streckten sich aus, griffen nach mir. Zogen mir das T-Shirt über den Kopf, fuhren über meinen Oberkörper, über Brust, Bauch und …

Ich schluckte. Blinzelte. Holte Luft. Dann riss ich den Blick los und sah Ramin wieder ins Gesicht.

Sein schwarzes Haar war über der hohen Stirn auf eine sorgfältig angeordnete unordentliche Art nach rechts gekämmt, seine Augenbrauen voll und seine Wangen genau so, wie ich sie in echt gesehen hatte: rasiert, aber mit Bartschatten. Seine Lippen waren geöffnet, ganz leicht, nur einen Spalt breit, aber das war genug. Ich spürte sie, kraftvoll, hungrig, dominant, auf meinen Lippen, meinem Hals, meiner Brust, meinen Oberschenkeln …

Ich stieß die Luft aus, legte den Kopf in den Nacken, sah die weiße Zimmerdecke, schüttelte mich. Mein Atem ging schwer. Ich wartete, kämpfte, und erst, als ich mich ein wenig beruhigt hatte, senkte ich den Blick wieder auf die CD.

Ramin schaute direkt in die Kamera. Direkt auf mich. Ich starrte und starrte, und ich fiel, kopfüber in seine Augen, diese Höhlen, tief, unergründlich, aber mit diesem Schimmer, dieser Verheißung von Feuer und Licht und Wärme. Ich fiel und fiel. Wollte nie mehr aufhören. Nie wieder auftauchen.

Als ich es dann doch irgendwann tat, nahm ich zum ersten Mal das Foto als Ganzes wahr. Ich sah ihn dort sitzen, in die Kamera schauen, offen, freundlich, mühelos, und ich wollte, dass er sich bewegte, sicher, geschmeidig, wollte ihn hören, riechen, schmecken, fühlen. Ich wollte mehr.

Ich schluckte und fuhr mir mit der Zunge über die Oberlippe. Mit bebenden Fingern begann ich, mir einen Weg unter die Plastikfolie zu graben. Vielleicht waren im Booklet ja noch mehr Fotos von Ramin.

Das waren sie. Sechs Stück waren drin, und eins fand ich noch auf der Rückseite der CD. Jedes saugte ich auf, in jedem ertrank ich, in seinen Armen, seinen Lippen, seinen Augen. Ramin, gegen eine hölzerne Leiter lehnend, den Blick abgewandt, durch ein Fenster hinter ihm in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Ramin, sitzend auf derselben Leiter. Ramin, in Lederjacke vor einem dunklen Hintergrund. Ramin, breit lachend. Ramin, mit irgendwie fragendem oder vielleicht aufforderndem Gesichtsausdruck vor einer Wand mit orientalischen Malereien. Ramin, auf den Fußballen auf einem Stuhl hockend, den Kopf in die Hände gestützt, nachdenklich. Ramin, stehend, leicht vornübergeneigt, mit dem rechten Ellbogen gegen eine Backsteinwand gestützt und den Kopf in die Innenseite des Arms gelehnt, die linke Hand bis auf den Daumen in der Jeanstasche vergraben.

Ich schaute und schaute. Erst, als sich jedes Detail in mich gebrannt hatte, klappte ich das Booklet zu. Umständlich steckte ich es zurück in die Hülle. Für einen Moment sah ich das Cover noch einmal durch das Plastik hindurch an. Mein Daumen strich hauchzart über sein Gesicht. Mit beiden Händen, als wäre sie ein rohes Ei, legte ich die CD auf „Spieltage“ und wandte mich der nächsten zu, der Original-Cast-Aufnahme von „Love Never Dies“.

Ich atmete gleich etwas leichter, denn auf dem Cover war diesmal kein Ramin abgebildet. Nur eine Maske mit vollen roten Lippen und schwarzen Augenhöhlen. Auf der Rückseite waren nur die Tracks aufgeführt. Auch hier fummelte ich also das Booklet heraus und wurde schon auf der zweiten Doppelseite belohnt: Am rechten unteren Rand war ein kleines Bild von Ramin und einer Frau, die der Unterschrift nach Sierra Boggess war, Arm in Arm und beide strahlend. Ich lächelte. Ramin sah richtig gelöst aus, so hatte ich ihn bis jetzt noch nicht erlebt.

Auch auf der nächsten Seite waren zwei kleine Bilder von ihm, einmal konzentriert über ein Heft gebeugt, das vermutlich Noten oder Text enthielt, den Komponisten Andrew Lloyd Webber an seiner Seite, und noch mal mit Sierra Boggess, diesmal im Scheinwerferlicht und vermutlich bei irgendeiner Veranstaltung. Ich blätterte bis zum Ende, aber Bilder von Ramin waren keine mehr drin. Auch hier steckte ich das Booklet vorsichtig zurück in die Hülle, bevor ich das Album zur Seite legte.

Jetzt waren noch die DVDs übrig. „Les Misérables“ und „Phantom of the Opera“, jeweils das fünfundzwanzigste Jubiläum. Die Les-Mis-DVD lag obenauf, war aber nicht besonders spannend. Auf dem Cover war nur ein aus einiger Höhe aufgenommenes Foto der Bühne, auf der eine ganze Menge winziger Leute standen, und es gab kein Booklet. Ich versuchte, Ramin unter den Schauspielern auf dem Cover auszumachen, aber das konnte ich vergessen. Die Gesichter waren nicht zu erkennen, und um Ramin allein anhand seines Kostüms zu identifizieren, kannte ich das Musical nicht gut genug. Ich legte die DVD zur Seite.

Nur die Phantom-DVD blieb. Ich nahm sie in die Hand. Auf dem Titelbild war wieder kein Ramin, nur ein Haufen anderer Leute. Ich drehte die DVD um, und da war er. Das Foto war relativ klein, und ich hielt die Hülle ganz nah vor meine Augen, damit mir ja nichts entging.

Das Bild stammte aus einer Aufführung. Ramin trug einen schwarzen Mantel über einem weißen Hemd, sogar mit weißer Fliege. Sein linker Arm war gehoben, seine Augen nach oben gerichtet – zumindest das Auge, das ich sehen konnte, das linke. Das rechte war, wie schon bei der „Love-Never-Dies“-Aufführung, nur durch ein Loch in der Maske auszumachen, die sich von seinem rechten Kinn über die Oberlippe schräg hoch zur Stirn zog, direkt über die Nase, bis sie unter einem schwarzen Hut verschwand, den Ramin leicht schräg auf dem Kopf trug. Sein Mund war geöffnet. Er sang.

Ich wollte schlucken und konnte nicht. Ramin … Seine Hand, sein Blick, sein Mund, seine Stimme, die im Foto verloren war und die trotzdem durch meinen Kopf hallte, undeutlich, vage, nur ein Echo, und doch … Er war so übernatürlich. So sehr nicht von dieser Welt. Erhaben, entrückt, mystisch, geheimnisvoll, bedrohlich … Mit einer Aura, die … die …

Ich schauderte. Plötzlich war mir kalt, und wieder spürte ich Gänsehaut am ganzen Körper. Leute, was ist das? Ein Foto, daumengroß, noch nicht mal. Und ich falle hier auseinander.

Ich schüttelte den Kopf, lehnte mich in den Stuhl zurück und atmete, den Blick wieder auf die Zimmerdecke gerichtet. Erst, als sich das Kribbeln halbwegs verzogen hatte, schaute ich wieder hinunter auf die DVD-Hülle.

Da war noch ein zweites Bild auf der Rückseite: ein Mann und eine Frau, die sich lachend in die Arme fielen. Ich wusste genug von der Handlung des Musicals, um ziemlich sicher sein zu können, dass das Raoul und Christine waren. Christine, die junge Sängerin im Ensemble der Oper, die das Phantom als seine beanspruchte. Es lebte dort im Untergrund, ungesehen, nicht zu greifen. Die Eigentümer und auch Raoul glaubten zuerst nicht, dass es überhaupt existierte, und doch hielt es alle Fäden in der Hand. Christine war sein Liebling, seine Schülerin, die ihn verzauberte mit ihrer Stimme, und die es verzauberte mit seiner Musik. Und Raoul war Christines alter Schulfreund, der ihr am Anfang des Musicals nach Jahren wieder begegnete, der sie liebte und der im weiteren Verlauf der Handlung immer versuchte, sie vom Phantom weg und auf seine Seite zu ziehen. Er war das Gegengewicht zum Phantom: jung, gutaussehend, gesellschaftsfähig, sogar adelig, reich. Und trotzdem konnte er Christine nicht völlig vom Phantom lösen. Immer wieder, obwohl sie es selbst gar nicht immer wollte, kehrte sie zu ihm zurück. Unfähig, aus seinem Bann zu entkommen. Egal, was die Konsequenzen waren.

Ich atmete, schüttelte den Kopf. Resolut drehte ich die DVD wieder um. Als mein Blick auf die Namen unter dem Coverfoto fiel, stellte ich fest, dass Christine schon wieder von Sierra Boggess gespielt wurde. Die verfolgte Ramin irgendwie. Die Glückliche.

Ich stieß die Luft aus und presste die Lippen zusammen. Sie ist eine Frau, Martin. Alles gut. Und ganz unabhängig davon ist das einfach lächerlich.

Ich schloss die Augen. Lächerlich, ja. Das war es allerdings.

Ich legte die DVD auf den Schreibtisch und fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht. Vor mir lagen jetzt auf einem Stapel die beiden CDs und die Les-Mis-DVD auf „Spieltage“, links daneben die Phantom-DVD auf den Überresten der Verpackung. Und jetzt? In den Schrank stellen, aufräumen?

Ich sah auf die Uhr, die über meinem Bett an der Wand hing. Kurz nach halb elf. Zum Training musste ich erst am Nachmittag, und Finn war nicht da, weil er ein Vorbereitungsspiel mit der U23 hatte. Ich hatte die Wohnung für mich, ich hatte Zeit, und ich hatte offensichtlich keinen Funken Selbstkontrolle mehr im Leib. Mein Kopf hielt einen Strom von Vorwürfen und dunklen Zukunftsaussichten aufrecht, während ich mir eine Trainingshose überzog, die Phantom-DVD vom Schreibtisch nahm, mit ihr ins Wohnzimmer ging und sie in den Blu-Ray-Player schob. Aber es brachte null Komma null. Ich drehte mich um, setzte mich aufs Sofa, fand mit gefühllosen Fingern die richtigen Knöpfe auf der Fernbedienung. Und dann ging es los.

Es ging los, und ich war weg. Weg aus Hamburg, aus dem Wohnzimmer, aus mir. Ich war in Paris, in der Opera Populaire, und ich war nicht mehr Martin, kein Zuschauer, nicht passiv, kein Außenstehender. Ich war Christine. Und ich war dabei. In der Oper. In der Musik. Bei ihm.

Und ich lechzte mit ihr nach seiner Aufmerksamkeit, seiner Anerkennung, und wir bekamen sie … Brava, brava, bravissima … Und dann der Name … Christine … Er sang ihn so sanft, so zärtlich, so umgarnend, so begehrend … Es war das Einzige für ihn. Wir waren das Einzige, das für ihn zählte.

Und er war unser Phantom, unser angel of music, unsere dunkle Seite, und natürlich hatten wir Angst, wir fürchteten uns vor ihm, aber als der Spiegel sich teilte, als er heraustrat und die Hand ausstreckte, da ergriffen wir sie ohne zu zögern, weil wir es nicht anders wollten, weil wir nicht anders konnten.

Und dann … In sleep he sang to me, in dreams he came, that voice which calls to me and speaks my name … Oh ja. Wieder und wieder, ungebeten, unerwünscht, und doch so willkommen … so unbedingt gebraucht … And do I dream again? For now I find the Phantom of the Opera is there, inside my mind … Immer. Ständig. In meinem Kopf, in meinen Träumen, in meinem Herzen. Und er wusste es, er sagte es, my power over you grows stronger yet, and der Chor warnte, rief, schrie, Beware the Phantom of the Opera!, aber es war zu spät, zu wenig, zu schwach, bedeutungslos neben ihm, seiner Maske, seinem Boot, seinen Händen, seiner Stimme, seiner Musik. Und er war undurchschaubar, vielschichtig, wer er wirklich war, wussten wir nicht, aber das war egal, denn in all your fantasies you always knew that man and mystery were both in you, und das war es ja gerade, das Geheimnis, das Dunkle, die Gefahr, die uns so unwiderstehlich anzog, und deswegen waren wir bei ihm, bei ihm und nicht bei Raoul.

Und bei ihm … in seinem Reich, über dem See, inmitten der Kerzen, der Schwärze, der Nacht … da machte er uns sich zu eigen. Silently the senses abandon their defenses … Close your eyes and surrender to your darkest dreams … Open up your mind, let your fantasies unwind, in this darkness which you know you cannot fight … Und wir schüttelten den Kopf; als ob wir es je versuchen würden, als ob wir es je versuchen wollten … Let your soul take you where you long to be … Only then can you belong to me … Oh bitte … dir gehören … ja … Floating, falling, sweet intoxication … Touch me, trust me, savour each sensation … Let the dream begin, let your darker side give in, to the power of the music that I write … The power of the music of the night …

Und die Musik wuchs, fiel, floss und strömte, bis unser ganzer Körper sang, wir spürten seine Hand an unserem Hals, seine Brust an unserem Rücken, und als wir fielen, fing er uns auf und trug uns hinüber zum Boot, wo er uns bettete, sanft, zärtlich, und uns zudeckte mit seinem eigenen Mantel.

Und als wir aufwachten, saß er am Klavier, er komponierte, versunken, entrückt, und dann war da Neugier, who is that shape in the shadow, whose is that face in the mask, und wir schlichen uns an, streckten die Hand nach seiner Maske aus, einmal, zweimal, dann schnappten wir zu, und dann … Sein Zorn, seine Abscheu … Curse you! … This is what you wanted to see? … Now you cannot ever be free

Nein, das konnten wir nicht. Aber das hatten wir auch vorher nicht gekonnt. Nicht seine Entstellungen, seine Maske unter der Maske waren es, was sich in uns eingebrannt hatte, nein … seine Musik … sein Wesen … er … Das alles war schon vorher da gewesen. Und all das war wie sein Gesicht: unvergesslich, einzigartig, hässlich, sicher, auf den ersten Blick und auch danach. Aber auch schön. Wunder-, wunderschön.

Und er ließ uns gehen, zurück zu den anderen, und sie zerrten an uns, versuchten uns zurückzuholen, von ihm zu lösen, aber es ging nicht. Er sah uns, immer, wir spürten seinen Blick, his eyes that burn, und wir sahen ihn töten und hörten ihn kreischend darüber lachen, und wir waren entsetzt, verstört, wir fürchteten uns, so sehr, wir fragten uns, who is this man who hunts to kill? I can’t escape from him, I never will, und als Raoul widersprach, mit der Stimme der Vernunft, there is no Phantom of the Opera … Da erzählten wir es ihm …

Raoul, I’ve been there, to his world of unending night, to a world where the daylight dissolves into darkness … darkness … Raoul, I’ve seen him! Can I ever forget that sight? Can I ever escape from that face? So distorted, deformed, it was hardly a face in that darkness …

Und wir wünschten uns, in diesem Moment, all das nie gesehen zu haben, vergessen zu können, alles, die Musik, seinen Anblick, ihn … und doch … But his voice filled my spirit with a strange, sweet sound, in that night there was music in my mind … and through music, my soul began to soar … and I heard as I’d never heard before … Und das war es wert gewesen … Das wollten wir nicht missen … War es das wert gewesen? Wollten wir gehen? Wollten wir bleiben? Aber konnten wir gehen?

Wir versuchten es, und wir scheiterten. Er ließ uns nicht los, er zog uns wieder zu sich, an unsichtbaren Fäden, und fesselte uns, fesselte uns so, dass wir es erst merkten, als es zu spät war, als er uns unlöslich an sich gebunden hatteHe won’t let me go … It won’t ever end … And he’ll always be there, singing songs in my head …

Verrückt, die anderen glaubten, wir seien verrückt, und ja, wir waren verrückt, aber gleichzeitig sahen wir klarer als alle, und wir wussten, worauf wir uns einließen, und wir wollten fliehen, wollten Nein sagen, aber wir konnten nicht … wir konnten nicht … Twisted every way … I know I can’t refuse and yet, I wish I could … Wildly my mind beats against you, yet my soul obeys …

Wir konnten uns nicht lösen, von unserem angel of music, dem angel of darkness, dem angel of death, dem angel of dark, delicious, dangerous desire. Und deshalb kehrten wir noch einmal zu ihm zurück, und er sang, und wir sangen, und dann sangen wir beide gemeinsam, und endlich sprachen wir es aus, die Essenz, das Einzige, was wirklich zählte, weil es alles Für und Wider und Klare und Vernünftige bedeutungslos machte.

 

Past the point of no return

The final threshold

The bridge is crossed, so STAND

And watch it burn

We've passed the point of no return

 

Past the point of no return. Past the point of no return. Past the point of no return.

Die DVD war zu Ende. Das Wohnzimmer war still. Mein Kopf war auch still. Keine Proteste mehr, kein Bitten, kein Flehen, kein Fluchen. Ich saß auf dem Sofa, durchgeschwitzt von Kopf bis Fuß, meine Augen rot und brennend und meine Wangen nass, jede Faser meines Körpers dumpf und schwer. Und darin klang das Echo der Musik.

 

*

Einen Tag später gewannen wir den Telekom-Cup, ein Miniturnier mit vier Mannschaften, das in jeder Sommervorbereitung ausgetragen wurde. Zur Belohnung und zur Erholung nach Trainingslager und Turnier gab Bruno uns zwei Tage frei. Ein letzter, winziger Teil meines Kopfes erhob noch einmal schwache Proteste. Aber nur ganz leise. Und nur ganz kurz. Noch auf der Rückfahrt aus Mönchengladbach buchte ich für den nächsten Morgen den Neun-Uhr-Flug nach London.

 

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Referenzen:

 

„Past the Point of No Return” – aus dem Musical “Phantom of the Opera” von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986. [Auch alle weiteren zitierten Lyrics in diesem Kapitel entstammen dieser Quelle.]

 

Ronald Reng: Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga. München 2013.

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An die Fußballfans: Es war das letzte so musical-lastige Kapitel, versprochen. Und das erste intensive Fußballkapitel rückt auch immer näher. Haltet durch ;)

 

An die Musicalfans: Ich hoffe, ihr habt es genossen. Eigentlich hoffe ich, ihr habt es GEHÖRT. Das wäre die Idealvorstellung. Ich habe beim Schreiben gehört, gesehen und gespürt, und ich kriege jedes Mal beim Lesen wieder Schnappatmung. Es tut mir leid, aber es ist die Wahrheit.

Chapter 16: I Will Survive

Chapter Text

  1. Kapitel: I Will Survive

 

Karimloo.

Schwarz auf weiß stand es auf dem Klingelschild, dem zweiten von unten in der Spalte ganz links. Mein Zeigefinger schwebte darüber. Hinter mir hörte ich das Taxi davonfahren.

Eine eiserne Faust hatte sich um meinen Magen geklammert. Ich zog den Finger noch einmal zurück und holte das Handy aus der Tasche. Es war viertel nach zehn, die Uhr hatte sich selbstständig an die englische Zeit angepasst. War das zu früh? Würde er noch schlafen?

Aber als ich bei ihm gewesen war, war er da auch schon wach gewesen. Und ich war jetzt nun mal hier; ich konnte schlecht eine halbe Stunde oder Stunde vor der Haustür rumstehen und auf eine christlichere Zeit warten. Ich atmete durch, ließ das Handy wieder in der Hosentasche verschwinden und presste den Finger auf den Klingelknopf.

Stille. Eine Sekunde, zwei, drei, vier. Mein Mund war trocken, meine Handflächen dafür feucht. Ich schrubbte sie an der Jeans entlang. Was würde er tun? Würde er mich überhaupt reinlassen? Und selbst wenn, würde er mich sofort wieder rausschmeißen, wenn ich ihm keine vernünftige Erklärung liefern konnte, warum ich hier war? Würde er sich überhaupt an mich erinnern? Würde er –

Ein Knacken aus der Sprechanlage. Ich fuhr zusammen. Ein paar Kieselsteine klackerten gegen die Hauswand. Hoffentlich hatte er das nicht gehört. Hoffentlich –

„Hello?“

Ich starrte. Die Stimme klang munter und fröhlich. Irgendetwas darin kam mir vage bekannt vor. Aber vor allem war sie unverkennbar – weiblich.

„Ähh … hi.“ Ich schluckte, blinzelte. Damit hast du nicht gerechnet, was?

Nein, in der Tat. Der Gedanke, dass jemand außer Ramin da sein könnte, war mir zu keinem Zeitpunkt gekommen. Aber wenn, hätte ich wohl eher einen anderen Mann erwartet. Schlagartig wurde mir nachträglich übel. Wenigstens das würde mir wohl hoffentlich erspart bleiben, wenn diese … tja, wer? … bei ihm war.

In der Sprechanlage herrschte Stille. „Ähh … hi“ war vermutlich nicht genug gewesen. Komm schon, sag was. Irgendwas.

„It’s – er, it’s Martin. I’m looking for Ramin Karimloo?“

„And you’ve found him.“ Ein Lachen schwang in der Stimme mit. Die Faust um meinen Magen lockerte sich ein wenig. „Come on up!“

Der Öffner summte. Meine Hand hechtete zur Tür. Mit schnellen Schritten lief ich die Stufen hoch. Als ich den Absatz erreichte, machte die Treppe eine 180-Grad-Wende, und jetzt konnte ich die Tür zu Ramins Wohnung sehen. Sie war offen, und jemand stand darin. Aber es war nicht Ramin.

Ich erkannte sie auf den ersten Blick. In der Aufführung hatte sie verschiedene Kleider getragen und braunes Haar gehabt, jetzt trug sie Top und Dreivierteljeans und das Braun ihrer Haare hatte einen deutlichen Stich ins Rötliche, aber trotzdem gab es keinen Zweifel: Das war die Frau, die mich vorgestern mitgenommen hatte, die mich geführt hatte auf unserem Weg zum Phantom und wieder zurück und wieder hin und wieder zurück. Deswegen war mir auch ihre Stimme bekannt vorgekommen. Vor mir, in Ramins Wohnungstür, stand Sierra Boggess, Ramins Christine.

Ich stieg die letzten Stufen hinauf, bis ich vor ihr stand. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und schaute mir direkt in die Augen. Ihre waren leuchtend grün und hellwach. Ein Kribbeln fuhr von der Kopfhaut bis in die Zehenspitzen durch mich hindurch. Aber dann lächelte sie, trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. „Come on in. I’m Sierra.“

“I know.” Ich fühlte mein Gesicht heiß werden. „I mean … ah … you know, from the performance, and the DVD … I mean, the recording of …”

Viel zu spät fing ich meine Zunge ein. Eine Sekunde lang wäre ich am liebsten auf dem Absatz umgedreht und weggerannt. Was zur Hölle ist falsch mit dir? Hast du das Reden verlernt oder was?

Sierra hielt mir immer noch die Tür auf, und immer noch lächelte sie. Nur ihre Augenbrauen waren einen Hauch nach oben gewandert. Aber nicht, als würde sie sich über mich lustig machen. Ich nahm einen tiefen Atemzug, und meine Schultern spannten sich. Mit einiger Anstrengung brachte ich ein Lächeln auf meine Lippen und trat mit einem großen Schritt über die Schwelle.

„I’m sorry.“ Ich holte noch einmal Luft. Sierra ließ die Tür zuschnappen und sah mir weiter in die Augen. „What I meant was I saw you in the performance of “Love Never Dies” here in London, and also on the DVD of the anniversary of “Phantom of the Opera”. It was …”

Jetzt musste ich doch wieder innehalten. Aber nicht, weil meine Zunge zu einem hin- und herwirbelnden Stück Stoff im Sturm geworden war, sondern, weil mir diesmal wirklich keine Worte einfielen. Als ich sie auch nach ein paar Sekunden Schweigen nicht gefunden hatte, beließ ich es bei Annäherungen.

„Fantastic. Brilliant. Amazing. I …“ Ich lachte. Meine Zunge fuhr blitzschnell über meine Oberlippe. „I don’t know what to say really. You were ... I mean, you both were …”

Sierras Augenbrauen hatten sich wieder entspannt, und ihr Lächeln war breiter geworden. Irgendwas an ihrem Blick war auch anders. Ihr ganzes Gesicht strahlte plötzlich Wärme aus. „That’s sweet. Thank you.“

Ihre Stimme war leise und genauso warm wie ihr Blick. Sie klang anders als ihre Gesangsstimme, genauso wie bei Ramin auch. Aber auch wie bei ihm war da etwas in beiden, das gleich war, eine Note, ein Fundament, ein gemeinsamer Nenner. Unverwechselbar war das die Stimme, die mich vorgestern mitgerissen hatte, die all das ausgesprochen hatte, was auch in mir gewesen war, die Stimme, mit der ich verschmolzen war. Und dahinter stand diese Frau, mit rotbraunem Haar und hellwachem Blick. Sie war hier, vor mir, ganz in echt. Ich würde Ramin nicht allein gegenübertreten müssen. Das Lächeln, das sich jetzt auf meinem Gesicht ausbreitete, war echt und kostete mich keine Mühe.

Sierras Blick wanderte blitzschnell über mich hinweg, von meinem Haar über T-Shirt, Schultergurte des Rucksacks, Jeans und Sneakers. „I’m guessing Ramin and I didn’t impress you both in the same way, though, did we?”

Ich öffnete den Mund. Konnte nicht atmen. Schloss ihn wieder. Versuchte zu schlucken. Ganz ruhig. Sie weiß nicht, wer du bist. Das KANN sie gar nicht wissen. „How … ?“

„How did I know? I know Ramin. Very, very well.” Erneut huschte ihr Blick über mich hinweg. „He doesn’t know you‘re here, does he?”

Ich schluckte. Mein Mund war immer noch trocken. Ich schüttelte den Kopf.

Einen Moment fixierte sie mich noch. Dann blinzelte sie, lächelte und legte mir kurz die Hand auf den Arm. „Don’t worry. I’m sure he’ll be pleased to see you.” Sie ruckte den Kopf in Richtung Garderobe. „Why don’t you leave your backpack there? Then you can unpack later.”

Ich nickte. Sagen konnte ich nichts. Ich ließ den Rucksack von den Schultern gleiten, stellte ihn ab und zog die Schuhe aus. Dann richtete ich mich auf und fixierte die Wohnzimmertür. Sie war geschlossen, und im Moment fühlte es sich an, als wartete dahinter die Frontlinie einer feindlichen Armee und nicht der Mann, in den ich mich verliebt hatte.

Sierra stand immer noch neben mir. Ich spürte ihren Blick. Als ich sie ansah, lächelte sie und zwinkerte mir zu. „Come on. He won’t bite.“

Sicher? Ich schaffte es, ihr Lächeln zu erwidern, aber die Hand heben und die Tür öffnen konnte ich nicht. Nachdem ich ein paar Sekunden regungslos dagestanden hatte, trat Sierra einen Schritt nach vorn, und gleich darauf spürte ich ihre Hand an meinen Rücken. „It’s all right. I‘ll go first.”

Sie legte die andere Hand auf die Klinke, aber dann hielt sie noch einmal inne und drehte sich wieder zu mir um. Ihre Augen waren fast unmerklich verengt. „How old are you?“

„Nineteen.“ Ich hatte normal sprechen wollen, aber heraus kam nur ein tonloser Hauch. Aber in der Stille des winzigen Eingangsbereichs hatte Sierra mich trotzdem verstanden. Ihr Blick huschte noch einmal über mich hinweg, dann lächelte sie und verstärkte den Druck ihrer Hand an meinem Rücken, bevor sie mich losließ, die Tür öffnete und vorausging.

„Who was it?“

Das war Ramin. Kein Zweifel. Ich stand stocksteif da, von Kopf bis Fuß eingefroren. Nur mein Gesicht war knallheiß.

You ought to know.“ Sierras Stimme war leicht, fast spielerisch. Aber da war ein Unterton. Unwillkürlich tauchte das Bild des Panthers wieder in meinem Kopf auf – nur, dass Ramin diesmal nicht der Jäger war. Ich zwang einen Atemzug durch meine zusammengeschnürte Kehle und trat durch die Tür.

Ramin saß am Frühstückstisch, auf dem Platz, auf dem er auch mir gegenübergesessen hatte. Er hatte Sierra angesehen, aber bei der Bewegung in der Tür glitt sein Blick das kleine Stück nach rechts. Seine Augen weiteten sich. Die linke Hand fror mitsamt Toast auf dem Weg zu seinem Mund ein. Wortlos starrte er mich an.

Ich hätte gerne gelächelt. Oder etwas gesagt. Etwas Cooles, Lockeres, das ihn zum Lachen bringen und das Eis zerschlagen würde. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nur dastehen, ihn anschauen und warten.

„You.“ Ramins Hand sank langsam zurück auf den Tisch. „What the fuck are you doing here?“

Meine Kehle arbeitete. Aber zum Sprechen kriegte ich nicht genug Luft zusammen, und mein Kopf war ohnehin leer. Er wusste noch, wer ich war. Immerhin. Aber genauso offensichtlich hatte er weder damit gerechnet, mich zu sehen, noch war er glücklich darüber, dass es doch passiert war.

Die Stille presste auf meine Schultern und meine Brust. Ich schielte zu Sierra hinüber. Sie stand zwischen Küchenzeile und Esstisch, die linke Hand locker in die Hüfte gestemmt, und fixierte Ramin. „What Ramin means to say is Hello Martin, how nice that you’re here, may I offer you some tea?”

Ramin sah sie an. Einen Moment hielten die beiden den Blickkontakt. Dann zuckte seine Oberlippe, er stieß die Luft aus, wandte sich wieder zu mir und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Hello Martin, how nice that you’re here, may I offer you some tea?“

Aufgesetzt und genauso spöttisch wie sein Lächeln. Aber trotzdem brach ein wenig von dem Eis in meinem Körper. Wenigstens eine Person auf der Welt schien es zu geben, die nicht wehrlos an Ramins Fäden hing. Ich versuchte, zu sprechen, und merkte, dass es ging. „Ah – yes, thank you.“

Ramin schnaubte, stand auf und wies auf den Stuhl an der kurzen Seite des Tisches mit dem Rücken zur Tür. „Sit down.“ Er drehte sich zur Küchenzeile und nahm den Wasserkocher von der Station, ohne zu warten, ob ich der Aufforderung folgte oder nicht.

Mein Blick hing für einen Moment an seinem Rücken. Dann glitten meine Augen zu Sierra, die grinste, mir zuzwinkerte und nickte. Ich lächelte schief, wischte meine Handflächen an der Jeans entlang und setzte mich. Sierra umrundete meinen Stuhl und nahm ihren Platz gegenüber von Ramin ein, dort, wo ich das letzte Mal gesessen hatte. Sie verschränkte vor ihrem leeren Teller die Finger und schenkte mir ein strahlendes Lächeln, als ob ihr in diesem Moment nichts mehr Freude bereiten könnte, als sich mit mir zu unterhalten. „So, Martin. You came here specially to see Ramin, did you?“

„Er, yes.“ Ich schielte nach rechts, aber Ramin stand immer noch mit dem Rücken zu uns. Der Wasserkocher blubberte, aber vermutlich konnte er trotzdem jedes Wort hören.

Sierra sah mich immer noch mit diesem strahlenden Lächeln an. „How marvellous! Did you have a very long journey?”

“Er …” Verdammt. Was jetzt? “Well, I … I came from Germany.” Bitte lass sie jetzt nicht nach Details fragen. BITTE.

„From Germany? Really?“ Sie klang interessiert, sogar erfreut. Ihre Augen funkelten, mit Wärme, Offenheit – aber war da noch etwas anderes? Sie hatte ziemlich laut gesprochen. Nicht unangenehm. Aber dafür, dass eigentlich nur ich es hören musste und dass ich keinen Meter entfernt von ihr saß, hätte es auch ein bisschen leiser sein können. „So you’ll be staying the night then, of course? And I’ll see you at the performance?”

„Er …“ Langsam kam ich mir vor wie ein Papagei. Aber ich war mir einfach bei jeder Frage gleich unsicher, was ich darauf sagen sollte. Ja, ich könnte über Nacht bleiben. Ja, ich wollte über Nacht bleiben, und ich hatte darauf gehofft, dass Ramin mich lassen würde. Und natürlich würde ich auch gerne noch einmal in die Aufführung gehen, wenn Ramin mich mitnahm. Aber das alles musste ich eben eigentlich mit ihm besprechen. Ich konnte mich ja nicht einfach selber dazu einladen. Oder?

Wieder sah ich zur Küchenzeile hinüber, aber Ramin goss gerade den dampfenden Inhalt des Wasserkochers in eine Tasse und drehte uns weiterhin den Rücken zu. „Well, I’d … eh … I’d like to.“

Allmählich fühlte ich mich im unverwandten Fokus von Sierras Lächeln wie unter einem sehr heißen Scheinwerfer. Aber bevor ich noch etwas sagen musste, drehte sich Ramin endlich zu uns um. Er stellte die Tasse vor mir ab und funkelte Sierra an. “Sierra, why don’t you leave him the fuck alone? He’s here uninvited, so it’s my opinion that matters, not his, all right?“

Ich zuckte zusammen. Aber weder Ramin noch Sierra schien es aufgefallen zu sein. Ohne zu blinzeln starrten sie einander an. Sierra zog eine Augenbraue hoch. „But you never fail to voice your opinion anyway. So there’s no point asking for it, really, is there?”

Ramin stieß ein Schnauben aus, das wie ein Knurren klang, und schien etwas sagen zu wollen. Aber dann ließ er sich wortlos in seinen Stuhl fallen. Sierras Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und in ihren Augen funkelte es immer noch.

Ich sah von einem zum anderen und fühlte ein Lachen in mir aufsteigen. Ich presste die Lippen aufeinander, aber ein leichtes Schnauben konnte ich nicht unterdrücken.

Ramin fuhr herum. „What are you laughing at?”

Vor seinem peitschenden Ton zuckte ich zurück. „Nothing.“ Aber dann sah ich ihm in die Augen, und plötzlich fielen die Fesseln von mir ab. „You. You sound like an old married couple!“

Sierra lachte. Ramins Zeigefinger schnellte wie ein gezückter Dolch hervor. „Hey, I’m not old!“ Er stieß ein trockenes Lachen aus. „And I’m not fucking married!“

„Yes, but if you were married”, kam es zuckersüß von links, “it would be to me.”

Ramin schnaubte. Ich starrte von einem zum anderen. Waren die beiden … Hatte ich ihn so falsch eingeschätzt? „But … I thought you were gay!“

Ramin öffnete den Mund, aber Sierra kam ihm zuvor. „Oh, he is gay, of course he’s gay!” Sie nickte gewichtig, bevor sie sich wieder Ramin zuwandte. „But sex and love don’t have anything to do with each other. Do they, Ramin?“

Aha. Ich starrte auf meine Teetasse und biss mir so heftig auf die Oberlippe, dass es wehtat. Ich hatte es gewusst; ich hatte gewusst, dass Ramin mit allen möglichen wildfremden Leuten Sex hatte, dass für ihn hinter unserer Nacht nichts gestanden hatte außer Spaß, und trotzdem traf mich dieser Satz härter als jeder von Ramins Blicken und jedes seiner Worte. Ich klammerte die Hand so fest um die Tischplatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Einen Moment war es still. Dann atmete Ramin aus und zischte, in einem ganz anderen Ton als zuvor: „Christ, Sierra, can’t you shut up?“

Ich riskierte einen Blick nach oben. Sierra sah Ramin ohne zu blinzeln und jetzt auch ohne zu lächeln an. „No, I can’t!“ Auch ihr Ton hatte sich geändert. Jedes ihrer Worte war hart wie Stahl.

Ich schaute vom einen zum anderen. Was war denn jetzt los? Aber nur durch Gucken fand ich keine Antwort, und ihr Wortgefecht setzten die beiden nicht fort. Einen Moment duellierten sie sich noch schweigend, dann waren es Ramins Augen, die zur Seite zuckten. „Yeah. Well. Whatever.“

Er lehnte sich in den Stuhl zurück, und sein Blick huschte zur Decke, dann über mich hinweg, bevor er zu Sierra zurückkehrte. „Look, didn’t you say you had an appointment or something?“

Sie hob die Augenbrauen. „Fine. I’ll go.“

Sie erhob sich. Ramin ließ sie nicht aus den Augen. Sie hielt seinen Blick, ohne eine Miene zu verziehen. Dann wandte sie sich mir zu und lächelte, genauso warm und strahlend wie zuvor. „It was so nice to meet you, Martin. See you tonight!”

“Am … thanks. You too!” Ich hatte das Gefühl, noch mehr sagen zu müssen. Aber was? Meine Kehle war schon wieder so eng, dass ich schon diese wenigen Worte kaum rausgebracht hatte. Also zwang ich mir nur ein Lächeln auf die Lippen und blieb stumm sitzen.

Sierra zwinkerte mir zu, wandte sich ab und verließ das Wohnzimmer, ohne sich von Ramin zu verabschieden oder ihn noch einmal anzusehen. Ich hörte, wie sie sich ihre Schuhe anzog. Meine Augen fixierten meine Teetasse. Der Beutel musste vermutlich längst raus. Aber meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich sowieso nichts trinken könnte. Ramins Präsenz spürte ich wie einen Hitzestrahler. Gleich. Gleich bin ich mit ihm allein. Was würde er dann tun? Würde er mich auch rausschmeißen? Sehr freundlich war er bisher ja nicht gerade gewesen.

Ich spürte einen Luftzug in den Haaren und verdrehte den Nacken. Sierra hatte ihren Kopf noch einmal durch die Wohnzimmertür gesteckt und lächelte Ramin mit einem so lammfrommen Gesichtsausdruck an, dass es mir kalt den Rücken herunterlief. „Oh, and Ramin?“

„What?“

„Don’t spend all day in bed.“ Sie lächelte, zog den Kopf aus der Tür und war mit einem Schnappen der Wohnungstür verschwunden.

Mit offenem Mund starrte ich ihr hinterher. Hinter mir hörte ich Ramin schnauben. Ich wandte den Kopf. Sein Blick sagte zwar, wie knapp sein Geduldsfaden vor dem Reißen war, aber um seinen Mund … zuckte da nicht etwas?

„She’s … quite a character.“ Mein Mundwinkel wanderte ein Stückchen nach oben.

Einen Augenblick sah Ramin mich unbewegt an. Dann lachte er. Er legte den Kopf in den Nacken, fuhr sich durchs Haar und schüttelte ein paarmal den Kopf. „You can say that again.“

Ich sah ihn an, wie er dasaß, den Kopf zurückgelegt und immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen, und auf einmal war mir zum ersten Mal heute weder kalt noch heiß. „How long have you known her?“

Ramin blinzelte. „Wow, let me think … We first met in 2009, when we were both understudies in “Phantom of the Opera” here in London. So that’s six years ago, now.”

“And do you always …” Ich zögerte. “Fight“ war irgendwie nicht das richtige Wort.

Ramin lachte. „Bicker? All the time.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „I dunno. Somehow, we both need it. It does us good. Of course, it’s infuriating.” Er stieß die Luft aus. „You know, before the West End comeback of „Love Never Dies,” Sierra was in New York, and I was here. When we heard they were doing a restart, we only said we’d do it when we knew it was gonna be the two of us. We wanted to perform together again.“

Ich lächelte. „Of course. You’re perfect together.“

Ramin hob die Augenbrauen.

„On the stage, I mean”, setzte ich hastig hinzu. “I mean, I saw you both live here, and then I watched the recording of “Phantom of the Opera” at home. It was …” Ich schüttelte den Kopf. Noch immer hatte ich das Wort nicht. Vielleicht gab es einfach keins. „I think you were meant to sing together.”

Er grinste. Ein Kribbeln schoss durch meinen Körper. Oh ja. Dieses Grinsen kannte ich.

„Maybe.“ Seine Zähne blitzen im Licht, das durchs Fenster ins Zimmer fiel. „So you watched that recording, huh? You just happened to have the DVD lying around. What an amazing coincidence.”

Ich starrte ihn an. Meine Wangen fingen wieder an zu brennen. „Well … actually …“

Ich hätte gerne weggeschaut, aber irgendetwas an dem Funkeln in seinen Augen fesselte meinen Blick. Ich schluckte und schwieg. Aber Ramin schien es sowieso viel mehr Spaß zu machen, den Satz selber zu beenden. „Actually, you’re stalking me.“

Sein Ton war so genüsslich arrogant, dass ich ein Ziehen im Magen spürte. Ich wollte ihn. Oh Gott, wie ich ihn wollte. Und er wusste es, und er liebte es, und deswegen war Leugnen total zwecklos. Dann würde es nur länger dauern. Und das wollte ich auf keinen Fall.

„Yes. I am.“ Ich hob das Kinn und erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln.

In seinen Augen blitzte es. Wieder schnaubte er. „I see. So that’s why you’re here, then, is it? To fuck?“

Ich blinzelte. Etwas in meinem Gesicht verrutschte. Ja, das war, was ich wollte. Jetzt gerade. Und das könnte ich jetzt einfach sagen, denn natürlich war es das, was er hören wollte. Und es war alles, was er mir geben würde. Aber der Grund, warum ich hergekommen war? To fuck? War das wirklich der wahre, der einzige Grund? „Well …“

Ich wusste nicht, wie ich weitermachen sollte. Ramin wartete. Als das Schweigen sich streckte, lachte er trocken. „Please tell me it’s not to dine and dance.“

Ich starrte ihn an. Sex and love don’t have anything to do with each other. Do they, Ramin? Ich presste die Lippen zusammen. Unter dem Tisch ballten sich meine Hände zu Fäusten. „Well, I certainly didn’t come to dance.” Ich hörte selbst, wie bitter meine Stimme klang.

Ramin hob die Augenbrauen und grinste. “Why suddenly the long face? Don’t you like dancing?”

Haha. Sehr witzig. “I don’t dance.”

Ramins Grinsen fiel in sich zusammen. „What?“ Das Lachen, das jetzt kam, war das ungläubigste von allen bisher. „Come on, you’re not gonna tell me that you‘re scared people are gonna think you’re gay if you so much as dance, are you?”

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. „No. Why would I be?“

„Well then!“

„I just don’t dance, Ramin!” Was wollte er denn jetzt mit diesem lächerlichen Thema? „I can’t! Okay? So drop it!“

Er starrte mich an. Ein paar Sekunden herrschte Stille. „You … What do you mean, you can’t?“

„What I say, I can’t, I never learned!”

“So …” Ramin lehnte sich nach vorne. „You mean, you’ve never even tried?”

“No, I haven’t!” Ich wich keinen Millimeter zurück. Das hier würde ich ihn nicht gewinnen lassen. Nicht so etwas vollkommen Lächerliches. “I mean, it’s not like it’s a big deal, is it?”

“Not a big – no.” Ramin sprang auf und stürmte hinter meinem Rücken vorbei auf das CD-Regal zu. Sein Zeigefinger flog an den Reihen entlang, hielt inne und zog eine Hülle aus der Masse hervor. Er marschierte zum Fernseher, wo er sich vor die Kommode kniete, die Türen öffnete und am CD-Player dahinter hantierte.

Ich beobachtete ihn mit verdrehtem Nacken. „What are you doing?“

Er schoss hoch, fuhr herum, und sein Blick schlug mir wie eine Peitsche ins Gesicht. „You“, und wieder hatte er seinen Zeigefingerdolch gezückt, „are gonna learn to dance. Right now.“ Der Dolch wurde zu einer fordernd geöffneten Hand.

Ich spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Aber ansonsten war ich plötzlich seltsam gefühllos. Ich starrte ihn an und rührte mich nicht.

„Come on!“

Ich öffnete den Mund, aber ich spürte meine Zunge nicht. Es dauerte, bis ich Worte herauskriegte. „I … no, I … I just … don’t like dancing, it’s boring, and it’s useless, and it’s awkward, and it’s …”

Ramin stand da und schüttelte den Kopf. Mit zwei Schritten war er bei mir, packte meine rechte Hand mit seiner linken und zog mich hoch. Ich wusste nicht, wie meine Beine mich trugen. Spüren konnte ich sie genauso wenig wie zuvor meine Zunge.

„You are gonna learn to dance”, wiederholte er, während er mich in die Mitte der Fläche zwischen Fernseher, Regal, Sofa, Tisch und Wand zog, was uns ungefähr zwei Schritte Platz in jede Richtung gab, „and you will love it!“

„How do you know?“ Dass ich meine eigene Verzweiflung so deutlich hören konnte, machte es noch schlimmer. Alles, was ich wollte, war, auf meinen Stuhl zurück zu können. Warum musste er das tun? Warum? Ich war Fußballer, kein Tänzer, und bei dem Gedanken, dass ich mich jeden Moment vor Ramin vollkommen lächerlich machen würde, krampfte sich mein Magen winzig klein zusammen.

„Because“, sagte Ramin und sah mir direkt ins Gesicht, sodass ich jedes Wort an Nase und Wangen spüren konnte, „you love sports, and you love music.“

Sein Blick ließ mich nicht los. Als sich an meinem Gesichtsausdruck nichts änderte, stieß er ein fast schon verzweifeltes Lachen aus. „Martin, you don’t go to clubs and you don’t fuck around! I mean – you gotta be doing something besides playing football in your life! Something that’s fun! Okay? Please?”

Football’s fun, lag mir auf der Zunge, aber es wollte nicht heraus. Ich sah in Ramins Augen, sah die Forderung darin, fast schon ein Flehen. Please, klang es mir in den Ohren.

Ich schluckte. Spürte seine Hand um meine. Und dann nickte ich. „All right.“

Ramin lächelte. Breit, über sein ganzes Gesicht. Plötzlich wurde mir bewusst, wie nah wir voreinander standen. Als ich einatmete, schnappte ich einen Hauch seines Geruchs auf. Kokos, ein wenig, und Kaffee, und er. „Great! Then let’s go.“

Er stellte sich ganz gerade hin, und sein Blick wurde ernst, fast professionell. „Put your left hand on my right shoulder.“

Ich tat es. Meine Finger zitterten. Aber er kommentierte es nicht. Ich wusste nicht, ob er es überhaupt wahrnahm.

„Good. Now …“ Er legte seine rechte Hand an meinen Rücken, und seine linke Hand, die immer noch meine rechte hielt, hob er bis auf Schulterhöhe. Mein Rücken und meine Hand sendeten Hitzewellen durch meinen ganzen Körper.

„Okay. Now, the dance we’re gonna do is disco fox. It’s the best one to start with because the steps are very, very easy.”

Na super. Damit ich noch bescheuerter aussehe, wenn ich’s nicht kann. Ich presste die Lippen zusammen. Please, hatte er gesagt.

„Now, you just do three steps, all right? Three steps. First three backwards, then three forwards. One, two, three, one, two, three. The right foot goes back first. So …“

Sein linker Fuß tippte gegen meinen rechten, und ich verlagerte mein Gewicht auf den linken Fuß, damit ich den rechten anheben konnte.

„Back …“

Ich führte den Fuß nach hinten, setzte ihn ab und hob den linken. Ramin hatte mit dem linken Fuß einen Schritt nach vorn gemacht und führte jetzt den rechten hinterher.

„… back …“

Linker Fuß zurück, aufsetzen, den rechten anheben.

„… and back. Watch out!“

Ich fror ein, die Zehen des rechten Fußes schon auf dem Boden.

„That’s it! Okay? Don’t lower your foot any further than that. The last step isn’t a real step, but a tap. Don’t put any weight on it, just touch the floor with your toes, then go forward again with the same foot, the right one. All right?”

Ich nickte. Löste die Zehen vom Boden und führte den Fuß nach vorne. Aufsetzen, linker Fuß, dann der rechte, aber wieder nur die Zehen. Und zurück. Schritt, Schritt, Tap. Schritt, Schritt, Tap. Wir gingen hin und her, und nachdem ich die ersten paar Male nicht über meine Füße gestolpert war, merkte ich, wie ich tatsächlich eine Art Rhythmus fand. Schritt, Schritt, Tap, Schritt, Schritt, Tap, Schritt, Schritt, Tap. Als Ramin etwas schneller wurde, passte ich mein Tempo automatisch an. Ich sah zu ihm hinauf, in seine funkelnden Augen, und – ich konnte es nicht fassen – ich lächelte. „It’s working!“

Sein ganzes Gesicht strahlte. „Great! Then let’s make it a little more interesting, shall we?”

Und dann – keine Ahnung, wie es passiert war – stand ich plötzlich drei Schritte von ihm entfernt. Ich war rückwärtsgegangen, aber statt nach vorn zu gehen, musste er stehen geblieben sein. Seine linke Hand hatte er mitsamt meiner rechten gesenkt, und meine linke Hand war automatisch mit meinen Schritten von seiner Schulter hinab seinen Arm entlang in seine rechte Hand geglitten. Jetzt standen wir die zweieinhalb Schritte voneinander entfernt, hielten uns an beiden Händen, und unsere Arme waren zwar nicht ganz ausgestreckt, aber doch unter Spannung.

Ich blieb stehen. Die Zehen meines rechten Fußes berührten den Boden. Mein Gewicht lag auf meinem linken Fuß. „What now?“

„Now“, und seine Stimme strahlte und funkelte und vibrierte wie Musik, seine Musik, „now, we fly.“

Er machte mir die Schritte vor: nicht mehr alle drei in einer geraden Linie in eine Richtung, sondern rechts vor, links zur Seite, Tap neben dem linken Fuß. Vor, zur Seite, Tap, vor, zur Seite, Tap, und immer nach links, sodass wir uns sternförmig im Kreis bewegten. Bei jedem Schritt nach vorne, bei dem wir ja aufeinander zu tanzten, zog er die Arme zur Seite, um Platz zu schaffen, und bei jedem Schritt zur Seite, bei dem der Abstand wieder größer wurde, führte er sie zurück in die Mitte. Vor, Arme raus, zur Seite, Arme in die Mitte, Tap. Vor, Arme raus, zur Seite, Arme in die Mitte, Tap.

Er machte alles langsam vor, und langsam machte ich es nach, wobei ich ständig auf meine Füße starrte. An die Arme musste ich zum Glück nicht denken, das machte Ramin. Er führte, und er nahm meine Hände einfach mit, wenn er seine bewegte. „But keep them under tension. Don’t let them wobble all over the place. When we do it right, in rhythm, that’ll be how we get speed and momentum into it.”

Ich nickte und schluckte. Wie gut, dass Anspannen die korrekte Variante war. Das immerhin würde mir nicht schwerfallen.

Nachdem wir ein paar langsame Kreise gedreht hatten und ich während der letzten zwei nicht über meine Füße gestolpert war, blieb Ramin stehen und ließ meine Hände los. „All right. I think we can put on some music now.”

Er ging zurück zum CD-Player. Ich beobachtete seinen Rücken. Meine Kehle zog sich zu. Okay, bisher hatte es ganz gut funktioniert, besser, als ich gedacht hätte. Und bisher hatte er mich nicht verächtlich hinausgeworfen. Aber würde das genauso funktionieren, wenn wir nicht übten, sondern wirklich tanzten? Mit Musik, und garantiert viel schneller als bisher? Was, wenn ich die Schritte vergaß? Was, wenn ich stolperte?

Mit dem Handrücken fuhr ich mir über die Stirn. Was das Ganze mit Fliegen zu tun haben sollte, wie Ramin es genannt hatte, war mir schleierhaft. Lernen, mit aneinandergeketteten Knöcheln zu gehen, das wäre eine passende Beschreibung gewesen.

Ramin drückte eine letzte Taste und stand auf. Aus den Lautsprechern ertönte Musik. Ich kannte die Melodie, konnte sie aber nicht zuordnen. „Piano Man“? Nein.

Ramin grinste, kam auf mich zu, nahm meine rechte Hand und stellte sich wieder in Tanzhaltung hin. Im Lied setzten die Lyrics ein. First I was afraid, I was petrified, kept thinking I could never live without you by my side …

Natürlich. “I Will Survive”. Von … keine Ahnung. Egal. Von den Zehenspitzen bis zur Stirn stand ich unter Spannung, das Gewicht auf dem linken Fuß, der rechte bereit, loszulegen. Aber ich wartete. Und wartete. But then I spent so many nights thinking how you did me wrong …

“Why aren’t we moving?” Das kam in Flüsterlautstärke heraus, aber so eindringlich, als wäre es eine hochbrisante Geheimdienstinformation, die der Gegner auf keinen Fall mithören durfte.

Ramin grinste. „Can you hear a beat yet?”

And so you’re back …

Er bewegte sich sofort. Auf „back“ war der erste Schlag gekommen, und zeitgleich hatte Ramin seinen linken Fuß nach vorne gesetzt. Und mein rechter – war zurückgewichen. Dann links. Tap. Nach vorne. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, auf jeden Schlag der Musik ein Schritt. I should have changed that stupid lock, I should have made you leave your key, zurück, vor, zurück, immer im gleichen Tempo, immer im Rhythmus der Musik.

Ich atmete, schnell, ruckartig, mein Kopf war ein Metronom, Schritt, Schritt, Tap, Schritt, Schritt, Tap. Aber meine Füße – machten einfach. Sie gingen, ganz von selbst, und als ich der Musik zuhörte und für einen Moment im Kopf den Rhythmus verlor, machten meine Füße weiter, weil sie wussten, was zu tun war, weil sie von Ramin geführt wurden, weil sie gar nicht anders konnten, als es richtig zu machen.

Wir gingen vor, zurück, vor, zurück, und meine Augen, die krampfhaft geradeaus auf Ramins Kinn gestarrt hatten, die nichts wahrgenommen hatten außer das Mantra in meinem Kopf, glitten nach oben und fanden Ramins. In den Höhlen loderte das Feuer, flammte, züngelte, knisterte, so hell, dass ich den flackernden Schein spüren konnte, die Hitze auf meinen Wangen, in meiner Brust. „We’re dancing.“ Ich lachte, atemlos, ein wenig schwindelig. „Ramin, we’re dancing!“

Er lachte auch, laut und breit, und zweistimmig hallte unser Lachen durchs Wohnzimmer, mischte sich in die Melodie. „Brilliant! Now, let’s do it!”

Er blieb stehen, ich glitt zurück, seine Hände hielten meine, und er zog, ich schoss nach vorne, ich hatte keine Zeit, nachzudenken, mein linker Fuß glitt zur Seite, Ramin führte unsere Hände nach innen, ein Tap, ein Ziehen, und wieder nach vorne, und es klappte, es ging, es funktionierte, es war …

Ich lachte. Laut und leicht und schwerelos und frei, und Ramin strahlte, zog und wirbelte mich herum, und das Wohnzimmer verwischte, Tisch, Regal, Sofa, alles war nur noch ein unscharfer Farbenmix, Konturen, an denen wir vorbeizogen, zu schnell, um sie richtig zu sehen. Weren’t you the one who tried to hurt me with goodbyes, und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, ich lachte und tanzte und wirbelte und schwebte und flog. Oh ja. Ramin hatte recht gehabt. Now we fly. Now we fly. WE FLY!

Irgendwann – nach ein paar Minuten, sicher, aber es waren doch Stunden gewesen, oder nur Sekunden? – war das Lied vorbei. Ramin zog mich zu sich, zurück in die Grundhaltung, und meine Füße reagierten richtig. Mein Arm glitt wieder zu seiner Schulter, als hätte das Tanzen schon immer in meinem Körper geschlafen und nur darauf gewartet, geweckt zu werden. Dann standen wir still. Das Lied schien das letzte auf der CD gewesen zu sein, denn um uns herum war es auch still. Nur unser Atem war zu hören, seiner ruhig, meiner gierig, hastig, bruchstückhaft.

„That … was …“ Schon wieder fehlte mir das richtige Wort. Ich sah hinauf in Ramins Gesicht, auf das Lächeln auf seinen Lippen, in seine Augen, die noch immer loderten, und ich wollte ihm sagen, dass er recht gehabt hatte, wollte meine Worte von vorhin zurücknehmen, wollte mich bedanken für das Geschenk, dieses unglaubliche Geschenk, das er mir gemacht hatte. Aber ich wusste nicht, wie. Also schaute ich ihn nur an, spürte seine Schulter unter meiner Hand und seine linke Hand um meine rechte, und wollte nie wieder gehen.

„You did well.“ Seine Stimme war Samt, tief, leise. Das Braun seiner Augen verdunkelte sich fast unmerklich.

Ich schloss die Lippen. Mit einem Schlag war mein Mund wieder trocken. Ich spürte seine Finger an meinem Rücken. Langsam verstärkten sie ihren Druck, ertasteten die Muskeln, glitten Zentimeter für Zentimeter nach unten. Seine Augen bohrten sich in mich, legten mich offen, ließen keinen Winkel, kein Versteck aus.

„Thank you for teaching me.” Meine Stimme war heiser. Jede Faser meines Körpers glühte.

„I can teach you more.“ Er hatte den Kopf leicht nach vorn gelehnt. Beinahe berührte seine Stirn meine. Sein Ton war rau, sanft, hart, weich. „Do you want me to?“

Ich starrte in seine Augen, so dunkel, fast schwarz. Und fiel. Fiel und fiel und flog, schwerelos, entfesselt, frei. „Yes.“

Ein Blitz erhellte die Nacht. Und dann sah ich ihn nicht mehr. Ich spürte nur seine Hände an meiner Hüfte, seine Lippen gepresst auf meine, seine Zunge, die sie auseinanderstieß, meine Hände, die an seinem T-Shirt rissen, und stolpernd zog er mich Richtung Schlafzimmertür, löste eine Hand, knallte sie auf, riss mich hindurch, stieß mich aufs Bett, fiel hinterher. Und er war alles, was ich fühlte, alles, was ich sah, alles, was ich hörte, alles, was existierte, alles, was ich wollte. Sonst nichts. Nur er.

 

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Referenzen:

 

„I Will Survive“ – aus dem Album “Love Tracks” von Gloria Gaynor. Geschrieben von Freddie Perren und Dino Ferakis. Polydor Records, 1978.

 

“Piano Man” – aus dem Album “Piano Man“ von Billy Joel. Columbia Records, 1973.

Chapter 17: I Will Survive - D

Chapter Text

  1. Kapitel: I Will Survive

 

Karimloo.

Schwarz auf weiß stand es auf dem Klingelschild, dem zweiten von unten in der Spalte ganz links. Mein Zeigefinger schwebte darüber. Hinter mir hörte ich das Taxi davonfahren.

Eine eiserne Faust hatte sich um meinen Magen geklammert. Ich zog den Finger noch einmal zurück und holte das Handy aus der Tasche. Es war viertel nach zehn, die Uhr hatte sich selbstständig an die englische Zeit angepasst. War das zu früh? Würde er noch schlafen?

Aber als ich bei ihm gewesen war, war er da auch schon wach gewesen. Und ich war jetzt nun mal hier; ich konnte schlecht eine halbe Stunde oder Stunde vor der Haustür rumstehen und auf eine christlichere Zeit warten. Ich atmete durch, ließ das Handy wieder in der Hosentasche verschwinden und presste den Finger auf den Klingelknopf.

Stille. Eine Sekunde, zwei, drei, vier. Mein Mund war trocken, meine Handflächen dafür feucht. Ich schrubbte sie an der Jeans entlang. Was würde er tun? Würde er mich überhaupt reinlassen? Und selbst wenn, würde er mich sofort wieder rausschmeißen, wenn ich ihm keine vernünftige Erklärung liefern konnte, warum ich hier war? Würde er sich überhaupt an mich erinnern? Würde er –

Ein Knacken aus der Sprechanlage. Ich fuhr zusammen. Ein paar Kieselsteine klackerten gegen die Hauswand. Hoffentlich hatte er das nicht gehört. Hoffentlich –

„Hallo?“

Ich starrte. Die Stimme klang munter und fröhlich. Irgendetwas darin kam mir vage bekannt vor. Aber vor allem war sie unverkennbar – weiblich.

„Ähh … hi.“ Ich schluckte, blinzelte. Damit hast du nicht gerechnet, was?

Nein, in der Tat. Der Gedanke, dass jemand außer Ramin da sein könnte, war mir zu keinem Zeitpunkt gekommen. Aber wenn, hätte ich wohl eher einen anderen Mann erwartet. Schlagartig wurde mir nachträglich übel. Wenigstens das würde mir wohl hoffentlich erspart bleiben, wenn diese … tja, wer? … bei ihm war.

In der Sprechanlage herrschte Stille. „Ähh … hi“ war vermutlich nicht genug gewesen. Komm schon, sag was. Irgendwas.

„Hier ist – äh, Martin. Ich wollte zu Ramin Karimloo?“

„Dann bist du hier richtig.“ Ein Lachen schwang in der Stimme mit. Die Faust um meinen Magen lockerte sich ein wenig. „Komm einfach hoch!“

Der Öffner summte. Meine Hand hechtete zur Tür. Mit schnellen Schritten lief ich die Stufen hinauf. Als ich den Absatz erreichte, machte die Treppe eine 180-Grad-Wende, und jetzt konnte ich die Tür zu Ramins Wohnung sehen. Sie war offen, und jemand stand darin. Aber es war nicht Ramin.

Ich erkannte sie auf den ersten Blick. In der Aufführung hatte sie verschiedene Kleider getragen und braunes Haar gehabt, jetzt trug sie Top und Dreivierteljeans und das Braun ihrer Haare hatte einen deutlichen Stich ins Rötliche, aber trotzdem gab es keinen Zweifel: Das war die Frau, die mich vorgestern mitgenommen hatte, die mich geführt hatte auf unserem Weg zum Phantom und wieder zurück und wieder hin und wieder zurück. Deswegen war mir auch ihre Stimme bekannt vorgekommen. Vor mir, in Ramins Wohnungstür, stand Sierra Boggess, Ramins Christine.

Ich stieg die letzten Stufen hinauf, bis ich vor ihr stand. Sie war einen halben Kopf kleiner als ich und schaute mir direkt in die Augen. Ihre waren leuchtend grün und hellwach. Ein Kribbeln fuhr von der Kopfhaut bis in die Zehenspitzen durch mich hindurch. Aber dann lächelte sie, trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. „Komm rein. Ich bin Sierra.“

„Ich weiß.” Ich fühlte mein Gesicht heiß werden. „Ich meine … äh … du weißt schon, wegen der Vorstellung, und der DVD … ich meine, der Aufnahme von …“

Viel zu spät fing ich meine Zunge ein. Eine Sekunde lang wäre ich am liebsten auf dem Absatz umgedreht und weggerannt. Was zur Hölle ist falsch mit dir? Hast du das Reden verlernt oder was?

Sierra hielt mir immer noch die Tür auf, und immer noch lächelte sie. Nur ihre Augenbrauen waren einen Hauch nach oben gewandert. Aber nicht, als würde sie sich über mich lustig machen. Ich nahm einen tiefen Atemzug, und meine Schultern spannten sich. Mit einiger Anstrengung brachte ich ein Lächeln auf meine Lippen und trat mit einem großen Schritt über die Schwelle.

„Tut mir leid.“ Ich holte noch einmal Luft. Sierra ließ die Tür zuschnappen und sah mir weiter in die Augen. „Was ich meinte, war, dass ich dich in der Vorstellung von „Love Never Dies“ hier in London gesehen hab, und auf der DVD vom Jubiläum von „Phantom of the Opera“ auch. Es war …“

Jetzt musste ich doch wieder innehalten. Aber nicht, weil meine Zunge zu einem hin- und herwirbelnden Stück Stoff im Sturm geworden war, sondern, weil mir diesmal wirklich keine Worte einfielen. Als ich sie auch nach ein paar Sekunden Schweigen nicht gefunden hatte, beließ ich es bei Annäherungen.

„Fantastisch. Großartig. Unglaublich. Ich …“ Ich lachte. Meine Zunge fuhr blitzschnell über meine Oberlippe. „Eigentlich weiß ich nicht wirklich, was ich sagen soll. Ihr wart … ich meine, du und Ramin, ihr wart …“

Sierras Augenbrauen hatten sich wieder entspannt, und ihr Lächeln war breiter geworden. Irgendwas an ihrem Blick war auch anders. Ihr ganzes Gesicht strahlte plötzlich Wärme aus. „Das ist lieb von dir. Danke.“

Ihre Stimme war leise und genauso warm wie ihr Blick. Sie klang anders als ihre Gesangsstimme, genauso wie bei Ramin auch. Aber auch wie bei ihm war da etwas in beiden, das gleich war, eine Note, ein Fundament, ein gemeinsamer Nenner. Unverwechselbar war das die Stimme, die mich vorgestern mitgerissen hatte, die all das ausgesprochen hatte, was auch in mir gewesen war, die Stimme, mit der ich verschmolzen war. Und dahinter stand diese Frau, mit rotbraunem Haar und hellwachem Blick. Sie war hier, vor mir, ganz in echt. Ich würde Ramin nicht allein gegenübertreten müssen. Das Lächeln, das sich jetzt auf meinem Gesicht ausbreitete, war echt und kostete mich keine Mühe.

Sierras Blick wanderte blitzschnell über mich hinweg, von meinem Haar über T-Shirt, Schultergurte des Rucksacks, Jeans und Sneakers. „Aber ich schätze, Ramin und ich haben nicht beide auf dieselbe Weise Eindruck auf dich gemacht, oder?“

Ich öffnete den Mund. Konnte nicht atmen. Schloss ihn wieder. Versuchte zu schlucken. Ganz ruhig. Sie weiß nicht, wer du bist. Das KANN sie gar nicht wissen. „Wie … ?“

„Wie ich das erkannt habe? Ich kenne Ramin. Sehr, sehr gut.“ Erneut huschte ihr Blick über mich hinweg. „Er weiß nicht, dass du hier bist, oder?“

Ich schluckte. Mein Mund war immer noch trocken. Ich schüttelte den Kopf.

Einen Moment fixierte sie mich noch. Dann blinzelte sie, lächelte und legte mir kurz die Hand auf den Arm. „Keine Sorge. Er wird sich sicher freuen, dich zu sehen.“ Sie ruckte den Kopf in Richtung Garderobe. „Lass deinen Rucksack doch einfach hier. Dann kannst du später auspacken.“

Ich nickte. Sagen konnte ich nichts. Ich ließ den Rucksack von den Schultern gleiten, stellte ihn ab und zog die Schuhe aus. Dann richtete ich mich auf und fixierte die Wohnzimmertür. Sie war geschlossen, und im Moment fühlte es sich an, als wartete dahinter die Frontlinie einer feindlichen Armee und nicht der Mann, in den ich mich verliebt hatte.

Sierra stand immer noch neben mir. Ich spürte ihren Blick. Als ich sie ansah, lächelte sie und zwinkerte mir zu. „Na los. Er beißt schon nicht.“

Sicher? Ich schaffte es, ihr Lächeln zu erwidern, aber die Hand heben und die Tür öffnen konnte ich nicht. Nachdem ich ein paar Sekunden regungslos dagestanden hatte, trat Sierra einen Schritt nach vorn, und gleich darauf spürte ich ihre Hand an meinen Rücken. „Alles gut. Ich geh voraus.”

Sie legte die andere Hand auf die Klinke, aber dann hielt sie noch einmal inne und drehte sich wieder zu mir um. Ihre Augen waren fast unmerklich verengt. „Wie alt bist du?“

„Neunzehn.“ Ich hatte normal sprechen wollen, aber heraus kam nur ein tonloser Hauch. Aber in der Stille des winzigen Eingangsbereichs hatte Sierra mich trotzdem verstanden. Ihr Blick huschte noch einmal über mich hinweg, dann lächelte sie und verstärkte den Druck ihrer Hand an meinem Rücken, bevor sie mich losließ, die Tür öffnete und hindurchtrat.

„Wer war das?“

Das war Ramin. Kein Zweifel. Ich stand stocksteif da, von Kopf bis Fuß eingefroren. Nur mein Gesicht war knallheiß.

Du solltest es eigentlich wissen.“ Sierras Stimme war leicht, fast spielerisch. Aber da war ein Unterton. Unwillkürlich tauchte das Bild des Panthers wieder in meinem Kopf auf – nur, dass Ramin diesmal nicht der Jäger war. Ich zwang einen Atemzug durch meine zusammengeschnürte Kehle und trat durch die Tür.

Ramin saß am Frühstückstisch, auf dem Platz, auf dem er auch mir gegenübergesessen hatte. Er hatte Sierra angesehen, aber bei der Bewegung in der Tür glitt sein Blick das kleine Stück nach rechts. Seine Augen weiteten sich. Die linke Hand fror mitsamt Toast auf dem Weg zu seinem Mund ein. Wortlos starrte er mich an.

Ich hätte gerne gelächelt. Oder etwas gesagt. Etwas Cooles, Lockeres, das ihn zum Lachen bringen und das Eis zerschlagen würde. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nur dastehen, ihn anschauen und warten.

„Du.“ Ramins Hand sank langsam zurück auf den Tisch. „Was zur Hölle willst du denn hier?“

Meine Kehle arbeitete. Aber zum Sprechen kriegte ich nicht genug Luft zusammen, und mein Kopf war ohnehin leer. Er wusste noch, wer ich war. Immerhin. Aber genauso offensichtlich hatte er weder damit gerechnet, mich zu sehen, noch war er glücklich darüber, dass es doch passiert war.

Die Stille presste auf meine Schultern und meine Brust. Ich schielte zu Sierra hinüber. Sie stand zwischen Küchenzeile und Esstisch, die linke Hand locker in die Hüfte gestemmt, und fixierte Ramin. „Was Ramin eigentlich sagen will, ist Hallo Martin, wie schön, dich zu sehen, darf ich dir einen Tee anbieten?

Ramin sah sie an. Einen Moment hielten die beiden den Blickkontakt. Dann zuckte seine Oberlippe, er stieß die Luft aus, wandte sich wieder zu mir und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Hallo Martin, wie schön, dich zu sehen, darf ich dir einen Tee anbieten?“

Aufgesetzt und genauso spöttisch wie sein Lächeln. Aber trotzdem brach ein wenig von dem Eis in meinem Körper. Wenigstens eine Person auf der Welt schien es zu geben, die nicht wehrlos an Ramins Fäden hing. Ich versuchte, zu sprechen, und merkte, dass es ging. „Ähm – ja, danke.“

Ramin schnaubte, stand auf und wies auf den Stuhl an der kurzen Seite des Tisches mit dem Rücken zur Tür. „Setz dich.“ Er drehte sich zur Küchenzeile und nahm den Wasserkocher von der Station, ohne zu warten, ob ich der Aufforderung folgte oder nicht.

Mein Blick hing für einen Moment an seinem Rücken. Dann glitten meine Augen zu Sierra, die grinste, mir zuzwinkerte und nickte. Ich lächelte schief, wischte meine Handflächen an der Jeans entlang und setzte mich hin. Sierra umrundete meinen Stuhl und nahm ihren Platz gegenüber von Ramin ein, dort, wo ich das letzte Mal gesessen hatte. Sie verschränkte vor ihrem leeren Teller die Finger und schenkte mir ein strahlendes Lächeln, als ob ihr in diesem Moment nichts mehr Freude bereiten könnte, als sich mit mir zu unterhalten. „Na dann, Martin. Du bist also extra hierhergekommen, um Ramin zu besuchen, ja?“

„Ähm, ja.“ Ich schielte nach rechts, aber Ramin stand immer noch mit dem Rücken zu uns. Der Wasserkocher blubberte, aber vermutlich konnte er trotzdem jedes Wort hören.

Sierra sah mich immer noch mit diesem strahlenden Lächeln an. „Wundervoll! Hattest du eine sehr lange Reise?“

“Ähm …” Verdammt. Was jetzt? „Na ja, ich … ich bin aus Deutschland gekommen.“ Bitte lass sie jetzt nicht nach Details fragen. BITTE.

„Aus Deutschland? Wirklich?“ Sie klang interessiert, sogar erfreut. Ihre Augen funkelten, mit Wärme, Offenheit – aber war da noch etwas anderes? Sie hatte ziemlich laut gesprochen. Nicht unangenehm. Aber dafür, dass eigentlich nur ich es hören musste und dass ich keinen Meter entfernt von ihr saß, hätte es auch ein bisschen leiser sein können. „Dann bleibst du natürlich über Nacht? Und wir sehen uns bei der Vorstellung?“

„Ähm …“ Langsam kam ich mir vor wie ein Papagei. Aber ich war mir einfach bei jeder Frage gleich unsicher, was ich darauf sagen sollte. Ja, ich könnte über Nacht bleiben. Ja, ich wollte über Nacht bleiben, und ich hatte darauf gehofft, dass Ramin mich lassen würde. Und natürlich würde ich auch gerne noch einmal in die Aufführung gehen, wenn Ramin mich mitnahm. Aber das alles musste ich eben eigentlich mit ihm besprechen. Ich konnte mich ja nicht einfach selber dazu einladen. Oder?

Wieder sah ich zur Küchenzeile hinüber, aber Ramin goss gerade den dampfenden Inhalt des Wasserkochers in eine Tasse und drehte uns weiterhin den Rücken zu. „Na ja, ich … äh … Ich hoffe es.“

Allmählich fühlte ich mich im unverwandten Fokus von Sierras Lächeln wie unter einem sehr heißen Scheinwerfer. Aber bevor ich noch etwas sagen musste, drehte sich Ramin endlich zu uns um. Er stellte die Tasse vor mir ab und funkelte Sierra an. „Sierra, warum lässt du ihn nicht verdammt noch mal zufrieden? Ich hab ihn nicht hierher eingeladen, also ist es meine Meinung, die zählt, nicht seine, okay?“

Ich zuckte zusammen. Aber weder Ramin noch Sierra schien es aufgefallen zu sein. Ohne zu blinzeln starrten sie einander an. Sierra zog eine Augenbraue hoch. „Aber du bringst deine Meinung doch sowieso immer zum Ausdruck. Also hat es eigentlich wirklich keinen Sinn, extra danach zu fragen, oder?“

Ramin stieß ein Schnauben aus, das wie ein Knurren klang, und schien etwas sagen zu wollen. Aber dann ließ er sich wortlos in seinen Stuhl fallen. Sierras Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und in ihren Augen funkelte es immer noch.

Ich sah von einem zum anderen und fühlte ein Lachen in mir aufsteigen. Ich presste die Lippen aufeinander, aber ein leichtes Schnauben konnte ich nicht unterdrücken.

Ramin fuhr herum. „Was findest du denn jetzt lustig?”

Vor seinem peitschenden Ton zuckte ich zurück. „Nichts.“ Aber dann sah ich ihm in die Augen, und plötzlich fielen die Fesseln von mir ab. „Euch. Ihr klingt wie ein altes Ehepaar!“

Sierra lachte. Ramins Zeigefinger schnellte wie ein gezückter Dolch hervor. „Hey, ich bin nicht alt!“ Er stieß ein trockenes Lachen aus. „Und ich bin verdammt noch mal nicht verheiratet.“

„Nein, aber wenn du verheiratet wärst”, kam es zuckersüß von links, “dann mit mir.”

Ramin schnaubte. Ich starrte von einem zum anderen. Waren die beiden … Hatte ich ihn so falsch eingeschätzt? „Aber … ich dachte, du bist schwul!“

Ramin öffnete den Mund, aber Sierra kam ihm zuvor. „Oh, er ist schwul, natürlich ist er schwul!“ Sie nickte gewichtig, bevor sie sich wieder Ramin zuwandte. „Aber Sex und Liebe haben rein gar nichts miteinander zu tun. Oder, Ramin?“

Aha. Ich starrte auf meine Teetasse und biss mir so heftig auf die Oberlippe, dass es wehtat. Ich hatte es gewusst; ich hatte gewusst, dass Ramin mit allen möglichen wildfremden Leuten Sex hatte, dass für ihn hinter unserer Nacht nichts gestanden hatte außer Spaß, und trotzdem traf mich dieser Satz härter als jeder von Ramins Blicken und jedes seiner Worte. Ich klammerte die Hand so fest um die Tischplatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Einen Moment war es still. Dann atmete Ramin aus und zischte, in einem ganz anderen Ton als zuvor: „Gott, Sierra, kannst du nicht den Mund halten?“

Ich riskierte einen Blick nach oben. Sierra sah Ramin ohne zu blinzeln und jetzt auch ohne zu lächeln an. „Nein, kann ich nicht!“ Auch ihr Ton hatte sich geändert. Jedes ihrer Worte war hart wie Stahl.

Ich schaute vom einen zum anderen. Was war denn jetzt los? Aber nur durch Gucken fand ich keine Antwort, und ihr Wortgefecht setzten die beiden nicht fort. Einen Moment duellierten sie sich noch schweigend, dann waren es Ramins Augen, die zur Seite zuckten. „Ja. Egal. Was soll‘s.“

Er lehnte sich in den Stuhl zurück, und sein Blick huschte zur Decke, dann über mich hinweg, bevor er zu Sierra zurückkehrte. „Sag mal, meintest du nicht, du hast noch einen Termin oder so?“

Sie hob die Augenbrauen. „Gut. Ich geh ja schon.“

Sie erhob sich. Ramin ließ sie nicht aus den Augen. Sie hielt seinen Blick, ohne eine Miene zu verziehen. Dann wandte sie sich mir zu und lächelte, genauso warm und strahlend wie zuvor. „Es war richtig schön, dich kennenzulernen, Martin. Bis heute Abend!”

“Ähm … danke. Gleichfalls!” Ich hatte das Gefühl, noch mehr sagen zu müssen. Aber was? Meine Kehle war schon wieder so eng, dass ich schon diese wenigen Worte kaum rausgebracht hatte. Also zwang ich mir nur ein Lächeln auf die Lippen und blieb stumm sitzen.

Sierra zwinkerte mir zu, wandte sich ab und verließ das Wohnzimmer, ohne sich von Ramin zu verabschieden oder ihn noch einmal anzusehen. Ich hörte, wie sie sich ihre Schuhe anzog. Meine Augen fixierten meine Teetasse. Der Beutel musste vermutlich längst raus. Aber meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich sowieso nichts trinken könnte. Ramins Präsenz spürte ich wie einen Hitzestrahler. Gleich. Gleich bin ich mit ihm allein. Was würde er dann tun? Würde er mich auch rausschmeißen? Sehr freundlich war er bisher ja nicht gerade gewesen.

Ich spürte einen Luftzug in den Haaren und verdrehte den Nacken. Sierra hatte ihren Kopf noch einmal durch die Wohnzimmertür gesteckt und lächelte Ramin mit einem so lammfrommen Gesichtsausdruck an, dass es mir kalt den Rücken herunterlief. „Oh, und Ramin?“

„Was?“

„Verbringt nicht den ganzen Tag im Bett.“ Sie lächelte, zog den Kopf aus der Tür und war mit einem Schnappen der Wohnungstür verschwunden.

Mit offenem Mund starrte ich ihr hinterher. Hinter mir hörte ich Ramin schnauben. Ich wandte den Kopf. Sein Blick sagte zwar, wie knapp sein Geduldsfaden vor dem Reißen war, aber um seinen Mund … zuckte da nicht etwas?

„Sie ist … ein besonderer Mensch.“ Mein Mundwinkel wanderte ein Stückchen nach oben.

Einen Augenblick sah Ramin mich unbewegt an. Dann lachte er. Er legte den Kopf in den Nacken, fuhr sich durchs Haar und schüttelte ein paarmal den Kopf. „Das kannst du laut sagen.“

Ich sah ihn an, wie er dasaß, den Kopf zurückgelegt und immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen, und auf einmal war mir zum ersten Mal heute weder kalt noch heiß. „Wie lange kennst du sie schon?“

Ramin blinzelte. „Wow, lass mich überlegen … Wir haben uns 2009 kennengelernt, als wir beide die Zweitbesetzungen für „Phantom of the Opera“ hier in London geworden sind. Das ist jetzt also sechs Jahre her.“

“Und habt ihr immer so viel …” Ich zögerte. „Streit“ war irgendwie nicht das richtige Wort.

Ramin lachte. „Kabbeleien? Immer.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Keine Ahnung. Irgendwie brauchen wir das beide. Es tut uns gut. Natürlich ist es komplett nervtötend.“ Er stieß die Luft aus. „Weißt du, vor dem West-End-Comeback von „Love Never Dies“ war Sierra in New York, und ich war hier. Als wir gehört haben, dass das Stück wieder anläuft, haben wir erst zugesagt, als wir wussten, dass wir beide die Rollen bekommen würden. Wir wollten wieder zusammen auf der Bühne stehen.“

Ich lächelte. „Klar. Ihr passt perfekt zusammen.“

Ramin hob die Augenbrauen.

„Auf der Bühne, meine ich”, setzte ich hastig hinzu. „Ich meine, ich hab euch hier beide live gesehen, und dann hab ich mir zu Hause die Aufnahme von „Phantom of the Opera“ angeschaut. Es war …“ Ich schüttelte den Kopf. Noch immer hatte ich das Wort nicht. Vielleicht gab es einfach keins. „Ich glaube, ihr seid dafür geschaffen, zusammen zu singen.“

Er grinste. Ein Kribbeln schoss durch meinen Körper. Oh ja. Dieses Grinsen kannte ich.

„Vielleicht.“ Seine Zähne blitzen im Licht, das durchs Fenster ins Zimmer fiel. „Du hast dir also diese Aufnahme angeschaut, ja? Du hattest die DVD einfach so herumliegen. Was für ein unglaublicher Zufall.“

Ich starrte ihn an. Meine Wangen fingen wieder an zu brennen. „Na ja … eigentlich …“

Ich hätte gerne weggeschaut, aber irgendetwas an dem Funkeln in seinen Augen fesselte meinen Blick. Ich schluckte und schwieg. Aber Ramin schien es sowieso viel mehr Spaß zu machen, den Satz selber zu beenden. „Eigentlich stalkst du mich.“

Sein Ton war so genüsslich arrogant, dass ich ein Ziehen im Magen spürte. Ich wollte ihn. Oh Gott, wie ich ihn wollte. Und er wusste es, und er liebte es, und deswegen war Leugnen total zwecklos. Dann würde es nur länger dauern. Und das wollte ich auf keinen Fall.

„Ja. Stimmt.“ Ich hob das Kinn und erwiderte seinen Blick, ohne zu blinzeln.

In seinen Augen blitzte es. Wieder schnaubte er. „Aha. Deswegen bist du also hier, ja? Zum Ficken?“

Ich blinzelte. Etwas in meinem Gesicht verrutschte. Ja, das war, was ich wollte. Jetzt gerade. Und das könnte ich jetzt einfach sagen, denn natürlich war es das, was er hören wollte. Und es war alles, was er mir geben würde. Aber der Grund, warum ich hergekommen war? Zum Ficken? War das wirklich der wahre, der einzige Grund? „Na ja …“

Ich wusste nicht, wie ich weitermachen sollte. Ramin wartete. Als das Schweigen sich streckte, lachte er trocken. „Bitte sag, dass du nicht zum Turteln und Tanzen hergekommen bist.“

Ich starrte ihn an. Sex und Liebe haben rein gar nichts miteinander zu tun. Oder, Ramin? Ich presste die Lippen zusammen. Unter dem Tisch ballten sich meine Hände zu Fäusten. „Na, zum Tanzen bin ich ganz sicher nicht hergekommen.“ Ich hörte selbst, wie bitter meine Stimme klang.

Ramin hob die Augenbrauen und grinste. „Warum plötzlich das lange Gesicht? Tanzt du etwa nicht gern?“

Haha. Sehr witzig. “Ich tanze gar nicht.”

Ramins Grinsen fiel in sich zusammen. „Was?“ Das Lachen, das jetzt kam, war das ungläubigste von allen bisher. „Komm schon, du willst mir jetzt nicht erzählen, dass du Angst hast, dass die Leute dich für schwul halten, wenn du nur mal tanzt, oder?“

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Nein. Warum sollte ich?“

„Na also!“

„Ich tanze einfach nicht, Ramin!” Was wollte er denn jetzt mit diesem lächerlichen Thema? „Ich kann nicht tanzen! Okay? Also lass es einfach!“

Er starrte mich an. Ein paar Sekunden herrschte Stille. „Du … Was soll das heißen, du kannst nicht tanzen?“

„Das, wonach es klingt, ich kann nicht tanzen, ich habs nie gelernt!“

“Also …” Ramin lehnte sich nach vorne. „Das heißt, du hast es nie auch nur ausprobiert?“

“Nein, hab ich nicht!” Ich wich keinen Millimeter zurück. Das hier würde ich ihn nicht gewinnen lassen. Nicht so etwas vollkommen Lächerliches. „Ich meine, ist ja nicht so, als wärs ne riesengroße Sache, oder?“

“Keine riesengroße – nein.” Ramin sprang auf und stürmte hinter meinem Rücken vorbei auf das CD-Regal zu. Sein Zeigefinger flog an den Reihen entlang, hielt inne und zog eine Hülle aus der Masse hervor. Er marschierte zum Fernseher, wo er sich vor die Kommode kniete, die Türen öffnete und am CD-Player dahinter hantierte.

Ich beobachtete ihn mit verdrehtem Nacken. „Was machst du da?“

Er schoss hoch, fuhr herum, und sein Blick schlug mir wie eine Peitsche ins Gesicht. „Du“, und wieder hatte er seinen Zeigefingerdolch gezückt, „lernst tanzen. Jetzt.“ Der Dolch wurde zu einer fordernd geöffneten Hand.

Ich spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Aber ansonsten war ich plötzlich seltsam gefühllos. Ich starrte ihn an und rührte mich nicht.

„Mach schon!“

Ich öffnete den Mund, aber ich spürte meine Zunge nicht. Es dauerte, bis ich Worte herauskriegte. „Ich … nein, ich … mir … macht Tanzen einfach keinen Spaß, es ist langweilig, und es ist nutzlos, und es ist komisch, und es ist …“

Ramin stand da und schüttelte den Kopf. Mit zwei Schritten war er bei mir, packte meine rechte Hand mit seiner linken und zog mich hoch. Ich wusste nicht, wie meine Beine mich trugen. Spüren konnte ich sie genauso wenig wie zuvor meine Zunge.

„Du lernst jetzt tanzen”, wiederholte er, während er mich in die Mitte der Fläche zwischen Fernseher, Regal, Sofa, Tisch und Wand zog, was uns ungefähr zwei Schritte Platz in jede Richtung gab, „und du wirst es lieben!“

„Woher willst du das denn wissen?“ Dass ich meine eigene Verzweiflung so deutlich hören konnte, machte es noch schlimmer. Alles, was ich wollte, war, auf meinen Stuhl zurück zu können. Warum musste er das tun? Warum? Ich war Fußballer, kein Tänzer, und bei dem Gedanken, dass ich mich jeden Moment vor Ramin vollkommen lächerlich machen würde, krampfte sich mein Magen winzig klein zusammen.

„Weil“, sagte Ramin und sah mir direkt ins Gesicht, sodass ich jedes Wort an Nase und Wangen spüren konnte, „du Sport liebst, und weil du Musik liebst.“

Sein Blick ließ mich nicht los. Als sich an meinem Gesichtsausdruck nichts änderte, stieß er ein fast schon verzweifeltes Lachen aus. „Martin, du gehst nicht in Klubs und du fickst nicht in der Gegend rum! Ich meine – du musst irgendwas machen in deinem Leben außer Fußball spielen! Irgendwas, das Spaß macht! Okay? Bitte?“

Fußball macht Spaß, lag mir auf der Zunge, aber es wollte nicht heraus. Ich sah in Ramins Augen, sah die Forderung darin, fast schon ein Flehen. Bitte, klang es mir in den Ohren.

Ich schluckte. Spürte seine Hand um meine. Und dann nickte ich. „Na gut.“

Ramin lächelte. Breit, über sein ganzes Gesicht. Plötzlich wurde mir bewusst, wie nah wir voreinander standen. Als ich einatmete, schnappte ich einen Hauch seines Geruchs auf. Kokos, ein wenig, und Kaffee, und er. „Super. Dann auf geht‘s.“

Er stellte sich ganz gerade hin, und sein Blick wurde ernst, fast professionell. „Leg deine linke Hand auf meine rechte Schulter.“

Ich tat es. Meine Finger zitterten. Aber er kommentierte es nicht. Ich wusste nicht, ob er es überhaupt wahrnahm.

„Gut. Und jetzt …“ Er legte seine rechte Hand an meinen Rücken, und seine linke Hand, die immer noch meine rechte hielt, hob er bis auf Schulterhöhe. Mein Rücken und meine Hand sendeten Hitzewellen durch meinen ganzen Körper.

„Okay. Pass auf, der Tanz, den wir machen, ist Discofox. Das ist der beste zum Einsteigen, weil die Schritte sehr, sehr einfach sind.“

Na super. Damit ich noch bescheuerter aussehe, wenn ich’s nicht kann. Ich presste die Lippen zusammen. Bitte, hatte er gesagt.

„Pass auf, du machst einfach drei Schritte, okay? Drei Schritte. Erst drei zurück, dann drei nach vorne. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Der rechte Fuß geht zuerst zurück. Also …“

Sein linker Fuß tippte gegen meinen rechten, und ich verlagerte mein Gewicht auf den linken Fuß, damit ich den rechten anheben konnte.

„Zurück …“

Ich führte den Fuß nach hinten, setzte ihn ab und hob den linken. Ramin hatte mit dem linken Fuß einen Schritt nach vorn gemacht und führte jetzt den rechten hinterher.

„… zurück …“

Linker Fuß zurück, aufsetzen, den rechten anheben.

„… und zurück. Vorsicht!“

Ich fror ein, die Zehen des rechten Fußes schon auf dem Boden.

„Das reicht! Okay? Stell den Fuß nicht weiter ab als so. Der letzte Schritt ist kein richtiger Schritt, sondern ein Tap. Verlager dein Gewicht nicht auf den Fuß, berühr nur den Boden mit den Zehen, dann mach mit dem gleichen Fuß, dem rechten, wieder einen Schritt nach vorne. Okay?“

Ich nickte. Löste die Zehen vom Boden und führte den Fuß nach vorne. Aufsetzen, linker Fuß, dann der rechte, aber wieder nur die Zehen. Und zurück. Schritt, Schritt, Tap. Schritt, Schritt, Tap. Wir gingen hin und her, und nachdem ich die ersten paar Male nicht über meine Füße gestolpert war, merkte ich, wie ich tatsächlich eine Art Rhythmus fand. Schritt, Schritt, Tap, Schritt, Schritt, Tap, Schritt, Schritt, Tap. Als Ramin etwas schneller wurde, passte ich mein Tempo automatisch an. Ich sah zu ihm hinauf, in seine funkelnden Augen, und – ich konnte es nicht fassen – ich lächelte. „Es funktioniert!“

Sein ganzes Gesicht strahlte. „Super! Dann machen wir es ein bisschen spannender, okay?“

Und dann – keine Ahnung, wie es passiert war – stand ich plötzlich drei Schritte von ihm entfernt. Ich war rückwärtsgegangen, aber statt nach vorn zu gehen, musste er stehen geblieben sein. Seine linke Hand hatte er mitsamt meiner rechten gesenkt, und meine linke Hand war automatisch mit meinen Schritten von seiner Schulter hinab seinen Arm entlang in seine rechte Hand geglitten. Jetzt standen wir die zweieinhalb Schritte voneinander entfernt, hielten uns an beiden Händen, und unsere Arme waren zwar nicht ganz ausgestreckt, aber doch unter Spannung.

Ich blieb stehen. Die Zehen meines rechten Fußes berührten den Boden. Mein Gewicht lag auf meinem linken Fuß. „Und jetzt?“

„Jetzt“, und seine Stimme strahlte und funkelte und vibrierte wie Musik, seine Musik, „jetzt fliegen wir.“

Er machte mir die Schritte vor: nicht mehr alle drei in einer geraden Linie in eine Richtung, sondern rechts vor, links zur Seite, Tap neben dem linken Fuß. Vor, zur Seite, Tap, vor, zur Seite, Tap, und immer nach links, sodass wir uns sternförmig im Kreis bewegten. Bei jedem Schritt nach vorne, bei dem wir ja aufeinander zu tanzten, zog er die Arme zur Seite, um Platz zu schaffen, und bei jedem Schritt zur Seite, bei dem der Abstand wieder größer wurde, führte er sie zurück in die Mitte. Vor, Arme raus, zur Seite, Arme in die Mitte, Tap. Vor, Arme raus, zur Seite, Arme in die Mitte, Tap.

Er machte alles langsam vor, und langsam machte ich es nach, wobei ich ständig auf meine Füße starrte. An die Arme musste ich zum Glück nicht denken, das machte Ramin. Er führte, und er nahm meine Hände einfach mit, wenn er seine bewegte. „Aber halt sie unter Spannung. Lass sie nicht überall hineiern. Wenn wir es richtig machen, im Rhythmus, kriegen wir so Geschwindigkeit und Schwung in die Bewegung.“

Ich nickte und schluckte. Wie gut, dass Anspannen die korrekte Variante war. Das immerhin würde mir nicht schwerfallen.

Nachdem wir ein paar langsame Kreise gedreht hatten und ich während der letzten zwei nicht über meine Füße gestolpert war, blieb Ramin stehen und ließ meine Hände los. „Okay. Ich glaube, jetzt können wir Musik anmachen.“

Er ging zurück zum CD-Player. Ich beobachtete seinen Rücken. Meine Kehle zog sich zu. Okay, bisher hatte es ganz gut funktioniert, besser, als ich gedacht hätte. Und bisher hatte er mich nicht verächtlich hinausgeworfen. Aber würde das genauso funktionieren, wenn wir nicht übten, sondern wirklich tanzten? Mit Musik, und garantiert viel schneller als bisher? Was, wenn ich die Schritte vergaß? Was, wenn ich stolperte?

Mit dem Handrücken fuhr ich mir über die Stirn. Was das Ganze mit Fliegen zu tun haben sollte, wie Ramin es genannt hatte, war mir schleierhaft. Lernen, mit aneinandergeketteten Knöcheln zu gehen, das wäre eine passende Beschreibung gewesen.

Ramin drückte eine letzte Taste und stand auf. Aus den Lautsprechern ertönte Musik. Ich kannte die Melodie, konnte sie aber nicht zuordnen. „Piano Man“? Nein.

Ramin grinste, kam auf mich zu, nahm meine rechte Hand und stellte sich wieder in Tanzhaltung hin. Im Lied setzten die Lyrics ein. First I was afraid, I was petrified, kept thinking I could never live without you by my side …

Natürlich. “I Will Survive”. Von … keine Ahnung. Egal. Von den Zehenspitzen bis zur Stirn stand ich unter Spannung, das Gewicht auf dem linken Fuß, der rechte bereit, loszulegen. Aber ich wartete. Und wartete. But then I spent so many nights thinking how you did me wrong …

“Warum machen wir nichts?” Das kam in Flüsterlautstärke heraus, aber so eindringlich, als wäre es eine hochbrisante Geheimdienstinformation, die der Gegner auf keinen Fall mithören durfte.

Ramin grinste. „Hörst du schon einen Beat?”

And so you’re back …

Er bewegte sich sofort. Auf „back“ war der erste Schlag gekommen, und zeitgleich hatte Ramin seinen linken Fuß nach vorne gesetzt. Und mein rechter – war zurückgewichen. Dann links. Tap. Nach vorne. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, auf jeden Schlag der Musik ein Schritt. I should have changed that stupid lock, I should have made you leave your key, zurück, vor, zurück, immer im gleichen Tempo, immer im Rhythmus der Musik.

Ich atmete, schnell, ruckartig, mein Kopf war ein Metronom, Schritt, Schritt, Tap, Schritt, Schritt, Tap. Aber meine Füße – machten einfach. Sie gingen, ganz von selbst, und als ich der Musik zuhörte und für einen Moment im Kopf den Rhythmus verlor, machten meine Füße weiter, weil sie wussten, was zu tun war, weil sie von Ramin geführt wurden, weil sie gar nicht anders konnten, als es richtig zu machen.

Wir gingen vor, zurück, vor, zurück, und meine Augen, die krampfhaft geradeaus auf Ramins Kinn gestarrt hatten, die nichts wahrgenommen hatten außer das Mantra in meinem Kopf, glitten nach oben und fanden Ramins. In den Höhlen loderte das Feuer, flammte, züngelte, knisterte, so hell, dass ich den flackernden Schein spüren konnte, die Hitze auf meinen Wangen, in meiner Brust. „Wir tanzen.“ Ich lachte, atemlos, ein wenig schwindelig. „Ramin, wir tanzen!“

Er lachte auch, laut und breit, und zweistimmig hallte unser Lachen durchs Wohnzimmer, mischte sich in die Melodie. „Super! Dann los, auf geht’s!“

Er blieb stehen, ich glitt zurück, seine Hände hielten meine, und er zog, ich schoss nach vorne, ich hatte keine Zeit, nachzudenken, mein linker Fuß glitt zur Seite, Ramin führte unsere Hände nach innen, ein Tap, ein Ziehen, und wieder nach vorne, und es klappte, es ging, es funktionierte, es war …

Ich lachte. Laut und leicht und schwerelos und frei, und Ramin strahlte, zog und wirbelte mich herum, und das Wohnzimmer verwischte, Tisch, Regal, Sofa, alles war nur noch ein unscharfer Farbenmix, Konturen, an denen wir vorbeizogen, zu schnell, um sie richtig zu sehen. Weren’t you the one who tried to hurt me with goodbyes, und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, ich lachte und tanzte und wirbelte und schwebte und flog. Oh ja. Ramin hatte recht gehabt. Jetzt fliegen wir. Jetzt fliegen wir. WIR FLIEGEN!

Irgendwann – nach ein paar Minuten, sicher, aber es waren doch Stunden gewesen, oder nur Sekunden? – war das Lied vorbei. Ramin zog mich zu sich, zurück in die Grundhaltung, und meine Füße reagierten richtig. Mein Arm glitt wieder zu seiner Schulter, als hätte das Tanzen schon immer in meinem Körper geschlafen und nur darauf gewartet, geweckt zu werden. Dann standen wir still. Das Lied schien das letzte auf der CD gewesen zu sein, denn um uns herum war es auch still. Nur unser Atem war zu hören, seiner ruhig, meiner gierig, hastig, bruchstückhaft.

„Das … war …“ Schon wieder fehlte mir das richtige Wort. Ich sah hinauf in Ramins Gesicht, auf das Lächeln auf seinen Lippen, in seine Augen, die noch immer loderten, und ich wollte ihm sagen, dass er recht gehabt hatte, wollte meine Worte von vorhin zurücknehmen, wollte mich bedanken für das Geschenk, dieses unglaubliche Geschenk, das er mir gemacht hatte. Aber ich wusste nicht, wie. Also schaute ich ihn nur an, spürte seine Schulter unter meiner Hand und seine linke Hand um meine rechte, und wollte nie wieder gehen.

„Das hast du gut gemacht.“ Seine Stimme war Samt, tief, leise. Das Braun seiner Augen verdunkelte sich fast unmerklich.

Ich schloss die Lippen. Mit einem Schlag war mein Mund wieder trocken. Ich spürte seine Finger an meinem Rücken. Langsam verstärkten sie ihren Druck, ertasteten die Muskeln, glitten Zentimeter für Zentimeter nach unten. Seine Augen bohrten sich in mich, legten mich offen, ließen keinen Winkel, kein Versteck aus.

„Danke, dass du‘s mir beigebracht hast.” Meine Stimme war heiser. Jede Faser meines Körpers glühte.

„Ich kann dir noch mehr beibringen.“ Er hatte den Kopf leicht nach vorn gelehnt. Beinahe berührte seine Stirn meine. Sein Ton war rau, sanft, hart, weich. „Willst du das?“

Ich starrte in seine Augen, so dunkel, fast schwarz. Und fiel. Fiel und fiel und flog, schwerelos, entfesselt, frei. „Ja.“

Ein Blitz erhellte die Nacht. Und dann sah ich ihn nicht mehr. Ich spürte nur seine Hände an meiner Hüfte, seine Lippen gepresst auf meine, seine Zunge, die sie auseinanderstieß, meine Hände, die an seinem T-Shirt rissen, und stolpernd zog er mich Richtung Schlafzimmertür, löste eine Hand, knallte sie auf, riss mich hindurch, stieß mich aufs Bett, fiel hinterher. Und er war alles, was ich fühlte, alles, was ich sah, alles, was ich hörte, alles, was existierte, alles, was ich wollte. Sonst nichts. Nur er.

 

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Referenzen:

 

„I Will Survive“ – aus dem Album “Love Tracks” von Gloria Gaynor. Geschrieben von Freddie Perren und Dino Ferakis. Polydor Records, 1978.

 

“Piano Man” – aus dem Album “Piano Man“ von Billy Joel. Columbia Records, 1973.

Chapter 18: You Can't Slow Down Love

Chapter Text

  1. Kapitel: You Can’t Slow Down Love

 

Am nächsten Morgen saß ich nach dem Frühstück auf Ramins Sofa und genoss die Ruhe. Es waren die ersten Momente, die ich für mich hatte, seit ich gestern Früh meinen Finger auf den Klingelknopf gepresst hatte. Ich lehnte den Kopf gegen das Polster und schloss die Augen. Die Morgensonne fiel durch das Fenster hinter mir auf mein Gesicht, und Wärme durchströmte mich bis in die Finger- und Zehenspitzen. Ich seufzte. Oh ja. So war das Leben schön.

Ramin duschte. Das dumpfe Rauschen des Wassers war das einzige Geräusch in der Wohnung. Ich spürte ein leichtes Ziehen im Bauch, als ich daran dachte, was wir jetzt gerade unter der Dusche alles machen könnten, wenn ich mitgegangen wäre. Aber es ebbte sofort wieder ab. Jeder Muskel meines Körpers war voll und schwer, und ein dumpfes Summen klang in meinem Kopf. Im Moment konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als einfach hier zu sitzen, das Frühstück im Bauch, die Sonne im Gesicht, und die Geräusche des Mannes, den ich liebte, in den Ohren. Mehr brauchte ich gerade nicht. Und außerdem konnte ich einfach nicht mehr.

Sierras letzte Anweisung hatten Ramin und ich gestern zwar befolgt, aber nur gerade so. Nachdem wir einmal im Bett gelandet waren, waren wir erst mal nicht mehr rausgekommen. Irgendwann, als wir beide auf etwas anderes als aufeinander Hunger bekommen hatten, hatten wir Pizza bestellt. Dafür würden mich unsere Docs zwar umbringen, aber die sahen es ja nicht. Die paar Gramm Fett zu viel würde ich mir eben in den nächsten Trainingseinheiten wieder abschuften. Und mit Ramin zusammen nackt in seinem Bett zu sitzen, mit bloßen Händen Pizzastücke aus den Kartons zu fingern und mit der Zunge die Käsefäden aufzufangen, war einen Rüffel der Mannschaftsärzte aber so was von wert. Wir hatten gelacht, uns geküsst, unsere Mägen mit Pizza und unsere Augen mit dem Anblick des anderen gefüttert und hatten dann rollend und kichernd und fingernd da weitergemacht, wo wir vor der Pizza aufgehört hatten. Zwischendrin, wenn wir beide Zeit gebraucht hatten, um wieder zu Atem und Energie zu kommen, hatte Ramin mir immer wieder Fragen zum Fußball, zur Mannschaft und zur Vorbereitung gestellt. Da hatte alles in mir gesungen und genauso ausgelassen getanzt wie Ramin und ich davor im Wohnzimmer. Er interessiert sich für mich, er interessiert sich für mich, er interessiert sich für mich, hatte der Reigen in mir geklatscht und geklungen. Ich lachte und breitete die Arme aus. Die Sofalehne war warm und weich unter meinen Fingern.

Natürlich hatte ich ihm bereitwillig Auskunft gegeben. Ich hatte erzählt, dass ich schon Fußball spielte, seit ich laufen konnte, dass es immer schon das gewesen war, was ich am allerliebsten gemacht hatte, dass ich immer einer der Besten gewesen war und dass ich mit dreizehn in die U14 des HSV gewechselt war, zu meinem Lieblingsverein. Dass ich am liebsten im zentralen Mittelfeld spielte, als Sechser oder Achter, und dass ich selten auch mal hinten wie vorne auf der rechten Außenbahn eingesetzt worden war. Dass meine größten Stärken Passspiel, Ausdauer und Spielintelligenz waren, meine größten Schwächen das Kopfballspiel, Schnelligkeit und Dribbling. Dass ich in den Jugendmannschaften eigentlich immer Stammspieler gewesen war und oft auch die Standards getreten hatte. Dass ich letzten Sommer noch nicht mit der Bundesligamannschaft trainiert hatte, sondern erst nach dem dritten Spieltag von meinem Jugendtrainer, der dann Profitrainer geworden war, mit hochgezogen worden war, und dass ich von da an relativ viele Spiele gemacht hatte, manchmal von Anfang an, manchmal als Einwechselspieler. Dass ich in der Bundesliga noch kein Tor geschossen, aber immerhin schon eine Vorlage gegeben hatte, und dass ich mich da unbedingt verbessern wollte. Dass unser Trainer jetzt nicht mehr der war, der mich zu den Profis befördert hatte, dass ich aber in der Endphase der letzten Saison auch unter dem jetzigen Coach viel gespielt und dass ich reelle Chancen hatte, auch in dieser Saison wieder regelmäßig eingesetzt zu werden.

Davon, wie schlecht das Trainingslager gelaufen war und dass mir momentan alle meine direkten Konkurrenten voraus waren, hatte ich nichts erzählt, und schon gar nicht, woran das gelegen hatte. Ab jetzt, hatte ich mir stattdessen geschworen, während ich an die Decke von Ramins Schlafzimmer gestarrt und Ramins Zeigefinger Kreise auf meine Brust gemalt hatte, würde ich alles tun, um meine Situation zu ändern. Ich würde ab sofort konzentriert und fokussiert in jedes Training und jede Taktikschulung gehen, und ich würde alles daransetzen, zum ersten Pflichtspiel im DFB-Pokal gegen den Viertligisten Carl Zeiss Jena in der Startelf zu stehen. Bis dahin waren noch fast vier Wochen Zeit – genug, um den Rückstand aufzuholen und mich doch noch durchzusetzen. Meine persönliche Vorbereitung würde jetzt beginnen, wo das, was mich belastet hatte, weg war.

Ramin hatte sich alles angehört, mich kaum unterbrochen und immer weiter nachgefragt. Ich hatte versucht, nicht zu sehr auszuufern und mich ein bisschen kurzzufassen, weil ich ihn auf keinen Fall hatte langweilen wollen, aber das war nicht passiert. Er hatte zugehört, mich dabei angesehen, und ich hatte gewusst, dass es ihn wirklich interessierte und dass er nicht nur so aus Höflichkeit fragte. Aus Höflichkeit, echote es im stillen Wohnzimmer durch meinen Kopf. Ich grinste. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass Ramin jemals irgendetwas nur aus Höflichkeit tat.

Nach zwei Pizzen, einigen Fußballerzählungen und ganz viel Sex hatten wir uns dann aufraffen und zum Theater aufbrechen müssen. Wegen der Maske, die bei ihm wahnsinnig aufwendig war, musste Ramin immer als erster Darsteller da sein, und nachdem er mir augenrollend versichert hatte, dass die Visagisten nichts als Styling, Mode und Hollywood im Kopf hatten und einen Fußball nicht von einem Tischtennisball unterscheiden könnten, hatte ich mich dazu durchgerungen, ihn zu begleiten. In der Maske war mir schnell klar gewesen, dass ich mir in der Tat keine Sorgen machen musste, erkannt zu werden, denn nach einem kurzen Hello unterhielten sich die Visagisten pausenlos miteinander und schenkten mir überhaupt keine Beachtung mehr. Ganz in Ruhe hatte ich von einem stillen Stuhl in der Ecke aus beobachten können, wie sich Ramins Gesicht in mühevoller Kleinarbeit in das eines Monsters verwandelte. Ramin mochte über die Plapperei seiner Maskenbildner den Kopf schütteln – in ihrem Job waren sie grandios. Die Entstellungen hatten so echt ausgesehen, dass ich Ramin nur von der rechten Gesichtshälfte her nicht mehr erkannt hätte. Es war wirklich gruselig gewesen – die linke Seite er, die rechte ein Monster. Ich hatte geguckt und geguckt und versucht, beide Teile miteinander in Einklang zu bringen, aber vergeblich. Jedes Mal, wenn mein Blick auf die rechte Seite seines Gesichts gefallen war, hatte irgendetwas an meinem Nacken kalt zu kribbeln angefangen, und ich hatte schnell weggeschaut. Und dann waren meine Augen trotzdem immer wieder dorthin zurückgekehrt.

Als Sierra aufgetaucht war, hatte ich sie kurz begrüßt, aber dann war ich in den Zuschauerbereich gegangen, bevor die anderen kamen. Bei der Vorbereitung auf die Aufführung hatte ich schließlich nicht stören wollen. Und außerdem waren ja sicher nicht alle von Ramins Kollegen absolute Fußballlaien. Ich war zwar immer noch nur ein neunzehnjähriges Talent mit nicht mehr als fünfundzwanzig Bundesligaeinsätzen, aber nachdem ich an ein und demselben Tag schon Sierra und den Visagisten in Ramins Gesellschaft begegnet und zweimal davongekommen war, hatte ich mein Glück nicht überstrapazieren wollen.

Die Performance selbst war einfach großartig gewesen. Diesmal hatte Ramin mich nicht mehr so zerrissen wie beim ersten Mal – das Wissen, wer er war, dass er wusste, wer ich war, und dass wir nachher wieder zusammen zu ihm fahren würde, hatte es einfacher gemacht. Ich hatte mich trotzdem bereitwillig wieder von seiner Stimme mitreißen lassen, aber ich hatte diesmal auch auf die Handlung achten können, und auf Sierra. Die beiden waren auf der Bühne verschmolzen. Ihre Bewegungen, ihre Blicke, ihre Stimmen – es war gewesen, als wären sie zwei Körper mit einem einzigen Gedanken. Alles hatte gepasst. Am Morgen hatte ich die Worte einfach aus der Luft gegriffen, aber erst da im dunklen Theatersaal war mir klar geworden, wie wahr sie waren: Ramin und Sierra waren dafür geschaffen, miteinander auf der Bühne zu stehen.

Nach der Vorstellung waren Ramin und ich zu ihm zurückgefahren, und die Theaterpause war lang genug gewesen, um alle Akkus wieder aufzuladen. Es war eine lange Nacht gewesen, in der wir nicht viel und erst spät wirklich geschlafen hatten. Deswegen war es jetzt auch schon nach halb zwölf. Ich gähnte und räkelte mich auf dem Sofa, ohne die Augen aufzumachen. So viel Action, so viel Anspannung, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Jetzt war ich müde und leer – aber auf die beste Art und Weise, die ich mir vorstellen konnte. Wie nach einem hart erkämpften Sieg gegen einen superstarken Gegner. Jetzt musste ich mich nicht mehr anstrengen. Jetzt durfte ich einfach hier sitzen und den Triumph genießen. Gott, hatte ich gestern Angst gehabt. Aber es hatte sich alles so was von gelohnt.

Ich atmete und lauschte der Stille. Komplette Stille. Ich runzelte die Stirn. War da nicht – natürlich, das Wasser. Offensichtlich war Ramin fertig mit Duschen. Ich gähnte wieder und blinzelte in die Sonnenstrahlen. Um drei ging mein Flieger. Das war zu früh, ein verschwendeter Nachmittag, aber der nächste wäre erst um acht gegangen, und das war mir zu spät gewesen. Morgen hatten wir um zehn Training, und durch die Zeitverschiebung verlor ich ja noch eine Stunde. Und als ich den Flug gebucht hatte, hatte ich ja noch nicht gewusst, wie das alles hier laufen würde. Was Ramin tun würde. Ob ich die eine Nacht im Hotel würde verbringen müssen, weil er mich vielleicht gar nicht reinlassen würde.

Mein Blick schweifte über den Esstisch und die Küchenzeile, die Eingangstür, die Schlafzimmertür, den Fernseher und die Fläche davor, wo Ramin mir gestern den Discofox beigebracht hatte. Schon wieder breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. Oh doch. Er hatte mich reingelassen. Und so viel mehr.

Meine Augen setzten ihren Rundgang fort und blieben an seinem CD-Regal hängen. Von meinem Platz auf dem Sofa aus konnte ich nur die Titel der Alben erkennen, die ganz rechts und ungefähr auf meiner Höhe standen. Mit beiden Händen stemmte ich mich in die Sitzpolster, wuchtete mich hoch und tapste vors Regal. Bob Dylan. Eric Clapton. David Bowie. Meat Loaf. Die Eagles. Elton John. Johnny Cash. Kate Bush. Pink Floyd. Die Rolling Stones. Schritt für Schritt, Bord für Bord hangelte ich mich an den Alben entlang. Wahnsinn, wie viele es waren. Und so viele verschiedene Künstler. Ich hatte meine Handvoll Favoriten, aber Ramin schien echt alles zu hören.

„Admiring my collection?“

Ich drehte mich um. Ramin stand mit feuchten Haaren, in Jeans und halboffenem, ärmellosem schwarzen Hemd in der Tür zum Eingang und grinste.

„Yeah.“ Ich grinste zurück und wandte mich wieder dem Regal zu. „It’s amazing. How long did it take you to get so many?”

“Ages.” Ich hörte seine Schritte näherkommen, bis er dicht hinter meiner Schulter stehenblieb. Seine Präsenz füllte mich genauso mit Wärme wie zuvor die Morgensonne. „I started buying them when I was just a kid. I’ve always loved music.” Sein Blick schweifte für einen Moment über die Reihen, dann schaute er zu mir hinunter und grinste. „So what do you listen to?“

„You.“

Er lachte und stieß spielerisch mit seinem Oberarm gegen meine Schulter. Wellen der Glückseligkeit rollten durch mich hindurch.

„No, I dunno … Queen, Billy Joel, Bruce Springsteen, Phil Collins … that kinda thing.”

„Very male.“

Jetzt kassierte er von mir einen Rempler. Wir lachten beide, und er hob die Hände. „All right, all right, I’m just saying … But it’s good taste, anyway.”

Sein Blick blieb wieder am Regal hängen. Ich sah ihn an, den Glanz in seinen Augen, das Lächeln auf seinen Lippen. Wenn ich jetzt hier einfriere und ihn einfach nur für immer anschauen kann, ist das alles, was ich je vom Leben wollte.

Als hätte er meinen Blick gespürt, kehrte seiner abrupt zu mir zurück. „So do you plan on coming back?“

Ich blinzelte. Die Müdigkeit war auf einen Schlag weg. In meinem Bauch schwappte eine Welle der alten Angst heran. Aber ich sah ihn an, seinen offenen Blick, seine leicht gehobenen Augenbrauen. Kein Vorwurf. Keine Ablehnung. Eine echte Frage.

Ich holte Luft und schaffte es, zu lächeln. „Do you want me to?”

Er schaute mich an. Der Daumen seiner rechten Hand zuckte, rasend schnell, auf und ab. Mein Herz hämmerte im gleichen Tempo. Konnte er es hören? Meine Handflächen waren schon wieder nass, und ich presste sie möglichst unauffällig gegen meine Oberschenkel.

„I wouldn’t mind.“

Die Kette, die meine Kehle zugeschnürt hatte, zerbarst. Ich sog kühle, köstliche Luft tief in meine Lungen.

„I can’t very well leave your dancing skills at that sorry bit of disco fox we did yesterday, now, can I?”

Für einen Moment starrte ich ihn nur an. Dann lachte ich. Am liebsten hätte ich sofort wieder losgetanzt. Was auch immer der Grund war, warum er wirklich nichts dagegen hatte, wenn ich wiederkam – es hatte ganz sicher nichts damit zu tun, dass er plötzlich seine Leidenschaft als Tanzlehrer entdeckt hatte.

„I suppose not.“

Es war mir doch völlig egal, was er für Rechtfertigungen fand. Er wollte mich wiedersehen, und solange er den wahren Grund nicht sagte, würde ich mir das Träumen einfach erlauben.

„Right.“

War da ein Hauch von Unsicherheit in seinem Lächeln? Aber wenn, dann verschwand er so schnell, wie er gekommen war. Seine Zunge schnellte über seine Oberlippe, und als er sein Handy aus der Hosentasche zog, war sein Grinsen so überlegen und selbstsicher wie immer. „You’d better give me your number.”

Nachdem wir unsere Handynummern ausgetauscht hatten, strahlte ich immer noch. In meinen Beinen zuckte und zappelte es, und es kostete mich richtig Mühe, still stehen zu bleiben. Mir war leicht schwindelig, als wäre ich betrunken. Und in gewisser Weise war ich das ja auch.

„I’ll be back as soon as I can!” Meine Stimme überschlug sich fast. „It may be a little tough the next few weeks, because our season starts in a month and there’s still a lot of work to do. But there’ll be breaks for internationals in the season, I’m sure I can get away then. And you can come visit me, too! See a match, see the city!”

Er grinste. „Maybe. We’ll see. What time’s your plane?“

„At three.“

„Time for one more dancing lesson, then.”

Ich strahlte. Ramin ging zum Regal, zog nach kurzem Suchen eine CD heraus und kniete sich damit vor die Fernsehkommode.

„How come you’re so good at it?”

„A musical actor should know how to dance.” Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hörte ich an seiner Stimme, dass er grinste. „But I started learning when I was about fifteen, and I’ve loved it ever since. I don’t really do it regularly, not this kind of dancing, just a couple of times a year when there’s a ball or something. Sierra and I usually go together.” Er richtete sich auf und drehte sich zu mir. „There’s a big one here in London right before Christmas every year. That’s the best one.”

Grinsend streckte er die linke Hand aus. Ich ergriff sie, spürte die Wärme, die Kraft, die leichten Einkerbungen an den Gelenken. Sie waren mir schon vertraut. Ich ertastete sie mit den Fingerkuppen, und weitere Wellen des Glücks rollten durch mich hindurch.

„Now, quickstep! It’s one of the best dances there is. You start with the right foot. Back, back, then two quick steps sideways …”

Er zeigte mir den Grundschritt und die erste Figur. Bei beiden liefen wir im Kreis gegen den Uhrzeigersinn. Im Grundschritt gingen wir beide seitwärts und vor und zurück, in der Figur ging er nur vorwärts, ich nur rückwärts, und bei den schnellen Schritten musste ich immer den linken über den rechten Fuß einkreuzen. Es war viel komplizierter als Discofox, und ich verhaspelte mich immer wieder, vergaß das Kreuzen, machte es an der falschen Stelle und verwechselte langsame und schnelle Schritte. Aber Ramin machte es mir immer wieder vor, und als wir am Ende zu Phil Collins‘ „You Can’t Hurry Love“ durch sein Wohnzimmer flogen – den Tisch hatten wir vorher noch an die Küchenzeile geschoben –, lachte und lachte ich und konnte wie gestern überhaupt nicht mehr aufhören. Es kam mir vor, als sei ich gestern nicht nur von Hamburg nach London, sondern in eine völlig neue Welt gereist, auf einen anderen Planeten, einen Planeten der Musik und des Tanzens und der unendlichen Freiheit.

 

*

 

„Wo warst du?!“

Finn musste aufgesprungen und zur Tür gestürzt sein, sobald er den Schlüssel im Schloss gehört hatte. Ich war noch nicht mal über die Schwelle getreten, da fing er schon an zu schimpfen, und während ich hereinkam, den Rucksack absetzte und die Schuhe auszog, machte er einfach weiter, ohne auf eine Antwort zu warten.

„Bist du eigentlich völlig durchgeknallt? Du sagst mir DURCH DIE GESCHLOSSENE ZIMMERTÜR, dass du über Nacht weg bist, und du bist verschwunden, bevor ich irgendeine Frage stellen kann! Du schleichst dich weg wie ein verdammter Schwerverbrecher, und dann bist du nicht zu erreichen! Ich hab dich zehnmal angerufen und dir ungefähr tausend Nachrichten geschickt, und was machst du? Nichts!“

Was eventuell daran liegen könnte, dass ich mein Handy die ganze Zeit im Flugmodus gelassen hatte.

Ich saß auf der Garderobenbank und schaute zu Finn hinauf. Seine Hände waren in die Hüften gestemmt, er wippte leicht auf den Zehenspitzen, und seine blauen Augen blitzten scharf wie Eissplitter. Ich spürte einen leichten Stich. Natürlich hatte ich gewusst, dass er sich Sorgen machen würde. Aber jetzt war ich ja wieder da. Es war alles gut gegangen – mehr als gut, es war großartig gegangen. Und was hätte ich anderes tun sollen? Ich hatte ihm ja auf keinen Fall erzählen können, wo ich hingehen würde und warum. Seine Proteste hätte ich nicht ertragen. Nicht, bevor ich wusste, was mich erwartete.

Ich seufzte. Einen Moment schaute ich Finn noch in die Augen, dann wuchtete ich mich hoch und schlurfte in Richtung Wohnzimmer. Ich brauchte Kaffee. Ich brauchte Ruhe. Eigentlich brauchte ich am dringendsten Schlaf. Aber was ich bekam, war eine Fortsetzung von Finns Tirade, der an meine Fersen geheftet Richtung Wohnzimmer marschierte.

„Hallo, kannst du auch noch mit mir reden? Ich meine, wie alt bist du denn, zehn, dass du einfach so ohne ein Wort abhaust? Und jetzt komm mir nicht mit Ich bin erwachsen und es geht dich nichts an, ich meine, klar bist du erwachsen, aber wir wohnen hier zusammen, und ich dachte, wir sind Freunde und keine Zweck-WG! Und überhaupt“ – Finn holte Luft, stürmte an mir vorbei und durchbohrte mich mit seinem Blick, während sein Zeigefinger anklagend auf den Wohnzimmertisch wies – „kannst du mir DAS mal erklären?“

Ich wandte den Kopf. Da lagen sie, aufgereiht nebeneinander. Alle vier Ramineinkäufe, zwei CDs, zwei DVDs. Vom Cover seiner CD sah Ramin mir unscheinbar und freundlich interessiert entgegen. Ein paar Sekunden lang starrte ich auf sein Gesicht. Ich wusste nicht, ob ich Finn auslachen, ihn anbrüllen oder mich bei ihm entschuldigen sollte. Und hauptsächlich war ich einfach müde. So müde.

Nach einigen Momenten Stille drehte ich mich wieder zu Finn um. „Was hast du denn mit meinem Zeug zu schaffen?“

Sofort blitzte es wieder in seinen Augen. „Entschuldigung, wenn ich in dein Zimmer gehe und lüfte! Das lag auf dem Schreibtisch, direkt unterm Fenster! Wenn du nicht willst, dass ich das sehe, musst du‘s schon ein bisschen besser verstecken! Ich meine, so blöd bin ich nicht, weißt du?“

Er sah mich an, und unter den blonden Haarsträhnen, die ihm in die Augen fielen, sah ich neben Wut auch Unverständnis und Schmerz. Der Stich, der jetzt durch mich hindurchfuhr, war stärker als der zuvor. Ich sank in den Sessel herab, starrte einen Moment auf meine Oberschenkel und sah dann wieder hoch. „Ja. Ich weiß. Ich hätte was sagen sollen. Tut mir leid. War scheiße von mir.“

Finns Arme waren herabgesackt und hingen jetzt schlaff an seinen Seiten. In seinem Blick stand noch immer ganz deutlich, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Und er versuchte auch gar nicht, das zu verbergen. Natürlich nicht. Ich war sein bester Freund. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.

Die eiserne Faust, die gestern Früh noch um meinen Magen gelegen hatte, hatte jetzt mein Herz gepackt und quetschte. Der Schmerz ging körperlich durch mich hindurch. „Finn … wow. Hey. Es tut mir leid, okay? Wirklich. Total. Aber … ich musste das machen. Ich musste gehen, und ich konnte es nicht erklären. Echt nicht. Das hatte nichts mit dir zu tun. Ich meine, wenn ich‘s wem gesagt hätte, dann natürlich dir! Aber … ich musste das alleine machen. Verstehst du? Ich … ich war eh schon so …“ Ich biss mir auf die Lippe. „Ich wusste ja nicht, wies ausgeht.“

Finns Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. Die meiste Wut und zum Glück auch ein wenig Schmerz waren verschwunden, aber die Verständnislosigkeit blieb. „Und da hättest du nicht mit mir drüber reden können?“

Ich presste die Lippen aufeinander. Schüttelte den Kopf. „Du wärst ja dagegen gewesen.“

Schweigen. Wir sahen uns an, eisblau in meerblau. Dann schloss Finn die Augen, und in einem einzigen Atemzug sackte seine ganze Energie in sich zusammen. Er ging zum Sofa, fiel darauf hinab, stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in beide Hände. „Du warst bei ihm, oder? Bei deinem Typ da.“

„Bei Ramin.“ Ich flüsterte es fast. In meinem Kopf waren Bilder vom Theater, von der Pizza, vom Tanzen. „Ja.“

Finn vergrub das Gesicht in den Händen und gab einen Ton von sich, der irgendwo zwischen Stöhnen und Schluchzen lag. „Ich wusste es“, murmelte er in seine Hände. „Ich wusste es.“

Ich beobachtete ihn. Irgendwann würde er sich schon wieder sammeln. Und dann ohne Zweifel einen neuen Anlauf nehmen. Ich lag in der Sessellehne, spürte in meiner Hosentasche das Handy, das jetzt Ramins Nummer enthielt, und wartete.

Als es so weit war, richtete Finn sich auf, fixierte mich mit einem verzweifelt-flehenden Blick und holte Luft. „Martin … du hast mir doch von ihm erzählt. Weißt du noch? Ja? Du meintest, er ist zehn Jahre älter als du –“

„Acht“, korrigierte ich scharf.

„Na gut!“ Finn hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, wobei er immer noch nur gerade so auf einer Augenhöhe mit mir war, und aus seinen Augen sprühten wieder Eissplitter. „Dann eben acht! Schlimm genug! Er ist DEUTLICH älter als du und hatte wahrscheinlich in den letzten zehn Jahren jede Nacht einen anderen im Bett, so, wie du von ihm erzählt hast! Ich meine, der hat doch eine völlig andere Einstellung als du zu solchen Sachen! Der vögelt alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, und danach auf Nimmerwiedersehen! Ich meine –“ Er stieß ein Lachen aus – „du glaubst doch nicht, dass er dich liebt? Oder? Dass du ihm IRGENDWIE wichtig bist außer als Sparringspartner im Bett?“

Ich hielt Finns Blick. Sex and love don’t have anything to do with each other. Do they, Ramin? Aber dann hörte ich ein anderes Echo in meinem Kopf. So what do you listen to? Seine ganzen Fragen über meinen Fußball. Sein Stolz auf seine CD-Sammlung. Seine Augen und sein Ton, als er über Sierra gesprochen hatte. Meine rechte Hand in seiner linken, seine rechte an meinem Rücken. Sein Fuß, der meinen anstupste. Discofox. Quickstep. I wouldn’t mind if you came back.

Ich lächelte. „Du hattest recht, Finn. Ich habe mich in ihn verliebt.“

Stille. Ich ließ meine Worte zwischen uns hängen. Sie waren mein Anker, die Flügel, auf denen ich schwebte. Ich genoss sie, atmete sie ein. „Und ich weiß nicht, was ich für ihn bin. Aber es ist ganz sicher nicht nur Sex. Ganz sicher. Und ich werd ihn wieder besuchen. Und ich hab ihn auch hierher eingeladen.“

Jetzt machte sich mein Lächeln selbstständig, wurde breiter, zum Strahlen. Finn sah aus, als drücke die ganze Last der Erde auf seine Schultern, aber ich konnte kein anderes Gesicht machen, selbst, wenn ich gewollt hätte. „Er wird sich mal ein Spiel anschauen. Vielleicht auch mehr. Mal sehen. Je nachdem, wie oft er Zeit hat.“

„Ach, Martin …“ Finn hing völlig kraftlos im Sofa. Nur seine Finger kneteten sich auf seinen Oberschenkeln. „Ich gönn‘s dir ja. Das ist es ja nicht. Ich will ja, dass du einen tollen Freund hast und glücklich bist, aber …“ Er sah mich so verzweifelt an, als hoffte er, dass ich ihm das, was er sagen wollte, von den Augen ablesen würde. „Aber das mit diesem Ramin … Das kann halt nicht gut gehen. Kanns nicht. Glaub ich nicht.“ Mit den Augen flehte er weiter. Seine Worte schien er ausgeschöpft zu haben.

Ich lächelte und stand auf. Nach deutscher Zeit war es schon fast sieben. Ich wollte duschen, essen und meine Ruhe. Vielleicht ein Buch, vielleicht eine Serie. Vielleicht ein bisschen Musik.

An der Tür drehte ich mich noch mal um. „Wenn er herkommt, sei fair zu ihm, ja? Gib ihm eine Chance. Du kennst ihn ja gar nicht.“

„Du doch auch nicht.“

Die Worte waren so leise, dass ich sie mehr spürte als hörte, während ich die Wohnzimmertür hinter mir schloss.

 

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Referenzen:

 

„You Can’t Hurry Love“ – aus dem Album “Hello, I Must Be Going!” von Phil Collins. Geschrieben von Holland-Dozier-Holland (Brian Holland, Edward Holland, Lamont Herbert Dozier). Originalinterpretation von The Supremes. WEA Records, 1982.

Chapter 19: You Can't Slow Down Love - D

Chapter Text

  1. Kapitel: You Can’t Slow Down Love

 

Am nächsten Morgen saß ich nach dem Frühstück auf Ramins Sofa und genoss die Ruhe. Es waren die ersten Momente, die ich für mich hatte, seit ich gestern Früh meinen Finger auf den Klingelknopf gepresst hatte. Ich lehnte den Kopf gegen das Polster und schloss die Augen. Die Morgensonne fiel durch das Fenster hinter mir auf mein Gesicht, und Wärme durchströmte mich bis in die Finger- und Zehenspitzen. Ich seufzte. Oh ja. So war das Leben schön.

Ramin duschte. Das dumpfe Rauschen des Wassers war das einzige Geräusch in der Wohnung. Ich spürte ein leichtes Ziehen im Bauch, als ich daran dachte, was wir jetzt gerade unter der Dusche alles machen könnten, wenn ich mitgegangen wäre. Aber es ebbte sofort wieder ab. Jeder Muskel meines Körpers war voll und schwer, und ein dumpfes Summen klang in meinem Kopf. Im Moment konnte ich mir nichts Schöneres vorstellen, als einfach hier zu sitzen, das Frühstück im Bauch, die Sonne im Gesicht, und die Geräusche des Mannes, den ich liebte, in den Ohren. Mehr brauchte ich gerade nicht. Und außerdem konnte ich einfach nicht mehr.

Sierras letzte Anweisung hatten Ramin und ich gestern zwar befolgt, aber nur gerade so. Nachdem wir einmal im Bett gelandet waren, waren wir erst mal nicht mehr rausgekommen. Irgendwann, als wir beide auf etwas anderes als aufeinander Hunger bekommen hatten, hatten wir Pizza bestellt. Dafür würden mich unsere Docs zwar umbringen, aber die sahen es ja nicht. Die paar Gramm Fett zu viel würde ich mir eben in den nächsten Trainingseinheiten wieder abschuften. Und mit Ramin zusammen nackt in seinem Bett zu sitzen, mit bloßen Händen Pizzastücke aus den Kartons zu fingern und mit der Zunge die Käsefäden aufzufangen, war einen Rüffel der Mannschaftsärzte aber so was von wert. Wir hatten gelacht, uns geküsst, unsere Mägen mit Pizza und unsere Augen mit dem Anblick des anderen gefüttert und hatten dann rollend und kichernd und fingernd da weitergemacht, wo wir vor der Pizza aufgehört hatten. Zwischendrin, wenn wir beide Zeit gebraucht hatten, um wieder zu Atem und Energie zu kommen, hatte Ramin mir immer wieder Fragen zum Fußball, zur Mannschaft und zur Vorbereitung gestellt. Da hatte alles in mir gesungen und genauso ausgelassen getanzt wie Ramin und ich davor im Wohnzimmer. Er interessiert sich für mich, er interessiert sich für mich, er interessiert sich für mich, hatte der Reigen in mir geklatscht und geklungen. Ich lachte und breitete die Arme aus. Die Sofalehne war warm und weich unter meinen Fingern.

Natürlich hatte ich ihm bereitwillig Auskunft gegeben. Ich hatte erzählt, dass ich schon Fußball spielte, seit ich laufen konnte, dass es immer schon das gewesen war, was ich am allerliebsten gemacht hatte, dass ich immer einer der Besten gewesen war und dass ich mit dreizehn in die U14 des HSV gewechselt war, zu meinem Lieblingsverein. Dass ich am liebsten im zentralen Mittelfeld spielte, als Sechser oder Achter, und dass ich selten auch mal hinten wie vorne auf der rechten Außenbahn eingesetzt worden war. Dass meine größten Stärken Passspiel, Ausdauer und Spielintelligenz waren, meine größten Schwächen das Kopfballspiel, Schnelligkeit und Dribbling. Dass ich in den Jugendmannschaften eigentlich immer Stammspieler gewesen war und oft auch die Standards getreten hatte. Dass ich letzten Sommer noch nicht mit der Bundesligamannschaft trainiert hatte, sondern erst nach dem dritten Spieltag von meinem Jugendtrainer, der dann Profitrainer geworden war, mit hochgezogen worden war, und dass ich von da an relativ viele Spiele gemacht hatte, manchmal von Anfang an, manchmal als Einwechselspieler. Dass ich in der Bundesliga noch kein Tor geschossen, aber immerhin schon eine Vorlage gegeben hatte, und dass ich mich da unbedingt verbessern wollte. Dass unser Trainer jetzt nicht mehr der war, der mich zu den Profis befördert hatte, dass ich aber in der Endphase der letzten Saison auch unter dem jetzigen Coach viel gespielt und dass ich reelle Chancen hatte, auch in dieser Saison wieder regelmäßig eingesetzt zu werden.

Davon, wie schlecht das Trainingslager gelaufen war und dass mir momentan alle meine direkten Konkurrenten voraus waren, hatte ich nichts erzählt, und schon gar nicht, woran das gelegen hatte. Ab jetzt, hatte ich mir stattdessen geschworen, während ich an die Decke von Ramins Schlafzimmer gestarrt und Ramins Zeigefinger Kreise auf meine Brust gemalt hatte, würde ich alles tun, um meine Situation zu ändern. Ich würde ab sofort konzentriert und fokussiert in jedes Training und jede Taktikschulung gehen, und ich würde alles daransetzen, zum ersten Pflichtspiel im DFB-Pokal gegen den Viertligisten Carl Zeiss Jena in der Startelf zu stehen. Bis dahin waren noch fast vier Wochen Zeit – genug, um den Rückstand aufzuholen und mich doch noch durchzusetzen. Meine persönliche Vorbereitung würde jetzt beginnen, wo das, was mich belastet hatte, weg war.

Ramin hatte sich alles angehört, mich kaum unterbrochen und immer weiter nachgefragt. Ich hatte versucht, nicht zu sehr auszuufern und mich ein bisschen kurzzufassen, weil ich ihn auf keinen Fall hatte langweilen wollen, aber das war nicht passiert. Er hatte zugehört, mich dabei angesehen, und ich hatte gewusst, dass es ihn wirklich interessierte und dass er nicht nur so aus Höflichkeit fragte. Aus Höflichkeit, echote es im stillen Wohnzimmer durch meinen Kopf. Ich grinste. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass Ramin jemals irgendetwas nur aus Höflichkeit tat.

Nach zwei Pizzen, einigen Fußballerzählungen und ganz viel Sex hatten wir uns dann aufraffen und zum Theater aufbrechen müssen. Wegen der Maske, die bei ihm wahnsinnig aufwendig war, musste Ramin immer als erster Darsteller da sein, und nachdem er mir augenrollend versichert hatte, dass die Visagisten nichts als Styling, Mode und Hollywood im Kopf hatten und einen Fußball nicht von einem Tischtennisball unterscheiden könnten, hatte ich mich dazu durchgerungen, ihn zu begleiten. In der Maske war mir schnell klar gewesen, dass ich mir in der Tat keine Sorgen machen musste, erkannt zu werden, denn nach einem kurzen Hallo unterhielten sich die Visagisten pausenlos miteinander und schenkten mir überhaupt keine Beachtung mehr. Ganz in Ruhe hatte ich von einem stillen Stuhl in der Ecke aus beobachten können, wie sich Ramins Gesicht in mühevoller Kleinarbeit in das eines Monsters verwandelte. Ramin mochte über die Plapperei seiner Maskenbildner den Kopf schütteln – in ihrem Job waren sie grandios. Die Entstellungen hatten so echt ausgesehen, dass ich Ramin nur von der rechten Gesichtshälfte her nicht mehr erkannt hätte. Es war wirklich gruselig gewesen – die linke Seite er, die rechte ein Monster. Ich hatte geguckt und geguckt und versucht, beide Teile miteinander in Einklang zu bringen, aber vergeblich. Jedes Mal, wenn mein Blick auf die rechte Seite seines Gesichts gefallen war, hatte irgendetwas an meinem Nacken kalt zu kribbeln angefangen, und ich hatte schnell weggeschaut. Und dann waren meine Augen trotzdem immer wieder dorthin zurückgekehrt.

Als Sierra aufgetaucht war, hatte ich sie kurz begrüßt, aber dann war ich in den Zuschauerbereich gegangen, bevor die anderen kamen. Bei der Vorbereitung auf die Aufführung hatte ich schließlich nicht stören wollen. Und außerdem waren ja sicher nicht alle von Ramins Kollegen absolute Fußballlaien. Ich war zwar immer noch nur ein neunzehnjähriges Talent mit nicht mehr als fünfundzwanzig Bundesligaeinsätzen, aber nachdem ich an ein und demselben Tag schon Sierra und den Visagisten in Ramins Gesellschaft begegnet und zweimal davongekommen war, hatte ich mein Glück nicht überstrapazieren wollen.

Die Performance selbst war einfach großartig gewesen. Diesmal hatte Ramin mich nicht mehr so zerrissen wie beim ersten Mal – das Wissen, wer er war, dass er wusste, wer ich war, und dass wir nachher wieder zusammen zu ihm fahren würde, hatte es einfacher gemacht. Ich hatte mich trotzdem bereitwillig wieder von seiner Stimme mitreißen lassen, aber ich hatte diesmal auch auf die Handlung achten können, und auf Sierra. Die beiden waren auf der Bühne verschmolzen. Ihre Bewegungen, ihre Blicke, ihre Stimmen – es war gewesen, als wären sie zwei Körper mit einem einzigen Gedanken. Alles hatte gepasst. Am Morgen hatte ich die Worte einfach aus der Luft gegriffen, aber erst da im dunklen Theatersaal war mir klar geworden, wie wahr sie waren: Ramin und Sierra waren dafür geschaffen, miteinander auf der Bühne zu stehen.

Nach der Vorstellung waren Ramin und ich zu ihm zurückgefahren, und die Theaterpause war lang genug gewesen, um alle Akkus wieder aufzuladen. Es war eine lange Nacht gewesen, in der wir nicht viel und erst spät wirklich geschlafen hatten. Deswegen war es jetzt auch schon nach halb zwölf. Ich gähnte und räkelte mich auf dem Sofa, ohne die Augen aufzumachen. So viel Action, so viel Anspannung, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Jetzt war ich müde und leer – aber auf die beste Art und Weise, die ich mir vorstellen konnte. Wie nach einem hart erkämpften Sieg gegen einen superstarken Gegner. Jetzt musste ich mich nicht mehr anstrengen. Jetzt durfte ich einfach hier sitzen und den Triumph genießen. Gott, hatte ich gestern Angst gehabt. Aber es hatte sich alles so was von gelohnt.

Ich atmete und lauschte der Stille. Komplette Stille. Ich runzelte die Stirn. War da nicht – natürlich, das Wasser. Offensichtlich war Ramin fertig mit Duschen. Ich gähnte wieder und blinzelte in die Sonnenstrahlen. Um drei ging mein Flieger. Das war zu früh, ein verschwendeter Nachmittag, aber der nächste wäre erst um acht gegangen, und das war mir zu spät gewesen. Morgen hatten wir um zehn Training, und durch die Zeitverschiebung verlor ich ja noch eine Stunde. Und als ich den Flug gebucht hatte, hatte ich ja noch nicht gewusst, wie das alles hier laufen würde. Was Ramin tun würde. Ob ich die eine Nacht im Hotel würde verbringen müssen, weil er mich vielleicht gar nicht reinlassen würde.

Mein Blick schweifte über den Esstisch und die Küchenzeile, die Eingangstür, die Schlafzimmertür, den Fernseher und die Fläche davor, wo Ramin mir gestern den Discofox beigebracht hatte. Schon wieder breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. Oh doch. Er hatte mich reingelassen. Und so viel mehr.

Meine Augen setzten ihren Rundgang fort und blieben an seinem CD-Regal hängen. Von meinem Platz auf dem Sofa aus konnte ich nur die Titel der Alben erkennen, die ganz rechts und ungefähr auf meiner Höhe standen. Mit beiden Händen stemmte ich mich in die Sitzpolster, wuchtete mich hoch und tapste vors Regal. Bob Dylan. Eric Clapton. David Bowie. Meat Loaf. Die Eagles. Elton John. Johnny Cash. Kate Bush. Pink Floyd. Die Rolling Stones. Schritt für Schritt, Bord für Bord hangelte ich mich an den Alben entlang. Wahnsinn, wie viele es waren. Und so viele verschiedene Künstler. Ich hatte meine Handvoll Favoriten, aber Ramin schien echt alles zu hören.

„Bewunderst du meine Sammlung?“

Ich drehte mich um. Ramin stand mit feuchten Haaren, in Jeans und halboffenem, ärmellosem schwarzen Hemd in der Tür zum Eingang und grinste.

„Ja.“ Ich grinste zurück und wandte mich wieder dem Regal zu. „Sie ist großartig. Wie lange hast du gebraucht, bis du so viele hattest?“

“Ewigkeiten.” Ich hörte seine Schritte näherkommen, bis er dicht hinter meiner Schulter stehenblieb. Seine Präsenz füllte mich genauso mit Wärme wie zuvor die Morgensonne. „Ich hab mit dem Kaufen angefangen, als ich noch ein Kind war. Ich hab Musik schon immer geliebt.“ Sein Blick schweifte für einen Moment über die Reihen, dann schaute er zu mir hinunter und grinste. „Und was hörst du so?“

„Dich.“

Er lachte und stieß spielerisch mit seinem Oberarm gegen meine Schulter. Wellen der Glückseligkeit rollten durch mich hindurch.

„Nein, keine Ahnung … Queen, Billy Joel, Bruce Springsteen, Phil Collins … so was halt.”

„Sehr männlich.“

Jetzt kassierte er von mir einen Rempler. Wir lachten beide, und er hob die Hände. „Okay, okay, ich sags ja nur … Aber es ist auf jeden Fall guter Geschmack.”

Sein Blick blieb wieder am Regal hängen. Ich sah ihn an, den Glanz in seinen Augen, das Lächeln auf seinen Lippen. Wenn ich jetzt hier einfriere und ihn einfach nur für immer anschauen kann, ist das alles, was ich je vom Leben wollte.

Als hätte er meinen Blick gespürt, kehrte seiner abrupt zu mir zurück. „Also, hast du vor, wiederzukommen?“

Ich blinzelte. Die Müdigkeit war auf einen Schlag weg. In meinem Bauch schwappte eine Welle der alten Angst heran. Aber ich sah ihn an, seinen offenen Blick, seine leicht gehobenen Augenbrauen. Kein Vorwurf. Keine Ablehnung. Eine echte Frage.

Ich holte Luft und schaffte es, zu lächeln. „Willst du das denn?”

Er schaute mich an. Der Daumen seiner rechten Hand zuckte, rasend schnell, auf und ab. Mein Herz hämmerte im gleichen Tempo. Konnte er es hören? Meine Handflächen waren schon wieder nass, und ich presste sie möglichst unauffällig gegen meine Oberschenkel.

„Ich hätte nichts dagegen.“

Die Kette, die meine Kehle zugeschnürt hatte, zerbarst. Ich sog kühle, köstliche Luft tief in meine Lungen.

„Ich kann deine Tanzfertigkeiten schließlich nicht bei dem kümmerlichen bisschen Discofox belassen, das wir gestern gemacht haben, oder?“

Für einen Moment starrte ich ihn nur an. Dann lachte ich. Am liebsten hätte ich sofort wieder losgetanzt. Was auch immer der Grund war, warum er wirklich nichts dagegen hatte, wenn ich wiederkam – es hatte ganz sicher nichts damit zu tun, dass er plötzlich seine Leidenschaft als Tanzlehrer entdeckt hatte.

„Wenn du meinst.“

Es war mir doch völlig egal, was er für Rechtfertigungen fand. Er wollte mich wiedersehen, und solange er den wahren Grund nicht sagte, würde ich mir das Träumen einfach erlauben.

„Na dann.“

War da ein Hauch von Unsicherheit in seinem Lächeln? Aber wenn, dann verschwand er so schnell, wie er gekommen war. Seine Zunge schnellte über seine Oberlippe, und als er sein Handy aus der Hosentasche zog, war sein Grinsen so überlegen und selbstsicher wie immer. „Dann gib mir mal deine Nummer.”

Nachdem wir unsere Handynummern ausgetauscht hatten, strahlte ich immer noch. In meinen Beinen zuckte und zappelte es, und es kostete mich richtig Mühe, still stehen zu bleiben. Mir war leicht schwindelig, als wäre ich betrunken. Und in gewisser Weise war ich das ja auch.

„Ich komm wieder her, sobald ich kann!” Meine Stimme überschlug sich fast. „Die nächsten paar Wochen könnte es etwas schwierig werden, weil unsere Saison in einem Monat losgeht und wir noch an vielen Sachen arbeiten müssen. Aber während der Saison gibt es Länderspielpausen, dann kann ich bestimmt mal weg. Und du kannst mich auch besuchen kommen! Dir ein Spiel anschauen, und die Stadt!“

Er grinste. „Vielleicht. Mal sehen. Wann geht dein Flieger?“

„Um drei.“

„Also genug Zeit für noch eine Tanzstunde.”

Ich strahlte. Ramin ging zum Regal, zog nach kurzem Suchen eine CD heraus und kniete sich damit vor die Fernsehkommode.

„Wieso kannst du es so gut?”

„Ein Musicaldarsteller sollte schon tanzen können.” Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, hörte ich an seiner Stimme, dass er grinste. „Aber ich hab damit angefangen, als ich ungefähr fünfzehn war, und seitdem liebe ich es. Ich machs nicht wirklich regelmäßig, nicht diese Art von Tanzen, nur ein paarmal im Jahr, wenns einen Ball gibt oder so. Sierra und ich gehen normalerweise zusammen hin.“ Er richtete sich auf und drehte sich zu mir. „Hier in London gibts jedes Jahr direkt vor Weihnachten einen. Das ist der beste.“

Grinsend streckte er die linke Hand aus. Ich ergriff sie, spürte die Wärme, die Kraft, die leichten Einkerbungen an den Gelenken. Sie waren mir schon vertraut. Ich ertastete sie mit den Fingerkuppen, und weitere Wellen des Glücks rollten durch mich hindurch.

„Also dann, Quickstep! Einer der besten Tänze überhaupt. Du fängst mit dem rechten Fuß an. Zurück, zurück, dann zwei schnelle Schritte seitwärts …“

Er zeigte mir den Grundschritt und die erste Figur. Bei beiden liefen wir im Kreis gegen den Uhrzeigersinn. Im Grundschritt gingen wir beide seitwärts und vor und zurück, in der Figur ging er nur vorwärts, ich nur rückwärts, und bei den schnellen Schritten musste ich immer den linken über den rechten Fuß einkreuzen. Es war viel komplizierter als Discofox, und ich verhaspelte mich immer wieder, vergaß das Kreuzen, machte es an der falschen Stelle und verwechselte langsame und schnelle Schritte. Aber Ramin machte es mir immer wieder vor, und als wir am Ende zu Phil Collins‘ „You Can’t Hurry Love“ durch sein Wohnzimmer flogen – den Tisch hatten wir vorher noch an die Küchenzeile geschoben –, lachte und lachte ich und konnte wie gestern überhaupt nicht mehr aufhören. Es kam mir vor, als sei ich gestern nicht nur von Hamburg nach London, sondern in eine völlig neue Welt gereist, auf einen anderen Planeten, einen Planeten der Musik und des Tanzens und der unendlichen Freiheit.

 

*

 

„Wo warst du?!“

Finn musste aufgesprungen und zur Tür gestürzt sein, sobald er den Schlüssel im Schloss gehört hatte. Ich war noch nicht mal über die Schwelle getreten, da fing er schon an zu schimpfen, und während ich hereinkam, den Rucksack absetzte und die Schuhe auszog, machte er einfach weiter, ohne auf eine Antwort zu warten.

„Bist du eigentlich völlig durchgeknallt? Du sagst mir DURCH DIE GESCHLOSSENE ZIMMERTÜR, dass du über Nacht weg bist, und du bist verschwunden, bevor ich irgendeine Frage stellen kann! Du schleichst dich weg wie ein verdammter Schwerverbrecher, und dann bist du nicht zu erreichen! Ich hab dich zehnmal angerufen und dir ungefähr tausend Nachrichten geschickt, und was machst du? Nichts!“

Was eventuell daran liegen könnte, dass ich mein Handy die ganze Zeit im Flugmodus gelassen hatte.

Ich saß auf der Garderobenbank und schaute zu Finn hinauf. Seine Hände waren in die Hüften gestemmt, er wippte leicht auf den Zehenspitzen, und seine blauen Augen blitzten scharf wie Eissplitter. Ich spürte einen leichten Stich. Natürlich hatte ich gewusst, dass er sich Sorgen machen würde. Aber jetzt war ich ja wieder da. Es war alles gut gegangen – mehr als gut, es war großartig gegangen. Und was hätte ich anderes tun sollen? Ich hatte ihm ja auf keinen Fall erzählen können, wo ich hingehen würde und warum. Seine Proteste hätte ich nicht ertragen. Nicht, bevor ich wusste, was mich erwartete.

Ich seufzte. Einen Moment schaute ich Finn noch in die Augen, dann wuchtete ich mich hoch und schlurfte in Richtung Wohnzimmer. Ich brauchte Kaffee. Ich brauchte Ruhe. Eigentlich brauchte ich am dringendsten Schlaf. Aber was ich bekam, war eine Fortsetzung von Finns Tirade, der an meine Fersen geheftet Richtung Wohnzimmer marschierte.

„Hallo, kannst du auch noch mit mir reden? Ich meine, wie alt bist du denn, zehn, dass du einfach so ohne ein Wort abhaust? Und jetzt komm mir nicht mit Ich bin erwachsen und es geht dich nichts an, ich meine, klar bist du erwachsen, aber wir wohnen hier zusammen, und ich dachte, wir sind Freunde und keine Zweck-WG! Und überhaupt“ – Finn holte Luft, stürmte an mir vorbei und durchbohrte mich mit seinem Blick, während sein Zeigefinger anklagend auf den Wohnzimmertisch wies – „kannst du mir DAS mal erklären?“

Ich wandte den Kopf. Da lagen sie, aufgereiht nebeneinander. Alle vier Ramineinkäufe, zwei CDs, zwei DVDs. Vom Cover seiner CD sah Ramin mir unscheinbar und freundlich interessiert entgegen. Ein paar Sekunden lang starrte ich auf sein Gesicht. Ich wusste nicht, ob ich Finn auslachen, ihn anbrüllen oder mich bei ihm entschuldigen sollte. Und hauptsächlich war ich einfach müde. So müde.

Nach einigen Momenten Stille drehte ich mich wieder zu Finn um. „Was hast du denn mit meinem Zeug zu schaffen?“

Sofort blitzte es wieder in seinen Augen. „Entschuldigung, wenn ich in dein Zimmer gehe und lüfte! Das lag auf dem Schreibtisch, direkt unterm Fenster! Wenn du nicht willst, dass ich das sehe, musst du‘s schon ein bisschen besser verstecken! Ich meine, so blöd bin ich nicht, weißt du?“

Er sah mich an, und unter den blonden Haarsträhnen, die ihm in die Augen fielen, sah ich neben Wut auch Unverständnis und Schmerz. Der Stich, der jetzt durch mich hindurchfuhr, war stärker als der zuvor. Ich sank in den Sessel herab, starrte einen Moment auf meine Oberschenkel und sah dann wieder hoch. „Ja. Ich weiß. Ich hätte was sagen sollen. Tut mir leid. War scheiße von mir.“

Finns Arme waren herabgesackt und hingen jetzt schlaff an seinen Seiten. In seinem Blick stand noch immer ganz deutlich, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Und er versuchte auch gar nicht, das zu verbergen. Natürlich nicht. Ich war sein bester Freund. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander.

Die eiserne Faust, die gestern Früh noch um meinen Magen gelegen hatte, hatte jetzt mein Herz gepackt und quetschte. Der Schmerz ging körperlich durch mich hindurch. „Finn … wow. Hey. Es tut mir leid, okay? Wirklich. Total. Aber … ich musste das machen. Ich musste gehen, und ich konnte es nicht erklären. Echt nicht. Das hatte nichts mit dir zu tun. Ich meine, wenn ich‘s wem gesagt hätte, dann natürlich dir! Aber … ich musste das alleine machen. Verstehst du? Ich … ich war eh schon so …“ Ich biss mir auf die Lippe. „Ich wusste ja nicht, wies ausgeht.“

Finns Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. Die meiste Wut und zum Glück auch ein wenig Schmerz waren verschwunden, aber die Verständnislosigkeit blieb. „Und da hättest du nicht mit mir drüber reden können?“

Ich presste die Lippen aufeinander. Schüttelte den Kopf. „Du wärst ja dagegen gewesen.“

Schweigen. Wir sahen uns an, eisblau in meerblau. Dann schloss Finn die Augen, und in einem einzigen Atemzug sackte seine ganze Energie in sich zusammen. Er ging zum Sofa, fiel darauf hinab, stützte die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn in beide Hände. „Du warst bei ihm, oder? Bei deinem Typ da.“

„Bei Ramin.“ Ich flüsterte es fast. In meinem Kopf waren Bilder vom Theater, von der Pizza, vom Tanzen. „Ja.“

Finn vergrub das Gesicht in den Händen und gab einen Ton von sich, der irgendwo zwischen Stöhnen und Schluchzen lag. „Ich wusste es“, murmelte er in seine Hände. „Ich wusste es.“

Ich beobachtete ihn. Irgendwann würde er sich schon wieder sammeln. Und dann ohne Zweifel einen neuen Anlauf nehmen. Ich lag in der Sessellehne, spürte in meiner Hosentasche das Handy, das jetzt Ramins Nummer enthielt, und wartete.

Als es so weit war, richtete Finn sich auf, fixierte mich mit einem verzweifelt-flehenden Blick und holte Luft. „Martin … du hast mir doch von ihm erzählt. Weißt du noch? Ja? Du meintest, er ist zehn Jahre älter als du –“

„Acht“, korrigierte ich scharf.

„Na gut!“ Finn hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet, wobei er immer noch nur gerade so auf einer Augenhöhe mit mir war, und aus seinen Augen sprühten wieder Eissplitter. „Dann eben acht! Schlimm genug! Er ist DEUTLICH älter als du und hatte wahrscheinlich in den letzten zehn Jahren jede Nacht einen anderen im Bett, so, wie du von ihm erzählt hast! Ich meine, der hat doch eine völlig andere Einstellung als du zu solchen Sachen! Der vögelt alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist, und danach auf Nimmerwiedersehen! Ich meine –“ Er stieß ein Lachen aus – „du glaubst doch nicht, dass er dich liebt? Oder? Dass du ihm IRGENDWIE wichtig bist außer als Sparringspartner im Bett?“

Ich hielt Finns Blick. Sex und Liebe haben rein gar nichts miteinander zu tun. Oder, Ramin? Aber dann hörte ich ein anderes Echo in meinem Kopf. Und was hörst du so? Seine ganzen Fragen über meinen Fußball. Sein Stolz auf seine CD-Sammlung. Seine Augen und sein Ton, als er über Sierra gesprochen hatte. Meine rechte Hand in seiner linken, seine rechte an meinem Rücken. Sein Fuß, der meinen anstupste. Discofox. Quickstep. Ich hätte nichts dagegen, wenn du wiederkommst.

Ich lächelte. „Du hattest recht, Finn. Ich habe mich in ihn verliebt.“

Stille. Ich ließ meine Worte zwischen uns hängen. Sie waren mein Anker, die Flügel, auf denen ich schwebte. Ich genoss sie, atmete sie ein. „Und ich weiß nicht, was ich für ihn bin. Aber es ist ganz sicher nicht nur Sex. Ganz sicher. Und ich werd ihn wieder besuchen. Und ich hab ihn auch hierher eingeladen.“

Jetzt machte sich mein Lächeln selbstständig, wurde breiter, zum Strahlen. Finn sah aus, als drücke die ganze Last der Erde auf seine Schultern, aber ich konnte kein anderes Gesicht machen, selbst, wenn ich gewollt hätte. „Er wird sich mal ein Spiel anschauen. Vielleicht auch mehr. Mal sehen. Je nachdem, wie oft er Zeit hat.“

„Ach, Martin …“ Finn hing völlig kraftlos im Sofa. Nur seine Finger kneteten sich auf seinen Oberschenkeln. „Ich gönn‘s dir ja. Das ist es ja nicht. Ich will ja, dass du einen tollen Freund hast und glücklich bist, aber …“ Er sah mich so verzweifelt an, als hoffte er, dass ich ihm das, was er sagen wollte, von den Augen ablesen würde. „Aber das mit diesem Ramin … Das kann halt nicht gut gehen. Kanns nicht. Glaub ich nicht.“ Mit den Augen flehte er weiter. Seine Worte schien er ausgeschöpft zu haben.

Ich lächelte und stand auf. Nach deutscher Zeit war es schon fast sieben. Ich wollte duschen, essen und meine Ruhe. Vielleicht ein Buch, vielleicht eine Serie. Vielleicht ein bisschen Musik.

An der Tür drehte ich mich noch mal um. „Wenn er herkommt, sei fair zu ihm, ja? Gib ihm eine Chance. Du kennst ihn ja gar nicht.“

„Du doch auch nicht.“

Die Worte waren so leise, dass ich sie mehr spürte als hörte, während ich die Wohnzimmertür hinter mir schloss.

 

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Referenzen:

 

„You Can’t Hurry Love“ – aus dem Album “Hello, I Must Be Going!” von Phil Collins. Geschrieben von Holland-Dozier-Holland (Brian Holland, Edward Holland, Lamont Herbert Dozier). Originalinterpretation von The Supremes. WEA Records, 1982.

Chapter 20: Standing a Chance

Chapter Text

  1. Kapitel: Standing a Chance

 

Der Schlusspfiff durchschnitt die Luft. Er übertönte die Schreie und Pfiffe der Jena-Fans und bohrte sich wie ein Speer durch mich hindurch. Einen Herzschlag lang stand ich still, gefühlt das erste Mal seit über zwei Stunden, und starrte auf das Stück grün-braunen Rasen vor meinen Füßen. Dann fiel ich auf die Knie. Unter mir zitterten und krampften meine Beine, als hätte ihnen erst Frank Willenborgs letzter Pfiff die Erlaubnis gegeben, den Preis der letzten hundertzwanzig Minuten herauszuschreien. Hundertzwanzig Minuten, die jetzt vorbei waren. In denen wir alles versucht und nichts hinbekommen hatten, und die jetzt verloren waren.

Ich starrte vor mir auf den Rasen, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, mein Atem keuchend und stoßweise. Die Luft war so zäh und dick und heiß, dass meine Kehle und Lunge brannten und Blasen warfen. Um mich herum war derweil das Stadion explodiert. Ich hörte Schreie, Gesänge, das Knallen der letzten verbliebenen Pyrotechnik. Dumpf und dröhnend drang es durch die Brühe in diesem hässlichen Betonkessel an meine Ohren. Ich wollte es nicht sehen. Ich wollte die Fahnen nicht sehen, die Schals, die fliegenden, freudentrunken geschwungenen blau-gelben Farben. Die halbnackten Fans im Stehblock mit ihren höhnisch triumphierenden Gesichtern, die uns von Anfang an nur Verachtung entgegengebracht hatten, die uns in den ersten Spielminuten schon begrüßt hatten mit ohrenbetäubenden Gesängen von „Erste Liga, keiner weiß warum!“.

Zeigen wollen hatten wir es ihnen, warum. Mit einem überlegenen Spiel, Toren, einem hohen, ungefährdeten Zu-null-Sieg. Sie waren Regionalligist, wir spielten Bundesliga. Den arroganten Säcken das Maul stopfen, das hatten wir machen wollen. Und jetzt – jetzt war die Kurve, aus der Stille herrschte, die hinter mir, wo unsere Fans standen. Schreie und Gebrüll und Party kamen nur von vorn.

Meine Haare klebten mir an Kopf und Stirn. Farblich waren sie vermutlich kaum noch von meinem Gesicht zu unterscheiden. Dreißig Grad hatte es, dreißig, und es war schwül wie die Hölle, die ganze Zeit kein einziger noch so kleiner Hauch Wind. Bei diesem Wetter musste man überlegen auftreten, passsicher, Ball und Gegner laufen lassen, auf Lücken warten und gnadenlos hineinstechen. Standards rausholen und verwerten. Dem Gegner erst gar keine Hoffnung geben. Zeigen, wer der Bessere war.

Etwas stieg in meiner Kehle auf. Ein Lachen? Ein Würgen? Was auch immer es war, es blieb stecken. Ich hatte für das eine wie das andere keine Kraft mehr. Ich konnte nur sitzen bleiben, versuchen, aus dieser Suppe irgendwo ein Fünkchen Sauerstoff rauszuholen, und vor mir auf den Rasen starren, den Rasen, auf dem wir alles verspielt hatten.

Bruno hatte gesagt, dass die Jenaer giftig sein und über Zweikämpfe kommen würden, und uns eingeschärft, dass wir dagegenhalten mussten. Und trotzdem hatten sie von Anfang an die entscheidenden gewonnen. Wir waren immer einen Schritt zu spät gekommen, nicht wach genug, nicht konzentriert genug. Nicht entschlossen genug. Zu lasch. Und nach einem Standard getroffen hatten dann die Jenaer, nach einer Viertelstunde, und wir hatten uns in der ganzen ersten halben Stunde nicht mal eine Torchance herausgespielt. Direkt vor der Halbzeit hatten wir endlich ein paar schnelle Kombinationen hinbekommen, und es war etwas besser geworden, aber getroffen hatten wir erst nach der Pause, und auch nur mit viel Glück. Der Ball war vor Ivos Flanke im Seitenaus gewesen, aber Willenborg hatte den Treffer gegeben. Jetzt, hatten wir gedacht, jetzt läuft es so, wie wir es uns vorgestellt haben. Nach unserem Plan, nicht nach eurem.

Aber Jena war sofort in die Offensive gegangen, hatte Chancen gehabt, und nur zehn Minuten nach unserem Ausgleich hatten sie das zwei zu eins erzielt. Und wieder waren wir angerannt. Dreißig Grad, elf Jenaer um den eigenen Sechzehner, und Welle auf Welle war gebrochen am Abwehrbollwerk, und mit jeder Minute waren die Jena-Fans lauter und unsere Beine schwerer geworden. Und dann, in der letzten Minute der Nachspielzeit, als das ganze Stadion schon den Schlusspfiff gefordert hatte, hatten wir doch noch den Ausgleich erzielt. Und wieder hatten wir gedacht, das wars jetzt, die hatten die Sensation schon vor Augen, jetzt kommen die nicht mehr zurück, die haben keine Kraft mehr für die Verlängerung. Und dann hatten wir trotzdem das Fußballspielen eingestellt. Hatten uns den Ball hin- und hergeschoben, Querpässe, Rückpässe, nur kein Risiko, abwarten, lass sie kommen.

Die Hitze, die jetzt in mir hochstieg, hatte nichts mit dem Wetter zu tun. Warum? Was hatten wir gedacht, dass uns das bringen würde, was hatten wir gehofft? Dass wir sie im Elfmeterschießen schon irgendwie besiegen würden? Dass sie uns einfach ein Tor schenken würden?

Ich presste die Lippen aufeinander. Jetzt sengte die schwelende Luft auch die Atemwege in meiner Nase an. Ein Elfmeterschießen hatte es nicht gegeben, und das Tor geschenkt hatten nicht sie uns, sondern wir ihnen. Ein weiter Einwurf, ein verlorenes Kopfballduell, direkt nach dem Seitenwechsel in der Verlängerung, und das war es gewesen. Danach hatten wir keine Torchance mehr gehabt. Und jetzt hatten wir verloren. Zwei zu drei in der ersten Runde des DFB-Pokals beim Regionalligisten Carl Zeiss Jena, und Tschüss, HSV, bis zur nächsten Saison. Geld, Spiele, Titelchance. Alles weg.

Ein Schatten fiel auf mein Gesicht. Ich legte den Kopf in den Nacken. Gidi stand über mir, groß wie ein Turm, und hielt mir wortlos die Hand hin. Ich ergriff seine schlanken, feingliedrigen Finger, und gemeinsam wuchteten wir mich auf die Füße. Einen Moment standen wir wortlos nebeneinander. Jetzt fiel mein Blick doch auf die Jena-Kurve. Die Feier war in vollem Gang. Ich sah sie umherspringen, Spieler wie Fans, völlig wild geworden, als spürten sie die Hitze gar nicht. Ich sah wehende Fahnen, Fans auf den Zäunen, und immer wieder, selbst aus der Ferne deutlich zu erkennen, erhobene Hände mit ausgestreckten Mittelfingern. Gegen unsere Fans, gegen uns. Gegen den Bundesligisten, den sie besiegt hatten. Gegen den großen HSV.

Mein Kiefer versteifte sich. Ruckartig wandte ich mich ab. Mein Blick traf Gidis. Er nickte, und zusammen machten wir uns auf den Weg zu den anderen, die Mitte der anderen Hälfte in einer Traube zusammenstanden. Einige hatten die Hände in die Hüften gestützt, manche sahen auf den Boden, manche in den Himmel. Lewis starrte auf die Jena-Kurve. Alle schwiegen. Anscheinend wusste niemand, was es jetzt noch zu sagen gab.

Gidi und ich stellten uns dazu. Neben uns wandte Michi den Kopf, und aus seinem schiefen Lächeln sprach nichts als Fassungslosigkeit. Er war erst vor zwei Wochen vom Zweitligisten Bochum zu uns gewechselt und hatte den Spind neben meinem bekommen. Er, Gidi und ich hingen seitdem ständig zusammen, und gemeinsam mit Finn zogen wir an den freien Nachmittagen und Abenden durch Hamburg, gingen essen oder zockten FIFA. Heute war Michi kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit eingewechselt worden, und er war es gewesen, der zum Zwei-zu-zwei-Ausgleich getroffen und damit alles dafür getan hatte, sich gleich in seinem ersten Pflichtspiel für seinen neuen Verein zum Helden aufzuschwingen.

Zum Helden. Meine Lippen verkrampften sich. Helden waren nach diesem Spiel nur vor der anderen Kurve zu finden. Gidi klopfte Michi auf den Rücken, und Michi legte ihm den Arm um die Schultern. Die beiden waren fast genau gleich riesig.

Schweigend standen wir beisammen, bis sich mit unseren Außenverteidigern Matze und Go auch die Letzten vom Rasen aufgesammelt und hierhergeschleppt hatten. Dann ruckte unser Keeper René, der heute den verletzten Johan als Kapitän vertrat, den Kopf in Richtung Gästekurve und ging voraus. Langsam folgten wir ihm. Ich sah nur vor mich auf den Boden. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ich durch Treibsand laufen.

Je näher wir unseren Fans kamen, desto lauter übertönten die Pfiffe den Feierlärm von hinten. Als die Füße vor mir kurz vor der Grundlinie stehenblieben, tat ich es ihnen mechanisch nach. Meine Ohren waren voll von nadelspitzen Pfiffen und Schreien. Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, und zwang den Kopf nach oben.

Wehende Fahnen und sich in den Armen liegende Feiernde gab es hier nicht. Leute auf den Zäunen aber schon. Und erhobene Hände auch. Wegwerfende Gesten, Mittelfinger, geballte, geschüttelte Fäuste. Fans, die sich so tief vom Zaun nach unten lehnten, dass es aussah, als würden sie gleich fallen, und mit knallroten Gesichtern in unsere Richtung brüllten. Was genau, war durch die Walze an Geschrei und die ohrenzerreißenden Pfiffe nicht zu hören. Aber die wutverzerrten Grimassen und die schlagbereiten Fäuste machten es klar genug. Ich starrte geradeaus. Mein Gesicht fühlte sich hart und verkrampft an, wie eine Maske aus Gips. Neben mir spürte ich Gidis Arm vibrieren.

Unsere Fans fuhren überall mit uns hin, egal, ob das Spiel früh oder spät war, egal, ob sie erst mitten in der Nacht wieder zu Hause waren und am nächsten Tag um acht zur Arbeit mussten. Sie ließen uns nie allein, ihre Anfeuerungen hatten mir schon mehr als einmal geholfen, Zweikämpfe und Sprintduelle zu gewinnen, nach Siegen feierten sie uns frenetisch, und oft genug bauten sie uns auch nach Niederlagen wieder auf. Aber das heute war keine Niederlage. Ein Erstrundenaus im DFB-Pokal gegen einen Regionalligisten war eine Schande, für die Häme von allen Seiten auf jeden einprasseln würde, der die Raute trug. Ich spürte es in jedem wundgerannten Muskel, in jeder Faser meines überhitzten Körpers. Es tat weh. So weh. Und natürlich tat es den Fans auch weh. Aber mussten sie ihren Schmerz in Wut an uns entladen? Mussten sie schreien und schimpfen und brüllen und beleidigen und drohen, so außer sich, dass Schauer wie Eissplitter über meine Haut liefen, obwohl in mir drin immer noch alles kochte?

Etwa eine Minute blieb René stehen und ließ die Fans über uns ergehen. Dann drehte er sich um und führte uns immer noch wortlos in die Kabine.

Die kalte Dusche war das Erste seit dem Anpfiff vor fast drei Stunden, das sich gut anfühlte. Mit geschlossenen Augen stand ich unter dem Strahl, ließ das Wasser Schweiß und Dreck und Hitze von mir wegspülen und wäre am liebsten nie wieder hervorgekrochen. Aber Jena war ein Viertligist, ihr Stadion war alt, und das wenige Geld, das da war, wurde nicht für den Komfort der Mannschaften ausgegeben, die die Gästekabine belegten. Fünf Duschköpfe gab es, mehr nicht. Kaum, dass das Shampoo heruntergespült war, musste ich für Lewis Platz machen.

Im Bus ließ ich mich auf meine übliche Sitzbank im Mittelteil fallen und presste meinen Kopf gegen die verdunkelte Scheibe. Hinter mir hörte ich Gidi auf seinen Platz rutschen, und Michi glitt auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs in einen Sitz. Nach den letzten Vorbereitungsspielen hatten wir oft nebeneinandergesessen, Karten gespielt oder einfach gelabert. Heute nicht.

Ich starrte nach draußen, auf Jena-Fans, die lachend und Arm in Arm das Stadion verließen, und presste die Augen zu. Wenn Emir seinen Kopfball in der ersten Hälfte nur ein kleines Stückchen weiter nach links gesetzt hätte, dann hätte der Jenaer auf der Linie nicht mehr klären können und das wäre schon der Ausgleich gewesen. Wenn ich kurz vor der Pause den Freistoß aus gut zwanzig Metern nur selbst geschossen hätte, statt ihn Lewis zu überlassen. Ich konnte gute Ecken und Freistöße schießen, aber bei den Profis hatte ich es bisher kaum gemacht. Mit Lewis, unserem Relegationsheld Celo und letzte Saison auch noch Rafa hatten wir schon gute Standardschützen gehabt, da kam man als achtzehnjähriger Nachwuchsspieler nicht einfach in die Mannschaft und schickte Rafael van der Vaart oder Lewis Holtby von den Freistößen weg. Und Lewis hatte ja richtig Gefühl im Fuß. Eigentlich. Aber den heute aus guter Position hatte er eben klar daneben gesetzt. Vielleicht, wenn ich geschossen hätte … Wenn der Jenaer Torwart gegen Schippos Kopfball keine Wahnsinnsparade rausgeholt hätte … Wenn wir in der Verlängerung wie ein Bundesligist gespielt hätten und nicht wie ein verdammter Kreisligist …

Ich riss die Augen auf und blinzelte. Meine Hände hatten sich zu Fäusten verkrampft. Ich zwang einen Atemzug durch meine Kehle und streckte mit einer aktiven Willensleistung die Finger aus. Das brachte jetzt nichts mehr. Es war aus, aus und vorbei. Und nicht wieder gutzumachen.

Die Türen schlossen sich mit einem Zischen, der Motor brummte, und der Bus fuhr an. Langsam manövrierte Miro uns aus der Stadionanlage. Von den vereinzelten Jena-Fans, an denen wir noch vorbeifuhren, kriegten wir immer wieder höhnisch-triumphierende Mittelfinger entgegengestreckt.

Sobald wir die größeren Straßen erreicht hatten und es nicht mehr so schaukelte, stand Bruno auf und ließ seinen Blick über die Sitzreihen schweifen. Um Ruhe musste er nicht bitten. Im Bus war es so still wie in einem Grab. Ich schaute unseren Trainer an, mein Kopf immer noch gegen das Fenster gelehnt, und versuchte, irgendwoher genug Energie zusammenzukratzen für die Standpauke, die wir verdient hatten. Aber Bruno war offenbar genauso tot wie wir. Er sagte nur in seiner ruhigen, aber jetzt ausgepresst und monotonen Stimme, dass wir morgen um neun Uhr zur ausführlichen Nachbesprechung am Stadion sein sollten. Dann drehte er sich um und setzte sich wieder in seine Bank.

Ich richtete meinen Blick wieder nach draußen. Bäume, Häuser und Felder zogen vorbei. So heil. So gleichgültig. So unberührt von dem, was da heute im Ernst-Abbe-Sportfeld passiert war.

Ich wandte mich ab, zog den Reißverschluss meiner Sporttasche auf, die neben mir auf dem Sitz stand, und wühlte mein Handy heraus. Irgendwer hatte per WhatsApp geschrieben. Finn, natürlich. >Fuck. Wenn du reden willst, ruf an.<

Ich stieß die Luft aus. Wollte ich reden? Ja. Nein. Keine Ahnung. Ich machte die App wieder zu und tippte auf das kleine, weiße k auf rotem Grund. Vielleicht waren wir ja wenigstens nicht die Einzigen, die versagt hatten.

Aber ein Blick auf die anderen Pokalergebnisse zeigte, dass es heute nur in unserem Spiel einen Außenseiter-Sieg gegeben hatte. Gestern waren zwar schon ein paar Favoriten ausgeschieden, aber unter ihnen war nur ein Bundesligist, Hoffenheim, und die hatten gegen Zweitligist 1860 München gespielt. Das war eine Überraschung, aber keine Sensation. Und bei den Spielen, die gerade noch liefen, schickte sich nur Ingolstadt an, es uns gleichzutun. Sie lagen kurz vor Schluss mit eins zu zwei bei Regionalligist Unterhaching zurück. Und bei Düsseldorf gegen Essen stand es noch null zu null. Aber Düsseldorf war ein Zweitligist, und Ingolstadt war eben Ingolstadt. Für die interessierte sich eh kein Schwein.

Ich schnaubte, schloss die kicker-App und warf das Handy zurück in die Tasche. Kein Ergebnis konnte mit unserem mithalten, was den Sensations-Charakter anging. Das war das, was den Pokal ausmachte, „In einem Spiel ist alles möglich“, David gegen Goliath. Alle Welt fieberte mit dem Underdog, und was war es geil, wenn er tatsächlich gewann und den großen Favoriten raushaute. Die heldenhaften Amateure wurden bejubelt, und die arroganten, überbezahlten Herren Profifußballer belächelt, bemitleidet, ausgelacht.

Ich biss die Zähne zusammen und krallte die Finger in die Oberschenkel. Ich sah die Schlagzeilen schon vor mir, im kicker, im Abendblatt, in der Morgenpost, in der Blöd. Schwarz auf weiß, weiß auf rot, in fetten, das Auge anspringenden Großbuchstaben. SCHMACH. SCHANDE. BLAMAGE. VERSAGEN. GEHT DAS SCHON WIEDER LOS?

Ich machte die Augen wieder zu, als könnte ich damit nicht nur die Bilder von außen, sondern auch die von innen aussperren. Geht das schon wieder los …?

Wir hatten uns doch so viel vorgenommen. Alles hatte anders, hatte besser werden sollen als letzte Saison. Letzte Saison, wo wir beinahe abgestiegen wären, wo wir eigentlich schon abgestiegen waren, bis Celo uns mit seinem Freistoß in der Nachspielzeit in Karlsruhe von den Toten erweckt hatte. So viel Druck. So viel Angst. So viel Qualität, und so wenig Leistung. Wir hatten doch dieses Jahr alles auf den Platz bringen wollen. Für uns, für die Fans, für den Verein, für die Stadt. Gut spielen, gewinnen, eine sorgenfreie Saison. Und jetzt? Jetzt waren wir nach einer grottenschlechten Leistung in der ersten Runde des DFB-Pokals bei einem Viertligisten ausgeschieden, und der erste Gegner in der Bundesliga war am Freitag zum Saisoneröffnungsspiel in der Allianz-Arena Meister Bayern München. Ich erinnerte mich noch gut an das letzte Gastspiel dort. Viel zu gut. Ich hatte das ganze Spiel gespielt und mich mit jeder Minute mehr gefühlt wie eine Trainingsstange auf dem Vereinsgelände der Scheiß-Bayern. Mit einem null zu acht waren wir am Ende heimgefahren. Null zu acht. Und wenn wir am Freitag so spielten wie heute, würde es zweistellig werden.

Ich riss die Augen auf. Komm da weg. Komm von den Gedanken weg. Jetzt. SOFORT. Ablenkung musste her. Also doch Finn. Aber nicht telefonieren, das ging nicht, wenn es im Bus so still war wie jetzt. Miro hatte zwar das Radio angedreht, aber das lief so leise, dass ein Telefonat dahinter nicht zu verstecken war. Wir würden schreiben, das ging auch. Ich hatte WhatsApp schon geöffnet und meinen Daumen über dem obersten Chat, als mein Blick auf einen anderen Namen fiel.

Ich zögerte. Ich hatte Ramin seit meiner Rückkehr im Juli nicht mehr gesehen. Vier Wochen war das jetzt her. Wie ich damals vermutet hatte, war es zeitlich einfach nicht gegangen. Wir hatten ab und zu geschrieben, hauptsächlich hatte ich von der Vorbereitung und den Testspielen erzählt, aber es war eher ein sporadischer Kontakt gewesen. Ich hatte den Eindruck, dass Ramin nicht der fleißigste WhatsApp-Chatter war. Und dazu, dass er mich auch mal besuchen wollte, hatte er noch nichts weiter geschrieben. Aber warum auch? Die Saison fing ja erst an. Beziehungsweise, sie hatte gerade angefangen. Mit einem krachenden Fehlstart.

Ich starrte hinunter auf Ramins Namen. Mein Daumen senkte sich und öffnete den Chat.

Der Cursor blinkte. Mein Kopf war blank. Was sollte ich schreiben? Aber meine Finger machten sich einfach weiter selbstständig. Die Worte waren getippt und gesendet, bevor mein Verstand die Warnung herausschreien konnte, dass Ramin vielleicht nicht unbedingt der Typ war, bei dem ich mich ausheulen sollte. >We just lost to Jena in the first round of the German cup. 2:3 after extra time<

Die Nachricht wurde sofort zugestellt. Mein Herz begann zu hämmern. Ich starrte auf mein Handy, und nach kaum zehn Sekunden wurden aus den grauen Doppelhaken blaue. Ramin musste gerade Zeit haben und schrieb sofort zurück. >I’ve never heard of Jena<

Ich unterdrückte ein verzweifeltes Lachen. Immerhin schien er von meiner Nachricht nicht genervt zu sein. >That’s because they play in the fourth league and we’ve just completely disgraced ourselves<

Und dann sprudelten die Worte plötzlich aus meinen Fingern. >This was supposed to be a certain victory. We definitely planned on getting much further than the first round in the cup. Jena plays in the FOURTH LEAGUE, and we in the first. There’s a three-league-gap between us, and STILL we lost. I just don’t get it. We’re better than them, a hundred times over, but we lost<

Meine Finger zitterten. In meinem Bauch brodelte es. Es dauerte einige Sekunden, bis Ramin zurückschrieb. >Were you actually playing better?<

Ich starrte auf diese einfache Frage. Das Brodeln in meinem Bauch wurde zum Kochen. Es erreichte meine Brust, meine Kehle. Meine Finger hauten auf das Display. >No we weren’t. We were horrible, playing absolute rubbish, we would have lost to a team of 12-year-olds. We absolutely deserved to lose, and we deserve to be a laughing stock too if we play like this. And our fans came all the way from Hamburg to see us, and we do NOTHING, absolutely NOTHING in return. I’m so disgusted, it makes me sick<

Diesmal erwischte ich den Pfeil erst im zweiten Versuch. Als die Nachricht draußen war, drehte ich abrupt den Kopf zum Fenster und krallte die zitternden Finger meiner handyfreien Hand in den Oberschenkel. Wieder sah ich die Jena-Fans vor mir, die Fahnen, die Jubelschreie, die Mittelfinger. Unsere Fans, die hochroten, wutverzerrten Gesichter, die Pfiffe, die bodenlose Enttäuschung, den scharfen, stechenden Schmerz. In mir stach es schon wieder. Ich presste die Lippen aufeinander und blinzelte heftig.

In meiner Hand vibrierte es. >Is there a second match?<

Obwohl Ramin mich nicht sehen konnte, schüttelte ich den Kopf. In England gab es einen Pokalwettbewerb mit Hin- und Rückspielen, aber im DFB-Pokal gab es von Anfang an nur K.-o.-Spiele. Gewinnen oder fliegen. Alles oder Nichts. Es gab keine zweiten Chancen. >No. It’s over<

Das war alles, was ich hinkriegte. Wieder drehte ich den Kopf zum Fenster, schaute hinaus auf die vorbeiziehenden Wälder und Felder, ohne sie zu sehen. Ich war so müde. So müde und so leer.

Das nächste Vibrieren lenkte meine Aufmerksamkeit wieder nach unten. >The cup is over. The league is not. Who are you playing next?<

Diesmal konnte ich das hohle Auflachen nicht unterdrücken. Aber es war so leise, dass es nur meine Mitspieler direkt um mich herum hätten hören können, und die meisten hatten mittlerweile Stöpsel in den Ohren. Mein Daumen bewegte sich über das Display. >Bayern München, on Friday. It’s the opening match of the season, we’re playing in Munich<

Ramins Antwort kam sofort. >Bayern are quite good, aren’t they?<

Ich presste mir die linke Hand vor den Mund, um das Geräusch zu unterdrücken. Wäre es ein Lachen oder ein Schluchzen gewesen? Keine Ahnung. >They’re best. They’ve just won their third back-to-back championship and have a team that costs about eight billion euros and we don’t stand a fucking chance<

Zack. Gesendet. Erst danach kroch das Schuldgefühl in mir hoch. Natürlich sollte ich so was nicht schreiben, das sollte ich noch nicht mal denken. Wer mit so einer Einstellung ins Spiel ging, brauchte gar nicht anzutreten. Aber das brauchten wir doch auch so nicht. Die Bayern mit ihren Scheiß-Titeln, ihren Scheiß-Millionenkäufen, ihren Scheiß-Nationalspielern. Ihrem Scheiß-acht-zu-null. Warum würden wir überhaupt hinfahren? Zweimal längs durch Deutschland, und wofür? Für die nächste Klatsche? Die nächsten Pfiffe, den nächsten Hohn, die nächsten Mittelfinger? Die nächste Transformation in Slalomstangen?

Meine Augen brannten. Ich war so damit beschäftigt, die Lippen aufeinanderzupressen und die aufsteigende Welle aus meiner Kehle zurückzudrängen, dass mir das Vibrieren in meiner Hand fast nicht aufgefallen wäre. >Well, today Jena didn’t stand a chance against you<

Ich blinzelte. Starrte auf mein Handy. Today Jena didn’t stand a chance against you … Jena didn’t stand a chance …

Ich lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Jena didn’t stand a chance against you. Carl Zeiss Jena, der Regionalligist, der kein Geld hatte und kaum professionelle Strukturen, hatte auf dem Papier gegen uns, den Bundesligisten, überhaupt keine Chance gehabt. Und trotzdem hatten sie gewonnen. Auch mit Glück, klar, weil wir eben so ganz und gar versagt hatten. Aber sie hatten unser Versagen auch selbst beeinflusst. Mit Einsatz. Kampf. Leidenschaft. Indem sie jeden Zweikampf bestritten hatten, als wäre es der alles entscheidende. Indem sie von Anfang an und das ganze Spiel über daran geglaubt hatten, dass sie ihre Chance nutzen konnten. Die Chance, die sie eigentlich nicht hatten. Und jetzt waren sie weiter. Und wir waren draußen. Niedergerungen vom eigentlich chancenlosen Viertligisten.

Ich atmete tief ein. Ja, heute hatten wir versagt. Ja, der Pokal war für diese Saison vorbei. Aber die Liga fing gerade erst an. Und auch, wenn es schwer werden würde, auch, wenn diesmal wir der fette Underdog waren: Wir würden am Freitag in München alles geben. Rennen, und kämpfen, und glauben, und alles tun, damit wir mit erhobenen Köpfen nach Hause fahren konnten, egal, wie es letztendlich ausging.

Ich machte die Augen auf. Als ich Ramin antwortete, waren meine Finger ganz ruhig. >You’re right. Thank you. We’ll do everything we can<

Die grauen Haken wurden blau. Aber Ramin schien entweder keine Zeit mehr zu haben oder eine Antwort nicht für nötig zu halten, denn er schrieb nicht mehr zurück. Aber das machte nichts. Er hatte schon alles gesagt.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich kramte meine Kopfhörer aus der Sporttasche und setzte sie ein. You can’t start a fire, you can’t start a fire without a spark, formten meine Lippen lautlos, während meine Füße im Takt zu Bruce Springsteens “Dancing in the Dark” wippten und ich die Augen wieder schloss.

 

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Referenzen:

 

„Dancing in the Dark“ – aus dem Album „Born in the U.S.A.” von Bruce Springsteen. Columbia Records, 1984.

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Weil ich morgen früh keine Zeit zum Hochladen habe, gibt es das neue Kapitel ausnahmsweise schon heute Abend – und damit geht auch in dieser Geschichte endlich die Saison los :D Zeitlich passt es ja jetzt mit der ersten Pokalrunde letztes Wochenende wirklich perfekt, aber ich bin doch froh, dass die Jungs die inhaltliche Passung am Sonntag vermeiden konnten. Endlich mal ein richtig souveräner Sieg in der ersten Runde – dass man als HSV-Fan so was auch mal erleben darf … ;)

Chapter 21: Standing a Chance - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Eine Chance haben

 

Der Schlusspfiff durchschnitt die Luft. Er übertönte die Schreie und Pfiffe der Jena-Fans und bohrte sich wie ein Speer durch mich hindurch. Einen Herzschlag lang stand ich still, gefühlt das erste Mal seit über zwei Stunden, und starrte auf das Stück grün-braunen Rasen vor meinen Füßen. Dann fiel ich auf die Knie. Unter mir zitterten und krampften meine Beine, als hätte ihnen erst Frank Willenborgs letzter Pfiff die Erlaubnis gegeben, den Preis der letzten hundertzwanzig Minuten herauszuschreien. Hundertzwanzig Minuten, die jetzt vorbei waren. In denen wir alles versucht und nichts hinbekommen hatten, und die jetzt verloren waren.

Ich starrte vor mir auf den Rasen, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, mein Atem keuchend und stoßweise. Die Luft war so zäh und dick und heiß, dass meine Kehle und Lunge brannten und Blasen warfen. Um mich herum war derweil das Stadion explodiert. Ich hörte Schreie, Gesänge, das Knallen der letzten verbliebenen Pyrotechnik. Dumpf und dröhnend drang es durch die Brühe in diesem hässlichen Betonkessel an meine Ohren. Ich wollte es nicht sehen. Ich wollte die Fahnen nicht sehen, die Schals, die fliegenden, freudentrunken geschwungenen blau-gelben Farben. Die halbnackten Fans im Stehblock mit ihren höhnisch triumphierenden Gesichtern, die uns von Anfang an nur Verachtung entgegengebracht hatten, die uns in den ersten Spielminuten schon begrüßt hatten mit ohrenbetäubenden Gesängen von „Erste Liga, keiner weiß warum!“.

Zeigen wollen hatten wir es ihnen, warum. Mit einem überlegenen Spiel, Toren, einem hohen, ungefährdeten Zu-null-Sieg. Sie waren Regionalligist, wir spielten Bundesliga. Den arroganten Säcken das Maul stopfen, das hatten wir machen wollen. Und jetzt – jetzt war die Kurve, aus der Stille herrschte, die hinter mir, wo unsere Fans standen. Schreie und Gebrüll und Party kamen nur von vorn.

Meine Haare klebten mir an Kopf und Stirn. Farblich waren sie vermutlich kaum noch von meinem Gesicht zu unterscheiden. Dreißig Grad hatte es, dreißig, und es war schwül wie die Hölle, die ganze Zeit kein einziger noch so kleiner Hauch Wind. Bei diesem Wetter musste man überlegen auftreten, passsicher, Ball und Gegner laufen lassen, auf Lücken warten und gnadenlos hineinstechen. Standards rausholen und verwerten. Dem Gegner erst gar keine Hoffnung geben. Zeigen, wer der Bessere war.

Etwas stieg in meiner Kehle auf. Ein Lachen? Ein Würgen? Was auch immer es war, es blieb stecken. Ich hatte für das eine wie das andere keine Kraft mehr. Ich konnte nur sitzen bleiben, versuchen, aus dieser Suppe irgendwo ein Fünkchen Sauerstoff rauszuholen, und vor mir auf den Rasen starren, den Rasen, auf dem wir alles verspielt hatten.

Bruno hatte gesagt, dass die Jenaer giftig sein und über Zweikämpfe kommen würden, und uns eingeschärft, dass wir dagegenhalten mussten. Und trotzdem hatten sie von Anfang an die entscheidenden gewonnen. Wir waren immer einen Schritt zu spät gekommen, nicht wach genug, nicht konzentriert genug. Nicht entschlossen genug. Zu lasch. Und nach einem Standard getroffen hatten dann die Jenaer, nach einer Viertelstunde, und wir hatten uns in der ganzen ersten halben Stunde nicht mal eine Torchance herausgespielt. Direkt vor der Halbzeit hatten wir endlich ein paar schnelle Kombinationen hinbekommen, und es war etwas besser geworden, aber getroffen hatten wir erst nach der Pause, und auch nur mit viel Glück. Der Ball war vor Ivos Flanke im Seitenaus gewesen, aber Willenborg hatte den Treffer gegeben. Jetzt, hatten wir gedacht, jetzt läuft es so, wie wir es uns vorgestellt haben. Nach unserem Plan, nicht nach eurem.

Aber Jena war sofort in die Offensive gegangen, hatte Chancen gehabt, und nur zehn Minuten nach unserem Ausgleich hatten sie das zwei zu eins erzielt. Und wieder waren wir angerannt. Dreißig Grad, elf Jenaer um den eigenen Sechzehner, und Welle auf Welle war gebrochen am Abwehrbollwerk, und mit jeder Minute waren die Jena-Fans lauter und unsere Beine schwerer geworden. Und dann, in der letzten Minute der Nachspielzeit, als das ganze Stadion schon den Schlusspfiff gefordert hatte, hatten wir doch noch den Ausgleich erzielt. Und wieder hatten wir gedacht, das wars jetzt, die hatten die Sensation schon vor Augen, jetzt kommen die nicht mehr zurück, die haben keine Kraft mehr für die Verlängerung. Und dann hatten wir trotzdem das Fußballspielen eingestellt. Hatten uns den Ball hin- und hergeschoben, Querpässe, Rückpässe, nur kein Risiko, abwarten, lass sie kommen.

Die Hitze, die jetzt in mir hochstieg, hatte nichts mit dem Wetter zu tun. Warum? Was hatten wir gedacht, dass uns das bringen würde, was hatten wir gehofft? Dass wir sie im Elfmeterschießen schon irgendwie besiegen würden? Dass sie uns einfach ein Tor schenken würden?

Ich presste die Lippen aufeinander. Jetzt sengte die schwelende Luft auch die Atemwege in meiner Nase an. Ein Elfmeterschießen hatte es nicht gegeben, und das Tor geschenkt hatten nicht sie uns, sondern wir ihnen. Ein weiter Einwurf, ein verlorenes Kopfballduell, direkt nach dem Seitenwechsel in der Verlängerung, und das war es gewesen. Danach hatten wir keine Torchance mehr gehabt. Und jetzt hatten wir verloren. Zwei zu drei in der ersten Runde des DFB-Pokals beim Regionalligisten Carl Zeiss Jena, und Tschüss, HSV, bis zur nächsten Saison. Geld, Spiele, Titelchance. Alles weg.

Ein Schatten fiel auf mein Gesicht. Ich legte den Kopf in den Nacken. Gidi stand über mir, groß wie ein Turm, und hielt mir wortlos die Hand hin. Ich ergriff seine schlanken, feingliedrigen Finger, und gemeinsam wuchteten wir mich auf die Füße. Einen Moment standen wir wortlos nebeneinander. Jetzt fiel mein Blick doch auf die Jena-Kurve. Die Feier war in vollem Gang. Ich sah sie umherspringen, Spieler wie Fans, völlig wild geworden, als spürten sie die Hitze gar nicht. Ich sah wehende Fahnen, Fans auf den Zäunen, und immer wieder, selbst aus der Ferne deutlich zu erkennen, erhobene Hände mit ausgestreckten Mittelfingern. Gegen unsere Fans, gegen uns. Gegen den Bundesligisten, den sie besiegt hatten. Gegen den großen HSV.

Mein Kiefer versteifte sich. Ruckartig wandte ich mich ab. Mein Blick traf Gidis. Er nickte, und zusammen machten wir uns auf den Weg zu den anderen, die Mitte der anderen Hälfte in einer Traube zusammenstanden. Einige hatten die Hände in die Hüften gestützt, manche sahen auf den Boden, manche in den Himmel. Lewis starrte auf die Jena-Kurve. Alle schwiegen. Anscheinend wusste niemand, was es jetzt noch zu sagen gab.

Gidi und ich stellten uns dazu. Neben uns wandte Michi den Kopf, und aus seinem schiefen Lächeln sprach nichts als Fassungslosigkeit. Er war erst vor zwei Wochen vom Zweitligisten Bochum zu uns gewechselt und hatte den Spind neben meinem bekommen. Er, Gidi und ich hingen seitdem ständig zusammen, und gemeinsam mit Finn zogen wir an den freien Nachmittagen und Abenden durch Hamburg, gingen essen oder zockten FIFA. Heute war Michi kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit eingewechselt worden, und er war es gewesen, der zum Zwei-zu-zwei-Ausgleich getroffen und damit alles dafür getan hatte, sich gleich in seinem ersten Pflichtspiel für seinen neuen Verein zum Helden aufzuschwingen.

Zum Helden. Meine Lippen verkrampften sich. Helden waren nach diesem Spiel nur vor der anderen Kurve zu finden. Gidi klopfte Michi auf den Rücken, und Michi legte ihm den Arm um die Schultern. Die beiden waren fast genau gleich riesig.

Schweigend standen wir beisammen, bis sich mit unseren Außenverteidigern Matze und Go auch die Letzten vom Rasen aufgesammelt und hierhergeschleppt hatten. Dann ruckte unser Keeper René, der heute den verletzten Johan als Kapitän vertrat, den Kopf in Richtung Gästekurve und ging voraus. Langsam folgten wir ihm. Ich sah nur vor mich auf den Boden. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde ich durch Treibsand laufen.

Je näher wir unseren Fans kamen, desto lauter übertönten die Pfiffe den Feierlärm von hinten. Als die Füße vor mir kurz vor der Grundlinie stehenblieben, tat ich es ihnen mechanisch nach. Meine Ohren waren voll von nadelspitzen Pfiffen und Schreien. Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, und zwang den Kopf nach oben.

Wehende Fahnen und sich in den Armen liegende Feiernde gab es hier nicht. Leute auf den Zäunen aber schon. Und erhobene Hände auch. Wegwerfende Gesten, Mittelfinger, geballte, geschüttelte Fäuste. Fans, die sich so tief vom Zaun nach unten lehnten, dass es aussah, als würden sie gleich fallen, und mit knallroten Gesichtern in unsere Richtung brüllten. Was genau, war durch die Walze an Geschrei und die ohrenzerreißenden Pfiffe nicht zu hören. Aber die wutverzerrten Grimassen und die schlagbereiten Fäuste machten es klar genug. Ich starrte geradeaus. Mein Gesicht fühlte sich hart und verkrampft an, wie eine Maske aus Gips. Neben mir spürte ich Gidis Arm vibrieren.

Unsere Fans fuhren überall mit uns hin, egal, ob das Spiel früh oder spät war, egal, ob sie erst mitten in der Nacht wieder zu Hause waren und am nächsten Tag um acht zur Arbeit mussten. Sie ließen uns nie allein, ihre Anfeuerungen hatten mir schon mehr als einmal geholfen, Zweikämpfe und Sprintduelle zu gewinnen, nach Siegen feierten sie uns frenetisch, und oft genug bauten sie uns auch nach Niederlagen wieder auf. Aber das heute war keine Niederlage. Ein Erstrundenaus im DFB-Pokal gegen einen Regionalligisten war eine Schande, für die Häme von allen Seiten auf jeden einprasseln würde, der die Raute trug. Ich spürte es in jedem wundgerannten Muskel, in jeder Faser meines überhitzten Körpers. Es tat weh. So weh. Und natürlich tat es den Fans auch weh. Aber mussten sie ihren Schmerz in Wut an uns entladen? Mussten sie schreien und schimpfen und brüllen und beleidigen und drohen, so außer sich, dass Schauer wie Eissplitter über meine Haut liefen, obwohl in mir drin immer noch alles kochte?

Etwa eine Minute blieb René stehen und ließ die Fans über uns ergehen. Dann drehte er sich um und führte uns immer noch wortlos in die Kabine.

Die kalte Dusche war das Erste seit dem Anpfiff vor fast drei Stunden, das sich gut anfühlte. Mit geschlossenen Augen stand ich unter dem Strahl, ließ das Wasser Schweiß und Dreck und Hitze von mir wegspülen und wäre am liebsten nie wieder hervorgekrochen. Aber Jena war ein Viertligist, ihr Stadion war alt, und das wenige Geld, das da war, wurde nicht für den Komfort der Mannschaften ausgegeben, die die Gästekabine belegten. Fünf Duschköpfe gab es, mehr nicht. Kaum, dass das Shampoo heruntergespült war, musste ich für Lewis Platz machen.

Im Bus ließ ich mich auf meine übliche Sitzbank im Mittelteil fallen und presste meinen Kopf gegen die verdunkelte Scheibe. Hinter mir hörte ich Gidi auf seinen Platz rutschen, und Michi glitt auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs in einen Sitz. Nach den letzten Vorbereitungsspielen hatten wir oft nebeneinandergesessen, Karten gespielt oder einfach gelabert. Heute nicht.

Ich starrte nach draußen, auf Jena-Fans, die lachend und Arm in Arm das Stadion verließen, und presste die Augen zu. Wenn Emir seinen Kopfball in der ersten Hälfte nur ein kleines Stückchen weiter nach links gesetzt hätte, dann hätte der Jenaer auf der Linie nicht mehr klären können und das wäre schon der Ausgleich gewesen. Wenn ich kurz vor der Pause den Freistoß aus gut zwanzig Metern nur selbst geschossen hätte, statt ihn Lewis zu überlassen. Ich konnte gute Ecken und Freistöße schießen, aber bei den Profis hatte ich es bisher kaum gemacht. Mit Lewis, unserem Relegationsheld Celo und letzte Saison auch noch Rafa hatten wir schon gute Standardschützen gehabt, da kam man als achtzehnjähriger Nachwuchsspieler nicht einfach in die Mannschaft und schickte Rafael van der Vaart oder Lewis Holtby von den Freistößen weg. Und Lewis hatte ja richtig Gefühl im Fuß. Eigentlich. Aber den heute aus guter Position hatte er eben klar daneben gesetzt. Vielleicht, wenn ich geschossen hätte … Wenn der Jenaer Torwart gegen Schippos Kopfball keine Wahnsinnsparade rausgeholt hätte … Wenn wir in der Verlängerung wie ein Bundesligist gespielt hätten und nicht wie ein verdammter Kreisligist …

Ich riss die Augen auf und blinzelte. Meine Hände hatten sich zu Fäusten verkrampft. Ich zwang einen Atemzug durch meine Kehle und streckte mit einer aktiven Willensleistung die Finger aus. Das brachte jetzt nichts mehr. Es war aus, aus und vorbei. Und nicht wieder gutzumachen.

Die Türen schlossen sich mit einem Zischen, der Motor brummte, und der Bus fuhr an. Langsam manövrierte Miro uns aus der Stadionanlage. Von den vereinzelten Jena-Fans, an denen wir noch vorbeifuhren, kriegten wir immer wieder höhnisch-triumphierende Mittelfinger entgegengestreckt.

Sobald wir die größeren Straßen erreicht hatten und es nicht mehr so schaukelte, stand Bruno auf und ließ seinen Blick über die Sitzreihen schweifen. Um Ruhe musste er nicht bitten. Im Bus war es so still wie in einem Grab. Ich schaute unseren Trainer an, mein Kopf immer noch gegen das Fenster gelehnt, und versuchte, irgendwoher genug Energie zusammenzukratzen für die Standpauke, die wir verdient hatten. Aber Bruno war offenbar genauso tot wie wir. Er sagte nur in seiner ruhigen, aber jetzt ausgepresst und monotonen Stimme, dass wir morgen um neun Uhr zur ausführlichen Nachbesprechung am Stadion sein sollten. Dann drehte er sich um und setzte sich wieder in seine Bank.

Ich richtete meinen Blick wieder nach draußen. Bäume, Häuser und Felder zogen vorbei. So heil. So gleichgültig. So unberührt von dem, was da heute im Ernst-Abbe-Sportfeld passiert war.

Ich wandte mich ab, zog den Reißverschluss meiner Sporttasche auf, die neben mir auf dem Sitz stand, und wühlte mein Handy heraus. Irgendwer hatte per WhatsApp geschrieben. Finn, natürlich. >Fuck. Wenn du reden willst, ruf an.<

Ich stieß die Luft aus. Wollte ich reden? Ja. Nein. Keine Ahnung. Ich machte die App wieder zu und tippte auf das kleine, weiße k auf rotem Grund. Vielleicht waren wir ja wenigstens nicht die Einzigen, die versagt hatten.

Aber ein Blick auf die anderen Pokalergebnisse zeigte, dass es heute nur in unserem Spiel einen Außenseiter-Sieg gegeben hatte. Gestern waren zwar schon ein paar Favoriten ausgeschieden, aber unter ihnen war nur ein Bundesligist, Hoffenheim, und die hatten gegen Zweitligist 1860 München gespielt. Das war eine Überraschung, aber keine Sensation. Und bei den Spielen, die gerade noch liefen, schickte sich nur Ingolstadt an, es uns gleichzutun. Sie lagen kurz vor Schluss mit eins zu zwei bei Regionalligist Unterhaching zurück. Und bei Düsseldorf gegen Essen stand es noch null zu null. Aber Düsseldorf war ein Zweitligist, und Ingolstadt war eben Ingolstadt. Für die interessierte sich eh kein Schwein.

Ich schnaubte, schloss die kicker-App und warf das Handy zurück in die Tasche. Kein Ergebnis konnte mit unserem mithalten, was den Sensations-Charakter anging. Das war das, was den Pokal ausmachte, „In einem Spiel ist alles möglich“, David gegen Goliath. Alle Welt fieberte mit dem Underdog, und was war es geil, wenn er tatsächlich gewann und den großen Favoriten raushaute. Die heldenhaften Amateure wurden bejubelt, und die arroganten, überbezahlten Herren Profifußballer belächelt, bemitleidet, ausgelacht.

Ich biss die Zähne zusammen und krallte die Finger in die Oberschenkel. Ich sah die Schlagzeilen schon vor mir, im kicker, im Abendblatt, in der Morgenpost, in der Blöd. Schwarz auf weiß, weiß auf rot, in fetten, das Auge anspringenden Großbuchstaben. SCHMACH. SCHANDE. BLAMAGE. VERSAGEN. GEHT DAS SCHON WIEDER LOS?

Ich machte die Augen wieder zu, als könnte ich damit nicht nur die Bilder von außen, sondern auch die von innen aussperren. Geht das schon wieder los …?

Wir hatten uns doch so viel vorgenommen. Alles hatte anders, hatte besser werden sollen als letzte Saison. Letzte Saison, wo wir beinahe abgestiegen wären, wo wir eigentlich schon abgestiegen waren, bis Celo uns mit seinem Freistoß in der Nachspielzeit in Karlsruhe von den Toten erweckt hatte. So viel Druck. So viel Angst. So viel Qualität, und so wenig Leistung. Wir hatten doch dieses Jahr alles auf den Platz bringen wollen. Für uns, für die Fans, für den Verein, für die Stadt. Gut spielen, gewinnen, eine sorgenfreie Saison. Und jetzt? Jetzt waren wir nach einer grottenschlechten Leistung in der ersten Runde des DFB-Pokals bei einem Viertligisten ausgeschieden, und der erste Gegner in der Bundesliga war am Freitag zum Saisoneröffnungsspiel in der Allianz-Arena Meister Bayern München. Ich erinnerte mich noch gut an das letzte Gastspiel dort. Viel zu gut. Ich hatte das ganze Spiel gespielt und mich mit jeder Minute mehr gefühlt wie eine Trainingsstange auf dem Vereinsgelände der Scheiß-Bayern. Mit einem null zu acht waren wir am Ende heimgefahren. Null zu acht. Und wenn wir am Freitag so spielten wie heute, würde es zweistellig werden.

Ich riss die Augen auf. Komm da weg. Komm von den Gedanken weg. Jetzt. SOFORT. Ablenkung musste her. Also doch Finn. Aber nicht telefonieren, das ging nicht, wenn es im Bus so still war wie jetzt. Miro hatte zwar das Radio angedreht, aber das lief so leise, dass ein Telefonat dahinter nicht zu verstecken war. Wir würden schreiben, das ging auch. Ich hatte WhatsApp schon geöffnet und meinen Daumen über dem obersten Chat, als mein Blick auf einen anderen Namen fiel.

Ich zögerte. Ich hatte Ramin seit meiner Rückkehr im Juli nicht mehr gesehen. Vier Wochen war das jetzt her. Wie ich damals vermutet hatte, war es zeitlich einfach nicht gegangen. Wir hatten ab und zu geschrieben, hauptsächlich hatte ich von der Vorbereitung und den Testspielen erzählt, aber es war eher ein sporadischer Kontakt gewesen. Ich hatte den Eindruck, dass Ramin nicht der fleißigste WhatsApp-Chatter war. Und dazu, dass er mich auch mal besuchen wollte, hatte er noch nichts weiter geschrieben. Aber warum auch? Die Saison fing ja erst an. Beziehungsweise, sie hatte gerade angefangen. Mit einem krachenden Fehlstart.

Ich starrte hinunter auf Ramins Namen. Mein Daumen senkte sich und öffnete den Chat.

Der Cursor blinkte. Mein Kopf war blank. Was sollte ich schreiben? Aber meine Finger machten sich einfach weiter selbstständig. Die Worte waren getippt und gesendet, bevor mein Verstand die Warnung herausschreien konnte, dass Ramin vielleicht nicht unbedingt der Typ war, bei dem ich mich ausheulen sollte. >Wir haben grade in der ersten Runde vom deutschen Pokal gegen Jena verloren. 2:3 nach Verlängerung<

Die Nachricht wurde sofort zugestellt. Mein Herz begann zu hämmern. Ich starrte auf mein Handy, und nach kaum zehn Sekunden wurden aus den grauen Doppelhaken blaue. Ramin musste gerade Zeit haben und schrieb sofort zurück. >Von Jena hab ich noch nie gehört<

Ich unterdrückte ein verzweifeltes Lachen. Immerhin schien er von meiner Nachricht nicht genervt zu sein. >Das liegt daran, dass sie in der vierten Liga spielen, und wir sind grade zu einer Schande für den ganzen Verein geworden<

Und dann sprudelten die Worte plötzlich aus meinen Fingern. >Das hätte ein sicherer Sieg sein sollen. Im Pokal war definitiv viel mehr als die erste Runde eingeplant. Jena spielt in der VIERTEN LIGA, und wir in der ersten. Wir sind drei Ligen auseinander, und TROTZDEM haben wir verloren. Ich kapiers einfach nicht. Wir sind besser als die, hundertmal besser, aber wir haben verloren<

Meine Finger zitterten. In meinem Bauch brodelte es. Es dauerte einige Sekunden, bis Ramin zurückschrieb. >Habt ihr auch tatsächlich besser gespielt?<

Ich starrte auf diese einfache Frage. Das Brodeln in meinem Bauch wurde zum Kochen. Es erreichte meine Brust, meine Kehle. Meine Finger hauten auf das Display. >Nein haben wir nicht. Wir waren unterirdisch, wir haben grottenschlecht gespielt, wir hätten auch gegen eine Truppe Zwölfjähriger verloren. Wir haben vollkommen verdient verloren, und wir haben es auch verdient, eine Lachnummer zu sein, wenn wir so spielen. Und unsere Fans sind den ganzen Weg aus Hamburg gekommen, um uns zu sehen, und wir geben NICHTS, absolut NICHTS zurück. Es kotzt mich so an, es macht mich krank<

Diesmal erwischte ich den Pfeil erst im zweiten Versuch. Als die Nachricht draußen war, drehte ich abrupt den Kopf zum Fenster und krallte die zitternden Finger meiner handyfreien Hand in den Oberschenkel. Wieder sah ich die Jena-Fans vor mir, die Fahnen, die Jubelschreie, die Mittelfinger. Unsere Fans, die hochroten, wutverzerrten Gesichter, die Pfiffe, die bodenlose Enttäuschung, den scharfen, stechenden Schmerz. In mir stach es schon wieder. Ich presste die Lippen aufeinander und blinzelte heftig.

In meiner Hand vibrierte es. >Gibt es ein zweites Spiel?<

Obwohl Ramin mich nicht sehen konnte, schüttelte ich den Kopf. In England gab es einen Pokalwettbewerb mit Hin- und Rückspielen, aber im DFB-Pokal gab es von Anfang an nur K.-o.-Spiele. Gewinnen oder fliegen. Alles oder Nichts. Es gab keine zweiten Chancen. >Nein. Das wars<

Das war alles, was ich hinkriegte. Wieder drehte ich den Kopf zum Fenster, schaute hinaus auf die vorbeiziehenden Wälder und Felder, ohne sie zu sehen. Ich war so müde. So müde und so leer.

Das nächste Vibrieren lenkte meine Aufmerksamkeit wieder nach unten. >Im Pokal wars das. In der Liga nicht. Gegen wen spielt ihr als nächstes?<

Diesmal konnte ich das hohle Auflachen nicht unterdrücken. Aber es war so leise, dass es nur meine Mitspieler direkt um mich herum hätten hören können, und die meisten hatten mittlerweile Stöpsel in den Ohren. Mein Daumen bewegte sich über das Display. >Bayern München, am Freitag. Es ist das Saisoneröffnungsspiel, wir spielen in München<

Ramins Antwort kam sofort. >Bayern ist ziemlich gut, oder?<

Ich presste mir die linke Hand vor den Mund, um das Geräusch zu unterdrücken. Wäre es ein Lachen oder ein Schluchzen gewesen? Keine Ahnung. >Sie sind die Besten. Sie sind grade zum dritten Mal in Folge Meister geworden und ihre Mannschaft kostet ungefähr acht Milliarden Euro und wir haben nicht den Hauch einer verdammten Chance<

Zack. Gesendet. Erst danach kroch das Schuldgefühl in mir hoch. Natürlich sollte ich so was nicht schreiben, das sollte ich noch nicht mal denken. Wer mit so einer Einstellung ins Spiel ging, brauchte gar nicht anzutreten. Aber das brauchten wir doch auch so nicht. Die Bayern mit ihren Scheiß-Titeln, ihren Scheiß-Millionenkäufen, ihren Scheiß-Nationalspielern. Ihrem Scheiß-acht-zu-null. Warum würden wir überhaupt hinfahren? Zweimal längs durch Deutschland, und wofür? Für die nächste Klatsche? Die nächsten Pfiffe, den nächsten Hohn, die nächsten Mittelfinger? Die nächste Transformation in Slalomstangen?

Meine Augen brannten. Ich war so damit beschäftigt, die Lippen aufeinanderzupressen und die aufsteigende Welle aus meiner Kehle zurückzudrängen, dass mir das Vibrieren in meiner Hand fast nicht aufgefallen wäre. >Tja, heute hatte Jena keine Chance gegen euch<

Ich blinzelte. Starrte auf mein Handy. Heute hatte Jena keine Chance gegen euch … Jena hatte keine Chance …

Ich lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Jena hatte keine Chance gegen euch. Carl Zeiss Jena, der Regionalligist, der kein Geld hatte und kaum professionelle Strukturen, hatte auf dem Papier gegen uns, den Bundesligisten, überhaupt keine Chance gehabt. Und trotzdem hatten sie gewonnen. Auch mit Glück, klar, weil wir eben so ganz und gar versagt hatten. Aber sie hatten unser Versagen auch selbst beeinflusst. Mit Einsatz. Kampf. Leidenschaft. Indem sie jeden Zweikampf bestritten hatten, als wäre es der alles entscheidende. Indem sie von Anfang an und das ganze Spiel über daran geglaubt hatten, dass sie ihre Chance nutzen konnten. Die Chance, die sie eigentlich nicht hatten. Und jetzt waren sie weiter. Und wir waren draußen. Niedergerungen vom eigentlich chancenlosen Viertligisten.

Ich atmete tief ein. Ja, heute hatten wir versagt. Ja, der Pokal war für diese Saison vorbei. Aber die Liga fing gerade erst an. Und auch, wenn es schwer werden würde, auch, wenn diesmal wir der fette Underdog waren: Wir würden am Freitag in München alles geben. Rennen, und kämpfen, und glauben, und alles tun, damit wir mit erhobenen Köpfen nach Hause fahren konnten, egal, wie es letztendlich ausging.

Ich machte die Augen auf. Als ich Ramin antwortete, waren meine Finger ganz ruhig. >Du hast recht. Danke. Wir werden alles geben<

Die grauen Haken wurden blau. Aber Ramin schien entweder keine Zeit mehr zu haben oder eine Antwort nicht für nötig zu halten, denn er schrieb nicht mehr zurück. Aber das machte nichts. Er hatte schon alles gesagt.

Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ich kramte meine Kopfhörer aus der Sporttasche und setzte sie ein. You can’t start a fire, you can’t start a fire without a spark, formten meine Lippen lautlos, während meine Füße im Takt zu Bruce Springsteens “Dancing in the Dark” wippten und ich die Augen wieder schloss.

 

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Referenzen:

 

„Dancing in the Dark“ – aus dem Album „Born in the U.S.A.” von Bruce Springsteen. Columbia Records, 1984.

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Weil ich morgen früh keine Zeit zum Hochladen habe, gibt es das neue Kapitel ausnahmsweise schon heute Abend – und damit geht auch in dieser Geschichte endlich die Saison los :D Zeitlich passt es ja jetzt mit der ersten Pokalrunde letztes Wochenende wirklich perfekt, aber ich bin doch froh, dass die Jungs die inhaltliche Passung am Sonntag vermeiden konnten. Endlich mal ein richtig souveräner Sieg in der ersten Runde – dass man als HSV-Fan so was auch mal erleben darf … ;)

Chapter 22: My Roof, My Rules

Chapter Text

  1. Kapitel: My Roof, My Rules

 

Die nächste Woche trainierte ich wie besessen, haute mich in die Zweikämpfe und gab in jeder Übung alles. Aber als Bruno am Donnerstag die Aufstellung fürs Saisoneröffnungsspiel bekanntgab, fand ich meinen Namen auf der Ersatzbank wieder. Meinen Platz in der Startelf würde Gidi übernehmen. Es war eine von insgesamt fünf Änderungen im Vergleich zum Pokalspiel.

Ich starrte auf die Taktiktafel. Es fühlte sich an, als hätte sich mein Magen in Luft aufgelöst. Ich senkte den Blick auf meine Füße, biss mir auf die Oberlippe und versuchte, mich zusammenzureißen. Warum durfte ich denn nicht spielen? Klar war ich in Jena grottenschlecht gewesen. Aber das traf doch auf alle zu. Und ich hatte doch seitdem im Training alles gegeben. Ja, Gidi hatte auch gut trainiert. Aber besser als ich?

Ich atmete durch, löste die Zähne aus der Oberlippe und zwang den Kopf wieder nach oben. Das hier war die Taktiksitzung fürs Spiel, und ich war im Kader. Sollte ich eingewechselt werden, musste ich wissen, was meine Aufgabe war. Und selbst wenn nicht, musste ich von außen alles tun, um das Team zu unterstützen. Jeder war wichtig. Auch die, die auf der Bank saßen.

Jeder ist wichtig. Ein Muskel in meinem Gesicht zuckte. Ich wusste, dass das stimmte, und ich hatte es in den Jugendmannschaften oft mit voller Inbrunst an frustrierte Ersatzspieler vermittelt. Aber es war leichter, daran zu glauben, wenn man selber zu den Startelfspielern gehörte.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zwang meine Konzentration auf Bruno und seine Taktiktafeln. Ich hörte zu, während er von Laufwegen, Verschiebungen in den Ketten, Umschaltmomenten, Varianten bei offensiven und Zuteilung bei defensiven Standardsituationen sprach, und als die Sitzung vorbei war, war es immerhin ein kleiner Trost, dass ich es geschafft hatte, die Enttäuschung zumindest nach außen niederzuringen. Aber als meine Mitspieler den Besprechungsraum einer nach dem anderen verließen, hielt Bruno mich zurück. Mir wurde eiskalt. Hatte ich meine Körpersprache so falsch eingeschätzt? Hatte ich doch nicht konzentriert, sondern beleidigt ausgesehen, und würde dafür jetzt eine Standpauke kriegen?

Unser Trainer wartete, bis der Letzte die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit seinem ruhigen Blick sah er mir in die Augen. „Martin, keine Sorge. Du hast gut trainiert, das habe ich auch gesehen, und die Aufstellung für München ist keine generelle Versetzung auf die Bank für dich.“

Zittrig atmete ich aus. Ein Glück. Ich hatte mich also doch beherrschen können. Und offensichtlich hatte ich auch meine Trainingsleistung richtig eingeschätzt. Ich nickte, aber Bruno war noch nicht fertig. „Aber ich möchte den Bayern nicht ins offene Messer laufen. Du weißt selbst, wie spielstark sie sind, und deshalb stellen wir eher defensiv auf. Da sehe ich Gidi momentan etwas stärker als dich. Außerdem ist er besser im Kopfballspiel und kann bei Flanken, Ecken und Freistößen die Innenverteidiger besser unterstützen. Aber gib du nicht auf, auch wenn du jetzt enttäuscht bist – gib Gas, trainier weiter gut, und du wirst auf deine Einsätze kommen!“

Ich holte Luft, nickte noch mal, und Bruno entließ mich mit einem Klaps auf die Schulter. Während ich zur Tür ging, hallten seine Worte durch meinen Kopf. Defensiv stärker … Besser im Kopfballspiel …

Na gut. Am Kopfballspiel konnte ich wenig ändern. Gidi war 1,89 Meter groß, ich 1,81. Das war für einen defensiven Mittelfeldspieler durchschnittlich, aber diese acht Zentimeter hatte Gidi mir eben voraus. Das war so. Außerdem konnte Gidi problemlos auch Innenverteidiger spielen, meine Alternativposition war dagegen offensiver, auf der Acht. Da war es logisch, dass Bruno für eine defensive Aufstellung eher Gidi nominierte. Aber gut. Nicht jeder Gegner waren die Bayern, und außerdem wusste ich jetzt, wo ich im Training noch mehr Fokus legen konnte.

Ich zog die Tür auf, trat aus dem Besprechungsraum und fand im Gang Gidi und Michi, der ebenfalls in die Startelf gerutscht war. Für beide würde es am Freitag das Bundesligadebüt sein. In Gidis Lächeln lag ein wenig Unsicherheit. Michi grinste so breit wie immer. „Na? Ärger?“

„Quatsch!“ Ich schüttelte den Kopf und grinste zurück. Es war ganz einfach. Und es war auch einfach, Gidi anzuschauen, zu lächeln und ihm auf die Schulter zu schlagen. „Glückwunsch, Jungs! Erstes Bundesligaspiel, gleich Startelf, gleich Bayern – was will man mehr?“

Gidis Lächeln wurde breiter, und die Unsicherheit verschwand. „Danke!“ Jetzt kriegte ich einen Schlag auf die Schulter. „Pass auf, das nächste Mal spielen wir zusammen!“

„Ja, das wär’s!“ Ich lachte. „Nächste Woche gegen Stuttgart alle in der Startelf! Michi macht die Tore, wir halten den Laden zusammen!“

„Siehste?“ Michi grinste. „Wir brauchen schon gar keinen Trainer mehr!“

Lachend verließen wir zu dritt das Stadion.

 

*

 

Das Spiel in München verfolgte ich also von draußen. Ich sah eine durchaus gute erste Hälfte von uns, die sich zwar wie erwartet nur aufs Verteidigen beschränkte, aber das machten wir vorbildlich. Zur Pause lagen wir durch ein blödes Gegentor nach einem Freistoß mit null zu eins zurück, aber auch nach dem Tor hatten wir weiter gekämpft und dagegengehalten. Die Bayern waren spielbestimmend, feldüberlegen und hatten mehr Ballbesitz, aber das alles hatten wir vorher gewusst. Trotzdem war es ein ganz anderes Spiel als die Partie in der letzten Saison. Diesmal wehrten wir uns, alle machten mit, und Gidi und Michi schlugen sich richtig gut.

Zu Beginn der zweiten Hälfte gingen wir etwas offensiver heran und pressten die Bayern schon in ihrer eigenen Hälfte. Wir wollten zwar nicht zu sehr aufmachen, aber es brachte ja nichts, mit aller Macht ein null zu eins halten zu wollen – nicht, solange die Chance auf einen Punktgewinn da war. Die machten die Bayern dann aber leider schnell zunichte. Nach einem Fehler von Matze erzielten sie schon in der 53. Minute das zwei zu null, und danach nutzten sie konsequent die Räume, die sich ihnen immer mehr boten. In der 69., 73. und 87. Minute fielen drei weitere Tore. Wir hörten nie auf zu kämpfen, aber die Bayern waren einfach zu gut, wie ich zähneknirschend anerkennen musste.

Nach dem Abpfiff sanken die Jungs enttäuscht auf den Rasen, aber ich fand, dass wir trotz des null zu fünf erhobenen Hauptes nach Hause fahren konnten. Wir hatten schließlich die ganze Zeit gekämpft und nie aufgegeben. Die Bayern waren auch einfach nicht der Gegner, gegen den wir unsere Punkte eingeplant hatten, schon gar nicht auswärts. Ich hatte das komplette Spiel erst auf der Bank und dann beim Aufwärmen verbracht und verwendete meine eingesparte Energie darauf, Gidi und Michi aufzubauen. Schon in der Kabine waren wir uns einig: Die Einstellung hatte heute gestimmt, das Ergebnis und die Punkte würden nächste Woche im Heimspiel gegen Stuttgart folgen.

 

*

 

Am Montag war ich gerade vom zweiten Training des Tages nach Hause gekommen und hatte mich aufs Sofa fallen lassen, als mein Handy klingelte. Als ich den Namen auf dem Display sah, strahlte ich. „Ramin!“

„Hey, you.“ Dunkel, warm, rau. Ich schloss die Augen und unterdrückte ein Lachen. „How’re you doing? Have you recovered from Friday all right?“

Er hatte gefragt, wie es ausgegangen war, und ich hatte es ihm geschrieben, aber wir hatten uns nicht länger darüber ausgetauscht. Jetzt zuckte ich die Schultern. “Sure. I mean, it was a pretty bad defeat, but it was in Munich against the best team in Germany. We tried everything, but we never really planned on bringing three points back from there. It was full focus on Stuttgart from pretty much right after the match.”

“So you’re playing them next, are you? How was their first match?”

“Lost to Köln, one to three. But they had, like, a thousand chances or something. They should have won, they were the better team.”

“So what do you think your chances are?” Sein Ton war spielerisch, aber es schwang eine Herausforderung mit.

Ich grinste nur. „A hundred percent. We’re playing at home, and we’re gonna win.”

“Just like that, huh?“

Sein Grinsen konnte ich von London bis nach Hamburg hören. Meins wurde gleich noch breiter. „Yep. Just like that.“

Er lachte leise. Ein Schauer lief meinen Rücken hinab. Was würde ich darum geben, ihn jetzt auf der Stelle herbeamen zu können.

„Sounds like I’d better not miss this, then, doesn’t it?“

Mein Mund öffnete sich. Einen Moment starrte ich regungslos den Couchtisch an. Ramin wollte …

„You’re coming?!“ Mit einem Satz war ich auf den Füßen. Ich presste mir das Handy so fest ans Ohr, dass sich die Kanten in meine Wange gruben.

„Well, coming is what I do best.“

Ich stieß die Luft aus. „Oh come on, Ramin! Can’t you have a single conversation without talking about sex?”

Er schnaubte. „I could, but where’s the fun in that? So, will you have me or not?”

Er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! „Of course I’ll have you!“ Das hatte ich fast geschrien. Hoffentlich hatte er sein Handy nicht so dicht ans Ohr gepresst wie ich meins. Ich lachte, fuhr mir mit der handyfreien Hand durchs Haar und versuchte, die nächsten Worte in normaler Lautstärke loszuwerden. „When will you come?“

„Well, I have to do the performances on Friday and on Monday. So I can come over on Saturday and go back around midday on Monday. Sounds okay?”

“Sounds perfect!“ Ich strahlte. Am liebsten hätte ich gesungen und getanzt. Ramin würde kommen, hierher, zu mir! Dieses Wochenende schon! Ich würde ihn wiedersehen, ihm die Stadt zeigen, mein Hamburg, er würde mich spielen sehen …

Shit. Das Spiel. Es war das Topspiel um 18.30 Uhr am Samstagabend, und wenn er erst am Samstag kommen konnte … „Hang on, shit, no, I can’t pick you up on Saturday, I can’t get away before the match. Can you … I mean …”

Komm schon, eine Idee. Irgendeine. Aber mein Kopf war leer. Ich konnte ihn am Spieltag auf keinen Fall abholen. Und wenn er am Freitagabend noch auf der Bühne stehen musste, konnte er nicht vorher anreisen. Und was konnte ich tun? Finn als Abholkommando schicken?

Ein hohles Lachen stieg in mir auf. Ja sicher. Super Idee. Eine bessere Methode, um sicherzustellen, dass er nie wieder herkommt, könnte dir nicht einfallen, oder?

Ich war drauf und dran, wirklich zu verzweifeln, da drang Ramins ruhige Stimme wieder an mein Ohr. „That’s okay, I’ll just go straight to the stadium. Maybe have a look around the city if I’m too early. What time does the match start?”

„Six thirty, German time. So that’s your five thirty.“ Ich zögerte. Ich hätte ihn schon gerne abgeholt. Und die Stadt wollte ich ihm auch zeigen, ich wollte nicht, dass er meine Heimat ohne mich kennenlernte. Aber wenn es nicht anders ging … „All right. I’ll send you a ticket, by email. But …” Ich biss mir auf die Lippe. Wenn er noch nie hier gewesen war … „Are you sure you’ll find it on your own? I mean, I could …”

Was ich hätte tun können, wusste ich nicht, denn ich würde ja auf jeden Fall bei der Mannschaft sein müssen. Aber Ramin unterbrach mich schon mit einem Schnauben. „Martin, I‘m a big boy, I can read maps and use the internet, and I’ve found my way around big cities plenty of times before. I’m gonna be fine.”

Ich seufzte. Aber gleichzeitig lachte ich. Natürlich hatte er recht. Und immerhin hieß das, dass er wirklich kommen würde. „All right. Well, after the match, just wait in the VIP-area, and I’ll come and get you.“

“I’m getting a VIP-ticket?” Es war deutlich zu hören, wie sehr ihm dieser Gedanke gefiel.

Ich grinste. „Sure!” Jedem Spieler standen pro Spiel bis zu vier Karten zur Verfügung, und das waren alles VIP-Plätze. Einen Herzschlag hielt ich inne, den Mund noch leicht geöffnet. Auf meiner Zunge lagen weitere Worte bereit. Worte, die sich darum drehten, wofür VIP stand. Very Important Person. Und ein to me war auch dabei.

Ich schluckte. Die Worte verschwanden. Es war zu früh. Zu viel. Zu viel zu früh. „Well then …“ Meine Stimme klang plötzlich belegt. Ich räusperte mich. „See you on Saturday!“

„See you!“

Vermutlich hatte er schon fast aufgelegt, als mir noch etwas einfiel. Etwas sehr Wichtiges. Ich riss das Handy wieder ans Ohr. „Wait, Ramin?!“

„Yes?“

Ich hielt inne. Wie sagte ich es am besten? Auf keinen Fall wollte ich wieder einen Streit anfangen. Aber raus musste es, unbedingt. Dafür war es zu verdammt wichtig. „You won’t – I mean – at the match, you know with my teammates and the fans and everything? They all know me, so … You’ll be there as my friend, okay? I mean, as a friend. Nothing more.”

Schweigen. Nur sein Atem war zu hören. Ich bearbeitete meine Unterlippe mit den Zähnen. Er seufzte. „Sure. As a friend.“

Seine Stimme war flach und monoton. Er klang nicht glücklich. Aber ich atmete aus. Er musste nicht begeistert sein. Er musste nur den Mund halten. „Thanks.“

Er lachte schnaubend. „Yeah. Whatever. See you then. Bye.”

Es klickte. Er hatte aufgelegt. Langsam ließ ich das Handy sinken. Was war das jetzt gewesen? Enttäuschung? Wut? Bereute er jetzt, dass er gesagt hatte, er würde kommen?

Ich biss mir auf die Lippe. Aber er hätte es ja sagen können, wenn er seine Meinung geändert hätte, und das hatte er nicht. Und wenn er hierherkommen wollte, in meine Welt, musste er eben nach meinen Regeln spielen. Er sollte sich nicht so anstellen. Er würde mich ja trotzdem bekommen, drüben in meinem Zimmer, wo uns keiner sah und keiner hörte und wir nichts waren als nur er und ich. Er und ich …

Ich richtete den Blick auf die Zimmerdecke. Ich würde ihn sehen. Bald. Am Samstag schon! Und diesmal hatte er angerufen, diesmal würde er sich ins Flugzeug setzen, diesmal würde er mir zuschauen! Und Finn konnte ihn auch endlich kennenlernen, dann würde er sehen, dass er Unrecht hatte, dass Ramin und ich viel mehr waren als nur Sex …

Ich breitete die Arme aus, stieß ein Triumphgeheul aus und ließ mich lachend in die Sofakissen fallen. Finn würde Augen machen, wenn ich es ihm erzählte. Grinsend lehnte ich den Kopf zurück und schloss die Augen. Jetzt musste ich am Samstag nur noch in der Startelf stehen. Und das würde ich. Koste es, was es wolle.

Chapter 23: My Roof, My Rules - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Mein Reich, meine Regeln

 

Die nächste Woche trainierte ich wie besessen, haute mich in die Zweikämpfe und gab in jeder Übung alles. Aber als Bruno am Donnerstag die Aufstellung fürs Saisoneröffnungsspiel bekanntgab, fand ich meinen Namen auf der Ersatzbank wieder. Meinen Platz in der Startelf würde Gidi übernehmen. Es war eine von insgesamt fünf Änderungen im Vergleich zum Pokalspiel.

Ich starrte auf die Taktiktafel. Es fühlte sich an, als hätte sich mein Magen in Luft aufgelöst. Ich senkte den Blick auf meine Füße, biss mir auf die Oberlippe und versuchte, mich zusammenzureißen. Warum durfte ich denn nicht spielen? Klar war ich in Jena grottenschlecht gewesen. Aber das traf doch auf alle zu. Und ich hatte doch seitdem im Training alles gegeben. Ja, Gidi hatte auch gut trainiert. Aber besser als ich?

Ich atmete durch, löste die Zähne aus der Oberlippe und zwang den Kopf wieder nach oben. Das hier war die Taktiksitzung fürs Spiel, und ich war im Kader. Sollte ich eingewechselt werden, musste ich wissen, was meine Aufgabe war. Und selbst wenn nicht, musste ich von außen alles tun, um das Team zu unterstützen. Jeder war wichtig. Auch die, die auf der Bank saßen.

Jeder ist wichtig. Ein Muskel in meinem Gesicht zuckte. Ich wusste, dass das stimmte, und ich hatte es in den Jugendmannschaften oft mit voller Inbrunst an frustrierte Ersatzspieler vermittelt. Aber es war leichter, daran zu glauben, wenn man selber zu den Startelfspielern gehörte.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zwang meine Konzentration auf Bruno und seine Taktiktafeln. Ich hörte zu, während er von Laufwegen, Verschiebungen in den Ketten, Umschaltmomenten, Varianten bei offensiven und Zuteilung bei defensiven Standardsituationen sprach, und als die Sitzung vorbei war, war es immerhin ein kleiner Trost, dass ich es geschafft hatte, die Enttäuschung zumindest nach außen niederzuringen. Aber als meine Mitspieler den Besprechungsraum einer nach dem anderen verließen, hielt Bruno mich zurück. Mir wurde eiskalt. Hatte ich meine Körpersprache so falsch eingeschätzt? Hatte ich doch nicht konzentriert, sondern beleidigt ausgesehen, und würde dafür jetzt eine Standpauke kriegen?

Unser Trainer wartete, bis der Letzte die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit seinem ruhigen Blick sah er mir in die Augen. „Martin, keine Sorge. Du hast gut trainiert, das habe ich auch gesehen, und die Aufstellung für München ist keine generelle Versetzung auf die Bank für dich.“

Zittrig atmete ich aus. Ein Glück. Ich hatte mich also doch beherrschen können. Und offensichtlich hatte ich auch meine Trainingsleistung richtig eingeschätzt. Ich nickte, aber Bruno war noch nicht fertig. „Aber ich möchte den Bayern nicht ins offene Messer laufen. Du weißt selbst, wie spielstark sie sind, und deshalb stellen wir eher defensiv auf. Da sehe ich Gidi momentan etwas stärker als dich. Außerdem ist er besser im Kopfballspiel und kann bei Flanken, Ecken und Freistößen die Innenverteidiger besser unterstützen. Aber gib du nicht auf, auch wenn du jetzt enttäuscht bist – gib Gas, trainier weiter gut, und du wirst auf deine Einsätze kommen!“

Ich holte Luft, nickte noch mal, und Bruno entließ mich mit einem Klaps auf die Schulter. Während ich zur Tür ging, hallten seine Worte durch meinen Kopf. Defensiv stärker … Besser im Kopfballspiel …

Na gut. Am Kopfballspiel konnte ich wenig ändern. Gidi war 1,89 Meter groß, ich 1,81. Das war für einen defensiven Mittelfeldspieler durchschnittlich, aber diese acht Zentimeter hatte Gidi mir eben voraus. Das war so. Außerdem konnte Gidi problemlos auch Innenverteidiger spielen, meine Alternativposition war dagegen offensiver, auf der Acht. Da war es logisch, dass Bruno für eine defensive Aufstellung eher Gidi nominierte. Aber gut. Nicht jeder Gegner waren die Bayern, und außerdem wusste ich jetzt, wo ich im Training noch mehr Fokus legen konnte.

Ich zog die Tür auf, trat aus dem Besprechungsraum und fand im Gang Gidi und Michi, der ebenfalls in die Startelf gerutscht war. Für beide würde es am Freitag das Bundesligadebüt sein. In Gidis Lächeln lag ein wenig Unsicherheit. Michi grinste so breit wie immer. „Na? Ärger?“

„Quatsch!“ Ich schüttelte den Kopf und grinste zurück. Es war ganz einfach. Und es war auch einfach, Gidi anzuschauen, zu lächeln und ihm auf die Schulter zu schlagen. „Glückwunsch, Jungs! Erstes Bundesligaspiel, gleich Startelf, gleich Bayern – was will man mehr?“

Gidis Lächeln wurde breiter, und die Unsicherheit verschwand. „Danke!“ Jetzt kriegte ich einen Schlag auf die Schulter. „Pass auf, das nächste Mal spielen wir zusammen!“

„Ja, das wär’s!“ Ich lachte. „Nächste Woche gegen Stuttgart alle in der Startelf! Michi macht die Tore, wir halten den Laden zusammen!“

„Siehste?“ Michi grinste. „Wir brauchen schon gar keinen Trainer mehr!“

Lachend verließen wir zu dritt das Stadion.

 

*

 

Das Spiel in München verfolgte ich also von draußen. Ich sah eine durchaus gute erste Hälfte von uns, die sich zwar wie erwartet nur aufs Verteidigen beschränkte, aber das machten wir vorbildlich. Zur Pause lagen wir durch ein blödes Gegentor nach einem Freistoß mit null zu eins zurück, aber auch nach dem Tor hatten wir weiter gekämpft und dagegengehalten. Die Bayern waren spielbestimmend, feldüberlegen und hatten mehr Ballbesitz, aber das alles hatten wir vorher gewusst. Trotzdem war es ein ganz anderes Spiel als die Partie in der letzten Saison. Diesmal wehrten wir uns, alle machten mit, und Gidi und Michi schlugen sich richtig gut.

Zu Beginn der zweiten Hälfte gingen wir etwas offensiver heran und pressten die Bayern schon in ihrer eigenen Hälfte. Wir wollten zwar nicht zu sehr aufmachen, aber es brachte ja nichts, mit aller Macht ein null zu eins halten zu wollen – nicht, solange die Chance auf einen Punktgewinn da war. Die machten die Bayern dann aber leider schnell zunichte. Nach einem Fehler von Matze erzielten sie schon in der 53. Minute das zwei zu null, und danach nutzten sie konsequent die Räume, die sich ihnen immer mehr boten. In der 69., 73. und 87. Minute fielen drei weitere Tore. Wir hörten nie auf zu kämpfen, aber die Bayern waren einfach zu gut, wie ich zähneknirschend anerkennen musste.

Nach dem Abpfiff sanken die Jungs enttäuscht auf den Rasen, aber ich fand, dass wir trotz des null zu fünf erhobenen Hauptes nach Hause fahren konnten. Wir hatten schließlich die ganze Zeit gekämpft und nie aufgegeben. Die Bayern waren auch einfach nicht der Gegner, gegen den wir unsere Punkte eingeplant hatten, schon gar nicht auswärts. Ich hatte das komplette Spiel erst auf der Bank und dann beim Aufwärmen verbracht und verwendete meine eingesparte Energie darauf, Gidi und Michi aufzubauen. Schon in der Kabine waren wir uns einig: Die Einstellung hatte heute gestimmt, das Ergebnis und die Punkte würden nächste Woche im Heimspiel gegen Stuttgart folgen.

 

*

 

Am Montag war ich gerade vom zweiten Training des Tages nach Hause gekommen und hatte mich aufs Sofa fallen lassen, als mein Handy klingelte. Als ich den Namen auf dem Display sah, strahlte ich. „Ramin!“

„Hey, du.“ Dunkel, warm, rau. Ich schloss die Augen und unterdrückte ein Lachen. „Wie läuft’s? Hast du dich einigermaßen von Freitag erholt?“

Er hatte gefragt, wie es ausgegangen war, und ich hatte es ihm geschrieben, aber wir hatten uns nicht länger darüber ausgetauscht. Jetzt zuckte ich die Schultern. „Klar. Ich meine, es war eine ziemlich heftige Niederlage, aber es war in München gegen die beste Mannschaft Deutschlands. Wir haben alles versucht, aber wir hatten die drei Auswärtspunkte jetzt nicht unbedingt einkalkuliert. Wir haben uns quasi schon direkt nach dem Abpfiff nur noch auf Stuttgart konzentriert.“

„Gegen die spielt ihr also als nächstes, ja? Wie war das erste Spiel von denen?“

„Eins drei gegen Köln verloren. Aber Stuttgart hatte ungefähr tausend Chancen. Sie hätten gewinnen müssen, sie waren die bessere Mannschaft.“

„Also wie stehen eure Chancen, was meinst du?“ Sein Ton war spielerisch, aber es schwang eine Herausforderung mit.

Ich grinste nur. „Hundert Prozent. Wir spielen zu Hause, und wir werden gewinnen.“

“So einfach ist das, was?“

Sein Grinsen konnte ich von London bis nach Hamburg hören. Meins wurde gleich noch breiter. „Jap. So einfach ist das.“

Er lachte leise. Ein Schauer lief meinen Rücken hinab. Was würde ich darum geben, ihn jetzt auf der Stelle herbeamen zu können.

„Klingt, als ob ich das nicht verpassen sollte, oder?“

Mein Mund öffnete sich. Einen Moment starrte ich regungslos den Couchtisch an. Ramin wollte …

„Du kommst?!“ Mit einem Satz war ich auf den Füßen. Ich presste mir das Handy so fest ans Ohr, dass sich die Kanten in meine Wange gruben.

„Tja, kommen kann ich nun mal am besten.“

Ich stieß die Luft aus. „Oh komm schon, Ramin! Kannst du dich nicht einmal unterhalten, ohne über Sex zu reden?“

Er schnaubte. „Könnte ich, aber wo bleibt denn da der Spaß? Also wie siehts aus, willst du nun, dass ich dabei bin, oder nicht?“

Er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! „Natürlich will ich!“ Das hatte ich fast geschrien. Hoffentlich hatte er sein Handy nicht so dicht ans Ohr gepresst wie ich meins. Ich lachte, fuhr mir mit der handyfreien Hand durchs Haar und versuchte, die nächsten Worte in normaler Lautstärke loszuwerden. „Wann willst du denn herkommen?“

„Also, ich muss die Vorstellungen am Freitag und am Montag machen. Ich kann also am Samstag rüberfliegen und am Montag gegen Mittag zurück. Klingt das okay?“

“Klingt super!“ Ich strahlte. Am liebsten hätte ich gesungen und getanzt. Ramin würde kommen, hierher, zu mir! Dieses Wochenende schon! Ich würde ihn wiedersehen, ihm die Stadt zeigen, mein Hamburg, er würde mich spielen sehen …

Shit. Das Spiel. Es war das Topspiel um 18.30 Uhr am Samstagabend, und wenn er erst am Samstag kommen konnte … „Warte, scheiße, nein, ich kann dich am Samstag nicht abholen, vor dem Spiel komm ich nicht weg. Kannst du … ich meine …“

Komm schon, eine Idee. Irgendeine. Aber mein Kopf war leer. Ich konnte ihn am Spieltag auf keinen Fall abholen. Und wenn er am Freitagabend noch auf der Bühne stehen musste, konnte er nicht vorher anreisen. Und was konnte ich tun? Finn als Abholkommando schicken?

Ein hohles Lachen stieg in mir auf. Ja sicher. Super Idee. Eine bessere Methode, um sicherzustellen, dass er nie wieder herkommt, könnte dir nicht einfallen, oder?

Ich war drauf und dran, wirklich zu verzweifeln, da drang Ramins ruhige Stimme wieder an mein Ohr. „Kein Problem, ich fahr einfach direkt ins Stadion. Vielleicht schau ich mich noch kurz in der Stadt um, wenn ich zu früh bin. Wann geht denn das Spiel los?“

„Um halb sieben deutscher Zeit. Für dich also um halb sechs.“ Ich zögerte. Ich hätte ihn schon gerne abgeholt. Und die Stadt wollte ich ihm auch zeigen, ich wollte nicht, dass er meine Heimat ohne mich kennenlernte. Aber wenn es nicht anders ging … „Na gut. Ich schick dir ein Ticket, per Mail. Aber …“ Ich biss mir auf die Lippe. Wenn er noch nie hier gewesen war … „Bist du sicher, dass dus allein findest? Ich meine, ich könnte …“

Was ich hätte tun können, wusste ich nicht, denn ich würde ja auf jeden Fall bei der Mannschaft sein müssen. Aber Ramin unterbrach mich schon mit einem Schnauben. „Martin, ich bin erwachsen, ich kann Stadtpläne lesen und das Internet benutzen, und ich hab mich schon oft in Großstädten zurechtgefunden. Ich komm schon klar.“

Ich seufzte. Aber gleichzeitig lachte ich. Natürlich hatte er recht. Und immerhin hieß das, dass er wirklich kommen würde. „Okay. Jedenfalls, nach dem Spiel wartest du einfach im VIP-Bereich, ich komm dich dann abholen.“

“Ich kriege ein VIP-Ticket?” Es war deutlich zu hören, wie sehr ihm dieser Gedanke gefiel.

Ich grinste. „Na klar!” Jedem Spieler standen pro Spiel bis zu vier Karten zur Verfügung, und das waren alles VIP-Plätze. Einen Herzschlag hielt ich inne, den Mund noch leicht geöffnet. Auf meiner Zunge lagen weitere Worte bereit. Worte, die sich darum drehten, wofür VIP stand. Very Important Person. Sehr wichtige Person. Und ein für mich war auch dabei.

Ich schluckte. Die Worte verschwanden. Es war zu früh. Zu viel. Zu viel zu früh. „Na dann …“ Meine Stimme klang plötzlich belegt. Ich räusperte mich. „Bis Samstag!“

„Bis dann!“

Vermutlich hatte er schon fast aufgelegt, als mir noch etwas einfiel. Etwas sehr Wichtiges. Ich riss das Handy wieder ans Ohr. „Warte, Ramin?!“

„Ja?“

Ich hielt inne. Wie sagte ich es am besten? Auf keinen Fall wollte ich wieder einen Streit anfangen. Aber raus musste es, unbedingt. Dafür war es zu verdammt wichtig. „Du wirst nicht – ich meine – beim Spiel, du weißt schon, mit meinen Mannschaftskollegen und den Fans und allem? Die kennen mich alle, also … Du bist dann als mein Freund da, okay? Ich meine, als ein Freund. Nicht mehr.“

Schweigen. Nur sein Atem war zu hören. Ich bearbeitete meine Unterlippe mit den Zähnen. Er seufzte. „Klar. Als ein Freund.“

Seine Stimme war flach und monoton. Er klang nicht glücklich. Aber ich atmete aus. Er musste nicht begeistert sein. Er musste nur den Mund halten. „Danke.“

Er lachte schnaubend. „Ja. Egal. Bis dann. Tschau.”

Es klickte. Er hatte aufgelegt. Langsam ließ ich das Handy sinken. Was war das jetzt gewesen? Enttäuschung? Wut? Bereute er jetzt, dass er gesagt hatte, er würde kommen?

Ich biss mir auf die Lippe. Aber er hätte es ja sagen können, wenn er seine Meinung geändert hätte, und das hatte er nicht. Und wenn er hierherkommen wollte, in meine Welt, musste er eben nach meinen Regeln spielen. Er sollte sich nicht so anstellen. Er würde mich ja trotzdem bekommen, drüben in meinem Zimmer, wo uns keiner sah und keiner hörte und wir nichts waren als nur er und ich. Er und ich …

Ich richtete den Blick auf die Zimmerdecke. Ich würde ihn sehen. Bald. Am Samstag schon! Und diesmal hatte er angerufen, diesmal würde er sich ins Flugzeug setzen, diesmal würde er mir zuschauen! Und Finn konnte ihn auch endlich kennenlernen, dann würde er sehen, dass er Unrecht hatte, dass Ramin und ich viel mehr waren als nur Sex …

Ich breitete die Arme aus, stieß ein Triumphgeheul aus und ließ mich lachend in die Sofakissen fallen. Finn würde Augen machen, wenn ich es ihm erzählte. Grinsend lehnte ich den Kopf zurück und schloss die Augen. Jetzt musste ich am Samstag nur noch in der Startelf stehen. Und das würde ich. Koste es, was es wolle.

Chapter 24: Rocket Man

Chapter Text

  1. Kapitel: Rocket Man

 

„Heute ist unser Tag! Heute kämpfen wir, heute rennen wir, heute spielen wir hier Fußball! Das ist unser Stadion und unser Sieg! Heute geht unsere Saison los! Hier sind heute 50.000 Fans, die wollen uns alle gewinnen sehen! Und das machen wir heute, die Stuttgarter hauen wir weg! Auf geht’s, NUR DER – “

„– HSV!“

Aus elf Kehlen schmetterten wir unseren Verein in den Kreis, und ich spürte die Wucht, meine eigene Anspannung und die meiner Teamkollegen in jeder Faser meines Körpers. Nach Johans Worten lösten wir uns voneinander, schlugen noch ein paarmal die Hände zusammen, und in jedem Augenpaar sah ich Fokus, Wille, Gier.

Ich pustete durch, fuhr herum, zog einen kurzen Sprint an und sprang zum imaginären Kopfball hoch. Mein Blick fiel auf die Nordtribüne. Alles dort war blau, weiß, schwarz, Fahnen flogen, Hände waren in der Luft. Das Stadion war ausverkauft, trotz des null zu fünf gegen Bayern, trotz des Pokalaus in Jena. Unsere Fans waren hier. Sie standen hinter uns, sie würden uns pushen und nach vorne schreien. In der ersten Halbzeit würden wir die Nordtribüne im Rücken haben, in der zweiten auf sie zu spielen, auf den Wall an Geschrei und Gesängen und Liebe und Leidenschaft. Für sie. Für sie und für mich und für uns. Und für ihn.

Ich atmete durch und wandte mich nach rechts, in Richtung Haupttribüne und Trainerbänke. Gidi kam mir schon entgegen. Ich hob die Hände, er schlug ein, unsere Oberkörper stießen gegeneinander. „Auf geht’s, das holen wir uns!“

Ich sah den Stahl in seinen Augen, spürte das Brennen in den Muskeln seiner Arme. Dann trennten wir uns und nahmen unsere Positionen ein, er links, ich rechts, zusammen auf der Doppelsechs. Ein Zwanzig- und ein Neunzehnjähriger, als Bindeglied zwischen Offensive und Defensive, als Ideengeber und Lückenstopfer, als Antreiber und Drecksarbeiter. DER KINDER-RIEGEL, würden die Zeitungen am Montag schreiben. Ich grinste. Wir würden ihnen zeigen, was der Kinderriegel draufhatte.

Vielleicht hatte Bruno nach der Besprechung vor dem Bayernspiel sein Ohr an die Tür gepresst und gelauscht, denn auch Michi stand wieder in der Startelf, vorne rechts, wie in München. Ivo auf dem anderen Flügel und Schippo im Sturm hatten ihre Positionen ebenfalls behalten, und Lewis war auch wieder in der Startelf, allerdings diesmal als echter Zehner und nicht wie gegen Bayern als dritter Sechser. Heute ging es nicht ums Mauern. Heute ging es ums Gewinnen.

In der anderen Hälfte nahmen die Stuttgarter Aufstellung. Ich suchte und fand die Nummer 10, Daniel Didavi. Er stand auf dem linken Flügel bereit, aber eigentlich war er der Spielmacher, der im VfB-Spiel die Ideen hatte und bei dem alle Fäden zusammenliefen. Er war meine Aufgabe, meine und Gidis, und wir durften ihm keinen Zentimeter Platz lassen, hatte Bruno uns in der Videoanalyse eingeschärft. Er sah Lücken, wo eigentlich keine waren, konnte seine Mitspieler mit wunderbaren Pässen bedienen und hatte auch selbst einen guten Abschluss. Bei der Stuttgarter Niederlage gegen Köln letzte Woche war er es gewesen, der den Treffer für die Schwaben erzielt hatte. Ich starrte ihn an, in seinem schwarzen Trikot mit dem charakteristischen roten Brustring, wie er da an der Seitenauslinie vor unserer Gegengerade auf den Anpfiff wartete. Heute schießt du kein Tor. Heute nicht.

Didavi war nicht der einzige Spieler, auf den wir aufpassen mussten. Filip Kostic auf dem rechten Flügel war pfeilschnell, und Ivo, Gidi und ich würden unseren Linksverteidiger Matze gegen ihn immer unterstützen müssen. Im Eins-gegen-eins war Kostic kaum zu verteidigen. Die Stürmer Daniel Ginczek und Martin Harnik waren abgezockt und torgefährlich, und der Kapitän Christian Gentner auf der Sechs konnte das Spiel aus der Tiefe genauso gestalten wie Didavi weiter vorn. Die Stuttgarter waren gegen Köln überlegen gewesen, hatten sich elf Chancen herausgespielt und hätten zwingend gewinnen müssen. Aber hinten waren sie verwundbar. Köln hatte sie dreimal ausgekontert, und Przemyslaw Tyton, ihr Torwart, war in der Sommerpause neu gekommen, hatte letzte Woche zum ersten Mal Bundesliga gespielt und dabei keinen souveränen Eindruck gemacht. Brunos Worte in der Videoanalyse hallten durch meinen Kopf. Schießen. Schießen und nachsetzen.

Schiedsrichter Günter Perl stand am Mittelkreis und sortierte noch seine Karten und seinen Notizblock. Mein Blick wanderte nach links und schweifte in Sekundenschnelle über die Sitzreihen auf der Haupttribüne. Da oben. Einer von den kleinen Flecken da oben war er und beobachtete mich. Mich, im weißen Trikot, der roten Hose, den blauen Stutzen und blauen Fußballschuhen. Meiner Dienstkleidung. Meinem Kostüm. Dem Traum, den ich immer hatte tragen wollen. Und jetzt zum ersten Mal begutachtet von meinem anderen Traum, dem aus der anderen Welt. Die zu vereinen eigentlich unmöglich war. Und doch war er hier. Und ich war hier.

Ich holte Luft und richtete den Blick wieder nach vorne. In der Bundesliga hatte ich noch kein Tor geschossen. Das war noch so ein Traum. Und heute wäre ein sehr, sehr guter Zeitpunkt.

Perl pfiff, und ich rannte los. Von der ersten Sekunde an klebte ich an Didavi, suchte den Körperkontakt, auch wenn er nicht am Ball war, und wenn er angespielt wurde, ging ich sofort auf den Ball, ließ ihm schon bei der Annahme keine Luft zum Atmen. Einmal konnte ich die Kugel ins Aus spitzeln, das zweite Mal zwang ich ihn zu einem Fehlpass. Die Fans sangen, hüpften, schrien. Der Lärm füllte meine Ohren als dumpfes Dröhnen.

Unser unbändiger Wille aus dem Mannschaftskreis übertrug sich aufs Spiel. Schon in der ersten Minute traf Ivo nach einer Flanke von Rechtsverteidiger Dennis das Außennetz. Aber auch Stuttgart erfüllte das, was unsere Trainer uns von ihnen vorhergesagt hatten, und holte schnell den ersten Eckball heraus, aber auch sie trafen nur das Außennetz.

Überall auf dem Feld war es Kampf, Kampf, Kampf. Raumgewinn gab es nur durch bedingungslose Zweikampfführung. Ich stürzte mich hinein, mit Didavi, mit Ginczek, mit Harnik. Rechts, links, vorne, hinten – wo einer von uns allein gegen einen Stuttgarter stand, war ich zum Doppeln, und wenn der Ball erobert war, ging mein Kopf nach oben, suchte ich den freien Mann, den Pass in die Tiefe. Wenn unsere Innenverteidiger Johan und Emir am Ball waren, ließ ich mich fallen, bot mich an, und wenn ich Platz hatte, drehte ich auf und ging mit großen Schritten nach vorne, Ball am Fuß, bis zum richtigen Moment für den Pass. Mal nach außen, mal in die Mitte, und wenn es nicht anders ging, zur Seite zu Gidi oder zurück nach hinten.

Nach gut zehn Minuten gab es im eigenen Strafraum Freistoß für uns, nachdem wir Didavi ins Abseits gestellt hatten. René führte aus und spielte zu Johan. Ich ließ mich fallen. „Ja!“

„Dreh!“

Ich bekam den Ball in den Fuß, drehte mich mit dem ersten Kontakt um 180 Grad und sah, wie ich es nach Johans Kommando erwartet hatte, viel freien Rasen vor mir. Ich nahm Tempo auf. Von rechts kam Didavi. Ich lenkte meine Schritte nach links und brachte den Körper zwischen Ball und Gegner. Gidi war frei, schräg hinter mir. Aber dann wäre das Tempo wieder draußen. Ivo war zugestellt. Didavi kam näher. Lewis war auch zu, Schippo bewegte sich an der Abseitslinie zwischen den Innenverteidigern. Lewis gab ihm ein Zeichen und setzte zum Sprint an. Ich spürte Didavi in meinem Rücken. Schippo kam entgegen, zog den Innenverteidiger mit. Lewis ging tief, noch war die Lücke nicht offen, gleich –

Ein Stoß im Rücken. Ich stolperte nach vorn, über den Ball, und fiel. Der Pfiff kam sofort. Didavi hatte versucht, an den Ball zu kommen, aber nichts als mich erwischt – natürlich. Ich hatte ja gewusst, dass ich den Ball komplett von ihm abgeschirmt hatte. Aber die vielversprechende Kreuzbewegung von Lewis und Schippo war damit natürlich dahin.

Ich stand auf, legte den Ball hin und fand Lewis, der mir jetzt entgegenkam. Er nahm links Ivo mit. Kostic hatte ihn laufen lassen, und der Stuttgarter Rechtsverteidiger Florian Klein hatte geschlafen und stand recht weit weg. Ivo nahm Tempo auf. Lewis und Schippo besetzten den Strafraum, aber da hatte Stuttgart eine Vier-zu-zwei-Überzahl. Der Rückraum war ziemlich verwaist. Ich zog den Sprint an. „Ivo, ja!“

Sein Blick fand mich. Sein Pass auch. Annahme rechts, vorlegen in den Lauf. Kopf hoch. Noch recht weit weg. Schießen. Schießen und nachsetzen. Tempo. Linken Fuß aufsetzen, Stollen in den Rasen. Den rechten nach hinten schwingen. Durchziehen. Vollspann.

Mein Kopf schoss hoch. Die Kugel zischte über den Rasen, flach und schnell, an allen Beinen vorbei. Tyton tauchte ab, machte die Hände auf – und hielt ihn fest.

„MANN!“ Ich legte den Kopf in den Nacken und schrie den Abendhimmel an. Platzierter, ich hätte platzierter schießen müssen, und vielleicht noch etwas härter. Verdammt!

Ich spürte einen Klaps auf der Schulter. Lewis war schon auf dem Weg zurück. „Gut so Junge, weiter!“

Die Fans applaudierten. Tyton legte sich den Ball zum Abstoß zurecht. Mit kleinen, schnellen Schritten lief ich rückwärts, die Augen überall, auf der Suche nach Ginczek, Harnik, Didavi. Ich fand Ginczek bei Emir und Harnik bei Gidi. Der fing meinen Blick auf und klatschte ebenfalls in die Hände. „Gut so, Martin, der Nächste sitzt!“

Didavi stand halblinks, und frei. Noch bevor Tyton abgeschlagen hatte, klebte ich wieder an ihm.

Wenn wir den Ball hatten, spielten wir nach vorn. Gerade über links, über Ivo, ging viel. Er holte einen Freistoß heraus und trat ihn selbst genau auf Schippos Kopf, aber der konnte den Ball nicht genau genug platzieren. Immer wieder suchte ich auch im Zentrum nach Anspielstationen, aber da stellte Stuttgart gut zu, und ich musste stattdessen Gidi mitnehmen oder es doch wieder über die Flügel versuchen. Aber nach zwanzig Minuten war die Lücke plötzlich da. Lewis war an der Strafraumgrenze frei, ich spielte – halbhoch. Lewis strauchelte, versuchte, den Pass irgendwie unter Kontrolle zu kriegen, aber vergeblich. Chance dahin.

„AHHHH!“ Mein ganzer Körper vibrierte. Wenn ich den Pass sauber spielte, mir vielleicht nur ein wenig mehr Zeit nahm, mehr Ruhe hatte, hatte Lewis eine super Schussposition. Komm schon. Weiter. Nächster.

Kurz danach gab es Ecke für Stuttgart. Didavi brachte den Ball ins Zentrum, hoch, scharf, im Strafraum fiel er runter, zwischen Fünfer und Elfmeterpunkt, da stand Gentner – und köpfte den Ball direkt auf René, der ihn locker fangen konnte. Ich stützte die Hände in die Seiten und legte den Kopf in den Nacken. Ein Glück. Was für ein Glück. Das war eine Riesenchance gewesen.

René warf den Ball auf Johan ab. Der spielte quer zu Emir. Wieder ließ ich mich fallen, und wieder bekam ich den Ball. Ich nahm den Kopf hoch. Das Zentrum war zu. Wie immer. Aber rechts war Dennis dabei. Ich spielte, er schaute. Michi war eng markiert vom Stuttgarter Linksverteidiger Emiliano Insua. Der Passweg zu Gidi war durch Harnik versperrt. Nach hinten könnte er spielen, aber nach hinten wollten wir nicht. Und Lewis war gedeckt. Er stand allerdings auch schon ziemlich weit vorne, und der Raum um den Mittelkreis war sehr frei. Wenn ich den Ball dort bekommen konnte …

Ich zog den Sprint an. An Didavi vorbei, der nicht richtig folgte. Mittelkreis, Mittellinie, darüber. „Dennis, ja!“

Er schaute. Passte. Shit, der ist aber steil. VERDAMMT steil. Ich zog das Tempo an. Ich war nicht langsam. Aber ein Sprinter war ich nicht. Dennis selber, der einer der Schnellsten bei uns war, hätte den Pass sicher locker bekommen, hätte ihn um das Stuttgarter Bein hinweg mitgenommen, das Bein, das den kürzeren Weg gehabt hatte, das sich lang machte, zuerst am Ball war, ihn vorlegte, dabei leicht anhob, über meinen Fuß hinweg –

Ich rammte die Stollen in den Rasen, riss den rechten Arm hoch, grabschte nach dem schwarzen Trikot, nach der Hose, irgendwas, um den Stuttgarter aufzuhalten. Aber meine Finger fanden nur Luft. Der Stuttgarter Kapitän Gentner hatte die Situation gerochen, hatte gesehen, dass er zuerst am Ball sein würde, und er wusste auch, dass ein Freistoß Mitte der eigenen Hälfte überhaupt nichts wert war im Vergleich zur Konterchance, die sich auftun würde, wenn er sich nicht foulen ließ. Also ließ er sich nicht foulen.

Ich riss mich herum, rannte wieder los, diesmal Richtung eigenes Tor. Aber ich konnte nur zuschauen, wie Gentner den Kopf hochnahm und einen Pass in den Fuß von Didavi spielte, der kurz hinter der Mittellinie völlig freistand. Mit dem ersten Kontakt drehte er sich auf und ging mit großen Schritten auf Strafraum und Tor zu, den Ball eng am Fuß, den Kopf oben. Dennis jagte von links, Gidi von rechts hinterher, aber beide waren zu weit weg, und ich war noch nicht mal wieder in der eigenen Hälfte. Kurz vor der Strafraumlinie nahm Didavi Tempo heraus, lockte die Innenverteidiger, täuschte den Schuss an, zog zurück, ließ Johan aussteigen. Emir grätschte, und Didavis Fuß streichelte einen perfekten Steckpass an Emirs Stollen vorbei auf Ginczek, der im richtigen Moment gestartet war. Allein vor dem Tor holte er aus und vollendete mit einem eleganten Schlenzer an René vorbei zum eins zu null für Stuttgart.

Hinter dem Tor auf der Nord hielten die Fahnen mitten im Schwenken inne, fror der Gesang in der Silbe ein. Gidi brach den Sprint ab. Dennis brach den Sprint ab und vergrub das Gesicht im Trikot. Auch mein Tempo riss ab, lief aus in den paar Schritten, die ich brauchte, um stehenzubleiben. Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und krallte die Hände ins Haar. Ich hätte nicht durchziehen dürfen. Nach Dennis‘ Pass, sofort danach, hätte ich erkennen müssen, dass ich nicht rankommen würde, hätte Tempo rausnehmen und in den Defensiv-Modus schalten müssen. Dann wäre ich in den Zweikampf gekommen, hätte den Raum versperren, vielleicht den Ball zurückerobern oder zumindest ganz sicher foulen können. Dann wäre der Konter nicht möglich gewesen. Dann wäre das Tor nicht gefallen. Aber ich hatte nur die Offensive gesehen, den freien Raum, die gute Flügel- und Strafraumbesetzung, die Chance, die wir gehabt hätten, wenn ich an den Ball gekommen wäre. War ich aber nicht. Und Gentner, der dreißig Jahre alte Gentner mit fast dreihundert Bundesligaspielen, hatte das genau gewusst und die Situation genutzt.

Ich riss die Augen auf, löste die Hände aus den Haaren, schüttelte den Kopf. Egal. Weiter. Keine halbe Stunde gespielt. Genug Zeit. Ich lief zu Dennis, schlug ihm auf den Rücken, zog ihm das Trikot vom Gesicht. „Komm schon, weiter, nichts passiert! Das holen wir uns noch!“

Ich drehte mich um und lief zurück auf meine Position. Gidi klatschte in die Hände. Lewis klatschte in die Hände und rief irgendwas. Hinter mir schallten von der Nordtribüne „HSV, HSV, HSV!“-Rufe durchs Stadion.

Ich atmete tief ein, stellte mich sprintbereit hin und fixierte den Ball auf dem Anstoßpunkt. Weitermachen. Weiterkämpfen, weiter nach vorne spielen. Ausgleichen. Führen. Gewinnen.

Gleich im ersten Angriff nach Wiederanpfiff suchte Ivo den Abschluss, schoss aber drüber. Nach dem Stuttgarter Abstoß gewann Dennis das Kopfballduell. Der Ball sprang zu Michi, der ihn runternehmen wollte, aber mit dem ersten Kontakt versprang ihm die Kugel ins Aus. Ich klatschte in die Hände. „Weiter, weiter!“

Während sich Insua Zeit mit dem Einwurf ließ, mischte sich von der Gegengerade etwas in die Anfeuerungsrufe der Nord von hinten. Schriller. Schneidender. Pfiffe? Ich schüttelte den Kopf. Egal. Gar nicht hinhören. Wenn das wirklich von Leuten kam, die im HSV-Trikot hier saßen, waren das nicht die Fans, die für uns zählten.

Weiterhin war es ein Spiel mit vielen Zweikämpfen. Ich wurde im Mittelfeld von Stuttgarts zweitem Sechser Lukas Rupp von den Beinen geholt, und gleich darauf sah Michi die erste Gelbe Karte, nachdem er Kostic nur durch ein Foul am Sprint hatte hindern können. Didavi hatte sein Assist zum Tor offensichtlich richtig Auftrieb gegeben, er war jetzt noch agiler als vorher und tauchte überall in der Stuttgarter Offensive auf. Ich klebte weiterhin an ihm, so gut ich konnte, aber mit jeder Minute fiel es mir schwerer, dranzubleiben. Einmal ließ er mich mit einer Körpertäuschung aussteigen, und bevor ich nachsetzen konnte, zog er ab – zum Glück vorbei. Ich stützte die Hände auf die Oberschenkel und sog rasselnd die Luft ein. Meine Lunge brannte. Was war nur los? Es war nur etwas mehr als eine halbe Stunde gespielt, und ich war Sechser und konnte neunzig Minuten lang laufen. Warum wurde ich jetzt schon immer langsamer?

Ich atmete tief ein und stieß mich wieder nach oben. Lächerlich. Das war sicher nur Einbildung. Es würde schon wieder vergehen. Einfach weiterrennen.

Nach Renés Abschlag wurde Lewis von Rupp gefoult, der jetzt auch Gelb sah. Den Freistoß führte Lewis schnell aus, indem er den Ball zu mir spielte. Ich schaute, fand vorne aber niemanden und spielte zurück auf Johan. Der nahm den Kopf hoch und schlug einen langen Ball auf die rechte Seite zu Michi. Insua, der ihn bisher so eng gedeckt hatte, war nirgendwo zu sehen. Michi hatte – und ich hatte keine Ahnung, wie es passiert war – plötzlich ziemlich freie Bahn zum Tor.

„SCHIESS!“, brüllte ich. Der Ball sprang auf, einmal, zweimal, Michi lief nebenher. Warum nimmt er ihn denn nicht an, warum schießt er denn nicht, zur Hölle?!

Aber Michi kriegte seine Füße nicht sortiert. Stuttgarts Innenverteidiger Timo Baumgartl kam schon angelaufen, da tauchte aus dem Nichts Ivo an Michis Seite auf und zog ab. Schnurgerade zischte der Ball ins lange Eck zum Ausgleich.

„JAAAAA!“

Alle sprinteten wir auf Ivo zu. Der ließ sich lachend feiern. Besonders Michi nahm er in den Arm, sagte irgendetwas zu ihm, und beide lachten. Die Fans hüpften und jubelten, die Torhymne schallte durchs Rund, und unser Stadionsprecher Lotto verkündete: „Torschütze unser Spieler mit der Nummer 7, Ivo …“

„ILICEVIC!“, donnerte es aus 50.000 Kehlen.

Während ich zurück auf meine Position lief, warf ich einen Blick nach draußen. Bruno und alle Ersatzspieler standen an der Seitenlinie, klatschten in die Hände und forderten uns gestenreich auf, weiter nach vorne zu spielen. Wieder nahm ich Didavi ins Visier. Du entwischst mir jetzt nicht mehr. Du legst heute keinen mehr auf!

Sofort nach Wiederanpfiff hing ich an seinen Fersen. Wäre der Ball zu ihm gekommen, wäre er sofort weg gewesen. Aber er kam nicht zu ihm. Er kam stattdessen zu Kostic, der an Matze vorbeizog, flankte und im Zentrum Harnik fand, der abzog. Hauchzart ging der Ball am linken Pfosten vorbei.

In den nächsten Minuten rollte Angriff um Angriff auf uns zu. Die Stuttgarter waren offensichtlich nicht glücklich mit dem Spielstand und versuchten mit aller Macht, ihre Führung wiederherzustellen. Ich rannte, grätschte, blockte. Jeder Atemzug riss an meiner Kehle. Wir brauchen Entlastung, wir dürfen uns nicht so einschnüren lassen!

Von Johan bekam ich den Ball, nahm Lewis mit, der ließ aber gleich wieder auf mich prallen. Auf außen suchte ich Matze, aber Kostic spritzte dazwischen, und ich jagte hinterher, grätschte und konnte den Ball gerade so ins Aus klären. Als ich mich wieder aufrappelte, brannte jeder Muskel in meinen Beinen.

Kurz darauf gab es Freistoß für Stuttgart. René pflückte ihn sicher herunter. Er schlug ab, aber wir konnten den Ball nicht festmachen. Wieder war Stuttgart im Ballbesitz. Gentner sah sich im Mittelfeld nach einer Anspielstation um, fand aber keine. Ich klebte an Didavi. Endlich stehen wir mal gut. Ich hatte es noch nicht zu Ende gedacht, als Gentner aus dem Fußgelenk einen hohen Ball hinter unsere Abwehrkette auf Ginczek spielte, der völlig frei vor René stand, diesen umkurvte und den Ball zum zwei zu eins ins leere Tor schoss.

„Abseits!“, schrie unsere Viererkette, aber der Linienrichter schüttelte den Kopf. Das Tor zählte.

Die Stuttgarter versammelten sich in einer Jubeltraube vor der Nordtribüne. Ich starrte hinüber. Dann beugte ich mich vor, Hände auf den Oberschenkeln. Das konnte doch nicht wahr sein. Schon wieder ein Rückstand, so kurz vor der Pause. Und aus dem Nichts, aus einer Situation, in der eigentlich null Gefahr gewesen war.

Ich wuchtete meinen Oberkörper nach oben. War der plötzlich schwer. Und meine Beine waren auch schwer. Diesmal nahm ich meine Position mit langsamen Schritten wieder ein. Während die Stuttgarter zurückliefen, schaute ich auf die Uhr auf dem Bildschirm über der Südtribüne. Fast Halbzeit. Dann einmal sitzen. Nur ganz kurz. Einmal durchatmen. Nur, damit ich dann wieder laufen konnte. Laufen, und sprinten, und grätschen, und in der zweiten Halbzeit das Ergebnis drehen.

Die letzten paar Minuten der ersten Hälfte ging nichts mehr. Stuttgart wollte nicht, wir konnten nicht. Nach einer Minute Nachspielzeit pfiff Perl zur Pause.

In der Kabine ließ ich mich auf meinen Platz fallen und lehnte den Kopf gegen den Spind. Mein Gesicht war klitschnass, und im Spiel waren mir meine Beine zwar schon schwer vorgekommen, aber erst jetzt merkte ich, dass sie leicht zitterten. Ich klammerte die Finger um die Oberschenkel. Was war nur mit mir los? Wann war ich das letzte Mal nach fünfundvierzig Minuten so platt gewesen? In Jena hatte ich erst vor zwei Wochen hundertzwanzig Minuten gespielt, und da war es viel heißer gewesen als heute. Ich griff nach der Flasche neben meinen Füßen und trank gierig.

Derweil hatte auch der Letzte seinen Platz eingenommen, und unser Co-Trainer Eddy hatte die Tür hinter sich geschlossen. Bruno stand in der Mitte der Kabine, leicht in den Knien, und fixierte uns nacheinander mit einem peitschenden Blick. „Jungs, hey, lasst den Kopf nicht hängen! Ihr macht das gut, ja, ihr kämpft, ihr seid dran! Wir haben Chancen, wir sind gut da, wir müssen aber konsequenter werden, vorne und hinten! Spielt ruhiger, ja? Nehmt den Kopf hoch. Sucht den freien Mann. Dann spielen wir. Und traut euch auch die langen Bälle zu. Ja? Wie Johan vor dem eins-eins, habt ihr gesehen, ganz einfach, funktioniert. Jungs, und wenn wir nicht durch die Mitte kommen, spielen wir über außen, da sind wir gut präsent! Ja, Ivo, sehr gut, weiter so!

„Jungs, und in der Abwehr: Macht alle mit. Ja? Unterstützt eure Leute. Kriegt vorne schon Zugriff. Schippo, du musst noch konsequenter anlaufen! Lewis, der Gentner spielt keinen Ball mehr, ohne dass du an ihm dranhängst, verstanden? Und auf außen müsst ihr doppeln, Ivo, Michi. Der Kostic ist sonst zu schnell, der rennt uns weg. Und in der Mitte bleibt ihr an Didavi dran, Martin, Gidi, ständig stören, keinen Platz lassen!“

Bruno drehte sich, einmal rundherum, schaute noch mal in jedes Gesicht. Er stand immer noch in den Knien, seine Arme waren angewinkelt, von den Zehen- bis zu den Fingerspitzen vibrierte er vor Spannung. „JUNGS, HEY! Ist nix verloren, wir haben fünfundvierzig Minuten Zeit, das holen wir uns heute, das gewinnen wir noch, KOMMT!“

Er schrie, und wir schrien ihm entgegen, klatschten, schauten uns in die Augen, pushten uns. Ich warf die Flasche zu Boden und sprang auf. Nacheinander schlug ich meine Handflächen in Michis und Gidis. Die kurze Ruhe hatte meinem Körper gutgetan, aber jetzt war es genug. Jetzt wollte ich raus und weiterrennen.

Bruno stand an der Tür und klatschte mit jedem ab. Ich war der Letzte. Ich schlug meine Hände in seine und wollte Gidi und dem Rest folgen, aber er hielt mich fest. Ein wenig von unten herauf sah er mir in die Augen, und er sprach leise und intensiv. „Martin, du willst zu viel! Du rennst überall hin, bist hinten, vorne, rechts, links, und ständig im Sprint. Das hältst du nicht durch! Du hast es die letzten fünfzehn Minuten schon gemerkt, und du warst völlig kaputt jetzt gerade. Du machst ein gutes Spiel, du bist ganz oft da, du machst viele Sachen richtig, aber du kannst nicht überall hinrennen! Du hast ein Team da draußen, denen kannst du vertrauen. Du kannst nicht alles machen! Wenn du so weiterrennst, muss ich dich nach sechzig Minuten auswechseln, weil du dann gar nicht mehr laufen kannst. Also: Schalt den Kopf ein! Spiel klug! Mach Wege, aber keine unnötigen. Teil dir die Kraft ein, du kannst es doch!“

Er schüttelte meine Hände. Ich schluckte und starrte in seine Augen. Dann nickte ich. Mit einem Schlag auf den Rücken schickte Bruno mich durch die Tür Richtung Spielfeld.

Du rennst überall hin. Und ständig im Sprint. Vertrau deinem Team! Spiel klug! Kraft einteilen! Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Bruno hatte ja so recht. Deswegen war ich so kaputt. Weil ich in der Tat überall hingesprintet war. Ich hatte versucht, überall zu sein, und das Erste, was man lernte, wenn man auf der Sechs spielte, war, dass das nicht ging. Wer das versuchte, war am Ende nicht überall, sondern nirgendwo. Mit Kopf musste man spielen. Schlau. Bedacht. Viel in Bewegung, klar, aber möglichst so laufen, dass man wenig sprinten musste, damit man die konstante Bewegung über neunzig Minuten haben konnte. Gutes Stellungsspiel. Die richtigen Räume besetzen. Mit Kopf spielen. Alles Dinge, die ich eigentlich konnte. Und trotzdem war ich in der ersten Halbzeit wie wild übers Feld gerannt, hatte überall helfen, alles selber machen wollen.

Ich biss die Zähne zusammen. Nach dem Grund brauchte ich nicht lange zu suchen. Aber damit war jetzt Schluss. Es ging schließlich nicht um mich, sondern ums Team. Um unseren Sieg. Um die ersten drei Punkte, die wir so dringend brauchten. Die mussten heute eingefahren werden. Das allein war wichtig. Sonst nichts.

Ich atmete durch und lief im langsamen Laufschritt zurück auf den Rasen. Kein einziges Mal schaute ich dabei hoch zur Haupttribüne, sondern nur aufs Spielfeld.

Gleich nach dem Wiederanpfiff griffen wir wieder an. Lewis konnte einen Kopfball aufs Tor bringen, zielte aber links vorbei. Das Spiel war weiterhin hart. Für ein Foul an Kostic sah Johan Gelb. Ich orientierte mich weiter zu Didavi, und wenn er in meinem Raum war, markierte ich ihn genauso eng wie zuvor. Aber wenn er sich zu weit nach links bewegte, gab ich ihn an Gidi ab, und der schrie wiederum, wenn er zurück zu mir kam. Didavi bewegte sich weiter viel und scheinbar ungebunden an eine bestimmte Position. Dreißig Meter vom Tor entfernt verschaffte er sich gegen Gidi Platz und schoss, zielte aber knapp rechts vorbei. René stieß kurz zu Emir ab. Gidi ließ sich fallen und bekam den Ball. Er schaute. Ich breitete die Arme aus. „Ja!“

Er spielte. Ich nahm an, drehte auf, ging ein paar Schritte nach links Richtung Mittellinie. Die Seite war relativ frei. Kostic war nirgendwo zu sehen, und Rechtsverteidiger Klein kam mir in hohem Tempo entgegen. Hinter ihm war alles offen. Matze zog den Sprint an. Ich hielt den Ball. Klein rannte immer noch auf mich zu. Noch stand er im Weg, aber gleich, auf den freien Passweg warten, warten, Klein war fast bei mir, warten –

Ich schwang den rechten Fuß nach hinten, nach vorn, traf den Ball satt mit der Innenseite. Klein traf auch. Aber nicht den Ball. Sondern mein rechtes Sprunggelenk. Ungebremst und mit voller Wucht.

„AHHHH!“

Da war Gras unter meinem Bein, meinem Arm, meiner Wange. Ich sah es nicht und spürte es kaum. Alles wurde übertönt durch das Heulen im rechten Knöchel, die pulsierenden Wellen, die von dort aus durch meinen Körper rollten, das Bein entlang und den Arm, mit dessen Hand ich den Knöchel umklammerte. Meine Augen waren zugepresst, und für den Moment war nichts wichtig außer atmen, aushalten, warten, dass es besser wurde.

Das wurde es dann auch. Ich machte die Augen auf, sah Rasen und Werbebanden seitwärts und setzte mich mühsam auf. Wo war der Ball? Wo waren meine Mitspieler? Und warum zur Hölle hatte Perl keinen Freistoß gepfiffen?

„Martin, alles okay?“

Das war Gidi. Mein Gesicht war noch verkrampft, aber ich nickte. „Geht schon. Warum gibt’s denn keinen Freistoß?“

„War Vorteil. Dein Pass ist ja noch angekommen.“ Gidi beugte sich zu mir herunter und legte mir die Hand auf den Rücken. „Willst du Eis?“

Ich schüttelte den Kopf. Wenn die Docs auf den Platz kamen, würde das Zeit kosten, die wir nicht hatten, und ich würde danach erst mal vom Feld müssen, was ich nicht wollte. „Ne. Läuft sich schon raus.“

Ich streckte Gidi die Hände entgegen. Er zog mich auf die Füße. Mit zusammengebissenen Zähnen belastete ich den rechten Fuß. Autsch. Davon würde ich noch ein paar Tage was haben. Aber es ging tatsächlich, und es würde sich wirklich rauslaufen, das wusste ich aus Erfahrung.

Unser Angriff war nicht erfolgreich gewesen, und es würde mit Abstoß für Stuttgart weitergehen. Bevor Tyton ihn ausführen konnte, unterbrach Perl das Spiel und knöpfte sich Klein vor. „Nummer 16, das war nur der Gegner, nicht der Ball. Dafür gibt’s Gelb, und beim nächsten Foul gehst du runter.“

Perl sprach laut und energisch, aber Klein schien überhaupt nicht zuzuhören. Er lief schon wieder zurück auf seine Position, hatte dem Schiedsrichter den Rücken zugedreht und die Gelbe Karte nur mit einem kurzen Blick über die Schulter zur Kenntnis genommen.

Perl packte seine Karte wieder ein und pfiff. Tyton schlug ab. Johan gewann das Kopfballduell, und Gidi sicherte den zweiten Ball. Er spielte ihn zu Matze. Von vorne jagte schon wieder Klein heran. Matze hob den Kopf und schlug einen hohen Pass in Richtung Ivo. Kaum dass der Ball seinen Fuß verlassen hatte, traf ihn Klein mit ausgestrecktem Bein und offener Sohle am Schienbein. Matze brüllte und fiel.

Ich brüllte auch, genau wie die Zuschauer. Während Gidi zu Matze lief, sich zu ihm herunterbeugte und die Docs auf den Platz winkte, starrten ich, meine Mitspieler und 50.000 Fans mit ausgebreiteten Armen und forderndem Blick den Schiedsrichter an. Perl wechselte ein kurzes Wort mit seinem Linienrichter und schickte Klein dann mit Gelb-Rot vom Platz. Klein gestikulierte wild und beteuerte seine Unschuld, aber nicht mal seine eigenen Mitspieler machten mit.

Ich drehte mich kopfschüttelnd weg. Zwei eindeutig gelbwürdige Fouls in zwei Minuten, und dann noch beschweren. Eine klarere Gelb-Rote Karte hatte ich selten gesehen. Klein konnte noch froh sein, dass er für das zweite Foul nicht glatt Rot gesehen hatte.

Mein rechter Fuß pochte. Ich biss die Zähne zusammen. Jetzt hatten wir vierzig Minuten in Überzahl. Vierzig Minuten, in denen wir kein Tor mehr kassieren und mindestens zwei schießen würden. Und dann würden wir gewinnen. Hier, zu Hause, vor unseren Fans, für den HSV!

Für Matze ging es nach der Behandlung zum Glück weiter, aber trotzdem reagierten beide Trainer auf die neue Spielsituation. Stuttgart verstärkte die Abwehr, und Bruno nahm Lewis raus und brachte stattdessen Lasso. Stürmer für Mittelfeldspieler. Alles auf Angriff.

Gleich nach den Wechseln erkämpfte sich aber erst einmal wieder Stuttgart den Ball, und Gidi konnte Gentner etwa fünfundzwanzig Meter vor unserem Tor nur regelwidrig stoppen. Den fälligen Freistoß knallte Didavi mit voller Wucht aufs Tor. René brachte gerade noch die Fäuste dahinter. Unsere ganze Mannschaft inklusive Fans feierte ihn für diese Parade. Ich hörte die Schreie, sah die geballten Fäuste und spürte einen Schuss puren Adrenalins. Wir würden heute gewinnen. Wir würden die drei Punkte im Volkspark behalten.

Wir warfen jetzt alles nach vorn. Die Stuttgarter hielten aber dagegen, und es kam weiterhin immer wieder zu Zweikämpfen, Fouls und somit Spielunterbrechungen, was unsere Bemühungen, einen Spielfluss aufzubauen, erschwerte. Immer wieder versuchte ich, den Ball nach vorne zu treiben, fand aber zentral nach wie vor wenig Raum und musste gleichzeitig aufpassen, nicht zu weit mit nach vorne zu gehen und damit Stuttgarter Konter zu riskieren.

Nach einer guten Stunde kam Ivi für Schippo, der sich aufgerieben hatte und kaputt war. Der Wechsel änderte aber erst mal nichts am Spielgeschehen. In den nächsten Minuten gab es gleich drei weitere Gelbe Karten, für Kostic nach einem Foul an Dennis, für Didavi nach zwei Fouls an mir und auch für Gidi nach einem harten Einsteigen gegen Didavi. Wenn das so weitergeht, war Kleins Platzverweis nicht der letzte heute. Ich schaute zur Anzeigetafel. Eine Viertelstunde noch. Das war genug Zeit, aber langsam brauchten wir den Ausgleich. Sonst würde es verdammt eng werden.

Stuttgart ließ sich jetzt bei jedem Einwurf und jedem Abschlag ordentlich Zeit und wechselte auch noch einmal defensiv. Bruno dagegen brachte zehn Minuten vor Schluss Nico für Michi, der alles versucht hatte, dem heute aber wenig gelungen war. Egal. Unser Sieg würde auch sein Sieg sein.

Wie wenig Zeit noch auf der Uhr war, zeigte sich auch auf dem Platz. Ivi drosch eine Flanke von links meilenweit über das Tor, und auch Ivo zielte bei einem Schuss von der Strafraumgrenze zu hoch. Ich fluchte innerlich. Eine halbe Stunde schon spielten wir mit elf gegen zehn und hatten noch kein Tor geschossen. Das musste sich ändern! Jetzt!

Beim nächsten Stuttgarter Abschlag erwischte ich das richtige Timing beim Kopfball und gewann das Luftduell gegen Didavi, der bei all seinen Qualitäten wenigstens einen Zentimeter kleiner war als ich. Lasso, der sich ins Mittelfeld hatte zurückfallen lassen, sicherte den Ball und spielte erst mal hinten rum über Emir. Der schaute, fand aber ganz vorne keine Anspielstation. Ich forderte den Ball und bekam ihn. Vor mir war etwas Platz, und ich ging ein paar Schritte. Links brüllte Ivi nach dem Ball. Ich schaute und spielte. Ivi lief auf seinen Gegenspieler zu, täuschte eine Bewegung an und ging locker am Stuttgarter vorbei, der viel zu früh gegrätscht hatte.

„SCHIESS!“, brüllten ich und 50.000 Fans.

Ivi schoss. Der Ball prallte am Bein eines Stuttgarters ab und flog in Richtung rechter Pfosten des Stuttgarter Tores. Er würde vorbei gehen. Verdammt, verdammt, VERDAMMT!

Aber da kam Lasso, im Vollsprint, sein Trikot und sein Unterhemd, das er seit seinem Dreierpack in Nürnberg vor zwei Jahren immer als Glücksbringer trug, aufgebläht hinter ihm, und da war kein Verteidiger weit und breit, nur Tyton, der einen unsicheren Schritt aus seinem Tor machte, zögerte, nicht an den Ball kam – „JAAAAAAAA!!!“

Lasso hatte geschossen, den Ball ins Tor geschoben, er war drin, drin, drin, der Ausgleich war geschafft!

Etwas in mir explodierte. Wie alle meine Teamkollegen rannte ich nach vorne, aber ich lief nicht zur Jubeltraube um Lasso, sondern zum Tor, schlängelte mich durch die Stuttgarter, riss den Ball aus dem Netz, brüllte mit geballter Faust die Nordtribüne an und trug ihn zum Anstoßpunkt. Als ich meine Position wieder einnahm, waren auch die anderen schon zurück. Ein Blick auf die Anzeigetafel. Noch fünf Minuten. Fünf Minuten für ein Tor.

Stuttgart wechselte Timo Werner für Didavi ein. Neunzehn Jahre war er alt, zwei Monate jünger als ich, pfeilschnell, super Schuss, Torriecher, Juniorennationalspieler. Schon mit siebzehn hatte er in der Bundesliga Spiele und Tore gemacht. Ein Riesentalent. Ich sah, wie das Trikot um seinen Körper flatterte, und presste die Lippen aufeinander. Ihr Riesentalent konnten die Stuttgarter sich sonst wohin stecken. Dieses Spiel gehörte uns.

Stuttgart kam gar nicht mehr in Ballbesitz, wir schnürten sie komplett in ihrer Hälfte ein. Ich bekam den Ball von Johan, spielte auf Gidi, der schlug einen langen Ball in die Mitte, das Riesentalent klärte unzureichend nach außen, Nico schnappte sich die Kugel, flankte – „UHHHH!“

Ich ging in die Knie, raufte mir die Haare, schrie mit den Fans mit. So knapp hatte Ivi in der Mitte den Ball verpasst! So knapp!

Abstoß Stuttgart. Tyton ließ sich viel Zeit, brachte den Ball dann aber doch nach vorne. Gidi gewann das Kopfballduell. Ich nahm den Ball herunter und ging mit langen Schritten durchs Mittelfeld. Wo war Platz? Im ersten Augenblick sah ich keine Lücke, aber dann lief sich Ivo links frei. Ich spielte. Ivo schaute, flankte. Da war Lasso im Strafraum, er kam an den Ball, brachte ihn aber nicht aufs Tor, sondern köpfte seitlich nach links, und da war – Ja, sah ich das denn richtig? Was zur Hölle machte er da vorne? – plötzlich Johan völlig frei, er hielt den Fuß hin, Tyton streckte sich, verpasste –

 „JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!!“

Der Volkspark explodierte. Johan drehte nach links ab, breitete die Arme aus, strahlte, sprang in die Luft. Ich sprintete auf ihn zu, brüllend wie am Spieß. Etwas stieß in meine linke Seite, und ich fiel Gidi um den Hals und er mir, wir umarmten uns, klammerten uns aneinander fest, brüllten uns gegenseitig ins Ohr und hörten es kaum über die Ekstase um uns herum, und irgendwie schafften wir es, weiterzulaufen, auf Johan zu, auf die Jubeltraube, die sich um ihn gebildet hatte. Ich sprang auf Lassos breiten Rücken, und alle waren da, alle, selbst René war aus seinem Tor gestürmt und feierte mit, hier vor der Nord, neben dem Stuttgarter Tor, auf das wir so lange angerannt waren und das jetzt endlich eingenommen war.

Der Rest war Rausch. Als Perl wieder anpfiff, war die reguläre Spielzeit schon vorbei. Die vier Minuten Nachspielzeit überstanden wir mit Kampf, Fouls und Leidenschaft, angetrieben von 50.000 frenetischen Fans. Und dann war es geschafft. Perls Schlusspfiff ging im ohrenbetäubenden Gebrüll unter. Gidi und ich fielen uns um den Hals, Michi und die anderen kamen von draußen aufs Spielfeld gestürmt, Bruno schnappte sich jeden von uns nacheinander, und die Fans sangen und hüpften und ließen Fahnen und Schals fliegen. Auf jedem Gesicht war nur Strahlen und Lachen, im Mannschaftskreis, vor der Kurve mit den Fans und in der Kabine, wo Johan sich von jedem Einzelnen von uns die Frage anhören musste, wohin er sich vor dem drei zu zwei eigentlich verlaufen habe. Er lachte nur.

Das kühle Wasser unter der Dusche war herrlich. Diesmal musste ich mich von niemandem vertreiben lassen. Ich lachte, scherzte, feierte mit meinen Teamkollegen, und unsere Kabine war der beste Ort auf der Welt, die schweren Muskeln der schönste Schmerz, mein Kopf leicht und frei und schwindelig. Aber irgendwann war ich fertig, hatte mein Zeug gepackt, trug Jeans und T-Shirt, die Haare noch feucht und wunderbar kühl. Mit der Tasche über der Schulter und Verabschiedungen nach links und rechts verließ ich die Kabine, durchquerte die Bushalle und stieg die Treppen in Richtung VIP-Bereich hinauf.

Seit dem Abpfiff war schon relativ viel Zeit vergangen, und einige Besucher kamen mir auf dem Weg zum Ausgang entgegen. Ein paarmal wurde ich aufgehalten, bekam Schulterklapser, Händedrücke, Gratulationen. Unser Vorstandsvorsitzender Didi Beiersdorfer blieb stehen und gab mir die Hand, und in seinen Augen las ich neben Freude vor allem Erleichterung. Klar: Wir waren mit zwei Niederlagen gegen Jena und Bayern in die Saison gestartet. Wenn wir heute auch verloren hätten, wäre es sehr früh sehr ungemütlich geworden.

Ich bedankte mich für die Glückwünsche, aber ich blieb nicht lange stehen. Ich war fast da. Nur noch zwei Treppen hoch. Ich konnte nicht mehr warten. Ich musste ihn sehen. Jetzt.

Meine Schritte wurden schneller. Die Sporttasche schlug gegen meinen Oberschenkel. Letzte Treppenstufe, nach rechts um die Ecke. Links durch die Tür, aufreißen, umschauen, suchen, schnell, wo –

Und da war er. In schwarzer Jeans und schwarzem Hemd, die oberen beiden Knöpfe geöffnet, saß er auf einem der weißen Ledersofas, quasi direkt bei der Tür. Eine schwarze Reisetasche stand neben seinen Füßen auf dem Boden. In der rechten Hand hielt er sein Smartphone, aber in dem Moment, da mein Blick ihn fand, zuckten seine Augen hoch. Das Handy verschwand in seiner hinteren Hosentasche, und auf seine Lippen glitt ein Lächeln. Schmal, fast unsichtbar. Aber seine Augen leuchteten hell wie draußen das Flutlicht. Er erhob sich, während ich die paar Schritte auf ihn zustürmte. Erst, als ich so nah bei ihm war, dass ich ihn hätte berühren können, wenn ich die Hand ausgestreckt hätte, blieb ich stehen.

„Well?“ Meine Stimme war atemlos und, wie immer nach einem Spiel, leicht heiser. Eine Haarsträhne fiel mir in die Augen, und ich strich sie ungeduldig zurück. „What do you think?“

Er sah mich an. Seine Lippen lagen aufeinander, seine Augenbrauen waren leicht gehoben. In seinem Blick lag etwas, das ich dort noch nicht gesehen hatte, ein Funkeln, das fast genauso aussah wie das Brennen der Feuer und doch ganz anders war. „It was … interesting.“

Seine Stimme war tief, rau und so leise, dass niemand außer mir ihn hörte. Seine Augen verharrten einen Moment auf meinem Gesicht, dann zuckten sie hinunter zu meinen Schuhen. „How’s your foot?“

„My foot? Oh.“ Ich hatte einen Moment gebraucht, bis mir Kleins Foul wieder eingefallen war. „Fine. It’s gonna be sore for a few days, but it’s nothing serious.”

“Good.” Er sah mir wieder in die Augen. Auf seinen Lippen spielte immer noch dieses unsichtbare Lächeln.

Ich starrte ihn an. Meine Kehle war trocken. Just be careful later, hätte ich gern gesagt. Try not to lie on it if you can. Und vielleicht hätte er auch gerne noch etwas gesagt. Don’t worry, I’ll be gentle. So was in der Art. Aber keiner von uns tat es. Wir standen nur da, stumm, und sahen uns an.

Schließlich räusperte ich mich. „Ahm, well.“ Meine Stimme krächzte. Ich räusperte mich noch mal. „Ahh … Shall we go, then?“

Er nickte und nahm seine Tasche vom Boden. Ich führte ihn durch die Drehtür nach draußen und die Treppe nach unten zum Parkplatz. Mittlerweile waren viele Besucher schon weg, und wir begegneten auch keinem meiner Mannschaftskollegen. Die, die noch da waren, feierten wahrscheinlich in der Kabine.

Ich sperrte das Auto auf und öffnete den Kofferraum. Wir schmissen unsere Taschen hinein. Ich ging links herum zur Fahrertür, und Ramin, der ebenfalls nach links gezuckt hatte, schüttelte mit einem leichten Grinsen den Kopf und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. Trotz allem grinste ich. Tja. Hier in Deutschland musste man eben rechts einsteigen, wenn man nicht selbst fahren wollte.

Fast zeitgleich schlugen wir die Türen zu. Rumms. Ein geschlossener Raum um uns herum, und drinnen nur wir beide. Ich wandte den Kopf. Ramins Blick sendete Schauer meinen Rücken hinunter. Als er sprach, war seine Stimme genauso leise und rau und tief wie zuvor. „You were good.“ Er lehnte sich ein wenig zu mir herüber. Seine Augen ließen meine nicht los. „Really good. And you looked hot.“

Seine Lippen waren leicht geöffnet. Ich konnte nicht atmen. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung, und ich spürte seine Hand an meinem Oberschenkel, außen, oben, innen.

Mein Kopf schnellte zur Windschutzscheibe, und meine Hand schlug seine weg. „Not here!“ Durch zusammengebissene Zähne presste ich es heraus.

Ich hörte ihn ausatmen. Ein dumpfes Geräusch, als er in die Lehne zurückfiel. „Then go someplace where there aren’t any cameras.“

Das brauchte er nicht zweimal sagen. Mit gefühllosen Fingern schnallte ich mich an und startete den Motor. Hätte ich doch nur noch meine Sporthose an. Die war nicht so eng wie die Jeans und außerdem dehnbar. Beides hätte ich jetzt gut gebrauchen können.

Die Viertelstunde bis zur Wohnung fühlte sich an wie zehn Jahre. Ramin schwieg, ich auch. Die Konzentration, die ich noch zusammenkratzen konnte, brauchte ich fürs Fahren. Und wenn ich noch einmal seine Stimme hörte, würde ich eine Vollbremsung hinlegen und mich auf ihn stürzen, zur Hölle mit der Öffentlichkeit.

Ich schluckte. Komm schon. Nur ein paar Ecken noch.

Und dann waren wir da. Ich schaltete den Motor aus, schnallte mich ab, öffnete die Tür. Ramin war schon draußen. Wir gingen zum Kofferraum, nahmen unsere Taschen hinaus, gingen zur Haustür. Ich sperrte auf. Treppe hoch. Ich voraus, er hinterher. Erster Stock, zweiter. Unsere Schritte hallten durchs Treppenhaus. Der dritte Stock. Wohnungstür. Schlüssel. Ins Schloss. Komm schon. Drehen, aufschnappen, Tür aufdrücken, rein.

Ich ließ die Sporttasche von der Schulter gleiten und wollte mich umdrehen, aber da hörte ich die Tür schon zuschlagen, mit einem lauten Krachen von zu Hause und Sicherheit, und dann spürte ich Ramins Hände an meiner Hüfte, und diesmal stieß ich ihn nicht weg. Ich fuhr herum im selben Moment, wie er mich herumriss, meine Hände flogen zu seinem Hals, und endlich lagen seine Lippen auf meinen. Er presste gegen mich, seine Hände fuhren an meinem Rücken auf und ab, zogen mich an ihn, schlossen die letzten Millimeter Platz zwischen uns, und ich spürte die Härte an meinem Oberschenkel, wie Stahl. Ich stöhnte gegen seine Lippen, zog ihn stolpernd rückwärts den Flur entlang, meine Finger bahnten sich einen Weg zwischen uns und unter sein Hemd …

Ein Räuspern. Ich riss die Augen auf, und mein Kopf schnellte herum. In der Wohnzimmertür stand Finn. Ramin und ich verharrten mitten in der Bewegung, meine Hände an seiner Brust, seine an meinem Rücken, unsere Körper aneinandergepresst.

„Hi.“ Finn schluckte. Mit großen Augen starrte er uns an.

„Hi.“ Mein ganzer Körper war verkrampft. Alles in mir schrie danach, Ramin weiter den Flur entlang und in mein Zimmer zu zerren. Ich wollte Finn jetzt nicht. Ich brauchte Finn jetzt nicht. Aber konnte ich ihn einfach so stehenlassen?

Ich schluckte. Mein Kopf ruckte in seine Richtung. „Ramin, this is Finn, my flatmate. And my best friend.”

Ramin streifte Finn mit einem vielleicht halbsekündigen Blick. „Hi.“ Seine Augen kehrten zu mir zurück. Er lehnte die Stirn gegen meine, seine Hände fuhren meinen Rücken hinauf, schoben mein T-Shirt mit. Seine Erektion presste immer noch gegen meinen Oberschenkel. Er grinste und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. „Where’s your room?“

Er bewegte den Oberschenkel, der zwischen meinen Beinen lag. Ich presste Lippen und Augen zusammen. Finn, es tut mir leid. Aber ich kann nicht anders. „Last door on the left.“ Meine Stimme war nur noch ein Krächzen.

Ramin stieß mich vor sich her, und ich stolperte mit, rückwärts, den Flur entlang, an der Küchentür vorbei, zu meinem Zimmer. Ich löste eine Hand aus Ramins Hemd, fand die Klinke, und wir fielen in den Raum. Bevor Ramin die Tür hinter sich zuwarf, schaute ich noch einmal über seine Schulter. Finn stand im Flur, das Gesicht so blass wie sein Haar. Dann knallte die Tür zu. Ich war allein mit Ramin. Und bis zum nächsten Morgen verschwendete ich keinen Gedanken mehr an irgendetwas anderes.

 

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Referenzen:

 

„Rocket Man (I Think It’s Going to Be a Long, Long Time)“ – aus dem Album „Honky Château” von Elton John und Bernie Taupin. Uni Records / DJM Records, 1972.

 

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Yeah … this was fun. In case you were wondering ;)

Chapter 25: Rocket Man - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Rocket Man

 

„Heute ist unser Tag! Heute kämpfen wir, heute rennen wir, heute spielen wir hier Fußball! Das ist unser Stadion und unser Sieg! Heute geht unsere Saison los! Hier sind heute 50.000 Fans, die wollen uns alle gewinnen sehen! Und das machen wir heute, die Stuttgarter hauen wir weg! Auf geht’s, NUR DER – “

„– HSV!“

Aus elf Kehlen schmetterten wir unseren Verein in den Kreis, und ich spürte die Wucht, meine eigene Anspannung und die meiner Teamkollegen in jeder Faser meines Körpers. Nach Johans Worten lösten wir uns voneinander, schlugen noch ein paarmal die Hände zusammen, und in jedem Augenpaar sah ich Fokus, Wille, Gier.

Ich pustete durch, fuhr herum, zog einen kurzen Sprint an und sprang zum imaginären Kopfball hoch. Mein Blick fiel auf die Nordtribüne. Alles dort war blau, weiß, schwarz, Fahnen flogen, Hände waren in der Luft. Das Stadion war ausverkauft, trotz des null zu fünf gegen Bayern, trotz des Pokalaus in Jena. Unsere Fans waren hier. Sie standen hinter uns, sie würden uns pushen und nach vorne schreien. In der ersten Halbzeit würden wir die Nordtribüne im Rücken haben, in der zweiten auf sie zu spielen, auf den Wall an Geschrei und Gesängen und Liebe und Leidenschaft. Für sie. Für sie und für mich und für uns. Und für ihn.

Ich atmete durch und wandte mich nach rechts, in Richtung Haupttribüne und Trainerbänke. Gidi kam mir schon entgegen. Ich hob die Hände, er schlug ein, unsere Oberkörper stießen gegeneinander. „Auf geht’s, das holen wir uns!“

Ich sah den Stahl in seinen Augen, spürte das Brennen in den Muskeln seiner Arme. Dann trennten wir uns und nahmen unsere Positionen ein, er links, ich rechts, zusammen auf der Doppelsechs. Ein Zwanzig- und ein Neunzehnjähriger, als Bindeglied zwischen Offensive und Defensive, als Ideengeber und Lückenstopfer, als Antreiber und Drecksarbeiter. DER KINDER-RIEGEL, würden die Zeitungen am Montag schreiben. Ich grinste. Wir würden ihnen zeigen, was der Kinderriegel draufhatte.

Vielleicht hatte Bruno nach der Besprechung vor dem Bayernspiel sein Ohr an die Tür gepresst und gelauscht, denn auch Michi stand wieder in der Startelf, vorne rechts, wie in München. Ivo auf dem anderen Flügel und Schippo im Sturm hatten ihre Positionen ebenfalls behalten, und Lewis war auch wieder in der Startelf, allerdings diesmal als echter Zehner und nicht wie gegen Bayern als dritter Sechser. Heute ging es nicht ums Mauern. Heute ging es ums Gewinnen.

In der anderen Hälfte nahmen die Stuttgarter Aufstellung. Ich suchte und fand die Nummer 10, Daniel Didavi. Er stand auf dem linken Flügel bereit, aber eigentlich war er der Spielmacher, der im VfB-Spiel die Ideen hatte und bei dem alle Fäden zusammenliefen. Er war meine Aufgabe, meine und Gidis, und wir durften ihm keinen Zentimeter Platz lassen, hatte Bruno uns in der Videoanalyse eingeschärft. Er sah Lücken, wo eigentlich keine waren, konnte seine Mitspieler mit wunderbaren Pässen bedienen und hatte auch selbst einen guten Abschluss. Bei der Stuttgarter Niederlage gegen Köln letzte Woche war er es gewesen, der den Treffer für die Schwaben erzielt hatte. Ich starrte ihn an, in seinem schwarzen Trikot mit dem charakteristischen roten Brustring, wie er da an der Seitenauslinie vor unserer Gegengerade auf den Anpfiff wartete. Heute schießt du kein Tor. Heute nicht.

Didavi war nicht der einzige Spieler, auf den wir aufpassen mussten. Filip Kostic auf dem rechten Flügel war pfeilschnell, und Ivo, Gidi und ich würden unseren Linksverteidiger Matze gegen ihn immer unterstützen müssen. Im Eins-gegen-eins war Kostic kaum zu verteidigen. Die Stürmer Daniel Ginczek und Martin Harnik waren abgezockt und torgefährlich, und der Kapitän Christian Gentner auf der Sechs konnte das Spiel aus der Tiefe genauso gestalten wie Didavi weiter vorn. Die Stuttgarter waren gegen Köln überlegen gewesen, hatten sich elf Chancen herausgespielt und hätten zwingend gewinnen müssen. Aber hinten waren sie verwundbar. Köln hatte sie dreimal ausgekontert, und Przemyslaw Tyton, ihr Torwart, war in der Sommerpause neu gekommen, hatte letzte Woche zum ersten Mal Bundesliga gespielt und dabei keinen souveränen Eindruck gemacht. Brunos Worte in der Videoanalyse hallten durch meinen Kopf. Schießen. Schießen und nachsetzen.

Schiedsrichter Günter Perl stand am Mittelkreis und sortierte noch seine Karten und seinen Notizblock. Mein Blick wanderte nach links und schweifte in Sekundenschnelle über die Sitzreihen auf der Haupttribüne. Da oben. Einer von den kleinen Flecken da oben war er und beobachtete mich. Mich, im weißen Trikot, der roten Hose, den blauen Stutzen und blauen Fußballschuhen. Meiner Dienstkleidung. Meinem Kostüm. Dem Traum, den ich immer hatte tragen wollen. Und jetzt zum ersten Mal begutachtet von meinem anderen Traum, dem aus der anderen Welt. Die zu vereinen eigentlich unmöglich war. Und doch war er hier. Und ich war hier.

Ich holte Luft und richtete den Blick wieder nach vorne. In der Bundesliga hatte ich noch kein Tor geschossen. Das war noch so ein Traum. Und heute wäre ein sehr, sehr guter Zeitpunkt.

Perl pfiff, und ich rannte los. Von der ersten Sekunde an klebte ich an Didavi, suchte den Körperkontakt, auch wenn er nicht am Ball war, und wenn er angespielt wurde, ging ich sofort auf den Ball, ließ ihm schon bei der Annahme keine Luft zum Atmen. Einmal konnte ich die Kugel ins Aus spitzeln, das zweite Mal zwang ich ihn zu einem Fehlpass. Die Fans sangen, hüpften, schrien. Der Lärm füllte meine Ohren als dumpfes Dröhnen.

Unser unbändiger Wille aus dem Mannschaftskreis übertrug sich aufs Spiel. Schon in der ersten Minute traf Ivo nach einer Flanke von Rechtsverteidiger Dennis das Außennetz. Aber auch Stuttgart erfüllte das, was unsere Trainer uns von ihnen vorhergesagt hatten, und holte schnell den ersten Eckball heraus, aber auch sie trafen nur das Außennetz.

Überall auf dem Feld war es Kampf, Kampf, Kampf. Raumgewinn gab es nur durch bedingungslose Zweikampfführung. Ich stürzte mich hinein, mit Didavi, mit Ginczek, mit Harnik. Rechts, links, vorne, hinten – wo einer von uns allein gegen einen Stuttgarter stand, war ich zum Doppeln, und wenn der Ball erobert war, ging mein Kopf nach oben, suchte ich den freien Mann, den Pass in die Tiefe. Wenn unsere Innenverteidiger Johan und Emir am Ball waren, ließ ich mich fallen, bot mich an, und wenn ich Platz hatte, drehte ich auf und ging mit großen Schritten nach vorne, Ball am Fuß, bis zum richtigen Moment für den Pass. Mal nach außen, mal in die Mitte, und wenn es nicht anders ging, zur Seite zu Gidi oder zurück nach hinten.

Nach gut zehn Minuten gab es im eigenen Strafraum Freistoß für uns, nachdem wir Didavi ins Abseits gestellt hatten. René führte aus und spielte zu Johan. Ich ließ mich fallen. „Ja!“

„Dreh!“

Ich bekam den Ball in den Fuß, drehte mich mit dem ersten Kontakt um 180 Grad und sah, wie ich es nach Johans Kommando erwartet hatte, viel freien Rasen vor mir. Ich nahm Tempo auf. Von rechts kam Didavi. Ich lenkte meine Schritte nach links und brachte den Körper zwischen Ball und Gegner. Gidi war frei, schräg hinter mir. Aber dann wäre das Tempo wieder draußen. Ivo war zugestellt. Didavi kam näher. Lewis war auch zu, Schippo bewegte sich an der Abseitslinie zwischen den Innenverteidigern. Lewis gab ihm ein Zeichen und setzte zum Sprint an. Ich spürte Didavi in meinem Rücken. Schippo kam entgegen, zog den Innenverteidiger mit. Lewis ging tief, noch war die Lücke nicht offen, gleich –

Ein Stoß im Rücken. Ich stolperte nach vorn, über den Ball, und fiel. Der Pfiff kam sofort. Didavi hatte versucht, an den Ball zu kommen, aber nichts als mich erwischt – natürlich. Ich hatte ja gewusst, dass ich den Ball komplett von ihm abgeschirmt hatte. Aber die vielversprechende Kreuzbewegung von Lewis und Schippo war damit natürlich dahin.

Ich stand auf, legte den Ball hin und fand Lewis, der mir jetzt entgegenkam. Er nahm links Ivo mit. Kostic hatte ihn laufen lassen, und der Stuttgarter Rechtsverteidiger Florian Klein hatte geschlafen und stand recht weit weg. Ivo nahm Tempo auf. Lewis und Schippo besetzten den Strafraum, aber da hatte Stuttgart eine Vier-zu-zwei-Überzahl. Der Rückraum war ziemlich verwaist. Ich zog den Sprint an. „Ivo, ja!“

Sein Blick fand mich. Sein Pass auch. Annahme rechts, vorlegen in den Lauf. Kopf hoch. Noch recht weit weg. Schießen. Schießen und nachsetzen. Tempo. Linken Fuß aufsetzen, Stollen in den Rasen. Den rechten nach hinten schwingen. Durchziehen. Vollspann.

Mein Kopf schoss hoch. Die Kugel zischte über den Rasen, flach und schnell, an allen Beinen vorbei. Tyton tauchte ab, machte die Hände auf – und hielt ihn fest.

„MANN!“ Ich legte den Kopf in den Nacken und schrie den Abendhimmel an. Platzierter, ich hätte platzierter schießen müssen, und vielleicht noch etwas härter. Verdammt!

Ich spürte einen Klaps auf der Schulter. Lewis war schon auf dem Weg zurück. „Gut so Junge, weiter!“

Die Fans applaudierten. Tyton legte sich den Ball zum Abstoß zurecht. Mit kleinen, schnellen Schritten lief ich rückwärts, die Augen überall, auf der Suche nach Ginczek, Harnik, Didavi. Ich fand Ginczek bei Emir und Harnik bei Gidi. Der fing meinen Blick auf und klatschte ebenfalls in die Hände. „Gut so, Martin, der Nächste sitzt!“

Didavi stand halblinks, und frei. Noch bevor Tyton abgeschlagen hatte, klebte ich wieder an ihm.

Wenn wir den Ball hatten, spielten wir nach vorn. Gerade über links, über Ivo, ging viel. Er holte einen Freistoß heraus und trat ihn selbst genau auf Schippos Kopf, aber der konnte den Ball nicht genau genug platzieren. Immer wieder suchte ich auch im Zentrum nach Anspielstationen, aber da stellte Stuttgart gut zu, und ich musste stattdessen Gidi mitnehmen oder es doch wieder über die Flügel versuchen. Aber nach zwanzig Minuten war die Lücke plötzlich da. Lewis war an der Strafraumgrenze frei, ich spielte – halbhoch. Lewis strauchelte, versuchte, den Pass irgendwie unter Kontrolle zu kriegen, aber vergeblich. Chance dahin.

„AHHHH!“ Mein ganzer Körper vibrierte. Wenn ich den Pass sauber spielte, mir vielleicht nur ein wenig mehr Zeit nahm, mehr Ruhe hatte, hatte Lewis eine super Schussposition. Komm schon. Weiter. Nächster.

Kurz danach gab es Ecke für Stuttgart. Didavi brachte den Ball ins Zentrum, hoch, scharf, im Strafraum fiel er runter, zwischen Fünfer und Elfmeterpunkt, da stand Gentner – und köpfte den Ball direkt auf René, der ihn locker fangen konnte. Ich stützte die Hände in die Seiten und legte den Kopf in den Nacken. Ein Glück. Was für ein Glück. Das war eine Riesenchance gewesen.

René warf den Ball auf Johan ab. Der spielte quer zu Emir. Wieder ließ ich mich fallen, und wieder bekam ich den Ball. Ich nahm den Kopf hoch. Das Zentrum war zu. Wie immer. Aber rechts war Dennis dabei. Ich spielte, er schaute. Michi war eng markiert vom Stuttgarter Linksverteidiger Emiliano Insua. Der Passweg zu Gidi war durch Harnik versperrt. Nach hinten könnte er spielen, aber nach hinten wollten wir nicht. Und Lewis war gedeckt. Er stand allerdings auch schon ziemlich weit vorne, und der Raum um den Mittelkreis war sehr frei. Wenn ich den Ball dort bekommen konnte …

Ich zog den Sprint an. An Didavi vorbei, der nicht richtig folgte. Mittelkreis, Mittellinie, darüber. „Dennis, ja!“

Er schaute. Passte. Shit, der ist aber steil. VERDAMMT steil. Ich zog das Tempo an. Ich war nicht langsam. Aber ein Sprinter war ich nicht. Dennis selber, der einer der Schnellsten bei uns war, hätte den Pass sicher locker bekommen, hätte ihn um das Stuttgarter Bein hinweg mitgenommen, das Bein, das den kürzeren Weg gehabt hatte, das sich lang machte, zuerst am Ball war, ihn vorlegte, dabei leicht anhob, über meinen Fuß hinweg –

Ich rammte die Stollen in den Rasen, riss den rechten Arm hoch, grabschte nach dem schwarzen Trikot, nach der Hose, irgendwas, um den Stuttgarter aufzuhalten. Aber meine Finger fanden nur Luft. Der Stuttgarter Kapitän Gentner hatte die Situation gerochen, hatte gesehen, dass er zuerst am Ball sein würde, und er wusste auch, dass ein Freistoß Mitte der eigenen Hälfte überhaupt nichts wert war im Vergleich zur Konterchance, die sich auftun würde, wenn er sich nicht foulen ließ. Also ließ er sich nicht foulen.

Ich riss mich herum, rannte wieder los, diesmal Richtung eigenes Tor. Aber ich konnte nur zuschauen, wie Gentner den Kopf hochnahm und einen Pass in den Fuß von Didavi spielte, der kurz hinter der Mittellinie völlig freistand. Mit dem ersten Kontakt drehte er sich auf und ging mit großen Schritten auf Strafraum und Tor zu, den Ball eng am Fuß, den Kopf oben. Dennis jagte von links, Gidi von rechts hinterher, aber beide waren zu weit weg, und ich war noch nicht mal wieder in der eigenen Hälfte. Kurz vor der Strafraumlinie nahm Didavi Tempo heraus, lockte die Innenverteidiger, täuschte den Schuss an, zog zurück, ließ Johan aussteigen. Emir grätschte, und Didavis Fuß streichelte einen perfekten Steckpass an Emirs Stollen vorbei auf Ginczek, der im richtigen Moment gestartet war. Allein vor dem Tor holte er aus und vollendete mit einem eleganten Schlenzer an René vorbei zum eins zu null für Stuttgart.

Hinter dem Tor auf der Nord hielten die Fahnen mitten im Schwenken inne, fror der Gesang in der Silbe ein. Gidi brach den Sprint ab. Dennis brach den Sprint ab und vergrub das Gesicht im Trikot. Auch mein Tempo riss ab, lief aus in den paar Schritten, die ich brauchte, um stehenzubleiben. Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und krallte die Hände ins Haar. Ich hätte nicht durchziehen dürfen. Nach Dennis‘ Pass, sofort danach, hätte ich erkennen müssen, dass ich nicht rankommen würde, hätte Tempo rausnehmen und in den Defensiv-Modus schalten müssen. Dann wäre ich in den Zweikampf gekommen, hätte den Raum versperren, vielleicht den Ball zurückerobern oder zumindest ganz sicher foulen können. Dann wäre der Konter nicht möglich gewesen. Dann wäre das Tor nicht gefallen. Aber ich hatte nur die Offensive gesehen, den freien Raum, die gute Flügel- und Strafraumbesetzung, die Chance, die wir gehabt hätten, wenn ich an den Ball gekommen wäre. War ich aber nicht. Und Gentner, der dreißig Jahre alte Gentner mit fast dreihundert Bundesligaspielen, hatte das genau gewusst und die Situation genutzt.

Ich riss die Augen auf, löste die Hände aus den Haaren, schüttelte den Kopf. Egal. Weiter. Keine halbe Stunde gespielt. Genug Zeit. Ich lief zu Dennis, schlug ihm auf den Rücken, zog ihm das Trikot vom Gesicht. „Komm schon, weiter, nichts passiert! Das holen wir uns noch!“

Ich drehte mich um und lief zurück auf meine Position. Gidi klatschte in die Hände. Lewis klatschte in die Hände und rief irgendwas. Hinter mir schallten von der Nordtribüne „HSV, HSV, HSV!“-Rufe durchs Stadion.

Ich atmete tief ein, stellte mich sprintbereit hin und fixierte den Ball auf dem Anstoßpunkt. Weitermachen. Weiterkämpfen, weiter nach vorne spielen. Ausgleichen. Führen. Gewinnen.

Gleich im ersten Angriff nach Wiederanpfiff suchte Ivo den Abschluss, schoss aber drüber. Nach dem Stuttgarter Abstoß gewann Dennis das Kopfballduell. Der Ball sprang zu Michi, der ihn runternehmen wollte, aber mit dem ersten Kontakt versprang ihm die Kugel ins Aus. Ich klatschte in die Hände. „Weiter, weiter!“

Während sich Insua Zeit mit dem Einwurf ließ, mischte sich von der Gegengerade etwas in die Anfeuerungsrufe der Nord von hinten. Schriller. Schneidender. Pfiffe? Ich schüttelte den Kopf. Egal. Gar nicht hinhören. Wenn das wirklich von Leuten kam, die im HSV-Trikot hier saßen, waren das nicht die Fans, die für uns zählten.

Weiterhin war es ein Spiel mit vielen Zweikämpfen. Ich wurde im Mittelfeld von Stuttgarts zweitem Sechser Lukas Rupp von den Beinen geholt, und gleich darauf sah Michi die erste Gelbe Karte, nachdem er Kostic nur durch ein Foul am Sprint hatte hindern können. Didavi hatte sein Assist zum Tor offensichtlich richtig Auftrieb gegeben, er war jetzt noch agiler als vorher und tauchte überall in der Stuttgarter Offensive auf. Ich klebte weiterhin an ihm, so gut ich konnte, aber mit jeder Minute fiel es mir schwerer, dranzubleiben. Einmal ließ er mich mit einer Körpertäuschung aussteigen, und bevor ich nachsetzen konnte, zog er ab – zum Glück vorbei. Ich stützte die Hände auf die Oberschenkel und sog rasselnd die Luft ein. Meine Lunge brannte. Was war nur los? Es war nur etwas mehr als eine halbe Stunde gespielt, und ich war Sechser und konnte neunzig Minuten lang laufen. Warum wurde ich jetzt schon immer langsamer?

Ich atmete tief ein und stieß mich wieder nach oben. Lächerlich. Das war sicher nur Einbildung. Es würde schon wieder vergehen. Einfach weiterrennen.

Nach Renés Abschlag wurde Lewis von Rupp gefoult, der jetzt auch Gelb sah. Den Freistoß führte Lewis schnell aus, indem er den Ball zu mir spielte. Ich schaute, fand vorne aber niemanden und spielte zurück auf Johan. Der nahm den Kopf hoch und schlug einen langen Ball auf die rechte Seite zu Michi. Insua, der ihn bisher so eng gedeckt hatte, war nirgendwo zu sehen. Michi hatte – und ich hatte keine Ahnung, wie es passiert war – plötzlich ziemlich freie Bahn zum Tor.

„SCHIESS!“, brüllte ich. Der Ball sprang auf, einmal, zweimal, Michi lief nebenher. Warum nimmt er ihn denn nicht an, warum schießt er denn nicht, zur Hölle?!

Aber Michi kriegte seine Füße nicht sortiert. Stuttgarts Innenverteidiger Timo Baumgartl kam schon angelaufen, da tauchte aus dem Nichts Ivo an Michis Seite auf und zog ab. Schnurgerade zischte der Ball ins lange Eck zum Ausgleich.

„JAAAAA!“

Alle sprinteten wir auf Ivo zu. Der ließ sich lachend feiern. Besonders Michi nahm er in den Arm, sagte irgendetwas zu ihm, und beide lachten. Die Fans hüpften und jubelten, die Torhymne schallte durchs Rund, und unser Stadionsprecher Lotto verkündete: „Torschütze unser Spieler mit der Nummer 7, Ivo …“

„ILICEVIC!“, donnerte es aus 50.000 Kehlen.

Während ich zurück auf meine Position lief, warf ich einen Blick nach draußen. Bruno und alle Ersatzspieler standen an der Seitenlinie, klatschten in die Hände und forderten uns gestenreich auf, weiter nach vorne zu spielen. Wieder nahm ich Didavi ins Visier. Du entwischst mir jetzt nicht mehr. Du legst heute keinen mehr auf!

Sofort nach Wiederanpfiff hing ich an seinen Fersen. Wäre der Ball zu ihm gekommen, wäre er sofort weg gewesen. Aber er kam nicht zu ihm. Er kam stattdessen zu Kostic, der an Matze vorbeizog, flankte und im Zentrum Harnik fand, der abzog. Hauchzart ging der Ball am linken Pfosten vorbei.

In den nächsten Minuten rollte Angriff um Angriff auf uns zu. Die Stuttgarter waren offensichtlich nicht glücklich mit dem Spielstand und versuchten mit aller Macht, ihre Führung wiederherzustellen. Ich rannte, grätschte, blockte. Jeder Atemzug riss an meiner Kehle. Wir brauchen Entlastung, wir dürfen uns nicht so einschnüren lassen!

Von Johan bekam ich den Ball, nahm Lewis mit, der ließ aber gleich wieder auf mich prallen. Auf außen suchte ich Matze, aber Kostic spritzte dazwischen, und ich jagte hinterher, grätschte und konnte den Ball gerade so ins Aus klären. Als ich mich wieder aufrappelte, brannte jeder Muskel in meinen Beinen.

Kurz darauf gab es Freistoß für Stuttgart. René pflückte ihn sicher herunter. Er schlug ab, aber wir konnten den Ball nicht festmachen. Wieder war Stuttgart im Ballbesitz. Gentner sah sich im Mittelfeld nach einer Anspielstation um, fand aber keine. Ich klebte an Didavi. Endlich stehen wir mal gut. Ich hatte es noch nicht zu Ende gedacht, als Gentner aus dem Fußgelenk einen hohen Ball hinter unsere Abwehrkette auf Ginczek spielte, der völlig frei vor René stand, diesen umkurvte und den Ball zum zwei zu eins ins leere Tor schoss.

„Abseits!“, schrie unsere Viererkette, aber der Linienrichter schüttelte den Kopf. Das Tor zählte.

Die Stuttgarter versammelten sich in einer Jubeltraube vor der Nordtribüne. Ich starrte hinüber. Dann beugte ich mich vor, Hände auf den Oberschenkeln. Das konnte doch nicht wahr sein. Schon wieder ein Rückstand, so kurz vor der Pause. Und aus dem Nichts, aus einer Situation, in der eigentlich null Gefahr gewesen war.

Ich wuchtete meinen Oberkörper nach oben. War der plötzlich schwer. Und meine Beine waren auch schwer. Diesmal nahm ich meine Position mit langsamen Schritten wieder ein. Während die Stuttgarter zurückliefen, schaute ich auf die Uhr auf dem Bildschirm über der Südtribüne. Fast Halbzeit. Dann einmal sitzen. Nur ganz kurz. Einmal durchatmen. Nur, damit ich dann wieder laufen konnte. Laufen, und sprinten, und grätschen, und in der zweiten Halbzeit das Ergebnis drehen.

Die letzten paar Minuten der ersten Hälfte ging nichts mehr. Stuttgart wollte nicht, wir konnten nicht. Nach einer Minute Nachspielzeit pfiff Perl zur Pause.

In der Kabine ließ ich mich auf meinen Platz fallen und lehnte den Kopf gegen den Spind. Mein Gesicht war klitschnass, und im Spiel waren mir meine Beine zwar schon schwer vorgekommen, aber erst jetzt merkte ich, dass sie leicht zitterten. Ich klammerte die Finger um die Oberschenkel. Was war nur mit mir los? Wann war ich das letzte Mal nach fünfundvierzig Minuten so platt gewesen? In Jena hatte ich erst vor zwei Wochen hundertzwanzig Minuten gespielt, und da war es viel heißer gewesen als heute. Ich griff nach der Flasche neben meinen Füßen und trank gierig.

Derweil hatte auch der Letzte seinen Platz eingenommen, und unser Co-Trainer Eddy hatte die Tür hinter sich geschlossen. Bruno stand in der Mitte der Kabine, leicht in den Knien, und fixierte uns nacheinander mit einem peitschenden Blick. „Jungs, hey, lasst den Kopf nicht hängen! Ihr macht das gut, ja, ihr kämpft, ihr seid dran! Wir haben Chancen, wir sind gut da, wir müssen aber konsequenter werden, vorne und hinten! Spielt ruhiger, ja? Nehmt den Kopf hoch. Sucht den freien Mann. Dann spielen wir. Und traut euch auch die langen Bälle zu. Ja? Wie Johan vor dem eins-eins, habt ihr gesehen, ganz einfach, funktioniert. Jungs, und wenn wir nicht durch die Mitte kommen, spielen wir über außen, da sind wir gut präsent! Ja, Ivo, sehr gut, weiter so!

„Jungs, und in der Abwehr: Macht alle mit. Ja? Unterstützt eure Leute. Kriegt vorne schon Zugriff. Schippo, du musst noch konsequenter anlaufen! Lewis, der Gentner spielt keinen Ball mehr, ohne dass du an ihm dranhängst, verstanden? Und auf außen müsst ihr doppeln, Ivo, Michi. Der Kostic ist sonst zu schnell, der rennt uns weg. Und in der Mitte bleibt ihr an Didavi dran, Martin, Gidi, ständig stören, keinen Platz lassen!“

Bruno drehte sich, einmal rundherum, schaute noch mal in jedes Gesicht. Er stand immer noch in den Knien, seine Arme waren angewinkelt, von den Zehen- bis zu den Fingerspitzen vibrierte er vor Spannung. „JUNGS, HEY! Ist nix verloren, wir haben fünfundvierzig Minuten Zeit, das holen wir uns heute, das gewinnen wir noch, KOMMT!“

Er schrie, und wir schrien ihm entgegen, klatschten, schauten uns in die Augen, pushten uns. Ich warf die Flasche zu Boden und sprang auf. Nacheinander schlug ich meine Handflächen in Michis und Gidis. Die kurze Ruhe hatte meinem Körper gutgetan, aber jetzt war es genug. Jetzt wollte ich raus und weiterrennen.

Bruno stand an der Tür und klatschte mit jedem ab. Ich war der Letzte. Ich schlug meine Hände in seine und wollte Gidi und dem Rest folgen, aber er hielt mich fest. Ein wenig von unten herauf sah er mir in die Augen, und er sprach leise und intensiv. „Martin, du willst zu viel! Du rennst überall hin, bist hinten, vorne, rechts, links, und ständig im Sprint. Das hältst du nicht durch! Du hast es die letzten fünfzehn Minuten schon gemerkt, und du warst völlig kaputt jetzt gerade. Du machst ein gutes Spiel, du bist ganz oft da, du machst viele Sachen richtig, aber du kannst nicht überall hinrennen! Du hast ein Team da draußen, denen kannst du vertrauen. Du kannst nicht alles machen! Wenn du so weiterrennst, muss ich dich nach sechzig Minuten auswechseln, weil du dann gar nicht mehr laufen kannst. Also: Schalt den Kopf ein! Spiel klug! Mach Wege, aber keine unnötigen. Teil dir die Kraft ein, du kannst es doch!“

Er schüttelte meine Hände. Ich schluckte und starrte in seine Augen. Dann nickte ich. Mit einem Schlag auf den Rücken schickte Bruno mich durch die Tür Richtung Spielfeld.

Du rennst überall hin. Und ständig im Sprint. Vertrau deinem Team! Spiel klug! Kraft einteilen! Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Bruno hatte ja so recht. Deswegen war ich so kaputt. Weil ich in der Tat überall hingesprintet war. Ich hatte versucht, überall zu sein, und das Erste, was man lernte, wenn man auf der Sechs spielte, war, dass das nicht ging. Wer das versuchte, war am Ende nicht überall, sondern nirgendwo. Mit Kopf musste man spielen. Schlau. Bedacht. Viel in Bewegung, klar, aber möglichst so laufen, dass man wenig sprinten musste, damit man die konstante Bewegung über neunzig Minuten haben konnte. Gutes Stellungsspiel. Die richtigen Räume besetzen. Mit Kopf spielen. Alles Dinge, die ich eigentlich konnte. Und trotzdem war ich in der ersten Halbzeit wie wild übers Feld gerannt, hatte überall helfen, alles selber machen wollen.

Ich biss die Zähne zusammen. Nach dem Grund brauchte ich nicht lange zu suchen. Aber damit war jetzt Schluss. Es ging schließlich nicht um mich, sondern ums Team. Um unseren Sieg. Um die ersten drei Punkte, die wir so dringend brauchten. Die mussten heute eingefahren werden. Das allein war wichtig. Sonst nichts.

Ich atmete durch und lief im langsamen Laufschritt zurück auf den Rasen. Kein einziges Mal schaute ich dabei hoch zur Haupttribüne, sondern nur aufs Spielfeld.

Gleich nach dem Wiederanpfiff griffen wir wieder an. Lewis konnte einen Kopfball aufs Tor bringen, zielte aber links vorbei. Das Spiel war weiterhin hart. Für ein Foul an Kostic sah Johan Gelb. Ich orientierte mich weiter zu Didavi, und wenn er in meinem Raum war, markierte ich ihn genauso eng wie zuvor. Aber wenn er sich zu weit nach links bewegte, gab ich ihn an Gidi ab, und der schrie wiederum, wenn er zurück zu mir kam. Didavi bewegte sich weiter viel und scheinbar ungebunden an eine bestimmte Position. Dreißig Meter vom Tor entfernt verschaffte er sich gegen Gidi Platz und schoss, zielte aber knapp rechts vorbei. René stieß kurz zu Emir ab. Gidi ließ sich fallen und bekam den Ball. Er schaute. Ich breitete die Arme aus. „Ja!“

Er spielte. Ich nahm an, drehte auf, ging ein paar Schritte nach links Richtung Mittellinie. Die Seite war relativ frei. Kostic war nirgendwo zu sehen, und Rechtsverteidiger Klein kam mir in hohem Tempo entgegen. Hinter ihm war alles offen. Matze zog den Sprint an. Ich hielt den Ball. Klein rannte immer noch auf mich zu. Noch stand er im Weg, aber gleich, auf den freien Passweg warten, warten, Klein war fast bei mir, warten –

Ich schwang den rechten Fuß nach hinten, nach vorn, traf den Ball satt mit der Innenseite. Klein traf auch. Aber nicht den Ball. Sondern mein rechtes Sprunggelenk. Ungebremst und mit voller Wucht.

„AHHHH!“

Da war Gras unter meinem Bein, meinem Arm, meiner Wange. Ich sah es nicht und spürte es kaum. Alles wurde übertönt durch das Heulen im rechten Knöchel, die pulsierenden Wellen, die von dort aus durch meinen Körper rollten, das Bein entlang und den Arm, mit dessen Hand ich den Knöchel umklammerte. Meine Augen waren zugepresst, und für den Moment war nichts wichtig außer atmen, aushalten, warten, dass es besser wurde.

Das wurde es dann auch. Ich machte die Augen auf, sah Rasen und Werbebanden seitwärts und setzte mich mühsam auf. Wo war der Ball? Wo waren meine Mitspieler? Und warum zur Hölle hatte Perl keinen Freistoß gepfiffen?

„Martin, alles okay?“

Das war Gidi. Mein Gesicht war noch verkrampft, aber ich nickte. „Geht schon. Warum gibt’s denn keinen Freistoß?“

„War Vorteil. Dein Pass ist ja noch angekommen.“ Gidi beugte sich zu mir herunter und legte mir die Hand auf den Rücken. „Willst du Eis?“

Ich schüttelte den Kopf. Wenn die Docs auf den Platz kamen, würde das Zeit kosten, die wir nicht hatten, und ich würde danach erst mal vom Feld müssen, was ich nicht wollte. „Ne. Läuft sich schon raus.“

Ich streckte Gidi die Hände entgegen. Er zog mich auf die Füße. Mit zusammengebissenen Zähnen belastete ich den rechten Fuß. Autsch. Davon würde ich noch ein paar Tage was haben. Aber es ging tatsächlich, und es würde sich wirklich rauslaufen, das wusste ich aus Erfahrung.

Unser Angriff war nicht erfolgreich gewesen, und es würde mit Abstoß für Stuttgart weitergehen. Bevor Tyton ihn ausführen konnte, unterbrach Perl das Spiel und knöpfte sich Klein vor. „Nummer 16, das war nur der Gegner, nicht der Ball. Dafür gibt’s Gelb, und beim nächsten Foul gehst du runter.“

Perl sprach laut und energisch, aber Klein schien überhaupt nicht zuzuhören. Er lief schon wieder zurück auf seine Position, hatte dem Schiedsrichter den Rücken zugedreht und die Gelbe Karte nur mit einem kurzen Blick über die Schulter zur Kenntnis genommen.

Perl packte seine Karte wieder ein und pfiff. Tyton schlug ab. Johan gewann das Kopfballduell, und Gidi sicherte den zweiten Ball. Er spielte ihn zu Matze. Von vorne jagte schon wieder Klein heran. Matze hob den Kopf und schlug einen hohen Pass in Richtung Ivo. Kaum dass der Ball seinen Fuß verlassen hatte, traf ihn Klein mit ausgestrecktem Bein und offener Sohle am Schienbein. Matze brüllte und fiel.

Ich brüllte auch, genau wie die Zuschauer. Während Gidi zu Matze lief, sich zu ihm herunterbeugte und die Docs auf den Platz winkte, starrten ich, meine Mitspieler und 50.000 Fans mit ausgebreiteten Armen und forderndem Blick den Schiedsrichter an. Perl wechselte ein kurzes Wort mit seinem Linienrichter und schickte Klein dann mit Gelb-Rot vom Platz. Klein gestikulierte wild und beteuerte seine Unschuld, aber nicht mal seine eigenen Mitspieler machten mit.

Ich drehte mich kopfschüttelnd weg. Zwei eindeutig gelbwürdige Fouls in zwei Minuten, und dann noch beschweren. Eine klarere Gelb-Rote Karte hatte ich selten gesehen. Klein konnte noch froh sein, dass er für das zweite Foul nicht glatt Rot gesehen hatte.

Mein rechter Fuß pochte. Ich biss die Zähne zusammen. Jetzt hatten wir vierzig Minuten in Überzahl. Vierzig Minuten, in denen wir kein Tor mehr kassieren und mindestens zwei schießen würden. Und dann würden wir gewinnen. Hier, zu Hause, vor unseren Fans, für den HSV!

Für Matze ging es nach der Behandlung zum Glück weiter, aber trotzdem reagierten beide Trainer auf die neue Spielsituation. Stuttgart verstärkte die Abwehr, und Bruno nahm Lewis raus und brachte stattdessen Lasso. Stürmer für Mittelfeldspieler. Alles auf Angriff.

Gleich nach den Wechseln erkämpfte sich aber erst einmal wieder Stuttgart den Ball, und Gidi konnte Gentner etwa fünfundzwanzig Meter vor unserem Tor nur regelwidrig stoppen. Den fälligen Freistoß knallte Didavi mit voller Wucht aufs Tor. René brachte gerade noch die Fäuste dahinter. Unsere ganze Mannschaft inklusive Fans feierte ihn für diese Parade. Ich hörte die Schreie, sah die geballten Fäuste und spürte einen Schuss puren Adrenalins. Wir würden heute gewinnen. Wir würden die drei Punkte im Volkspark behalten.

Wir warfen jetzt alles nach vorn. Die Stuttgarter hielten aber dagegen, und es kam weiterhin immer wieder zu Zweikämpfen, Fouls und somit Spielunterbrechungen, was unsere Bemühungen, einen Spielfluss aufzubauen, erschwerte. Immer wieder versuchte ich, den Ball nach vorne zu treiben, fand aber zentral nach wie vor wenig Raum und musste gleichzeitig aufpassen, nicht zu weit mit nach vorne zu gehen und damit Stuttgarter Konter zu riskieren.

Nach einer guten Stunde kam Ivi für Schippo, der sich aufgerieben hatte und kaputt war. Der Wechsel änderte aber erst mal nichts am Spielgeschehen. In den nächsten Minuten gab es gleich drei weitere Gelbe Karten, für Kostic nach einem Foul an Dennis, für Didavi nach zwei Fouls an mir und auch für Gidi nach einem harten Einsteigen gegen Didavi. Wenn das so weitergeht, war Kleins Platzverweis nicht der letzte heute. Ich schaute zur Anzeigetafel. Eine Viertelstunde noch. Das war genug Zeit, aber langsam brauchten wir den Ausgleich. Sonst würde es verdammt eng werden.

Stuttgart ließ sich jetzt bei jedem Einwurf und jedem Abschlag ordentlich Zeit und wechselte auch noch einmal defensiv. Bruno dagegen brachte zehn Minuten vor Schluss Nico für Michi, der alles versucht hatte, dem heute aber wenig gelungen war. Egal. Unser Sieg würde auch sein Sieg sein.

Wie wenig Zeit noch auf der Uhr war, zeigte sich auch auf dem Platz. Ivi drosch eine Flanke von links meilenweit über das Tor, und auch Ivo zielte bei einem Schuss von der Strafraumgrenze zu hoch. Ich fluchte innerlich. Eine halbe Stunde schon spielten wir mit elf gegen zehn und hatten noch kein Tor geschossen. Das musste sich ändern! Jetzt!

Beim nächsten Stuttgarter Abschlag erwischte ich das richtige Timing beim Kopfball und gewann das Luftduell gegen Didavi, der bei all seinen Qualitäten wenigstens einen Zentimeter kleiner war als ich. Lasso, der sich ins Mittelfeld hatte zurückfallen lassen, sicherte den Ball und spielte erst mal hinten rum über Emir. Der schaute, fand aber ganz vorne keine Anspielstation. Ich forderte den Ball und bekam ihn. Vor mir war etwas Platz, und ich ging ein paar Schritte. Links brüllte Ivi nach dem Ball. Ich schaute und spielte. Ivi lief auf seinen Gegenspieler zu, täuschte eine Bewegung an und ging locker am Stuttgarter vorbei, der viel zu früh gegrätscht hatte.

„SCHIESS!“, brüllten ich und 50.000 Fans.

Ivi schoss. Der Ball prallte am Bein eines Stuttgarters ab und flog in Richtung rechter Pfosten des Stuttgarter Tores. Er würde vorbei gehen. Verdammt, verdammt, VERDAMMT!

Aber da kam Lasso, im Vollsprint, sein Trikot und sein Unterhemd, das er seit seinem Dreierpack in Nürnberg vor zwei Jahren immer als Glücksbringer trug, aufgebläht hinter ihm, und da war kein Verteidiger weit und breit, nur Tyton, der einen unsicheren Schritt aus seinem Tor machte, zögerte, nicht an den Ball kam – „JAAAAAAAA!!!“

Lasso hatte geschossen, den Ball ins Tor geschoben, er war drin, drin, drin, der Ausgleich war geschafft!

Etwas in mir explodierte. Wie alle meine Teamkollegen rannte ich nach vorne, aber ich lief nicht zur Jubeltraube um Lasso, sondern zum Tor, schlängelte mich durch die Stuttgarter, riss den Ball aus dem Netz, brüllte mit geballter Faust die Nordtribüne an und trug ihn zum Anstoßpunkt. Als ich meine Position wieder einnahm, waren auch die anderen schon zurück. Ein Blick auf die Anzeigetafel. Noch fünf Minuten. Fünf Minuten für ein Tor.

Stuttgart wechselte Timo Werner für Didavi ein. Neunzehn Jahre war er alt, zwei Monate jünger als ich, pfeilschnell, super Schuss, Torriecher, Juniorennationalspieler. Schon mit siebzehn hatte er in der Bundesliga Spiele und Tore gemacht. Ein Riesentalent. Ich sah, wie das Trikot um seinen Körper flatterte, und presste die Lippen aufeinander. Ihr Riesentalent konnten die Stuttgarter sich sonst wohin stecken. Dieses Spiel gehörte uns.

Stuttgart kam gar nicht mehr in Ballbesitz, wir schnürten sie komplett in ihrer Hälfte ein. Ich bekam den Ball von Johan, spielte auf Gidi, der schlug einen langen Ball in die Mitte, das Riesentalent klärte unzureichend nach außen, Nico schnappte sich die Kugel, flankte – „UHHHH!“

Ich ging in die Knie, raufte mir die Haare, schrie mit den Fans mit. So knapp hatte Ivi in der Mitte den Ball verpasst! So knapp!

Abstoß Stuttgart. Tyton ließ sich viel Zeit, brachte den Ball dann aber doch nach vorne. Gidi gewann das Kopfballduell. Ich nahm den Ball herunter und ging mit langen Schritten durchs Mittelfeld. Wo war Platz? Im ersten Augenblick sah ich keine Lücke, aber dann lief sich Ivo links frei. Ich spielte. Ivo schaute, flankte. Da war Lasso im Strafraum, er kam an den Ball, brachte ihn aber nicht aufs Tor, sondern köpfte seitlich nach links, und da war – Ja, sah ich das denn richtig? Was zur Hölle machte er da vorne? – plötzlich Johan völlig frei, er hielt den Fuß hin, Tyton streckte sich, verpasste –

 „JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!!!!!!!!!!!!!“

Der Volkspark explodierte. Johan drehte nach links ab, breitete die Arme aus, strahlte, sprang in die Luft. Ich sprintete auf ihn zu, brüllend wie am Spieß. Etwas stieß in meine linke Seite, und ich fiel Gidi um den Hals und er mir, wir umarmten uns, klammerten uns aneinander fest, brüllten uns gegenseitig ins Ohr und hörten es kaum über die Ekstase um uns herum, und irgendwie schafften wir es, weiterzulaufen, auf Johan zu, auf die Jubeltraube, die sich um ihn gebildet hatte. Ich sprang auf Lassos breiten Rücken, und alle waren da, alle, selbst René war aus seinem Tor gestürmt und feierte mit, hier vor der Nord, neben dem Stuttgarter Tor, auf das wir so lange angerannt waren und das jetzt endlich eingenommen war.

Der Rest war Rausch. Als Perl wieder anpfiff, war die reguläre Spielzeit schon vorbei. Die vier Minuten Nachspielzeit überstanden wir mit Kampf, Fouls und Leidenschaft, angetrieben von 50.000 frenetischen Fans. Und dann war es geschafft. Perls Schlusspfiff ging im ohrenbetäubenden Gebrüll unter. Gidi und ich fielen uns um den Hals, Michi und die anderen kamen von draußen aufs Spielfeld gestürmt, Bruno schnappte sich jeden von uns nacheinander, und die Fans sangen und hüpften und ließen Fahnen und Schals fliegen. Auf jedem Gesicht war nur Strahlen und Lachen, im Mannschaftskreis, vor der Kurve mit den Fans und in der Kabine, wo Johan sich von jedem Einzelnen von uns die Frage anhören musste, wohin er sich vor dem drei zu zwei eigentlich verlaufen habe. Er lachte nur.

Das kühle Wasser unter der Dusche war herrlich. Diesmal musste ich mich von niemandem vertreiben lassen. Ich lachte, scherzte, feierte mit meinen Teamkollegen, und unsere Kabine war der beste Ort auf der Welt, die schweren Muskeln der schönste Schmerz, mein Kopf leicht und frei und schwindelig. Aber irgendwann war ich fertig, hatte mein Zeug gepackt, trug Jeans und T-Shirt, die Haare noch feucht und wunderbar kühl. Mit der Tasche über der Schulter und Verabschiedungen nach links und rechts verließ ich die Kabine, durchquerte die Bushalle und stieg die Treppen in Richtung VIP-Bereich hinauf.

Seit dem Abpfiff war schon relativ viel Zeit vergangen, und einige Besucher kamen mir auf dem Weg zum Ausgang entgegen. Ein paarmal wurde ich aufgehalten, bekam Schulterklapser, Händedrücke, Gratulationen. Unser Vorstandsvorsitzender Didi Beiersdorfer blieb stehen und gab mir die Hand, und in seinen Augen las ich neben Freude vor allem Erleichterung. Klar: Wir waren mit zwei Niederlagen gegen Jena und Bayern in die Saison gestartet. Wenn wir heute auch verloren hätten, wäre es sehr früh sehr ungemütlich geworden.

Ich bedankte mich für die Glückwünsche, aber ich blieb nicht lange stehen. Ich war fast da. Nur noch zwei Treppen hoch. Ich konnte nicht mehr warten. Ich musste ihn sehen. Jetzt.

Meine Schritte wurden schneller. Die Sporttasche schlug gegen meinen Oberschenkel. Letzte Treppenstufe, nach rechts um die Ecke. Links durch die Tür, aufreißen, umschauen, suchen, schnell, wo –

Und da war er. In schwarzer Jeans und schwarzem Hemd, die oberen beiden Knöpfe geöffnet, saß er auf einem der weißen Ledersofas, quasi direkt bei der Tür. Eine schwarze Reisetasche stand neben seinen Füßen auf dem Boden. In der rechten Hand hielt er sein Smartphone, aber in dem Moment, da mein Blick ihn fand, zuckten seine Augen hoch. Das Handy verschwand in seiner hinteren Hosentasche, und auf seine Lippen glitt ein Lächeln. Schmal, fast unsichtbar. Aber seine Augen leuchteten hell wie draußen das Flutlicht. Er erhob sich, während ich die paar Schritte auf ihn zustürmte. Erst, als ich so nah bei ihm war, dass ich ihn hätte berühren können, wenn ich die Hand ausgestreckt hätte, blieb ich stehen.

„Und?“ Meine Stimme war atemlos und, wie immer nach einem Spiel, leicht heiser. Eine Haarsträhne fiel mir in die Augen, und ich strich sie ungeduldig zurück. „Wie fandest dus?“

Er sah mich an. Seine Lippen lagen aufeinander, seine Augenbrauen waren leicht gehoben. In seinem Blick lag etwas, das ich dort noch nicht gesehen hatte, ein Funkeln, das fast genauso aussah wie das Brennen der Feuer und doch ganz anders war. „Es war … interessant.“

Seine Stimme war tief, rau und so leise, dass niemand außer mir ihn hörte. Seine Augen verharrten einen Moment auf meinem Gesicht, dann zuckten sie hinunter zu meinen Schuhen. „Wie geht’s deinem Fuß?“

„Meinem Fuß? Oh.“ Ich hatte einen Moment gebraucht, bis mir Kleins Foul wieder eingefallen war. „Gut. Ich werds noch ein paar Tage merken, aber es ist nichts Ernstes.“

“Gut.” Er sah mir wieder in die Augen. Auf seinen Lippen spielte immer noch dieses unsichtbare Lächeln.

Ich starrte ihn an. Meine Kehle war trocken. Aber sei nachher ein bisschen vorsichtig, hätte ich gern gesagt. Versuch, dich nicht draufzulegen, wenns geht. Und vielleicht hätte er auch gerne noch etwas gesagt. Keine Sorge, ich pass schon auf. So was in der Art. Aber keiner von uns tat es. Wir standen nur da, stumm, und sahen uns an.

Schließlich räusperte ich mich. „Ähm, na dann.“ Meine Stimme krächzte. Ich räusperte mich noch mal. „Ähh … Wollen wir dann gehen?“

Er nickte und nahm seine Tasche vom Boden. Ich führte ihn durch die Drehtür nach draußen und die Treppe nach unten zum Parkplatz. Mittlerweile waren viele Besucher schon weg, und wir begegneten auch keinem meiner Mannschaftskollegen. Die, die noch da waren, feierten wahrscheinlich in der Kabine.

Ich sperrte das Auto auf und öffnete den Kofferraum. Wir schmissen unsere Taschen hinein. Ich ging links herum zur Fahrertür, und Ramin, der ebenfalls nach links gezuckt hatte, schüttelte mit einem leichten Grinsen den Kopf und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite. Trotz allem grinste ich. Tja. Hier in Deutschland musste man eben rechts einsteigen, wenn man nicht selbst fahren wollte.

Fast zeitgleich schlugen wir die Türen zu. Rumms. Ein geschlossener Raum um uns herum, und drinnen nur wir beide. Ich wandte den Kopf. Ramins Blick sendete Schauer meinen Rücken hinunter. Als er sprach, war seine Stimme genauso leise und rau und tief wie zuvor. „Du warst gut.“ Er lehnte sich ein wenig zu mir herüber. Seine Augen ließen meine nicht los. „Richtig gut. Und du sahst heiß aus.“

Seine Lippen waren leicht geöffnet. Ich konnte nicht atmen. Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung, und ich spürte seine Hand an meinem Oberschenkel, außen, oben, innen.

Mein Kopf schnellte zur Windschutzscheibe, und meine Hand schlug seine weg. „Nicht hier!“ Durch zusammengebissene Zähne presste ich es heraus.

Ich hörte ihn ausatmen. Ein dumpfes Geräusch, als er in die Lehne zurückfiel. „Dann fahr irgendwo hin, wo keine Kameras sind.“

Das brauchte er nicht zweimal sagen. Mit gefühllosen Fingern schnallte ich mich an und startete den Motor. Hätte ich doch nur noch meine Sporthose an. Die war nicht so eng wie die Jeans und außerdem dehnbar. Beides hätte ich jetzt gut gebrauchen können.

Die Viertelstunde bis zur Wohnung fühlte sich an wie zehn Jahre. Ramin schwieg, ich auch. Die Konzentration, die ich noch zusammenkratzen konnte, brauchte ich fürs Fahren. Und wenn ich noch einmal seine Stimme hörte, würde ich eine Vollbremsung hinlegen und mich auf ihn stürzen, zur Hölle mit der Öffentlichkeit.

Ich schluckte. Komm schon. Nur ein paar Ecken noch.

Und dann waren wir da. Ich schaltete den Motor aus, schnallte mich ab, öffnete die Tür. Ramin war schon draußen. Wir gingen zum Kofferraum, nahmen unsere Taschen hinaus, gingen zur Haustür. Ich sperrte auf. Treppe hoch. Ich voraus, er hinterher. Erster Stock, zweiter. Unsere Schritte hallten durchs Treppenhaus. Der dritte Stock. Wohnungstür. Schlüssel. Ins Schloss. Komm schon. Drehen, aufschnappen, Tür aufdrücken, rein.

Ich ließ die Sporttasche von der Schulter gleiten und wollte mich umdrehen, aber da hörte ich die Tür schon zuschlagen, mit einem lauten Krachen von zu Hause und Sicherheit, und dann spürte ich Ramins Hände an meiner Hüfte, und diesmal stieß ich ihn nicht weg. Ich fuhr herum im selben Moment, wie er mich herumriss, meine Hände flogen zu seinem Hals, und endlich lagen seine Lippen auf meinen. Er presste gegen mich, seine Hände fuhren an meinem Rücken auf und ab, zogen mich an ihn, schlossen die letzten Millimeter Platz zwischen uns, und ich spürte die Härte an meinem Oberschenkel, wie Stahl. Ich stöhnte gegen seine Lippen, zog ihn stolpernd rückwärts den Flur entlang, meine Finger bahnten sich einen Weg zwischen uns und unter sein Hemd …

Ein Räuspern. Ich riss die Augen auf, und mein Kopf schnellte herum. In der Wohnzimmertür stand Finn. Ramin und ich verharrten mitten in der Bewegung, meine Hände an seiner Brust, seine an meinem Rücken, unsere Körper aneinandergepresst.

„Hi.“ Finn schluckte. Mit großen Augen starrte er uns an.

„Hi.“ Mein ganzer Körper war verkrampft. Alles in mir schrie danach, Ramin weiter den Flur entlang und in mein Zimmer zu zerren. Ich wollte Finn jetzt nicht. Ich brauchte Finn jetzt nicht. Aber konnte ich ihn einfach so stehenlassen?

Ich schluckte. Mein Kopf ruckte in seine Richtung. „Ramin, das ist Finn, mein Mitbewohner. Und mein bester Freund.”

Ramin streifte Finn mit einem vielleicht halbsekündigen Blick. „Hi.“ Seine Augen kehrten zu mir zurück. Er lehnte die Stirn gegen meine, seine Hände fuhren meinen Rücken hinauf, schoben mein T-Shirt mit. Seine Erektion presste immer noch gegen meinen Oberschenkel. Er grinste und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. „Wo ist dein Zimmer?“

Er bewegte den Oberschenkel, der zwischen meinen Beinen lag. Ich presste Lippen und Augen zusammen. Finn, es tut mir leid. Aber ich kann nicht anders. „Letzte Tür links.“ Meine Stimme war nur noch ein Krächzen.

Ramin stieß mich vor sich her, und ich stolperte mit, rückwärts, den Flur entlang, an der Küchentür vorbei, zu meinem Zimmer. Ich löste eine Hand aus Ramins Hemd, fand die Klinke, und wir fielen in den Raum. Bevor Ramin die Tür hinter sich zuwarf, schaute ich noch einmal über seine Schulter. Finn stand im Flur, das Gesicht so blass wie sein Haar. Dann knallte die Tür zu. Ich war allein mit Ramin. Und bis zum nächsten Morgen verschwendete ich keinen Gedanken mehr an irgendetwas anderes.

 

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Referenzen:

 

„Rocket Man (I Think It’s Going to Be a Long, Long Time)“ – aus dem Album „Honky Château” von Elton John und Bernie Taupin. Uni Records / DJM Records, 1972.

 

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Ja … das hat Spaß gemacht. Falls ihr euch das gefragt habt ;)

Chapter 26: Komm und gib mir deine Hand ...

Chapter Text

  1. Kapitel: Komm und gib mir deine Hand …

 

Als ich am nächsten Morgen die Zimmertür aufmachte, war die Sonne längst aufgegangen. Das Licht hatte uns geweckt, aber der Wecker hätte ohnehin bald geklingelt. Schließlich musste ich um zehn zum Auslaufen am Stadion sein.

Auf dem Weg ins Bad und dann in die Küche lauschte ich nach Geräuschen aus Finns Zimmer. Wenn er schon wach war, konnten wir alle zusammen frühstücken. Ich könnte Ramin und Finn einander noch mal richtig vorstellen, und die beiden würden sich endlich ordentlich kennenlernen. Aber hinter Finns Zimmertür war alles still, und in der Küche fand ich neben einer Kanne Schwarztee einen Zettel auf dem Tisch. >Essen ist noch im Kühlschrank. Viel Spaß & sei vorsichtig! Bin erst abends zurück<

Shit. Natürlich. Die zweite Mannschaft hatte heute ein Auswärtsspiel bei Weiche Flensburg, und obwohl Finn nicht spielte, fuhr er mit, um die Jungs zu unterstützen. Natürlich hatte er es mir erzählt. Aber ich hatte es vergessen.

Ich nahm den Zettel vom Tisch und starrte darauf hinab. Mein Magen fühlte sich an, als ob jemand etwas Schweres und Sperriges hätte hineinfallen lassen. Finns Worte, die er mir entgegengeschleudert hatte, als ich von meinem zweiten Besuch bei Ramin zurückgekehrt war, hallten in mir nach. Du glaubst doch nicht, dass er dich liebt? Oder? Dass du ihm IRGENDWIE wichtig bist außer als Sparringspartner im Bett?

Ich schloss die Augen. Ich hatte mich auf Ramins Besuch auch deswegen so gefreut, weil ich unbedingt wollte, dass Finn ihn kennenlernen und seine Meinung über ihn loswerden konnte. Er hatte sehen sollen, dass Ramin extra herkam, um mich zu besuchen, dass er sich wirklich für mich interessierte. Ich hatte mich mit allen beiden unterhalten wollen, zu dritt, über Fußball, über Musik, vielleicht sogar übers Tanzen. Davon hatte ich Finn bisher extra nichts erzählt, Finn konnte nämlich tanzen und war mit seiner letzten Freundin auch öfter auf Tanzabenden gewesen. Dass Ramin mir die Tür dazu aufgemacht hatte, war meine größte Trumpfkarte – das musste Finn einfach gut finden. Ramins Besuch hatte ihm klarmachen sollen, dass er und ich viel mehr waren als nur Sex.

Und jetzt? Jetzt war er den ganzen Tag weg, und ob er heute Abend nach dem Spiel noch Lust haben würde, sich mit Ramin auseinanderzusetzen, würde vom Ergebnis abhängen, auf das ich natürlich keinen Einfluss hatte. Was, wenn unsere Zweite verlor und Finn sich gefrustet in sein Zimmer verzog? Welchen Eindruck hatte er bisher von Ramin gewonnen?

Mit einem Knirschen quetschte ich Finns Zettel zusammen. Gestern hatte Finn zugeschaut, wie Ramin und ich angefangen hatten, uns gegenseitig die Klamotten vom Leib zu reißen, kaum, dass wir die Wohnungstür hinter uns geschlossen hatten. Seinen Versuch, ein Gespräch zu starten, hatten wir abgeschmettert, und zwar wir alle beide. Von Ramin hätte ich das erwarten können, aber ich hätte mich anders verhalten müssen. Ich hätte mich von Ramin lösen und darauf bestehen müssen, dass wir uns erst mal ins Wohnzimmer setzten und mit Finn unterhielten. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass die beiden sich kennenlernten und dass Finn anfing, in Ramin mehr zu sehen als nur den Sexjäger. Das war mir doch so wichtig gewesen. Aber hatte ich gestern daran gedacht? Hatte ich gestern überhaupt noch gedacht?

Ich schleuderte den Zettel in den Papiermüll. Ja, gedacht hatte ich wohl. Aber dummerweise mit dem falschen Körperteil. Statt einer niveauvollen Konversation war Finn in den Genuss gekommen, zu sehen, wie wir sabbernd und fingernd in mein Zimmer stolperten und ihn vollkommen ignorierten. Großartig, Martin. Das hast du hervorragend hingekriegt. Bestimmt denkt er jetzt schon GANZ anders über Ramin.

Ich biss die Zähne zusammen, riss die Schranktür auf und rammte zwei Teetassen auf die Arbeitsfläche. Egal. Jetzt musste ich damit leben und heute Abend retten, was zu retten war. Egal, wie das Spiel der Zweiten ausging, ich würde dafür sorgen, dass wir alle zusammen zu Abend aßen und auch danach noch zusammenblieben. Einen Film schauten, zum Beispiel. Ramin und ich würden uns erst zu einer gesitteten Uhrzeit in mein Zimmer zurückziehen. Ich würde Finn zeigen, dass ich mich beherrschen konnte. Und dass Ramin und ich nicht nur Sex waren.

Hinter mir hörte ich ein schmatzendes Geräusch. Ich wandte den Kopf. Ramin stand barfuß, in Boxershorts und mit wirren Haaren in der Küchentür und stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. Er gähnte genauso ausgiebig und mit genauso weit aufgerissenem Mund wie die Löwen in Hagenbeck, schlurfte mit weiteren schmatzenden Schritten zum Esstisch und plumpste auf den nächstbesten Stuhl. Der zehnsekündige Marsch von meinem Bett hierher musste ihn aufs Äußerste erschöpft haben.

Ich versuchte, das Lachen zu unterdrücken, aber ich schaffte es nicht ganz. Ich drehte mich zurück zur Arbeitsfläche, und während ich den Tee auf die Tassen aufteilte, spürte ich Ramins Blick im Rücken. „What?“

„Nothing.“ Ich nahm beide Tassen am Henkel und stellte sie auf den Tisch. Ramin hing wie ein Sack Kartoffeln im Stuhl und sah mich aus halbgeschlossenen Augen an. Mit Mühe widerstand ich dem Impuls, ihm durch die Haare zu wuscheln. „Breakfast?“

Er schaffte es tatsächlich, zu nicken. „Sure.“

Ich holte Milch aus dem Kühlschrank und zwei Müslischalen aus dem Schrank. Vermutlich sollte ich Ramin jetzt in Ruhe seinen Tee trinken lassen und warten, bis das Koffein ihn wachrüttelte, aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Während ich Müsli und Milch in die Schalen schüttete, fragte ich mit erhobener Stimme, damit er gar nicht erst versuchen konnte, so zu tun, als hätte er mich nicht gehört: „What’s the matter? Didn’t you get enough sleep last night?“

Er schnaufte. So ungefähr musste ein Löwe klingen, wenn er schnarchte. Ich presste die Lippen aufeinander, aber in mir drin klang das Lachen trotzdem. Warm und leuchtend und wunderschön.

“I had other stuff to do. As you very well know.”

Ich stellte die Milch zurück in den Kühlschrank, platzierte eine Schale mitsamt Löffel vor Ramin und die andere neben meine Teetasse und setzte mich ihm gegenüber. „Well, so did I. And I don’t look as though I’ll fall asleep again any minute.”

„You’re younger than me and you’re an athlete. You have too much energy.”

Ich hob die Augenbrauen. „Are you telling me these are signs of old age you’re showing?“

Zack, waren seine Augen ganz offen und sein Rücken kerzengerade. „Watch it, kid.”

Ich lachte und fiel über mein Frühstück her. Am Morgen nach Spielen hatte ich immer einen Riesenhunger. Zwischen zwei Löffeln sah ich ihn an. „So, what do you fancy doing today? I could show you the city. If you’re not too senile, that is.”

Er tat sein Bestes, mich mit den Augen zu erdolchen. Aber um seine Mundwinkel zuckte es. „Carry on like that, and you‘re in for another spanking tonight.”

“Oh, please!” Sogar ich war von meinem Tonfall überrascht. Eine Katze vor einer Schale Sahne hätte nicht heißhungriger schnurren können.

Ramin grinste und lehnte sich leicht über den Tisch. „Why not right now? We could go back to bed. Stay there all day. And all night.”

Seine Augenbrauen wanderten einen Hauch nach oben. Ich schaute ihn an und sah das Paradies.

Dann atmete ich ein und lehnte mich zurück. Mit einem leichten Ziehen im Bauch schüttelte ich den Kopf. Ich hatte es mir versprochen, und Finn, und außerdem wollte ich Ramin mein Hamburg zeigen. „No way. There’s time enough for all that tonight. Today, I want to show you the city. And I have to be out of here soon anyway, our running out session is set at ten.”

Konnte man “auslaufen” wirklich mit “running out” übersetzen? Keine Ahnung. Aber Ramin schien mich verstanden zu haben. Er seufzte, grinste und lehnte sich ebenfalls zurück. „Ah, well. At least I’ll have something to look forward to.”

Wir tauschten noch ein Grinsen.

„How long is this running-out stuff going to take?” Ramin nahm einen Schluck aus seiner Teetasse.

“Not very long. Two hours, maybe. You can come with me if you want, but you won’t see much of me, we’re going running in the Volkspark.”

“What’s that?”

„The wooded area around the training compound. You can watch the others practice, though. The guys who didn’t play yesterday will be playing. Or you can stay here, and I’ll pick you up again later.”

Er schwieg einen Moment, dann stellte er grinsend seine leere Tasse zurück auf den Tisch. „I’ll come with you, I think. I wanna see how professional football players practice.”

“Much like normal football players, I’m afraid.” Ich räumte meine Schale in den Geschirrspüler. Unsere taktischen Übungen waren natürlich komplexer als bei Amateurmannschaften, aber das Spielersatztraining, wie Ramin es heute zu sehen bekommen würde, war nicht sehr spektakulär. Es würde ein Aufwärmen geben, meistens eine Übung mit Torabschluss und ein Spiel. Aber auch dazu waren immer einige Fans da und schauten zu, Ramin würde also nicht auffallen. „You finish eating. I‘ll pack my stuff. When practice is over, just wait by Uwe’s foot, and I’ll pick you up there. We’ll come back here, leave the car, and I’ll show you the city.”

“Uwe’s foot?” Seine ganze Stirn lag in Falten.

Ich lachte. Wir waren gestern schon daran vorbeigefahren, aber wenn ich daran dachte, wo ich da mit meinen Gedanken gewesen war, konnte ich ihm keinen Vorwurf daraus machen, dass er ihm nicht aufgefallen war. „We’ll pass it on our way there. Don’t worry. You’ll know it when you see it.”

 

*

 

Als ich Ramin nach dem Training aufsammelte, wollte er wissen, warum neben unserem Fußballstadion eine massige Bronzereplik von einem nackten Fuß stand, die doppelt so hoch war wie er. Ich erzählte ihm, dass Uwe Seeler in den 50ern, 60ern und 70ern über zwanzig Jahre für den HSV gespielt und mehr als vierhundert Tore für uns geschossen hatte, dass er ein für die damalige Zeit sensationelles Angebot von Inter Mailand ausgeschlagen hatte, weil er Hamburg und den HSV nicht hatte verlassen wollen, und dass er auch heute noch die größte Vereinslegende des HSV und ein Vorbild für jeden jungen Fußballer war.

Als ich fertig war, spürte ich Ramins Blick von der Seite. Einen Moment war es still. „So this guy played here for twenty years and scored a couple of goals”, sagte er schließlich, langsam und mit Pausen, „he was stupid enough to turn down an offer that would’ve made him rich, and that’s why someone made a giant statue of his foot and put it next to the stadium?”

“That wasn’t stupid, it was loyal! It was admirable!”

Ramin schnaubte. Aber ich ließ mich nicht beirren. Ich verdrehte den Nacken, um sicherzugehen, dass kein Fahrradfahrer heranraste, und setzte zum Linksabbiegen an. „But on the whole, yeah. Actually, it’s quite famous. Before every match, many fans go there and take selfies or a family photograph or something.”

Ich warf Ramin einen schnellen Blick zu und sah ihn fassungslos den Kopf schütteln. „That is insane.“

„No, it’s not! When I was a kid, I used to dream of playing for the HSV so long and so well that someday, a statue of my foot would be put up next to his.”

Meine Wangen wurden warm. Bis auf meiner Mutter hatte ich das bisher noch niemandem erzählt. Und davon, dass mein Fuß auch mal in zweieinhalb Tonnen Bronze vor dem Stadion stehen würde, träumte ich schon lange nicht mehr. Aber um Uwes Fuß herum waren in einem Kreis auf dem Boden andere große HSVer verewigt, Feldspieler mit Fuß-, Torhüter mit Handabdrücken. Felix Magath, Horst Hrubesch, Manni Kaltz, Kevin Keegan, Thommy von Heesen … Eine ganze Reihe älterer und neuerer Vereinslegenden waren in diesem Walk of Fame dabei. Natürlich würde niemals jemand eine Statue von meinem Fuß da hinstellen, und das war auch richtig so. Uwe Seeler war eben Uwe Seeler, auf ewig unerreicht. Aber den Traum, nach einer langen, hingebungsvollen Karriere beim HSV vielleicht irgendwann in die Reihe der anderen Walk-of-Fame-Legenden aufgenommen zu werden, träumte ich manchmal schon noch. Ganz leise und ganz tief in mir drin. Aber da war er.

Wieder spürte ich Ramins Blick. Als er schließlich sprach, klang er noch fassungsloser als zuvor. „You used to dream that some day, someone would make a statue of your foot and put it next to that monstrosity?”

Mein Griff ums Lenkrad wurde fester, aber ich lächelte. “Yes.”

„Then you’re insane, too.“ Er schaute durch die Windschutzscheibe in den Himmel, lachte leise und schüttelte den Kopf. Ein paar Sekunden war nur das Surren des Motors zu hören. Dann drehte er den Kopf abrupt zu mir zurück. „You know, if I was gonna dream of someone ever sculpting a giant statue of any body part of mine –“

“Yeah, yeah, I know.” Ich grinste von Ohr zu Ohr, und jetzt war ich es, der den Kopf schüttelte. „I know which one you’d choose, and I know it wouldn’t be your foot.” Ich lachte, setzte den Blinker rechts und bog in unsere Straße ein. „And that really is insane, I suppose you know that.”

“Oh, well.” Ich war mit Einparken beschäftigt und konnte ihn nicht anschauen, aber an seinem Ton hörte ich sein Grinsen. „It’d be a hell of a lot more interesting than your foot, anyway.”

“Maybe.” Ich schob den Schalthebel auf P, stellte den Motor ab und sah ihn an. „But somehow I can’t see many families having their picture taken in front of it, can you?”

Er zuckte die Schultern. In seinen Augen funkelte es. „I don’t know. I think it’d be an … outstanding motive for a Christmas Card.”

Wir sahen uns an. Dann brachen wir gleichzeitig in schallendes Gelächter aus.

 

*

 

„So? What do you think?“

Wir standen an der Mauer der Hafenpromenade. Ich ließ den Blick über die Pontons unter uns schweifen, mit ihren Imbissen, Souvenirläden, Anlagestellen für Hafenrundfahrten und dem üblichen Menschengewirr, blinzelte in die Sonne, die sich auf der Elbe spiegelte, und genoss den Wind, der mir übers Gesicht strich und mein Haar zerzauste. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft schmeckte nach Salz und Wind und Wasser. Wie ich meine Stadt und den Hafen liebte.

Ich machte die Augen auf. Links von uns lag die Rickmer Rickmers, das grüne Segelschiff, das schon lange nicht mehr hinausfuhr, sondern als Museumsschiff im Hafen lag. Noch ein Stück weiter links war die Cap San Diego, noch ein Museumsschiff, das früher mal ein Kreuzfahrtschiff gewesen war. Gegenüber am anderen Elbufer stand das riesige gelbe Zelt, in dem seit Jahren „Der König der Löwen“ aufgeführt wurde. Das wäre eigentlich auch eine Idee gewesen – mit Ramin in die Vorstellung zu gehen. Aber das hätte ich viel früher planen müssen, da gab es für heute Abend jetzt sicher keine Karten mehr. Und würde sich Ramin überhaupt in seiner Freizeit ein Musical anschauen wollen, wo er normalerweise jeden Abend selber auf der Bühne stand, und noch dazu mit deutschen Texten? Ne. War vielleicht schon ganz gut, dass mir die Idee vorher nicht gekommen war.

Ramin stand rechts von mir, nicht direkt an der Mauer, sondern einen Schritt weiter hinten. Er ließ den Blick über den Hafen schweifen, die Schiffe, das Wasser, die Buden, die Menschen. „It’s quite big.“

„You bet it is.“ Ich grinste und stieß mich von der Mauer ab. „Come on, let’s go down!”

“Down?”

Er hatte die Augenbrauen gehoben und grinste, aber in dem Wort war ein Unterton mitgeschwungen. Irgendwie – zögerlich. Oder?

Ich runzelte die Stirn. Sicher hatte ich ihn über den Wind nur nicht richtig gehört. „Down to the pier. I’ll show you all the ships! There’s even a –“ Ich suchte nach dem Wort. Aber Schaufelraddampfer auf Englisch? Keine Chance. „– one with a huge wheel. You know? Come on! It’ll be fun!”

Ich lachte und sprang die ersten Schritte in Richtung der nächstgelegenen überdachten Brücke hinunter zu den Pontons. Ich glaubte zu sehen, wie sich Ramins Unterkiefer versteifte und seine Schultern sich strafften. Was war denn los? Mit einem Grinsen, das mir gezwungen vorkam, setzte er den ersten Fuß nach vorne und folgte mir.

Am Hamburger Hafen war immer was los, und wenn das Wetter so schön war wie heute, war massig was los. Auf der Brücke wurden wir eingekesselt von Touristen, die entweder wie wir auf dem Weg nach unten waren oder uns von der anderen Seite entgegenkamen. Ich schlängelte mich durch eine Gruppe Asiaten und um eine Frau mit zwei Boxern an der Leine herum, wurde von der Masse nach unten getrieben und hatte keine Chance, anzuhalten und mich nach Ramin umzuschauen. Erst, als ich auf den Pontons angekommen war, konnte ich mich aus dem Strom befreien, ein paar Schritte nach links in Richtung Rickmer Rickmers gehen und mich umdrehen.

Ramin tauchte aus der Brücke auf, ganz rechts an der Seite. Er hielt sich sehr gerade, und selbst auf die paar Schritte Entfernung konnte ich erkennen, wie angespannt seine Gesichtsmuskeln waren. Sein Blick irrte umher und fand mich. Mechanisch, mit großen, roboterhaften Schritten, ging er um die umherstehenden plappernden und lachenden Menschen herum auf mich zu.

Ich starrte ihn an. Ich hätte gerne seine Hände genommen. Selbst seine Finger waren kerzengerade ausgestreckt. Stattdessen legte ich ihm die Hand auf den Rücken. Jeder seiner Muskeln war starr und angespannt. „What’s wrong?“

„Nothing. I’m fine.“ Seine Kiefer waren so fest aufeinandergepresst, dass es eine Leistung war, dass er überhaupt Worte da hindurchbekam.

„Come on, Ramin! You‘re not fine. You’re –“

Der Boden unter unseren Füßen bewegte sich. Mir fiel es kaum auf, die Pontons schwammen eben. So konnten unabhängig vom Wasserstand immer Schiffe daran festmachen. An den Anlegestellen an den Elbstränden gab es auch Pontons, und ich war schon als Kind immer besonders gerne dann darauf gestanden, wenn der Wind so richtig pfiff oder gerade ein Containerschiff vorbeigefahren war, das ordentlich Wellen warf. Das Heben und Senken des Pontons hatte ich schon immer besser gefunden als jedes Karussell. Auch jetzt verlagerte ich automatisch mein Gewicht mit der leichten Bewegung. Ramin wurde totenbleich. „Christ!“

Zack, war er weg, stieß diesmal wie ein Rammbock durch die Touristen hindurch und war um die Ecke die Brücke hinauf verschwunden, bevor ich auch nur die Hand wieder senken konnte. Ich starrte ihm hinterher. Ramin Karimloo, the Phantom, the Angel of Music, der Mann, der mich so rettungslos verführt hatte, die Souveränität und Arroganz in Person. Geschlagen von einer höchstens mittelgroßen Welle am Hamburger Hafen.

Ich biss mir auf die Lippe. Nicht lachen. Du darfst nicht lachen, wenn du oben bist. Aber ganz hinunterzwingen konnte ich es nicht. Also lachte ich jetzt, hier, kurz und schnell, bevor ich durchatmete und mir immer noch leicht grinsend langsam, höflich und mit sicheren Schritten einen Weg durch die Menge bahnte. Auf der Brücke zuckten meine Mundwinkel immer noch.

Ramin stand an der Mauer, ziemlich genau da, wo ich gewesen war, bevor ich ihn auf die Pontons hinuntergezwungen hatte. Er lehnte mit der Hüfte dagegen, die Hände auf die Mauer gestützt. Den Pontons und der Elbe hatte er den Rücken zugewandt. Sein Kopf war in den Nacken gelegt, und sein Bauch hob und senkte sich in tiefen, regelmäßigen Zügen. Ich stellte mich neben ihn, die rechte Hand auf der Mauer. Mein Daumen fuhr über die feinen Gravierungen auf einem der unzähligen Liebesschlösser, die daran befestigt waren.

Ramins Augen zuckten zu mir und gleich wieder weg. Er atmete aus und presste die Lippen aufeinander. „Go on. Laugh.“

Er klang ein wenig verächtlich und ein wenig resigniert. Aber nicht wütend. Und – glaubte ich zumindest – wenigstens ein klitzekleines bisschen belustigt.

„I’m not laughing.“ Es war die Wahrheit. Jetzt, wo ich ihn vor mir hatte, war der Impuls verschwunden. „Why didn’t you tell me you get seasick that easily?”

“I don’t get seasick!”

Ich hob die Augenbrauen. Einen Moment waren nur der Wind und das Geschnatter der Menschen und Möwen um uns herum zu hören.

Er atmete aus, und seine Schultern fielen herab. „All right. I do get seasick.“

Er löste die rechte Hand von der Mauer und fuhr sich durchs Haar. Um seinen Mund zuckte es. „I’m sorry. It’s just … The first time I ever went to Britain, I went by ship. From Canada”, ergänzte er auf meinen fragenden Blick. „It was autumn, the sea was rough, and –“ Er stieß ein kurzes Lachen aus und ließ den Blick über die Hafenumgebung schweifen. „Suffice to say, when I got off that boat in Southampton, I swore to myself I’d never set foot on another one for as long as I lived.” Er seufzte und fuhr sich noch einmal durchs Haar. „I suppose you love it.”

Wieder klang er ein bisschen verächtlich. Aber auch ein bisschen neidisch. Und, wenn ich mich nicht täuschte, sogar ein bisschen schüchtern.

Wärme durchströmte mich bis in die Finger- und Zehenspitzen. Am liebsten hätte ich ihn umarmt und an mich gepresst. So lächelte ich nur. „Yeah. Always have. I don’t know if you can grow up in Hamburg and not end up loving water.”

“I don’t mind water.“ Ramin drehte sich um und ließ den Blick über den Hafen schweifen. „I just want to stand on solid ground while I look at it, that’s all.”

“Fair enough. You could have just said so. Then I wouldn’t have gone down at all.”

“Yeah, well …” Er schaute überall hin außer zu mir. Sein Blick blieb an einem Gebäude ganz links von uns hängen, einem Backsteinbau mit gläsernem Aufsatz, umgeben von turmhohen Kränen, der dreieckig ins Wasser ragte. „What’s that?“

Ich grinste und zögerte. Aber dann ließ ich ihm den Themawechsel durchgehen. „That is the Elbphilharmonie. It’s gonna be a big concert hall once it’s finished, and it’s our new landmark-to-be.“ Dass sie den to-be-Status eigentlich schon seit fünf Jahren hätte los sein sollen, verschwieg ich ihm. Das war jetzt ja nicht so wichtig. Und wenn die Elphi fertig war, würde sie großartig aussehen.

Ramin grinste. „Our new landmark?“

„Yeah.” Ich runzelte die Stirn. „What’s funny about that?“

Er öffnete den Mund, aber bevor er Was-auch-immer sagen konnte, hörte ich eine Stimme von meiner anderen Seite. Es war eine hohe Kinderstimme, und sie platzte fast vor Aufregung. „Du?!“

Lächelnd drehte mich ich um. Vor mir stand ein blonder Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Er trug unser aktuelles Heimtrikot. Zwei Schritte hinter ihm stand eine ebenso blonde Frau Mitte dreißig – vermutlich seine Mutter. Der Junge starrte mit riesigen Augen zu mir hinauf. „Bist du Martin vom HSV?“

“Ja, bin ich. Und wer bist du?“

„Arne!“ Seine Augen und sein Mund strahlten um die Wette. „Gibst du mir ein Autogramm?“

„Na klar. Hast du einen Stift?“

„Nehmen Sie den hier.“ Die Frau zauberte aus ihrer Handtasche einen Edding hervor.

„Dankeschön.“ Mit dem Stift in der Hand wandte ich mich wieder an ihren Sohn. „Wohin denn?“

„Da!“ Mit dem Zeigefinger patschte er sich auf die Brust, auf den weißen Stoff zwischen Adidas- und Vereinslogo.

„Alles klar.“ Ich kniete mich hin, zog mit der linken Hand den Stoff straff und kritzelte meine Unterschrift neben die Raute. Von oben hörte ich die Stimme von Arnes Mutter.

„Das wollte er heute unbedingt noch mal anziehen, nachdem es gestern im Stadion so viel Glück gebracht hat.“

„Schön, dass es Ihnen gefallen hat.“ Ich richtete mich auf und gab ihr den Stift zurück.

„Ganz toll hast du gespielt!“ Das sprudelte förmlich aus Arne heraus. „Wenn ich groß bin, will ich auch mal beim HSV spielen!“

Ich lachte. „Na dann trainier mal fleißig. Spielst du denn schon in einem Verein?“

„Klar! Und ich schieße immer ganz viele Tore!“

„Das klingt ja toll!” Für den bewundernden Tonfall kassierte ich ein Strahlen von Arne und ein dankbares Lächeln von seiner Mutter.

„Wir müssen jetzt leider weiter.“ Sie nahm ihren Sohn an die Hand. „Was sagt man da, Arne?“

„Danke!“ Im Weggehen drehte er sich noch mal um und schrie über die Schulter zurück: „Wenn ihr weiter so toll spielt, werdet ihr bestimmt Meister!“

Ich lachte und winkte. Tja, schön wär‘s. Aber in seinem Alter war mir das auch alles so einfach vorgekommen.

Als Arne und seine Mutter in der Menge verschwunden waren, wandte ich mich wieder zu Ramin. Er betrachtete mich. Irgendwas an seinem Blick sendete ein Kribbeln über meine Haut. „What?“

Er schüttelte den Kopf. Ich glaubte, den Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen zu erkennen. „Nothing.“ Einen Moment verharrte sein Blick auf meinem Gesicht. Dann blinzelte er und richtete sich auf. “So, where next?”

Ich blinzelte auch. Was war das denn gewesen? Es hatte sich nicht schlecht angefühlt, überhaupt nicht. Aber … intensiv. Ich blinzelte noch einmal und schüttelte den Kopf. “The other river, the Alster, and the city center.” Einen winzigen Moment zögerte ich. Aber die Chance war einfach zu gut, um sie auszulassen. „Unless you’d like to take a harbour boat trip first?“

Von seinem Blick hätte die Elbe zufrieren können. „Let’s go.“

Mit großen Schritten stürmte er in Richtung S-Bahn-Station. Lachend folgte ich ihm.

 

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Referenzen:

 

„Komm und gib mir deine Hand“ – Lyric aus dem Song „Weltstadt“ vom Album „Grenzenlos“ von Michael Kröger / Elvis (dieses Lied mit Olly / Hamburger Jungz). Wendt Musik Produktionen, 2013.

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Morgen Früh fehlt mir wieder die Zeit, deshalb gibt es das Kapitel wieder schon heute Abend :)

Wie die Fußballdetails insgesamt sind auch die Informationen über Hamburg und den HSV in diesem Kapitel sorgfältig recherchiert. Nur an einer Stelle muss ich ein Aber einschieben: Als ich das letzte Mal am Hamburger Hafen war, habe ich, wie jedes Mal, seit ich das Kapitel aufgesetzt habe, einen Realitätscheck der Szene durchgeführt. Dazu war ich auch unten auf den Pontons. Und da wackelt … tja. Nichts.

Als ich die Szene geschrieben habe, hatte ich glaube ich das Ponton am Rissener Elbstrand im Kopf, das genau in den im Kapitel beschriebenen Situationen wackelt – bei Wind und, nachdem ein Schiff vorbeigefahren ist. Das ist aber nur ein einzelnes Ponton, und da ist auch keine halbe Innenstadt drauf wie am Hafen. Es mag sein, dass diese Pontonpromenade mit all ihren Souvenirläden und Imbissbuden auch ab und an mal ein wenig schwankt, aber wohl nur, wenn es wirklich stürmt – und an solchen Tagen ist da unten sicher sowieso alles gesperrt. Ich habe kurz überlegt, ob ich die Szene auf die Rickmer Rickmers verlegen soll, habe mich dann aber dagegen entschieden. Da muss man sich anstellen, Tickets kaufen, mit anderen Menschen interagieren, und das war alles ein Aufwand, den ich nicht wollte und nicht brauchte. Also habe ich mich in dem Fall bewusst für die unrealistische Variante entschieden und hoffe, dass ihr mir das im Rahmen der künstlerischen Freiheit verzeiht. Zur Klarstellung erlaube ich mir, euch an dieser Stelle unzweifelhaft zu versichern: Ihr könnt die Pontonpromenade am Hamburger Hafen auch dann entlangschlendern, wenn ihr schnell seekrank werdet. Also lasst euch ausnahmsweise vom Kapitel nicht abhalten ;)

Chapter 27: Komm und gib mir deine Hand ... - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Komm und gib mir deine Hand …

 

Als ich am nächsten Morgen die Zimmertür aufmachte, war die Sonne längst aufgegangen. Das Licht hatte uns geweckt, aber der Wecker hätte ohnehin bald geklingelt. Schließlich musste ich um zehn zum Auslaufen am Stadion sein.

Auf dem Weg ins Bad und dann in die Küche lauschte ich nach Geräuschen aus Finns Zimmer. Wenn er schon wach war, konnten wir alle zusammen frühstücken. Ich könnte Ramin und Finn einander noch mal richtig vorstellen, und die beiden würden sich endlich ordentlich kennenlernen. Aber hinter Finns Zimmertür war alles still, und in der Küche fand ich neben einer Kanne Schwarztee einen Zettel auf dem Tisch. >Essen ist noch im Kühlschrank. Viel Spaß & sei vorsichtig! Bin erst abends zurück<

Shit. Natürlich. Die zweite Mannschaft hatte heute ein Auswärtsspiel bei Weiche Flensburg, und obwohl Finn nicht spielte, fuhr er mit, um die Jungs zu unterstützen. Natürlich hatte er es mir erzählt. Aber ich hatte es vergessen.

Ich nahm den Zettel vom Tisch und starrte darauf hinab. Mein Magen fühlte sich an, als ob jemand etwas Schweres und Sperriges hätte hineinfallen lassen. Finns Worte, die er mir entgegengeschleudert hatte, als ich von meinem zweiten Besuch bei Ramin zurückgekehrt war, hallten in mir nach. Du glaubst doch nicht, dass er dich liebt? Oder? Dass du ihm IRGENDWIE wichtig bist außer als Sparringspartner im Bett?

Ich schloss die Augen. Ich hatte mich auf Ramins Besuch auch deswegen so gefreut, weil ich unbedingt wollte, dass Finn ihn kennenlernen und seine Meinung über ihn loswerden konnte. Er hatte sehen sollen, dass Ramin extra herkam, um mich zu besuchen, dass er sich wirklich für mich interessierte. Ich hatte mich mit allen beiden unterhalten wollen, zu dritt, über Fußball, über Musik, vielleicht sogar übers Tanzen. Davon hatte ich Finn bisher extra nichts erzählt, Finn konnte nämlich tanzen und war mit seiner letzten Freundin auch öfter auf Tanzabenden gewesen. Dass Ramin mir die Tür dazu aufgemacht hatte, war meine größte Trumpfkarte – das musste Finn einfach gut finden. Ramins Besuch hatte ihm klarmachen sollen, dass er und ich viel mehr waren als nur Sex.

Und jetzt? Jetzt war er den ganzen Tag weg, und ob er heute Abend nach dem Spiel noch Lust haben würde, sich mit Ramin auseinanderzusetzen, würde vom Ergebnis abhängen, auf das ich natürlich keinen Einfluss hatte. Was, wenn unsere Zweite verlor und Finn sich gefrustet in sein Zimmer verzog? Welchen Eindruck hatte er bisher von Ramin gewonnen?

Mit einem Knirschen quetschte ich Finns Zettel zusammen. Gestern hatte Finn zugeschaut, wie Ramin und ich angefangen hatten, uns gegenseitig die Klamotten vom Leib zu reißen, kaum, dass wir die Wohnungstür hinter uns geschlossen hatten. Seinen Versuch, ein Gespräch zu starten, hatten wir abgeschmettert, und zwar wir alle beide. Von Ramin hätte ich das erwarten können, aber ich hätte mich anders verhalten müssen. Ich hätte mich von Ramin lösen und darauf bestehen müssen, dass wir uns erst mal ins Wohnzimmer setzten und mit Finn unterhielten. Ich hätte dafür sorgen müssen, dass die beiden sich kennenlernten und dass Finn anfing, in Ramin mehr zu sehen als nur den Sexjäger. Das war mir doch so wichtig gewesen. Aber hatte ich gestern daran gedacht? Hatte ich gestern überhaupt noch gedacht?

Ich schleuderte den Zettel in den Papiermüll. Ja, gedacht hatte ich wohl. Aber dummerweise mit dem falschen Körperteil. Statt einer niveauvollen Konversation war Finn in den Genuss gekommen, zu sehen, wie wir sabbernd und fingernd in mein Zimmer stolperten und ihn vollkommen ignorierten. Großartig, Martin. Das hast du hervorragend hingekriegt. Bestimmt denkt er jetzt schon GANZ anders über Ramin.

Ich biss die Zähne zusammen, riss die Schranktür auf und rammte zwei Teetassen auf die Arbeitsfläche. Egal. Jetzt musste ich damit leben und heute Abend retten, was zu retten war. Egal, wie das Spiel der Zweiten ausging, ich würde dafür sorgen, dass wir alle zusammen zu Abend aßen und auch danach noch zusammenblieben. Einen Film schauten, zum Beispiel. Ramin und ich würden uns erst zu einer gesitteten Uhrzeit in mein Zimmer zurückziehen. Ich würde Finn zeigen, dass ich mich beherrschen konnte. Und dass Ramin und ich nicht nur Sex waren.

Hinter mir hörte ich ein schmatzendes Geräusch. Ich wandte den Kopf. Ramin stand barfuß, in Boxershorts und mit wirren Haaren in der Küchentür und stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab. Er gähnte genauso ausgiebig und mit genauso weit aufgerissenem Mund wie die Löwen in Hagenbeck, schlurfte mit weiteren schmatzenden Schritten zum Esstisch und plumpste auf den nächstbesten Stuhl. Der zehnsekündige Marsch von meinem Bett hierher musste ihn aufs Äußerste erschöpft haben.

Ich versuchte, das Lachen zu unterdrücken, aber ich schaffte es nicht ganz. Ich drehte mich zurück zur Arbeitsfläche, und während ich den Tee auf die Tassen aufteilte, spürte ich Ramins Blick im Rücken. „Was?“

„Nichts.“ Ich nahm beide Tassen am Henkel und stellte sie auf den Tisch. Ramin hing wie ein Sack Kartoffeln im Stuhl und sah mich aus halbgeschlossenen Augen an. Mit Mühe widerstand ich dem Impuls, ihm durch die Haare zu wuscheln. „Frühstück?“

Er schaffte es tatsächlich, zu nicken. „Klar.“

Ich holte Milch aus dem Kühlschrank und zwei Müslischalen aus dem Schrank. Vermutlich sollte ich Ramin jetzt in Ruhe seinen Tee trinken lassen und warten, bis das Koffein ihn wachrüttelte, aber ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Während ich Müsli und Milch in die Schalen schüttete, fragte ich mit erhobener Stimme, damit er gar nicht erst versuchen konnte, so zu tun, als hätte er mich nicht gehört: „Was ist denn los? Hast du etwa nicht genug geschlafen letzte Nacht?“

Er schnaufte. So ungefähr musste ein Löwe klingen, wenn er schnarchte. Ich presste die Lippen aufeinander, aber in mir drin klang das Lachen trotzdem. Warm und leuchtend und wunderschön.

“Ich hatte anderes zu tun. Und das weißt du ganz genau.“

Ich stellte die Milch zurück in den Kühlschrank, platzierte eine Schale mitsamt Löffel vor Ramin und die andere neben meine Teetasse und setzte mich ihm gegenüber. „Na ja, das hatte ich aber auch. Und ich seh nicht so aus, als ob ich gleich wieder einschlafe.“

„Du bist jünger als ich und du bist Profisportler. Du hast zu viel Energie.“

Ich hob die Augenbrauen. „Willst du etwa sagen, dass das Anzeichen von Altersschwäche sind?“

Zack, waren seine Augen ganz offen und sein Rücken kerzengerade. „Pass auf, was du sagst, Kindchen.”

Ich lachte und fiel über mein Frühstück her. Am Morgen nach Spielen hatte ich immer einen Riesenhunger. Zwischen zwei Löffeln sah ich ihn an. „Und, worauf hast du heute Lust? Ich könnte dir die Stadt zeigen. Wenn du dafür noch nicht zu senil bist, natürlich.“

Er tat sein Bestes, mich mit den Augen zu erdolchen. Aber um seine Mundwinkel zuckte es. „Mach so weiter, und ich muss dir heute Nacht noch mal den Hintern versohlen.“

“Oh, bitte!” Sogar ich war von meinem Tonfall überrascht. Eine Katze vor einer Schale Sahne hätte nicht heißhungriger schnurren können.

Ramin grinste und lehnte sich leicht über den Tisch. „Warum nicht jetzt gleich? Wir könnten wieder ins Bett gehen. Den ganzen Tag da bleiben. Und die ganze Nacht.“

Seine Augenbrauen wanderten einen Hauch nach oben. Ich schaute ihn an und sah das Paradies.

Dann atmete ich ein und lehnte mich zurück. Mit einem leichten Ziehen im Bauch schüttelte ich den Kopf. Ich hatte es mir versprochen, und Finn, und außerdem wollte ich Ramin mein Hamburg zeigen. „Keine Chance. Dafür ist heute Nacht noch genug Zeit. Heute will ich dir die Stadt zeigen. Und ich muss sowieso bald hier raus, um zehn steht unser Auslaufen an.“

Ramin seufzte, grinste und lehnte sich ebenfalls zurück. „Tja, nicht zu ändern. Dann hab ich wenigstens was, auf das ich mich freuen kann.“

Wir tauschten noch ein Grinsen.

„Wie lang dauert dieses Auslaufen-Zeugs denn?“ Ramin nahm einen Schluck aus seiner Teetasse.

„Nicht so lang. Zwei Stunden oder so. Wenn du willst, kannst du mitkommen, von mir kriegst du aber nicht viel zu sehen, wir gehen im Volkspark laufen.“

„Was ist das?”

„Das Waldgebiet neben dem Trainingsgelände. Aber du kannst den anderen beim Training zuschauen. Die, die gestern nicht gespielt haben, trainieren heute. Oder du kannst auch hierbleiben, dann hol ich dich nachher wieder ab.“

Er schwieg einen Moment, dann stellte er grinsend seine leere Tasse zurück auf den Tisch. „Ich komm mit, glaub ich. Ich will mal sehen, wie Profifußballer trainieren.“

„Ziemlich genau so wie Amateurfußballer, fürchte ich.” Ich räumte meine Schale in den Geschirrspüler. Unsere taktischen Übungen waren natürlich komplexer als bei Amateurmannschaften, aber das Spielersatztraining, wie Ramin es heute zu sehen bekommen würde, war nicht sehr spektakulär. Es würde ein Aufwärmen geben, meistens eine Übung mit Torabschluss und ein Spiel. Aber auch dazu waren immer einige Fans da und schauten zu, Ramin würde also nicht auffallen. „Iss du mal auf. Ich pack schnell mein Zeug. Wenn das Training vorbei ist, warte einfach neben Uwes Fuß, und ich hol dich von da ab. Dann fahren wir wieder hierher zurück, lassen das Auto da, und ich zeig dir die Stadt.“

“Uwes Fuß?” Seine ganze Stirn lag in Falten.

Ich lachte. Wir waren gestern schon daran vorbeigefahren, aber wenn ich daran dachte, wo ich da mit meinen Gedanken gewesen war, konnte ich ihm keinen Vorwurf daraus machen, dass er ihm nicht aufgefallen war. „Wir kommen auf dem Hinweg dran vorbei. Keine Sorge. Du kannst ihn nicht verfehlen.“

 

*

 

Als ich Ramin nach dem Training aufsammelte, wollte er wissen, warum neben unserem Fußballstadion eine massige Bronzereplik von einem nackten Fuß stand, die doppelt so hoch war wie er. Ich erzählte ihm, dass Uwe Seeler in den 50ern, 60ern und 70ern über zwanzig Jahre für den HSV gespielt und mehr als vierhundert Tore für uns geschossen hatte, dass er ein für die damalige Zeit sensationelles Angebot von Inter Mailand ausgeschlagen hatte, weil er Hamburg und den HSV nicht hatte verlassen wollen, und dass er auch heute noch die größte Vereinslegende des HSV und ein Vorbild für jeden jungen Fußballer war.

Als ich fertig war, spürte ich Ramins Blick von der Seite. Einen Moment war es still. „Dieser Typ hat hier also zwanzig Jahre gespielt und ein paar Tore geschossen“, sagte er schließlich, langsam und mit Pausen, „er war so blöd, ein Angebot auszuschlagen, das ihn reich gemacht hätte, und deswegen hat jemand eine riesige Statue von seinem Fuß gegossen und vor dem Stadion aufgestellt?“

„Das war nicht blöd, das war loyal! Es war bewundernswert!“

Ramin schnaubte. Aber ich ließ mich nicht beirren. Ich verdrehte den Nacken, um sicherzugehen, dass kein Fahrradfahrer heranraste, und setzte zum Linksabbiegen an. „Aber im Großen und Ganzen stimmt das, ja. Das Ding ist sogar ziemlich berühmt. Vor jedem Spiel gehen da viele Fans hin und machen Selfies oder ein Familienfoto oder so.“

Ich warf Ramin einen schnellen Blick zu und sah ihn fassungslos den Kopf schütteln. „Die spinnen ja.“

„Gar nicht! Als Kind hab ich immer davon geträumt, so lange und so gut für den HSV zu spielen, dass eines Tages eine Statue von meinem Fuß neben seinem aufgestellt werden würde.“

Meine Wangen wurden warm. Bis auf meiner Mutter hatte ich das bisher noch niemandem erzählt. Und davon, dass mein Fuß auch mal in zweieinhalb Tonnen Bronze vor dem Stadion stehen würde, träumte ich schon lange nicht mehr. Aber um Uwes Fuß herum waren in einem Kreis auf dem Boden andere große HSVer verewigt, Feldspieler mit Fuß-, Torhüter mit Handabdrücken. Felix Magath, Horst Hrubesch, Manni Kaltz, Kevin Keegan, Thommy von Heesen … Eine ganze Reihe älterer und neuerer Vereinslegenden waren in diesem Walk of Fame dabei. Natürlich würde niemals jemand eine Statue von meinem Fuß da hinstellen, und das war auch richtig so. Uwe Seeler war eben Uwe Seeler, auf ewig unerreicht. Aber den Traum, nach einer langen, hingebungsvollen Karriere beim HSV vielleicht irgendwann in die Reihe der anderen Walk-of-Fame-Legenden aufgenommen zu werden, träumte ich manchmal schon noch. Ganz leise und ganz tief in mir drin. Aber da war er.

Wieder spürte ich Ramins Blick. Als er schließlich sprach, klang er noch fassungsloser als zuvor. „Du hast davon geträumt, dass eines Tages jemand eine Statue von deinem Fuß gießen und neben diesem Monstrum aufstellen würde?“

Mein Griff ums Lenkrad wurde fester, aber ich lächelte. „Ja.”

„Dann spinnst du auch.“ Er schaute durch die Windschutzscheibe in den Himmel, lachte leise und schüttelte den Kopf. Ein paar Sekunden war nur das Surren des Motors zu hören. Dann drehte er den Kopf abrupt zu mir zurück. „Weißt du, wenn ich davon träumen würde, dass irgendjemand je eine gigantische Statue von irgendeinem Körperteil von mir gießt –“

„Ja, ja, ich weiß.” Ich grinste von Ohr zu Ohr, und jetzt war ich es, der den Kopf schüttelte. „Ich weiß, welches du nehmen würdest, und ich weiß, dass es nicht dein Fuß wäre.” Ich lachte, setzte den Blinker rechts und bog in unsere Straße ein. „Und das zeigt, dass du derjenige bist, der hier spinnt, ich schätze, das ist dir klar.”

„Ach, ich weiß nicht.” Ich war mit Einparken beschäftigt und konnte ihn nicht anschauen, aber an seinem Ton hörte ich sein Grinsen. „Es wäre auf jeden Fall um einiges interessanter als dein Fuß.”

„Kann sein.” Ich schob den Schalthebel auf P, stellte den Motor ab und sah ihn an. „Aber irgendwie glaub ich nicht, dass viele Familien sich davor fotografieren lassen würden, oder?“

Er zuckte die Schultern. In seinen Augen funkelte es. „Keine Ahnung. Ich finde, das wäre doch ein … hervorragendes Motiv für eine Weihnachtskarte.“

Wir sahen uns an. Dann brachen wir gleichzeitig in schallendes Gelächter aus.

 

*

 

„Und? Was sagst du?“

Wir standen an der Mauer der Hafenpromenade. Ich ließ den Blick über die Pontons unter uns schweifen, mit ihren Imbissen, Souvenirläden, Anlagestellen für Hafenrundfahrten und dem üblichen Menschengewirr, blinzelte in die Sonne, die sich auf der Elbe spiegelte, und genoss den Wind, der mir übers Gesicht strich und mein Haar zerzauste. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft schmeckte nach Salz und Wind und Wasser. Wie ich meine Stadt und den Hafen liebte.

Ich machte die Augen auf. Links von uns lag die Rickmer Rickmers, das grüne Segelschiff, das schon lange nicht mehr hinausfuhr, sondern als Museumsschiff im Hafen lag. Noch ein Stück weiter links war die Cap San Diego, noch ein Museumsschiff, das früher mal ein Kreuzfahrtschiff gewesen war. Gegenüber am anderen Elbufer stand das riesige gelbe Zelt, in dem seit Jahren „Der König der Löwen“ aufgeführt wurde. Das wäre eigentlich auch eine Idee gewesen – mit Ramin in die Vorstellung zu gehen. Aber das hätte ich viel früher planen müssen, da gab es für heute Abend jetzt sicher keine Karten mehr. Und würde sich Ramin überhaupt in seiner Freizeit ein Musical anschauen wollen, wo er normalerweise jeden Abend selber auf der Bühne stand, und noch dazu mit deutschen Texten? Ne. War vielleicht schon ganz gut, dass mir die Idee vorher nicht gekommen war.

Ramin stand rechts von mir, nicht direkt an der Mauer, sondern einen Schritt weiter hinten. Er ließ den Blick über den Hafen schweifen, die Schiffe, das Wasser, die Buden, die Menschen. „Es ist ziemlich groß.“

„Darauf kannst du wetten.“ Ich grinste und stieß mich von der Mauer ab. „Komm, lass uns runtergehen!”

“Runter?”

Er hatte die Augenbrauen gehoben und grinste, aber in dem Wort war ein Unterton mitgeschwungen. Irgendwie – zögerlich. Oder?

Ich runzelte die Stirn. Sicher hatte ich ihn über den Wind nur nicht richtig gehört. „Runter zum Pier. Dann zeig ich dir die ganzen Schiffe! Es gibt sogar einen Schaufelraddampfer! Komm schon! Das wird super!”

Ich lachte und sprang die ersten Schritte in Richtung der nächstgelegenen überdachten Brücke hinunter zu den Pontons. Ich glaubte zu sehen, wie sich Ramins Unterkiefer versteifte und seine Schultern sich strafften. Was war denn los? Mit einem Grinsen, das mir gezwungen vorkam, setzte er den ersten Fuß nach vorne und folgte mir.

Am Hamburger Hafen war immer was los, und wenn das Wetter so schön war wie heute, war massig was los. Auf der Brücke wurden wir eingekesselt von Touristen, die entweder wie wir auf dem Weg nach unten waren oder uns von der anderen Seite entgegenkamen. Ich schlängelte mich durch eine Gruppe Asiaten und um eine Frau mit zwei Boxern an der Leine herum, wurde von der Masse nach unten getrieben und hatte keine Chance, anzuhalten und mich nach Ramin umzuschauen. Erst, als ich auf den Pontons angekommen war, konnte ich mich aus dem Strom befreien, ein paar Schritte nach links in Richtung Rickmer Rickmers gehen und mich umdrehen.

Ramin tauchte aus der Brücke auf, ganz rechts an der Seite. Er hielt sich sehr gerade, und selbst auf die paar Schritte Entfernung konnte ich erkennen, wie angespannt seine Gesichtsmuskeln waren. Sein Blick irrte umher und fand mich. Mechanisch, mit großen, roboterhaften Schritten, ging er um die umherstehenden plappernden und lachenden Menschen herum auf mich zu.

Ich starrte ihn an. Ich hätte gerne seine Hände genommen. Selbst seine Finger waren kerzengerade ausgestreckt. Stattdessen legte ich ihm die Hand auf den Rücken. Jeder seiner Muskeln war starr und angespannt. „Was ist denn los?“

„Nichts. Alles gut.“ Seine Kiefer waren so fest aufeinandergepresst, dass es eine Leistung war, dass er überhaupt Worte da hindurchbekam.

„Komm schon, Ramin! Es ist nicht alles gut. Du bist –“

Der Boden unter unseren Füßen bewegte sich. Mir fiel es kaum auf, die Pontons schwammen eben. So konnten unabhängig vom Wasserstand immer Schiffe daran festmachen. An den Anlegestellen an den Elbstränden gab es auch Pontons, und ich war schon als Kind immer besonders gerne dann darauf gestanden, wenn der Wind so richtig pfiff oder gerade ein Containerschiff vorbeigefahren war, das ordentlich Wellen warf. Das Heben und Senken des Pontons hatte ich schon immer besser gefunden als jedes Karussell. Auch jetzt verlagerte ich automatisch mein Gewicht mit der leichten Bewegung. Ramin wurde totenbleich. „Gott!“

Zack, war er weg, stieß diesmal wie ein Rammbock durch die Touristen hindurch und war um die Ecke die Brücke hinauf verschwunden, bevor ich auch nur die Hand wieder senken konnte. Ich starrte ihm hinterher. Ramin Karimloo, das Phantom, der Angel of Music, der Mann, der mich so rettungslos verführt hatte, die Souveränität und Arroganz in Person. Geschlagen von einer höchstens mittelgroßen Welle am Hamburger Hafen.

Ich biss mir auf die Lippe. Nicht lachen. Du darfst nicht lachen, wenn du oben bist. Aber ganz hinunterzwingen konnte ich es nicht. Also lachte ich jetzt, hier, kurz und schnell, bevor ich durchatmete und mir immer noch leicht grinsend langsam, höflich und mit sicheren Schritten einen Weg durch die Menge bahnte. Auf der Brücke zuckten meine Mundwinkel immer noch.

Ramin stand an der Mauer, ziemlich genau da, wo ich gewesen war, bevor ich ihn auf die Pontons hinuntergezwungen hatte. Er lehnte mit der Hüfte dagegen, die Hände auf die Mauer gestützt. Den Pontons und der Elbe hatte er den Rücken zugewandt. Sein Kopf war in den Nacken gelegt, und sein Bauch hob und senkte sich in tiefen, regelmäßigen Zügen. Ich stellte mich neben ihn, die rechte Hand auf der Mauer. Mein Daumen fuhr über die feinen Gravierungen auf einem der unzähligen Liebesschlösser, die daran befestigt waren.

Ramins Augen zuckten zu mir und gleich wieder weg. Er atmete aus und presste die Lippen aufeinander. „Mach schon. Lach.“

Er klang ein wenig verächtlich und ein wenig resigniert. Aber nicht wütend. Und – glaubte ich zumindest – wenigstens ein klitzekleines bisschen belustigt.

„Ich lach doch gar nicht.“ Es war die Wahrheit. Jetzt, wo ich ihn vor mir hatte, war der Impuls verschwunden. „Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass du so leicht seekrank wirst?”

„Ich werd nicht seekrank!”

Ich hob die Augenbrauen. Einen Moment waren nur der Wind und das Geschnatter der Menschen und Möwen um uns herum zu hören.

Er atmete aus, und seine Schultern fielen herab. „Okay. Ich werde seekrank.“

Er löste die rechte Hand von der Mauer und fuhr sich durchs Haar. Um seinen Mund zuckte es. „Tut mir leid. Es ist nur … Als ich das erste Mal nach Großbritannien gefahren bin, bin ich Schiff gefahren. Aus Kanada“, ergänzte er auf meinen fragenden Blick. „Es war Herbst, das Meer war rau, und –“ Er stieß ein kurzes Lachen aus und ließ den Blick über die Hafenumgebung schweifen. „Na ja, ich sag mal, als ich in Southampton von diesem Schiff gestiegen bin, hab ich mir geschworen, dass ich den Rest meines Lebens keinen Fuß mehr auf eins setzen würde.“ Er seufzte und fuhr sich noch einmal durchs Haar. „Ich schätze, du liebst es.”

Wieder klang er ein bisschen verächtlich. Aber auch ein bisschen neidisch. Und, wenn ich mich nicht täuschte, sogar ein bisschen schüchtern.

Wärme durchströmte mich bis in die Finger- und Zehenspitzen. Am liebsten hätte ich ihn umarmt und an mich gepresst. So lächelte ich nur. „Ja. Immer schon. Ich weiß nicht, ob man in Hamburg aufwachsen kann, ohne Wasser irgendwann zu lieben.“

„Mit Wasser hab ich ja kein Problem.“ Ramin drehte sich um und ließ den Blick über den Hafen schweifen. „Ich will nur festen Boden unter den Füßen haben, während ichs mir anschaue, das ist alles.“

„Ist ja in Ordnung. Hättest du einfach sagen können. Dann wär ich gar nicht erst runtergegangen.“

„Tja …” Er schaute überall hin außer zu mir. Sein Blick blieb an einem Gebäude ganz links von uns hängen, einem Backsteinbau mit gläsernem Aufsatz, umgeben von turmhohen Kränen, der dreieckig ins Wasser ragte. „Was ist das?“

Ich grinste und zögerte. Aber dann ließ ich ihm den Themawechsel durchgehen. „Das ist die Elbphilharmonie. Wenn sie fertig ist, wird sie ein großes Konzerthaus, und sie ist unser neues künftiges Wahrzeichen.“ Dass sie den Künftig-Status eigentlich schon seit fünf Jahren hätte los sein sollen, verschwieg ich ihm. Das war jetzt ja nicht so wichtig. Und wenn die Elphi fertig war, würde sie großartig aussehen.

Ramin grinste. „Unser neues Wahrzeichen?“

„Ja.” Ich runzelte die Stirn. „Was ist denn daran jetzt witzig?“

Er öffnete den Mund, aber bevor er Was-auch-immer sagen konnte, hörte ich eine Stimme von meiner anderen Seite. Es war eine hohe Kinderstimme, und sie platzte fast vor Aufregung. „Du?!“

Lächelnd drehte mich ich um. Vor mir stand ein blonder Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Er trug unser aktuelles Heimtrikot. Zwei Schritte hinter ihm stand eine ebenso blonde Frau Mitte dreißig – vermutlich seine Mutter. Der Junge starrte mit riesigen Augen zu mir hinauf. „Bist du Martin vom HSV?“

„Ja, bin ich. Und wer bist du?“

„Arne!“ Seine Augen und sein Mund strahlten um die Wette. „Gibst du mir ein Autogramm?“

„Na klar. Hast du einen Stift?“

„Nehmen Sie den hier.“ Die Frau zauberte aus ihrer Handtasche einen Edding hervor.

„Dankeschön.“ Mit dem Stift in der Hand wandte ich mich wieder an ihren Sohn. „Wohin denn?“

„Da!“ Mit dem Zeigefinger patschte er sich auf die Brust, auf den weißen Stoff zwischen Adidas- und Vereinslogo.

„Alles klar.“ Ich kniete mich hin, zog mit der linken Hand den Stoff straff und kritzelte meine Unterschrift neben die Raute. Von oben hörte ich die Stimme von Arnes Mutter.

„Das wollte er heute unbedingt noch mal anziehen, nachdem es gestern im Stadion so viel Glück gebracht hat.“

„Schön, dass es Ihnen gefallen hat.“ Ich richtete mich auf und gab ihr den Stift zurück.

„Ganz toll hast du gespielt!“ Das sprudelte förmlich aus Arne heraus. „Wenn ich groß bin, will ich auch mal beim HSV spielen!“

Ich lachte. „Na dann trainier mal fleißig. Spielst du denn schon in einem Verein?“

„Klar! Und ich schieße immer ganz viele Tore!“

„Das klingt ja toll!” Für den bewundernden Tonfall kassierte ich ein Strahlen von Arne und ein dankbares Lächeln von seiner Mutter.

„Wir müssen jetzt leider weiter.“ Sie nahm ihren Sohn an die Hand. „Was sagt man da, Arne?“

„Danke!“ Im Weggehen drehte er sich noch mal um und schrie über die Schulter zurück: „Wenn ihr weiter so toll spielt, werdet ihr bestimmt Meister!“

Ich lachte und winkte. Tja, schön wär‘s. Aber in seinem Alter war mir das auch alles so einfach vorgekommen.

Als Arne und seine Mutter in der Menge verschwunden waren, wandte ich mich wieder zu Ramin. Er betrachtete mich. Irgendwas an seinem Blick sendete ein Kribbeln über meine Haut. „Was?“

Er schüttelte den Kopf. Ich glaubte, den Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen zu erkennen. „Nichts.“ Einen Moment verharrte sein Blick auf meinem Gesicht. Dann blinzelte er und richtete sich auf. „Also, wohin jetzt?”

Ich blinzelte auch. Was war das denn gewesen? Es hatte sich nicht schlecht angefühlt, überhaupt nicht. Aber … intensiv. Ich blinzelte noch einmal und schüttelte den Kopf. „Zum anderen Fluss, zur Alster, und in die Innenstadt.” Einen winzigen Moment zögerte ich. Aber die Chance war einfach zu gut, um sie auszulassen. „Außer natürlich, du willst erst noch eine Hafenrundfahrt machen?“

Von seinem Blick hätte die Elbe zufrieren können. „Los, wir gehen.“

Mit großen Schritten stürmte er in Richtung S-Bahn-Station. Lachend folgte ich ihm.

 

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Referenzen:

 

„Komm und gib mir deine Hand“ – Lyric aus dem Song „Weltstadt“ vom Album „Grenzenlos“ von Michael Kröger / Elvis (dieses Lied mit Olly / Hamburger Jungz). Wendt Musik Produktionen, 2013.

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Morgen Früh fehlt mir wieder die Zeit, deshalb gibt es das Kapitel wieder schon heute Abend :)

Wie die Fußballdetails insgesamt sind auch die Informationen über Hamburg und den HSV in diesem Kapitel sorgfältig recherchiert. Nur an einer Stelle muss ich ein Aber einschieben: Als ich das letzte Mal am Hamburger Hafen war, habe ich, wie jedes Mal, seit ich das Kapitel aufgesetzt habe, einen Realitätscheck der Szene durchgeführt. Dazu war ich auch unten auf den Pontons. Und da wackelt … tja. Nichts.

Als ich die Szene geschrieben habe, hatte ich glaube ich das Ponton am Rissener Elbstrand im Kopf, das genau in den im Kapitel beschriebenen Situationen wackelt – bei Wind und, nachdem ein Schiff vorbeigefahren ist. Das ist aber nur ein einzelnes Ponton, und da ist auch keine halbe Innenstadt drauf wie am Hafen. Es mag sein, dass diese Pontonpromenade mit all ihren Souvenirläden und Imbissbuden auch ab und an mal ein wenig schwankt, aber wohl nur, wenn es wirklich stürmt – und an solchen Tagen ist da unten sicher sowieso alles gesperrt. Ich habe kurz überlegt, ob ich die Szene auf die Rickmer Rickmers verlegen soll, habe mich dann aber dagegen entschieden. Da muss man sich anstellen, Tickets kaufen, mit anderen Menschen interagieren, und das war alles ein Aufwand, den ich nicht wollte und nicht brauchte. Also habe ich mich in dem Fall bewusst für die unrealistische Variante entschieden und hoffe, dass ihr mir das im Rahmen der künstlerischen Freiheit verzeiht. Zur Klarstellung erlaube ich mir, euch an dieser Stelle unzweifelhaft zu versichern: Ihr könnt die Pontonpromenade am Hamburger Hafen auch dann entlangschlendern, wenn ihr schnell seekrank werdet. Also lasst euch ausnahmsweise vom Kapitel nicht abhalten ;)

Chapter 28: Storm Front

Chapter Text

  1. Kapitel: Storm Front

 

„Puh.“ Ich zog die Wohnungstür zu, lachte und strich mir die Haare aus der Stirn. In der letzten Stunde hatte das Wetter umgeschlagen, und als wir aus der S-Bahn-Station gekommen waren, hatte es schon geregnet. Es waren zwar nur ein paar Minuten bis nach Hause gewesen, und wir waren auch nicht klitschnass geworden, aber schon ein bisschen feucht. „Well, that’s Hamburg too, that is.“

Ich stellte die Tüte mit Take-away vom Asiaten auf den Boden und schnürte meine Schuhe auf. Dabei fiel mein Blick auf ein Paar weiße Sneaker. Mein Magen machte einen Satz. Finn war wieder da! Und aus dem Wohnzimmer hörte ich Geräusche.

Mein Herz begann zu hämmern. Jetzt. Jetzt würde ich mir Finn und Ramin schnappen und dafür sorgen, dass sie sich endlich kennenlernten. Ich atmete durch und richtete mich auf. „Come on! Let’s have dinner.“

Ramin hatte sich ebenfalls die Schuhe ausgezogen. Er stand zwei Schritte von mir entfernt im Flur, in den nur durch die offenen Bad- und Küchentüren etwas Licht fiel. Auch sein Haar hing ihm in feuchten Strähnen in die Stirn, und auf seinen Lippen lag ein Grinsen. Mein Körper fing an zu prickeln.

Er kam auf mich zu, einen Schritt, den zweiten. Seine Hände fanden meine Hüfte. Er lehnte den Kopf nach unten, sodass seine Stirn meine fast berührte. „How about we skip the main course …” Seine Hände wanderten an meinen Rücken, glitten unter mein T-Shirt und fingen an, sich nach oben zu arbeiten. „… and go straight to dessert?“

Seine Lippen lagen so nah an meinem Ohr, dass ich ihre Bewegung spürte. Ich schloss die Augen. Einen Moment nahm ich nichts wahr als seine Hände auf meiner Haut, die Hitze seines Körpers an meinem.

Ich lachte, machte die Augen auf und schob ihn an der Brust ein Stück von mir weg. „No, Ramin. Not yet. I –“

Seine Augen brannten, und es kostete mich alle Kraft, die ich hatte, den Kopf in Richtung Wohnzimmer zu rucken. „Finn’s over there. I want you to meet him. And him to meet you. Please … Let’s all have dinner together. All right? And maybe a film. And then we can … you know.” Ich lachte. Strich mit der Hand über seinen Arm, bis ich an seinen Fingern hängenblieb. „We’ll have all night. But he’s my best friend. And you’re … well … please?”

Einen Moment sah er mich an. Dann blinzelte er, lachte kurz, schüttelte den Kopf. Seine Zungenspitze tippte seine Oberlippe an. „All right. Whatever you want.“

Ich strahlte. „Thanks“, atmete ich ihm zu, ließ seine Finger los, schnappte mir die Tüte mit dem Essen und ging voraus.

Aus dem Wohnzimmer drangen dumpfe Geräusche. Dumpf, weil die Tür zu war. Ich schluckte. Mist. Nicht gut. Meine freie Hand ballte sich zur Faust. Ich entrollte sie wieder, legte sie auf die Klinke und öffnete die Tür.

Finn saß auf dem Sofa, nach vorne gelehnt, den Playstation-Controller mit beiden Händen umklammert. Seine Finger flogen über die Tasten. Ohne zu blinzeln starrte er auf den Bildschirm. Ich warf einen Blick darauf. Finns HSV führte gegen die Playstation-St.-Paulianer mit fünf zu null, und es war noch nicht einmal die erste Halbzeit vorbei. Während ich hinsah, fiel das sechste Tor. Finn übersprang die Jubelsequenz und jagte, kaum, dass St. Pauli angestoßen hatte, schon wieder dem Ball hinterher.

Ich schluckte noch mal. GAR nicht gut.

Ich deutete ein Räuspern an. Finn rührte sich nicht. Ich atmete durch, zwang ein Lächeln auf die Lippen und versuchte es noch mal. „Ähm … hey Finn.“

Seine Augen zuckten zu mir und sofort zurück zum Fernseher. „Hi.“

„Ähh … wie war das Spiel?“

„Scheiße.“ Seine Finger rammten auf die Tasten. Auf dem Bildschirm war der HSV schon wieder im Vorwärtsgang. „Zwei drei verloren. Erst null zwei, dann zwei zwei, und dann haben die noch den Scheiß-Siegtreffer gemacht.“

Er zog mit Playstation-Lasogga ab. Bang, landete der Ball im Kreuzeck. Der virtuelle Schiedsrichter pfiff zur Pause. Finn schmiss den Controller neben sich aufs Sofa und schaute zum ersten Mal richtig zur Tür. Seine Miene wurde gleich noch finsterer. „Und? Schönen Tag gehabt?“

„Ja.“ Es klang wie eine Entschuldigung. Und genau danach fühlte ich mich auch. So gerne hätte ich mit einem Fingerschnippen das Resultat unserer zweiten Mannschaft in einen überragenden Sieg verwandelt und Finns Laune umgedreht. Aber ich konnte nicht. Und Ramin war morgen wieder weg. Meine einzige Chance war jetzt. Es musste dieser Abend sein.

Finn hatte sich mit einem Schnauben wieder zum Fernseher gedreht. Ich stählte mich. „Ähh … wir essen jetzt. Und wir haben dir was mitgebracht. Willst du … also …“ Ich gestikulierte in Richtung Flur.

Finn schaute von mir zu Ramin und wieder zurück. „Ich hab schon gegessen.“ Seine Augen kehrten zum Bildschirm zurück.

Ich presste die Lippen aufeinander. „Dann … trotzdem. Setz dich einfach mit hin. Ja? Bitte. Wir können … ihr könnt …“

Flehend sah ich ihn an. Finns Lippen waren ein Strich. Ich sah genau, wie wenig er wollte. Ein paar Sekunden kämpften wir mit den Augen weiter. Dann schnaubte er, griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus, schmiss sie auf den Couchtisch, schnappte sich sein halbleeres Wasserglas und stand auf. „Was soll‘s. Abend ist eh im Arsch.“

Ich stieß die Luft aus und ging voraus in die Küche. Danke, Ramin, dass du kein einziges Wort Deutsch kannst.

In der Küche angekommen stellte ich die Tüte auf die Arbeitsfläche und holte das Essen heraus. Curry für Ramin, Nudeln für Finn und mich. Wir hatten es noch in der Stadt geholt, und mittlerweile war es quasi kalt. Finns Box stellte ich direkt in den Kühlschrank. Für Ramin und mich würde ich das Essen in der Mikrowelle noch einmal warm machen.

Ich warf einen Blick über die Schulter. Ramin hatte den Platz mit dem Rücken zur Tür eingenommen, auf dem er auch heute früh gesessen hatte, und Finn war um den Tisch herumgestapft und auf den Stuhl ihm gegenüber niedergekracht. Ich stand hinter ihm und konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine Haltung war genug, um zu wissen, dass er nicht den Hauch eines Versuches unternahm, seine Laune zu verbergen. Ramins Blick huschte von mir zu Finn und wieder zurück. Sein Mundwinkel zuckte. Aber er sagte nichts. Ein Schweigen senkte sich über die Küche, so dick und schwül wie die Luft vor einem Gewitter.

Ich schluckte, wischte mir mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, wandte mich wieder der Küchenzeile zu und holte zwei Teller aus dem Schrank. Gleich. Wenn die Teller in der Mikro waren, wenn du sitzt, dann könnt ihr reden. Über das Spiel gestern. Oder über den Tag in Hamburg heute. Oder übers Tanzen. Gleich.

Ich zog die Mikrowellentür auf, schob den Teller mit Ramins Curry hinein, drehte die Uhr auf eineinhalb Minuten und drückte auf Start. Das Summen der Maschine füllte die Stille zumindest teilweise. Ich drehte mich wieder um und fing Ramins Blick auf. Wieder huschten seine Augen zwischen mir und Finn hin und her. Dann brach er das Schweigen, seine Stimme locker und scheinbar interessiert. „What were you talking about back there?”

Ich sah, wie sich Finns rechte Hand auf dem Tisch zur Faust ballte. Meine Kehle wurde eng. Scheiße. Das könnte verdammt schwierig werden.

„Ahm … Finn went to Flensburg with the second team today. To see their match.”

Schau, Finn, ich sage ihm, was für ein Teamplayer du bist. Was für ein guter Freund. Komm schon, Ramin, jetzt sag irgendwas Nettes.

Ramin runzelte die Stirn. „The second team?“

„Well, yeah. Young, promising talents, that sort of thing. They play in the fourth league.”

“Ah.” Ein Hauch von einem Lächeln lag auf seinen Lippen. Sein Blick wechselte von mir zu Finn. „How was it?“

Nein. Nicht gut. NICHT gut!

Ich hatte schon den Mund aufgemacht, aber Finn kam mir zuvor. „Not good.”

Ramin hob die Augenbrauen. „Lost, did you?“

„We don’t –”

Aber mein Rettungsversuch kam zu spät. Finn knallte sein Glas auf den Tisch. Sein Rücken war plötzlich sehr gerade. Seine Stimme durchschnitt den Raum, beißend, jedes Wort ein Schlag. „So, Martin says you have lots of sex?”

Ich riss die Augen auf. Eine Hand hatte meine Kehle gepackt und quetschte. Ich starrte auf Finns kerzengeraden Rücken und seine immer noch zur Faust geballte Hand, auf Ramin, der mit leicht geöffneten Lippen dasaß, die Augenbrauen einen Hauch gehoben. Ich musste mich verhört haben. Oder? Bitte? Das konnte doch nicht … Finn konnte doch nicht wirklich …

Ramins Blick zuckte zu mir und wieder zu Finn. Noch immer mit geöffneten Lippen grinste er leicht. „Well, yes, we do, as a matter of fact.“

Finn rührte sich keinen Millimeter. „I meant you with other men.”

Der Klammergriff um meinen Hals wurde noch fester. Was machte Finn da?

Ramin lachte trocken. „Why? Want to join the queue?”

Ein Stich. Durch die Starre, mitten in die Brust. The queue?

„No!“ Finn spuckte das Wort aus, als wäre es ein faules Stück Fisch.

„Then it’s none of your business.” Ramin bedachte Finn mit einem Lächeln, dann glitt sein Blick von ihm weg.

Hinter mir piepste es. Ich fuhr zusammen. Aber ich drehte mich nicht gleich um. Ich starrte sie an, Finn und Ramin, meinen besten Freund und den Mann, den ich liebte. Ich wollte Finn herumreißen und ihn anschreien, was das sollte, wie er das nur tun konnte, ich wollte Ramin packen und ihm versichern, dass ich mich nie Finn gegenüber über sein Sexleben ausgelassen hatte. Ich wollte ihn fragen, ob es stimmte. Das mit der Schlange. Ob er sie noch abarbeitete. Ob es sich immer noch lohnte, sich anzustellen.

Ich zwang einen Atemzug durch den Schraubstock um meine Kehle, drehte mich um und holte mit mechanischen Bewegungen den Teller aus der Mikrowelle. Worte hallten durch meinen Kopf. Worte, die ich vor fast zwei Monaten gesagt und gehört hatte.

So you actually do this every night, do you? I mean …

Well, not necessarily every night. There’s no obligation, you know? But I go to the clubs. I check out the guys. And when I see something I like, I take it.

Mein Unterkiefer versteifte sich. Natürlich gab es eine Schlange. Und natürlich arbeitete er sie noch ab. Oder hatte ich ernsthaft geglaubt, dass er einfach aufgehört hatte, dass er von jetzt auf gleich sein Nachtleben eingestellt hatte, nur, weil wir uns jetzt jeden Monat einmal sahen? Da blieben dreißig Nächte übrig. Und das waren für ihn vermutlich dreißig zu viel.

Ich biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtat, während ich meinen Teller in die Mikrowelle schob. Nein, ich hatte nie wirklich gedacht, dass er jetzt nur noch mit mir Sex hatte. Er war ja auch nicht mein Freund. Er war … keine Ahnung. Ich hatte kein Wort. Ich liebte ihn. Aber was er für mich fühlte, wusste ich nicht. Vielleicht gar nichts?

Ich ballte die linke Hand zur Faust und riss mit der rechten an der Zeiteinstellung. Nein, nicht gar nichts. Er war doch hier, oder? Er war nach Hamburg geflogen, für mich. Er hatte mir das Tanzen beigebracht, er hatte sich mein Spiel angeschaut, er hatte sich von mir meine Stadt zeigen lassen. Egal, was er sonst noch machte, wir waren mehr als nur Sex. Und über den Rest wollte ich nicht nachdenken. Hatte ich ja auch nicht. Bis Finn mich so freundlich erinnert hatte.

Ich schnappte mir den fertigen Teller, umrundete den Tisch, knallte ihn vor Ramin hin, zog eine Schublade auf, wühlte zweimal Besteck heraus und knallte es hinterher. Dann nahm ich Finn ins Visier. „Sag mal, spinnst du? Was soll das denn?“

Finn wich meinem Blick keine Sekunde aus. Aus seinen Augen flogen Eissplitter. „DU wolltest, dass ich mitkomme! Du bist SELBER schuld!“

Mir fiel die Kinnlade herunter, aber bevor ich Luft holen und zurückgiften konnte, schnellten Finns Augen wieder zu Ramin. „Don’t you think it’s dangerous?”

Ramins Lippen verzogen sich wieder zu einem Lächeln. „Why? Are you afraid someday one of them’s gonna pull a knife and stick me with it?”

“Isn’t it enough that you stick them?”

Ramin lachte. „I see.“

„FINN –“

Aber Ramin schüttelte den Kopf. „No, it’s all right, Martin. It’s very kind of your friend to be so concerned about me.” Seine Augen kehrten zu Finn zurück. „I get tested every six months. And I never“ – der Zeigefinger seiner rechten Hand senkte sich auf die Tischplatte, und er ließ das Wort eine Sekunde in der Luft hängen – „fuck without a condom.“ Er lachte trocken. „How many of you straight guys can say that, huh?”

Finn lief knallrot an. “Condoms can rip.“

Break, echote es durch meinen eingefrorenen Kopf.

„And every time you step out of your front door, you could get knocked over by a car. Life is dangerous. Deal with it.” Mit einem letzten, spöttischen Grinsen wandte er sich von Finn ab und ruckte den Kopf Richtung Küchenzeile. „You should get that, it’ll get cold.“

Get …? Verloren starrte ich Ramin an. Dann drang das Piepsen an mein Ohr. Die Mikrowelle. Ja. Richtig.

Ich drehte mich um, ging die drei Schritte hinüber, drückte auf den Knopf und holte den Teller heraus. Abdeckung zurück in die Mikro, Tür zu, Teller auf den Tisch, hinsetzen. Ich starrte auf das Essen. Lasch und gummiartig wanden sich die Nudeln umeinander, wie graue, schleimige Würmer. Gemüse und Fleisch ragten hier und da aus ihnen hervor. Meine Augen starrten ins Leere. Links von mir saß mein bester Freund, hielt immer noch sein Glas umklammert und schwieg. Rechts von mir saß Ramin, aß und schwieg ebenfalls. Die Hand um meine Kehle presste so fest zu, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken.

Kennenlernen. Kennenlernen hatten die beiden sich sollen. Weil ich sie beide liebte, und weil ich wollte, dass sie verstanden, warum. Damit sie sich, wenn schon nicht lieben, dann wenigstens schätzen lernten. Und jetzt? Jetzt hatte ich eine Bestätigung von allen von Finns Vorurteilen auf der einen und einen völlig aus dem Nichts attackierten Ramin auf der anderen Seite. Von wegen kennen und schätzen lernen, nach dieser Szene würde ich mir vermutlich nicht nur von Finn noch dunklere Zukunftsprognosen anhören, sondern auch Ramin erklären müssen, warum mein bester Freund ihn anging wie ein wild gewordener Stier.

Die Nudeln verschwammen vor meinen Augen. Ich blinzelte. Warum hatte ich mich gestern nicht beherrschen können, nach dem großartigen Sieg? Da war Finn anders drauf gewesen, da hätte er das alles nie gesagt. Warum hatte unsere Zweite ausgerechnet heute so bitter verlieren müssen? Warum hatte ich Finns Laune ignoriert und ihn trotzdem genötigt, sich mit Ramin auseinanderzusetzen? Und warum, verdammt, hatte Finn sich nicht zusammenreißen können? Für mich, weil er genau wusste, was Ramin für mich war?

Nichts war zu hören außer das Klappern von Ramins Besteck. Zittrig holte ich Luft und nahm meine eigene Gabel in die Hand. Ich starrte auf meinen Teller hinunter, auf das Ende der guten Beziehung zwischen den zwei Menschen, die ich am meisten liebte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Meine Kehle schnürte sich noch fester zu.

Das Schweigen dehnte sich aus. Finn saß finster in seinem Stuhl. Ich starrte auf meine Nudeln. Hin und wieder spürte ich Ramins Blick. Ich reagierte nicht. Ich konnte ihn nicht anschauen. Ich wollte die Vorwürfe in seinen Augen nicht sehen. Der Tag war doch so schön gewesen. So schön.

Irgendwann hörte Ramins Besteck auf zu klappern. Wieder spürte ich seinen Blick, länger und intensiver diesmal. Mein rechter Arm fing an zu kribbeln. Ich schluckte und fixierte meinen Teller.

„Aren’t you gonna eat anything?” Er sprach leise und in einem Atemzug. Sein Blick brannte. Ich presste die Lippen zusammen. Langsam, mechanisch, schüttelte ich den Kopf.

Einen Moment war es still. Dann hörte ich ihn ausatmen. Ein leises Klirren des Bestecks, ein paar schnelle, dumpfe Klopfgeräusche. Unter meinen Unterarmen spürte ich den Hauch eines Vibrierens der Tischplatte. Dann holte er ruckartig Luft. „Oh, I meant to ask you.”

Seine Stimme war jetzt viel lauter. Und auch sonst anders. Anders als vorher, und auch anders als das Schweigen, dieses grässliche, zermalmende Schweigen. Er klang … locker. Unbeschwert. War es echt? Ich hielt die Luft an.

„Have you done any dancing since last time?”

Mein Kopf wirbelte herum. Leicht nach vorne gelehnt saß er in seinem Stuhl, die Unterarme zu beiden Seiten seines leeren Tellers. Sein rechter Daumen flatterte, auf und ab und auf und ab. Er lächelte. Ein wenig angespannt. Aber er lächelte. Weder in seinem Ton noch in seinem Blick konnte ich den winzigsten Hauch eines Vorwurfs entdecken.

Der Griff um meine Kehle lockerte sich ein winziges bisschen. Wieder schüttelte ich den Kopf.

„Then do you want to dance now?” Sein Lächeln wurde breiter. „We can do something new. Cha-cha, maybe. What do you say?” Ganz unten, tief im Dunkel seiner Augen, erhaschte ich den Hauch eines Loderns.

Sagen konnte ich immer noch nichts. Aber schlucken ging. Und nicken. Ich tat es einmal, dann immer wieder, und schneller. Mit einem Ruck sprang ich auf. Ich wollte raus hier. Nur raus.

„You dance?“

Ich war schon halb aus der Tür gewesen. Finn saß mit offenem Mund auf seinem Platz und schaute von mir zu Ramin und wieder zurück. In seinem Ton lag diesmal nur Fassungslosigkeit.

Ich starrte ihn an. Finn, meinen besten Freund, Finn, den ich liebte, Finn, der gerade alles kaputt gemacht hatte. Er saß da, blondes Haar, blaue Augen, offener Mund, und einen Moment lang wäre ich gerne hingerannt und hätte ihm die Zähne eingeschlagen.

Ich atmete tief durch. „Yeah. Ramin’s been teaching me. Disco fox and quickstep. I was GOING to tell you.”

Meine Hände kribbelten. Ich ballte sie zu Fäusten. Die Schläge, die ich ihnen verweigert hatte, hatte ich in meine Stimme gelegt. Finn sah mich an. Er hatte mich genau verstanden – auch das, was ich nicht gesagt hatte. Einen Moment war es still. Finn blinzelte, und seine Augen zuckten zur Seite. Als er mich wieder ansah, lag ein gezwungenes Lächeln auf seinen Lippen. „That’s … cool, I guess. But … quickstep? Really? Isn’t that a bit difficult for a second dance?”

“Maybe.” Es war Ramin, der antwortete. Er sah mich an und lächelte. „But he’s a natural.“

Ich senkte den Kopf. Das hatte sich in London aber nicht so angefühlt. Entweder, Ramin wusste nicht mehr, wie oft ich damals das Kreuzen vergessen oder das Tempo bei den Schritten verwechselt hatte, oder er log. Mit Absicht. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich wusste, was der Fall war. Ich biss mir auf die Unterlippe. In mir kämpfte und tobte alles.

Ramins linke Hand schob sich in mein Blickfeld. Ich hob den Kopf. Das Feuer in seinen Augen prasselte. „Shall we?“

Ich schaffte ein wackliges Lächeln. „Yeah.“ Ich legte meine Hand in seine.

Im Türrahmen wandte Ramin den Kopf. „So you can dance, then?”

Finn zögerte. Dann nickte er. „Yeah. A bit.“

Ramin musterte ihn. Mein Herz begann wieder zu hämmern. Was würde er jetzt tun? Zurückschlagen?

Aber er nickte nur langsam. „So, are you gonna come and watch?”

Finn starrte. Ich auch. Von Ramin zu Finn zu Ramin zu Finn. Der holte Luft. Dann löste er seine Finger von seinem Glas und schob seinen Stuhl zurück. „Okay.“

Er fing meinen Blick auf. In seinem stand eine Entschuldigung. Ramins Hand zuckte in meiner. Ich presste die Lippen aufeinander. „Come on.“ Ich führte ihn ins Wohnzimmer. Finn folgte uns schweigend.

Auf der freien Fläche zwischen Couchtisch und Fernseher blieben wir stehen. Finn kam hinter uns durch die Tür, zögerte einen Moment und glitt dann nach rechts an der Wand entlang aufs Sofa. Ich stand mit dem Rücken zu ihm, aber sein Blick kribbelte.

Ramin stand aufrecht vor mir und würdigte Finn keines Blickes. „So – cha-cha! The basic step is really simple. I’ll show you first, then you can do it. You start with the left foot …”

Ich schaute zu, während Ramin die Schritte vormachte, und ging es nach. Links zur Seite, mit dem Rechten zurück und gleich wieder nach vorne auf den Linken, drei schnelle Schritte seitwärts, links vor und auf den Rechten zurück, drei schnelle Schritte nach links, und von vorne. Ich machte es erst allein, dann mit Ramin zusammen in Tanzhaltung, erst langsam, dann ein bisschen schneller. Am Anfang waren meine Schritte wacklig und unsicher, bis sich nach ein paarmal Hin und Her wie schon beim Discofox und am Ende auch beim Quickstep eine Art Rhythmus einstellte. Ich konnte den Kopf heben und Ramin anschauen, und meine Füße machten weiter, ein Schritt nach dem anderen. Aber nach Tanzen fühlte es sich nicht an. Die ganze Zeit spürte ich Finns Blick im Rücken. Mein Magen war verkrampft, und die Hand hielt meine Kehle immer noch im Klammergriff. Ramin machte ab und zu Kommentare, am Anfang Verbesserungsvorschläge, am Ende Lob, aber selbst das und das Gefühl seiner Hände an meiner Hand und meinem Rücken half nicht. Nachdem wir uns ein paarmal hin und herbewegt, aber immer noch nicht getanzt hatten, blieb er stehen. Ich ließ seine Hand und seine Schulter los und machte einen Schritt zur Seite. Wieder senkte ich den Kopf. Meine Zähne bearbeiteten meine Oberlippe.

Ein leises Husten. Vom Sofa. „That was quite good.“ Ein Lächeln. Mit hochgezogenen Füßen, den Rücken an die Lehne gepresst, saß Finn da und lugte unter seinem blonden Pony zu mir hinauf.

Ich zwang einen Atemzug durch meine Kehle. „Yeah. Well. Thanks.“

Wir starrten uns an. Ich konnte in Finns Blick lesen, genauso wie er in meinem vorhin. Ich wusste, dass es ihm leidtat. Dass er frustriert gewesen war und sich nicht hatte beherrschen können. Dass er es jetzt gerne zurücknehmen würde.

Ich schaute weg, zur Tür, stieß die Luft aus. Ja. Toll. Schön. Nur ging das eben nicht mehr.

„You said you can dance, right?”

Mehrmals hatte ich Ramins Blick von der Seite gespürt, aber erst jetzt schaute ich ihn an. Seine Augen waren auf Finn gerichtet, der seinen Blick ein bisschen wachsam und ein bisschen ängstlich erwiderte. „Yes.“

Ramin ruckte den Kopf in meine Richtung. „Would you teach him a bit? He won’t really learn a lot if he only dances every once in a while with me.“

Meine Kinnlade klappte nach unten. Ich starrte Ramin an, aber der nahm seine Augen nicht von Finn. Der saß da und starrte Ramin genauso entgeistert an wie ich. Dann glitt sein Blick zu mir. In seinen Augen stand Unsicherheit, aber auch ein bisschen Herausforderung. Und ein Hauch von einem Lächeln. „Okay. Why not?“

Ich zögerte und sah ihn an. Die blauen Augen, die ich so gut kannte. Ich holte Luft und nickte. „Yeah. I … all right.“

Ein Lächeln erblühte auf Finns Gesicht. Einen Moment sah er mich noch an, dann räusperte er sich und stand auf. „Well, äh … good. I think I’ll, äh … leave you alone now. Good night.”

Sein Blick huschte zwischen Ramin und mir hin und her, dann verschwand er durch die Wohnzimmertür. Einen Moment später hörte ich, wie er seine Zimmertür hinter sich schloss.

Ich starrte auf den leeren Türrahmen. Ramins Präsenz hinter mir spürte ich wie einen Hitzestrahler. Einen Moment war es still. Dann hörte ich ihn schnauben. „Well. He’s quite a handful, that one.”

Mein Gesicht wurde heiß. Ich ballte die Fäuste. Ich wusste nicht, wie ich Ramin in die Augen schauen sollte.

Ein leises Geräusch hinter mir. Ramins Hand legte sich auf meine Schulter, übte Druck aus. Sein Daumen strich über meinen Nacken. „Come on, Martin, why are you so upset?“

„I’m not upset!”

Er lachte. „Yeah, and I don’t get seasick, remember?”

Mein Atem stockte. Dann lachte ich und drehte mich um. Seine Hand rutschte von meiner Schulter. Schade. Ich schaute in seine warmen, dunklen Augen, in das Lächeln auf seinen Lippen, und die Worte sprudelten plötzlich aus mir heraus. „Ramin, I’m so sorry, I’m so, SO sorry, I never thought he’d say that stuff to you, I never dreamed he’d –“

“Hey!” Er hob beide Hände. „Hold it right there. Why should you be sorry?”

„Well – all those things he said –“

“So what? It’s not your fault. You didn’t say it.”

„Yeah, but – he’s my best friend, so –“

“So?” Er lachte. „So what? That doesn’t mean you’re responsible for what he does! Do you think I’m responsible for anything Sierra does?” Noch ein Lachen. “Well, I’m not! And you better fucking believe it!”

Ich starrte zu ihm hinauf. Konnte er das alles wirklich lustig finden?

Er grinste immer noch. „You must have painted me quite the demon, though.”

Der Stich ging quer durch mich hindurch. „I DIDN’T, Ramin, I swear, I never said anything about –“

“It’s all right. I don’t mind.“ Er grinste breit und zuckte die Schultern. „And anyway, he’s just a snot-nosed straight little shit. I don’t give a fuck what he thinks.”

Ich zuckte zusammen. Meine Augen flohen in Richtung Parkett. Super. Genau die Beziehungsebene, die ich für euch im Kopf hatte.

Kurz war es still. Dann schnalzte Ramin mit der Zunge. „What’s wrong now?” Mit beiden Händen packte er mich an den Schultern und schüttelte mich leicht. Ich hob den Blick. Sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Look, Martin, I’m fine! Okay? We had a great day, I had fun fighting at the dinner table, and now, we can have a great night! Okay?”

Er grinste. Seine Zunge fuhr über seine Oberlippe. Ich atmete aus. „Yeah. Well …“ In mir drehte sich alles. Der tolle Tag, Finns Vorwürfe, Ramins Gleichgültigkeit, the queue … Ich biss die Zähne zusammen. „I suppose you want to have dessert now.”

Einen Moment war es still. Dann stieß Ramin die Luft aus. „Yeah, not like that.“

Seine Hände glitten von meinen Schultern. Ich ballte meine zu Fäusten. Er seufzte. „Look – earlier, you said something about a film. Why not? It’s a good idea. And I really think you should eat something. You haven’t touched a bite.”

Ich sah ihn an. Seine Augen waren weit geöffnet, seine Lippen ein wenig. Er sah etwas angestrengt aus. Und etwas hilflos. Aber auch so, als wäre er beides eigentlich lieber nicht.

„Really? I mean … you really wanna watch a film?”

“Yeah. Why not? Maybe it’ll cheer you up a bit, huh?” Er sah immer noch ein wenig unsicher aus, aber er lachte, machte einen Schritt auf mich zu und nahm meine Hände. „And I mean … we can always stop when we get … distracted.”

Seine Augen waren warm. Und seine Hände auch. Ich atmete durch und drückte seine Finger. „All right. Yeah, all right.“ Ich ließ ihn los, ging zum Schrank neben dem Fernseher und machte die Tür auf. „DVDs are in here. We also have Netflix. Just … pick whatever you want. I’ll just go and … warm up the food.”

Ich ging in die Küche. Mit dem Teller in der Mikrowelle drehte sich auch mein Kopf. Was dachte er jetzt? Wünschte er sich, er wäre nicht hergekommen? Waren ihm Finns Angriffe wirklich so egal? Wenn Finn für ihn nur ein snot-nosed straight little shit war, was war dann ich? Wo stand ich in der Schlange? Vorne, hinten, in der Mitte? Oder hatte ich doch einen Sondereingang?

Es piepste. Ich holte den Teller heraus, nahm mein Besteck und ging zurück ins Wohnzimmer. Immerhin war er noch da. Er hatte das Tanzen vorgeschlagen, und den Film. Er hatte versucht, mich aufzumuntern. Und er hatte gesagt, dass er einen schönen Tag gehabt hatte.

Als ich durch die Tür kam, schallte schon Musik aus den Lautsprechern, locker und action-versprechend. Der Fernseher zeigte das DVD-Menü, und im Hintergrund liefen Bilder, die ich sofort erkannte. „Seriously? Ocean’s Eleven?“

Ramin stand zwischen Sofa und Couchtisch und grinste. „Why? Don’t you like it?”

“Of course I like it!” Ich schüttelte den Kopf und stellte meinen Teller auf den Tisch. „But you must have seen it, like, a thousand times already.“

“Maybe.” Er zuckte die Schultern. „But I don’t care. You can never go wrong with Clooney, Pitt, Damon and Garcia all at once.”

Ich sah ihn an, sein Grinsen, seine lodernden Augen, und lachte. Wir setzten uns aufs Sofa, und er legte den rechten Arm um meine Schultern.

Ich hatte die Nudeln schon aufgegessen, und auf dem Bildschirm nahm die Casinoräuberbande Gestalt an, als ich Ramins Lippen an meinem linken Ohr spürte. „You know, actually I don’t need any of them tonight. Why would I, when you’re right here?“

Ein Schauer ging durch mich hindurch. Ich wandte den Kopf. In seinen Augen knisterte das Feuer. Plötzlich war mir von Kopf bis Fuß warm. Ich zog die Füße hoch, legte den Kopf an seine Schulter und atmete tief ein. Dann schaute ich wieder auf den Fernseher, aber so richtig achtete ich nicht mehr auf den Film.

Ramin hatte recht. Heute brauchte ich keine Leidwandgrößen. Was waren George Clooney und Brad Pitt schon gegen ihn?

 

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Referenzen:

 

„Storm Front“ – aus dem Album „Storm Front“ von Billy Joel. Columbia Records, 1989.

 

„Ocean’s Eleven“ – Film von Steven Soderbergh. Warner Bros. Pictures, 2001. Remake des Films „Ocean’s 11“ von Lewis Milestone (Warner Bros. Pictures, 1960).

Chapter 29: Storm Front - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Storm Front

 

„Puh.“ Ich zog die Wohnungstür zu, lachte und strich mir die Haare aus der Stirn. In der letzten Stunde hatte das Wetter umgeschlagen, und als wir aus der S-Bahn-Station gekommen waren, hatte es schon geregnet. Es waren zwar nur ein paar Minuten bis nach Hause gewesen, und wir waren auch nicht klitschnass geworden, aber schon ein bisschen feucht. „Tja, das gehört eben auch zu Hamburg dazu.“

Ich stellte die Tüte mit Take-away vom Asiaten auf den Boden und schnürte meine Schuhe auf. Dabei fiel mein Blick auf ein Paar weiße Sneaker. Mein Magen machte einen Satz. Finn war wieder da! Und aus dem Wohnzimmer hörte ich Geräusche.

Mein Herz begann zu hämmern. Jetzt. Jetzt würde ich mir Finn und Ramin schnappen und dafür sorgen, dass sie sich endlich kennenlernten. Ich atmete durch und richtete mich auf. „Los! Lass uns essen.“

Ramin hatte sich ebenfalls die Schuhe ausgezogen. Er stand zwei Schritte von mir entfernt im Flur, in den nur durch die offenen Bad- und Küchentüren etwas Licht fiel. Auch sein Haar hing ihm in feuchten Strähnen in die Stirn, und auf seinen Lippen lag ein Grinsen. Mein Körper fing an zu prickeln.

Er kam auf mich zu, einen Schritt, den zweiten. Seine Hände fanden meine Hüfte. Er lehnte den Kopf nach unten, sodass seine Stirn meine fast berührte. „Wie wärs, wenn wir den Hauptgang weglassen …” Seine Hände wanderten an meinen Rücken, glitten unter mein T-Shirt und fingen an, sich nach oben zu arbeiten. „… und gleich mit dem Nachtisch anfangen?“

Seine Lippen lagen so nah an meinem Ohr, dass ich ihre Bewegung spürte. Ich schloss die Augen. Einen Moment nahm ich nichts wahr als seine Hände auf meiner Haut, die Hitze seines Körpers an meinem.

Ich lachte, machte die Augen auf und schob ihn an der Brust ein Stück von mir weg. „Nein, Ramin. Noch nicht. Ich –“

Seine Augen brannten, und es kostete mich alle Kraft, die ich hatte, den Kopf in Richtung Wohnzimmer zu rucken. „Finn ist da drüben. Ich will, dass du ihn kennenlernst. Und er dich. Bitte … Lass uns alle zusammen essen. Okay? Und vielleicht einen Film schauen. Und dann können wir … du weißt schon.“ Ich lachte. Strich mit der Hand über seinen Arm, bis ich an seinen Fingern hängenblieb. „Wir haben die ganze Nacht Zeit. Aber er ist mein bester Freund. Und du bist … na ja … bitte?“

Einen Moment sah er mich an. Dann blinzelte er, lachte kurz, schüttelte den Kopf. Seine Zungenspitze tippte seine Oberlippe an. „Na gut. Wie du willst.“

Ich strahlte. „Danke“, atmete ich ihm zu, ließ seine Finger los, schnappte mir die Tüte mit dem Essen und ging voraus.

Aus dem Wohnzimmer drangen dumpfe Geräusche. Dumpf, weil die Tür zu war. Ich schluckte. Mist. Nicht gut. Meine freie Hand ballte sich zur Faust. Ich entrollte sie wieder, legte sie auf die Klinke und öffnete die Tür.

Finn saß auf dem Sofa, nach vorne gelehnt, den Playstation-Controller mit beiden Händen umklammert. Seine Finger flogen über die Tasten. Ohne zu blinzeln starrte er auf den Bildschirm. Ich warf einen Blick darauf. Finns HSV führte gegen die Playstation-St.-Paulianer mit fünf zu null, und es war noch nicht einmal die erste Halbzeit vorbei. Während ich hinsah, fiel das sechste Tor. Finn übersprang die Jubelsequenz und jagte, kaum, dass St. Pauli angestoßen hatte, schon wieder dem Ball hinterher.

Ich schluckte noch mal. GAR nicht gut.

Ich deutete ein Räuspern an. Finn rührte sich nicht. Ich atmete durch, zwang ein Lächeln auf die Lippen und versuchte es noch mal. „Ähm … hey Finn.“ Ich sagte es auf Deutsch. Zwischen Finn und mir war das einfacher, und außerdem fand ich es für den Moment erst mal sicherer.

Seine Augen zuckten zu mir und sofort zurück zum Fernseher. „Hi.“

„Ähh … wie war das Spiel?“

„Scheiße.“ Seine Finger rammten auf die Tasten. Auf dem Bildschirm war der HSV schon wieder im Vorwärtsgang. „Zwei drei verloren. Erst null zwei, dann zwei zwei, und dann haben die noch den Scheiß-Siegtreffer gemacht.“

Er zog mit Playstation-Lasogga ab. Bang, landete der Ball im Kreuzeck. Der virtuelle Schiedsrichter pfiff zur Pause. Finn schmiss den Controller neben sich aufs Sofa und schaute zum ersten Mal richtig zur Tür. Seine Miene wurde gleich noch finsterer. „Und? Schönen Tag gehabt?“

„Ja.“ Es klang wie eine Entschuldigung. Und genau danach fühlte ich mich auch. So gerne hätte ich mit einem Fingerschnippen das Resultat unserer zweiten Mannschaft in einen überragenden Sieg verwandelt und Finns Laune umgedreht. Aber ich konnte nicht. Und Ramin war morgen wieder weg. Meine einzige Chance war jetzt. Es musste dieser Abend sein.

Finn hatte sich mit einem Schnauben wieder zum Fernseher gedreht. Ich stählte mich. „Ähh … wir essen jetzt. Und wir haben dir was mitgebracht. Willst du … also …“ Ich gestikulierte in Richtung Flur.

Finn schaute von mir zu Ramin und wieder zurück. „Ich hab schon gegessen.“ Seine Augen kehrten zum Bildschirm zurück.

Ich presste die Lippen aufeinander. „Dann … trotzdem. Setz dich einfach mit hin. Ja? Bitte. Wir können … ihr könnt …“

Flehend sah ich ihn an. Finns Lippen waren ein Strich. Ich sah genau, wie wenig er wollte. Ein paar Sekunden kämpften wir mit den Augen weiter. Dann schnaubte er, griff nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher aus, schmiss sie auf den Couchtisch, schnappte sich sein halbleeres Wasserglas und stand auf. „Was soll‘s. Abend ist eh im Arsch.“

Ich stieß die Luft aus und ging voraus in die Küche. Danke, Ramin, dass du kein einziges Wort Deutsch kannst.

In der Küche angekommen stellte ich die Tüte auf die Arbeitsfläche und holte das Essen heraus. Curry für Ramin, Nudeln für Finn und mich. Wir hatten es noch in der Stadt geholt, und mittlerweile war es quasi kalt. Finns Box stellte ich direkt in den Kühlschrank. Für Ramin und mich würde ich das Essen in der Mikrowelle noch einmal warm machen.

Ich warf einen Blick über die Schulter. Ramin hatte den Platz mit dem Rücken zur Tür eingenommen, auf dem er auch heute früh gesessen hatte, und Finn war um den Tisch herumgestapft und auf den Stuhl ihm gegenüber niedergekracht. Ich stand hinter ihm und konnte sein Gesicht nicht sehen, aber seine Haltung war genug, um zu wissen, dass er nicht den Hauch eines Versuches unternahm, seine Laune zu verbergen. Ramins Blick huschte von mir zu Finn und wieder zurück. Sein Mundwinkel zuckte. Aber er sagte nichts. Ein Schweigen senkte sich über die Küche, so dick und schwül wie die Luft vor einem Gewitter.

Ich schluckte, wischte mir mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, wandte mich wieder der Küchenzeile zu und holte zwei Teller aus dem Schrank. Gleich. Wenn die Teller in der Mikro waren, wenn du sitzt, dann könnt ihr reden. Über das Spiel gestern. Oder über den Tag in Hamburg heute. Oder übers Tanzen. Gleich.

Ich zog die Mikrowellentür auf, schob den Teller mit Ramins Curry hinein, drehte die Uhr auf eineinhalb Minuten und drückte auf Start. Das Summen der Maschine füllte die Stille zumindest teilweise. Ich drehte mich wieder um und fing Ramins Blick auf. Wieder huschten seine Augen zwischen mir und Finn hin und her. Dann brach er das Schweigen, seine Stimme locker und scheinbar interessiert. „Worüber habt ihr da grade geredet?”

Ich sah, wie sich Finns rechte Hand auf dem Tisch zur Faust ballte. Meine Kehle wurde eng. Scheiße. Das könnte verdammt schwierig werden.

„Ähm … Finn ist heute mit der zweiten Mannschaft nach Flensburg gefahren. Um sich ihr Spiel anzuschauen.“

Schau, Finn, ich sage ihm, was für ein Teamplayer du bist. Was für ein guter Freund. Komm schon, Ramin, jetzt sag irgendwas Nettes.

Ramin runzelte die Stirn. „Der zweiten Mannschaft?“

„Äh, genau. Junge, vielversprechende Talente, so was halt. Sie spielt in der vierten Liga.“

„Ah.” Ein Hauch von einem Lächeln lag auf seinen Lippen. Sein Blick wechselte von mir zu Finn. „Wie wars?“

Nein. Nicht gut. NICHT gut!

Ich hatte schon den Mund aufgemacht, aber Finn kam mir zuvor. „Nicht gut.”

Ramin hob die Augenbrauen. „Ihr habt verloren, ja?“

„Wir müssen nicht –”

Aber mein Rettungsversuch kam zu spät. Finn knallte sein Glas auf den Tisch. Sein Rücken war plötzlich sehr gerade. Seine Stimme durchschnitt den Raum, beißend, jedes Wort ein Schlag. „Sag mal, Martin meint, du hast jede Menge Sex?”

Ich riss die Augen auf. Eine Hand hatte meine Kehle gepackt und quetschte. Ich starrte auf Finns kerzengeraden Rücken und seine immer noch zur Faust geballte Hand, auf Ramin, der mit leicht geöffneten Lippen dasaß, die Augenbrauen einen Hauch gehoben. Ich musste mich verhört haben. Oder? Bitte? Das konnte doch nicht … Finn konnte doch nicht wirklich …

Ramins Blick zuckte zu mir und wieder zu Finn. Noch immer mit geöffneten Lippen grinste er leicht. „Ja, haben wir, wenn dus genau wissen willst.“

Finn rührte sich keinen Millimeter. „Ich meinte du mit anderen Männern.”

Der Klammergriff um meinen Hals wurde noch fester. Was machte Finn da?

Ramin lachte trocken. „Wieso? Willst du dich in die Schlange einreihen?”

Ein Stich. Durch die Starre, mitten in die Brust. Die Schlange?

„Nein!“ Finn spuckte das Wort aus, als wäre es ein faules Stück Fisch.

„Dann geht es dich nichts an.” Ramin bedachte Finn mit einem Lächeln, dann glitt sein Blick von ihm weg.

Hinter mir piepste es. Ich fuhr zusammen. Aber ich drehte mich nicht gleich um. Ich starrte sie an, Finn und Ramin, meinen besten Freund und den Mann, den ich liebte. Ich wollte Finn herumreißen und ihn anschreien, was das sollte, wie er das nur tun konnte, ich wollte Ramin packen und ihm versichern, dass ich mich nie Finn gegenüber über sein Sexleben ausgelassen hatte. Ich wollte ihn fragen, ob es stimmte. Das mit der Schlange. Ob er sie noch abarbeitete. Ob es sich immer noch lohnte, sich anzustellen.

Ich zwang einen Atemzug durch den Schraubstock um meine Kehle, drehte mich um und holte mit mechanischen Bewegungen den Teller aus der Mikrowelle. Worte hallten durch meinen Kopf. Worte, die ich vor fast zwei Monaten gesagt und gehört hatte.

Du machst das also wirklich jede Nacht, ja? Ich meine …

Na ja, nicht unbedingt jede Nacht. Es gibt keine Verpflichtung, weißt du? Aber ich geh in die Klubs. Ich schau mir die Typen an. Und wenn ich was seh, das mir gefällt, nehm ich es mir.

Mein Unterkiefer versteifte sich. Natürlich gab es eine Schlange. Und natürlich arbeitete er sie noch ab. Oder hatte ich ernsthaft geglaubt, dass er einfach aufgehört hatte, dass er von jetzt auf gleich sein Nachtleben eingestellt hatte, nur, weil wir uns jetzt jeden Monat einmal sahen? Da blieben dreißig Nächte übrig. Und das waren für ihn vermutlich dreißig zu viel.

Ich biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtat, während ich meinen Teller in die Mikrowelle schob. Nein, ich hatte nie wirklich gedacht, dass er jetzt nur noch mit mir Sex hatte. Er war ja auch nicht mein Freund. Er war … keine Ahnung. Ich hatte kein Wort. Ich liebte ihn. Aber was er für mich fühlte, wusste ich nicht. Vielleicht gar nichts?

Ich ballte die linke Hand zur Faust und riss mit der rechten an der Zeiteinstellung. Nein, nicht gar nichts. Er war doch hier, oder? Er war nach Hamburg geflogen, für mich. Er hatte mir das Tanzen beigebracht, er hatte sich mein Spiel angeschaut, er hatte sich von mir meine Stadt zeigen lassen. Egal, was er sonst noch machte, wir waren mehr als nur Sex. Und über den Rest wollte ich nicht nachdenken. Hatte ich ja auch nicht. Bis Finn mich so freundlich erinnert hatte.

Ich schnappte mir den fertigen Teller, umrundete den Tisch, knallte ihn vor Ramin hin, zog eine Schublade auf, wühlte zweimal Besteck heraus und knallte es hinterher. Dann nahm ich Finn ins Visier und fuhr ihn auf Deutsch an. „Sag mal, spinnst du? Was soll das denn?“

Finn wich meinem Blick keine Sekunde aus. Aus seinen Augen flogen Eissplitter. „DU wolltest, dass ich mitkomme! Du bist SELBER schuld!“

Mir fiel die Kinnlade herunter, aber bevor ich Luft holen und zurückgiften konnte, schnellten Finns Augen wieder zu Ramin. „Findest du das nicht riskant?”

Ramins Lippen verzogen sich wieder zu einem Lächeln. „Wieso? Hast du Angst, dass irgendwann einer von den Typen ein Messer rausholt und es in mich reinrammt?“

„Reicht es nicht, dass du was in sie reinrammst?”

Ramin lachte. „Ich verstehe.“

„FINN –“

Aber Ramin schüttelte den Kopf. „Nein, kein Problem, Martin. Es ist sehr nett von deinem Freund, sich solche Sorgen um mich zu machen.“ Seine Augen kehrten zu Finn zurück. „Ich lasse mich alle sechs Monate testen. Und ich ficke nie“ – der Zeigefinger seiner rechten Hand senkte sich auf die Tischplatte, und er ließ das Wort eine Sekunde in der Luft hängen – „ohne Kondom.“ Er lachte trocken. „Wie viele von euch Heteros können das von sich behaupten, hm?”

Finn lief knallrot an. „Kondome können reißen.“

„Und jedes Mal, wenn du das Haus verlässt, könntest du von einem Auto plattgemacht werden. Das Leben ist riskant. Komm klar damit.“ Mit einem letzten, spöttischen Grinsen wandte er sich von Finn ab und ruckte den Kopf Richtung Küchenzeile. „Du solltest das holen, es wird sonst kalt.“

Holen …? Verloren starrte ich Ramin an. Dann drang das Piepsen an mein Ohr. Die Mikrowelle. Ja. Richtig.

Ich drehte mich um, ging die drei Schritte hinüber, drückte auf den Knopf und holte den Teller heraus. Abdeckung zurück in die Mikro, Tür zu, Teller auf den Tisch, hinsetzen. Ich starrte auf das Essen. Lasch und gummiartig wanden sich die Nudeln umeinander, wie graue, schleimige Würmer. Gemüse und Fleisch ragten hier und da aus ihnen hervor. Meine Augen starrten ins Leere. Links von mir saß mein bester Freund, hielt immer noch sein Glas umklammert und schwieg. Rechts von mir saß Ramin, aß und schwieg ebenfalls. Die Hand um meine Kehle presste so fest zu, dass ich das Gefühl hatte, zu ersticken.

Kennenlernen. Kennenlernen hatten die beiden sich sollen. Weil ich sie beide liebte, und weil ich wollte, dass sie verstanden, warum. Damit sie sich, wenn schon nicht lieben, dann wenigstens schätzen lernten. Und jetzt? Jetzt hatte ich eine Bestätigung von allen von Finns Vorurteilen auf der einen und einen völlig aus dem Nichts attackierten Ramin auf der anderen Seite. Von wegen kennen und schätzen lernen, nach dieser Szene würde ich mir vermutlich nicht nur von Finn noch dunklere Zukunftsprognosen anhören, sondern auch Ramin erklären müssen, warum mein bester Freund ihn anging wie ein wild gewordener Stier.

Die Nudeln verschwammen vor meinen Augen. Ich blinzelte. Warum hatte ich mich gestern nicht beherrschen können, nach dem großartigen Sieg? Da war Finn anders drauf gewesen, da hätte er das alles nie gesagt. Warum hatte unsere Zweite ausgerechnet heute so bitter verlieren müssen? Warum hatte ich Finns Laune ignoriert und ihn trotzdem genötigt, sich mit Ramin auseinanderzusetzen? Und warum, verdammt, hatte Finn sich nicht zusammenreißen können? Für mich, weil er genau wusste, was Ramin für mich war?

Nichts war zu hören außer das Klappern von Ramins Besteck. Zittrig holte ich Luft und nahm meine eigene Gabel in die Hand. Ich starrte auf meinen Teller hinunter, auf das Ende der guten Beziehung zwischen den zwei Menschen, die ich am meisten liebte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Meine Kehle schnürte sich noch fester zu.

Das Schweigen dehnte sich aus. Finn saß finster in seinem Stuhl. Ich starrte auf meine Nudeln. Hin und wieder spürte ich Ramins Blick. Ich reagierte nicht. Ich konnte ihn nicht anschauen. Ich wollte die Vorwürfe in seinen Augen nicht sehen. Der Tag war doch so schön gewesen. So schön.

Irgendwann hörte Ramins Besteck auf zu klappern. Wieder spürte ich seinen Blick, länger und intensiver diesmal. Mein rechter Arm fing an zu kribbeln. Ich schluckte und fixierte meinen Teller.

„Willst du gar nichts essen?” Er sprach leise und in einem Atemzug. Sein Blick brannte. Ich presste die Lippen zusammen. Langsam, mechanisch, schüttelte ich den Kopf.

Einen Moment war es still. Dann hörte ich ihn ausatmen. Ein leises Klirren des Bestecks, ein paar schnelle, dumpfe Klopfgeräusche. Unter meinen Unterarmen spürte ich den Hauch eines Vibrierens der Tischplatte. Dann holte er ruckartig Luft. „Oh, ich wollte dich die ganze Zeit schon fragen.”

Seine Stimme war jetzt viel lauter. Und auch sonst anders. Anders als vorher, und auch anders als das Schweigen, dieses grässliche, zermalmende Schweigen. Er klang … locker. Unbeschwert. War es echt? Ich hielt die Luft an.

„Hast du noch mal getanzt seit dem letzten Mal?”

Mein Kopf wirbelte herum. Leicht nach vorne gelehnt saß er in seinem Stuhl, die Unterarme zu beiden Seiten seines leeren Tellers. Sein rechter Daumen flatterte, auf und ab und auf und ab. Er lächelte. Ein wenig angespannt. Aber er lächelte. Weder in seinem Ton noch in seinem Blick konnte ich den winzigsten Hauch eines Vorwurfs entdecken.

Der Griff um meine Kehle lockerte sich ein winziges bisschen. Wieder schüttelte ich den Kopf.

„Hast du dann jetzt Lust, zu tanzen?” Sein Lächeln wurde breiter. „Wir können was Neues machen. Cha-Cha-Cha vielleicht. Was meinst du?“ Ganz unten, tief im Dunkel seiner Augen, erhaschte ich den Hauch eines Loderns.

Sagen konnte ich immer noch nichts. Aber schlucken ging. Und nicken. Ich tat es einmal, dann immer wieder, und schneller. Mit einem Ruck sprang ich auf. Ich wollte raus hier. Nur raus.

„Du tanzt?“

Ich war schon halb aus der Tür gewesen. Finn saß mit offenem Mund auf seinem Platz und schaute von mir zu Ramin und wieder zurück. Er hatte Englisch gesprochen, und in seinem Ton lag diesmal nur Fassungslosigkeit.

Ich starrte ihn an. Finn, meinen besten Freund, Finn, den ich liebte, Finn, der gerade alles kaputt gemacht hatte. Er saß da, blondes Haar, blaue Augen, offener Mund, und einen Moment lang wäre ich gerne hingerannt und hätte ihm die Zähne eingeschlagen.

Ich atmete tief durch. „Ja. Ramin hat angefangen, es mir beizubringen. Discofox und Quickstep. Ich WOLLTE es dir ja erzählen.“

Meine Hände kribbelten. Ich ballte sie zu Fäusten. Die Schläge, die ich ihnen verweigert hatte, hatte ich in meine Stimme gelegt. Finn sah mich an. Er hatte mich genau verstanden – auch das, was ich nicht gesagt hatte. Einen Moment war es still. Finn blinzelte, und seine Augen zuckten zur Seite. Als er mich wieder ansah, lag ein gezwungenes Lächeln auf seinen Lippen. „Das ist … cool, schätze ich. Aber … Quickstep? Echt? Ist das nicht ein bisschen schwierig so als zweiter Tanz?“

„Kann sein.” Es war Ramin, der antwortete. Er sah mich an und lächelte. „Aber er ist ein Naturtalent.“

Ich senkte den Kopf. Das hatte sich in London aber nicht so angefühlt. Entweder, Ramin wusste nicht mehr, wie oft ich damals das Kreuzen vergessen oder das Tempo bei den Schritten verwechselt hatte, oder er log. Mit Absicht. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich wusste, was der Fall war. Ich biss mir auf die Unterlippe. In mir kämpfte und tobte alles.

Ramins linke Hand schob sich in mein Blickfeld. Ich hob den Kopf. Das Feuer in seinen Augen prasselte. „Wollen wir?“

Ich schaffte ein wackliges Lächeln. „Ja.“ Ich legte meine Hand in seine.

Im Türrahmen wandte Ramin den Kopf. „Du kannst also tanzen, ja?”

Finn zögerte. Dann nickte er. „Ja. Ein bisschen.“

Ramin musterte ihn. Mein Herz begann wieder zu hämmern. Was würde er jetzt tun? Zurückschlagen?

Aber er nickte nur langsam. „Also, willst du mitkommen und zuschauen?”

Finn starrte. Ich auch. Von Ramin zu Finn zu Ramin zu Finn. Der holte Luft. Dann löste er seine Finger von seinem Glas und schob seinen Stuhl zurück. „Okay.“

Er fing meinen Blick auf. In seinem stand eine Entschuldigung. Ramins Hand zuckte in meiner. Ich presste die Lippen aufeinander. „Komm.“ Ich führte ihn ins Wohnzimmer. Finn folgte uns schweigend.

Auf der freien Fläche zwischen Couchtisch und Fernseher blieben wir stehen. Finn kam hinter uns durch die Tür, zögerte einen Moment und glitt dann nach rechts an der Wand entlang aufs Sofa. Ich stand mit dem Rücken zu ihm, aber sein Blick kribbelte.

Ramin stand aufrecht vor mir und würdigte Finn keines Blickes. „Also – Cha-Cha-Cha! Der Grundschritt ist sehr einfach. Ich zeigs dir zuerst, dann kannst du es nachmachen. Du fängst mit dem linken Fuß an …“

Ich schaute zu, während Ramin die Schritte vormachte, und ging es nach. Links zur Seite, mit dem Rechten zurück und gleich wieder nach vorne auf den Linken, drei schnelle Schritte seitwärts, links vor und auf den Rechten zurück, drei schnelle Schritte nach links, und von vorne. Ich machte es erst allein, dann mit Ramin zusammen in Tanzhaltung, erst langsam, dann ein bisschen schneller. Am Anfang waren meine Schritte wacklig und unsicher, bis sich nach ein paarmal Hin und Her wie schon beim Discofox und am Ende auch beim Quickstep eine Art Rhythmus einstellte. Ich konnte den Kopf heben und Ramin anschauen, und meine Füße machten weiter, ein Schritt nach dem anderen. Aber nach Tanzen fühlte es sich nicht an. Die ganze Zeit spürte ich Finns Blick im Rücken. Mein Magen war verkrampft, und die Hand hielt meine Kehle immer noch im Klammergriff. Ramin machte ab und zu Kommentare, am Anfang Verbesserungsvorschläge, am Ende Lob, aber selbst das und das Gefühl seiner Hände an meiner Hand und meinem Rücken half nicht. Nachdem wir uns ein paarmal hin und herbewegt, aber immer noch nicht getanzt hatten, blieb er stehen. Ich ließ seine Hand und seine Schulter los und machte einen Schritt zur Seite. Wieder senkte ich den Kopf. Meine Zähne bearbeiteten meine Oberlippe.

Ein leises Husten. Vom Sofa. „Das war ziemlich gut.“ Ein Lächeln. Mit hochgezogenen Füßen, den Rücken an die Lehne gepresst, saß Finn da und lugte unter seinem blonden Pony zu mir hinauf.

Ich zwang einen Atemzug durch meine Kehle. „Ja. Wie auch immer. Danke.“

Wir starrten uns an. Ich konnte in Finns Blick lesen, genauso wie er in meinem vorhin. Ich wusste, dass es ihm leidtat. Dass er frustriert gewesen war und sich nicht hatte beherrschen können. Dass er es jetzt gerne zurücknehmen würde.

Ich schaute weg, zur Tür, stieß die Luft aus. Ja. Toll. Schön. Nur ging das eben nicht mehr.

„Du meintest ja, du kannst tanzen, oder?”

Mehrmals hatte ich Ramins Blick von der Seite gespürt, aber erst jetzt schaute ich ihn an. Seine Augen waren auf Finn gerichtet, der seinen Blick ein bisschen wachsam und ein bisschen ängstlich erwiderte. „Ja.“

Ramin ruckte den Kopf in meine Richtung. „Würdest dus ihm ein bisschen beibringen? Er lernt nicht wirklich viel, wenn er nur ab und zu mit mir tanzt.“

Meine Kinnlade klappte nach unten. Ich starrte Ramin an, aber der nahm seine Augen nicht von Finn. Der saß da und starrte Ramin genauso entgeistert an wie ich. Dann glitt sein Blick zu mir. In seinen Augen stand Unsicherheit, aber auch ein bisschen Herausforderung. Und ein Hauch von einem Lächeln. „Okay. Warum nicht?“

Ich zögerte und sah ihn an. Die blauen Augen, die ich so gut kannte. Ich holte Luft und nickte. „Ja. Ich … okay.“

Ein Lächeln erblühte auf Finns Gesicht. Einen Moment sah er mich noch an, dann räusperte er sich und stand auf. „Na ja, äh … gut. Ich denke, ich … äh … lass euch dann jetzt allein. Gute Nacht.“

Sein Blick huschte zwischen Ramin und mir hin und her, dann verschwand er durch die Wohnzimmertür. Einen Moment später hörte ich, wie er seine Zimmertür hinter sich schloss.

Ich starrte auf den leeren Türrahmen. Ramins Präsenz hinter mir spürte ich wie einen Hitzestrahler. Einen Moment war es still. Dann hörte ich ihn schnauben. „Na. Der ist aber ein spezieller Typ, das ist mal klar.“

Mein Gesicht wurde heiß. Ich ballte die Fäuste. Ich wusste nicht, wie ich Ramin in die Augen schauen sollte.

Ein leises Geräusch hinter mir. Ramins Hand legte sich auf meine Schulter, übte Druck aus. Sein Daumen strich über meinen Nacken. „Komm schon, Martin, warum regst du dich denn so auf?“

„Ich reg mich nicht auf!”

Er lachte. „Ja, und ich werd nicht seekrank, schon vergessen?”

Mein Atem stockte. Dann lachte ich und drehte mich um. Seine Hand rutschte von meiner Schulter. Schade. Ich schaute in seine warmen, dunklen Augen, in das Lächeln auf seinen Lippen, und die Worte sprudelten plötzlich aus mir heraus. „Ramin, es tut mir so leid, es tut mir so, SO leid, ich hätte nie gedacht, dass er das alles zu dir sagen würde, ich hätte mir nicht träumen lassen, dass er –“

„Hey!” Er hob beide Hände. „Stopp. Warum sollte es dir leidtun?”

„Na ja – das ganze Zeug, was er gesagt hat –“

„Na und? Du kannst nichts dafür. Du hast es ja nicht gesagt.”

„Ja, aber – er ist mein bester Freund, also –“

„Also?” Er lachte. „Also was? Das heißt doch nicht, dass du dafür verantwortlich bist, was er tut! Glaubst du etwa, ich bin verantwortlich für irgendwas, das Sierra tut?“ Noch ein Lachen.

„Bin ich nämlich nicht! Und das kannst du mir verdammt noch mal glauben!“

Ich starrte zu ihm hinauf. Konnte er das alles wirklich lustig finden?

Er grinste immer noch. „Du musst mich jedenfalls als ganz schönes Monster dargestellt haben.“

Der Stich ging quer durch mich hindurch. „Hab ich NICHT, Ramin, ich schwörs, ich hab nie irgendwas gesagt über –“

„Kein Problem. Das stört mich nicht.“ Er grinste breit und zuckte die Schultern. „Und sowieso, er ist bloß ein rotznasiger kleiner Hetero-Lümmel. Ist mir scheißegal, was er denkt.“

Ich zuckte zusammen. Meine Augen flohen in Richtung Parkett. Super. Genau die Beziehungsebene, die ich für euch im Kopf hatte.

Kurz war es still. Dann schnalzte Ramin mit der Zunge. „Was ist denn jetzt los?” Mit beiden Händen packte er mich an den Schultern und schüttelte mich leicht. Ich hob den Blick. Sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Schau, Martin, mir geht’s gut! Okay? Wir hatten einen tollen Tag, es hat Spaß gemacht, beim Abendessen zu streiten, und jetzt können wir eine tolle Nacht haben! Okay?“

Er grinste. Seine Zunge fuhr über seine Oberlippe. Ich atmete aus. „Ja. Na ja …“ In mir drehte sich alles. Der tolle Tag, Finns Vorwürfe, Ramins Gleichgültigkeit, die Schlange … Ich biss die Zähne zusammen. „Jetzt willst du wahrscheinlich deinen Nachtisch haben.”

Einen Moment war es still. Dann stieß Ramin die Luft aus. „Ja, so bestimmt nicht.“

Seine Hände glitten von meinen Schultern. Ich ballte meine zu Fäusten. Er seufzte. „Schau – vorhin hast du was von Film gesagt. Wieso nicht? Ist doch eine gute Idee. Und ich finde echt, du solltest was essen. Du hast noch keinen Bissen angerührt.“

Ich sah ihn an. Seine Augen waren weit geöffnet, seine Lippen ein wenig. Er sah etwas angestrengt aus. Und etwas hilflos. Aber auch so, als wäre er beides eigentlich lieber nicht.

„Echt? Ich meine … du willst echt einen Film schauen?“

„Ja. Wieso nicht? Vielleicht heitert es dich ein bisschen auf, hm?“ Er sah immer noch ein wenig unsicher aus, aber er lachte, machte einen Schritt auf mich zu und nahm meine Hände. „Und ich meine … wir können ja jederzeit aufhören, wenn wir … abgelenkt werden.“

Seine Augen waren warm. Und seine Hände auch. Ich atmete durch und drückte seine Finger. „Okay. Ja, okay.“ Ich ließ ihn los, ging zum Schrank neben dem Fernseher und machte die Tür auf. „DVDs sind hier drin. Netflix haben wir auch. Also … nimm einfach, was du willst. Ich geh schnell und … wärm das Essen auf.“

Ich ging in die Küche. Mit dem Teller in der Mikrowelle drehte sich auch mein Kopf. Was dachte er jetzt? Wünschte er sich, er wäre nicht hergekommen? Waren ihm Finns Angriffe wirklich so egal? Wenn Finn für ihn nur ein rotznasiger kleiner Hetero-Lümmel war, was war dann ich? Wo stand ich in der Schlange? Vorne, hinten, in der Mitte? Oder hatte ich doch einen Sondereingang?

Es piepste. Ich holte den Teller heraus, nahm mein Besteck und ging zurück ins Wohnzimmer. Immerhin war er noch da. Er hatte das Tanzen vorgeschlagen, und den Film. Er hatte versucht, mich aufzumuntern. Und er hatte gesagt, dass er einen schönen Tag gehabt hatte.

Als ich durch die Tür kam, schallte schon Musik aus den Lautsprechern, locker und action-versprechend. Der Fernseher zeigte das DVD-Menü, und im Hintergrund liefen Bilder, die ich sofort erkannte. „Ernsthaft? Ocean’s Eleven?“

Ramin stand zwischen Sofa und Couchtisch und grinste. „Wieso? Magst du den etwa nicht?”

„Klar mag ich den!” Ich schüttelte den Kopf und stellte meinen Teller auf den Tisch. „Aber den hast du doch bestimmt schon ungefähr tausendmal gesehen.“

„Kann sein.” Er zuckte die Schultern. „Aber das stört mich nicht. Mit Clooney, Pitt, Damon und Garcia gleichzeitig kann man einfach nichts falschmachen.“

Ich sah ihn an, sein Grinsen, seine lodernden Augen, und lachte. Wir setzten uns aufs Sofa, und er legte den rechten Arm um meine Schultern.

Ich hatte die Nudeln schon aufgegessen, und auf dem Bildschirm nahm die Casinoräuberbande Gestalt an, als ich Ramins Lippen an meinem linken Ohr spürte. „Weißt du, eigentlich brauch ich die heute Abend alle gar nicht. Warum sollte ich, wenn du doch hier bist?“

Ein Schauer ging durch mich hindurch. Ich wandte den Kopf. In seinen Augen knisterte das Feuer. Plötzlich war mir von Kopf bis Fuß warm. Ich zog die Füße hoch, legte den Kopf an seine Schulter und atmete tief ein. Dann schaute ich wieder auf den Fernseher, aber so richtig achtete ich nicht mehr auf den Film.

Ramin hatte recht. Heute brauchte ich keine Leidwandgrößen. Was waren George Clooney und Brad Pitt schon gegen ihn?

 

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Referenzen:

 

„Storm Front“ – aus dem Album „Storm Front“ von Billy Joel. Columbia Records, 1989.

 

„Ocean’s Eleven“ – Film von Steven Soderbergh. Warner Bros. Pictures, 2001. Remake des Films „Ocean’s 11“ von Lewis Milestone (Warner Bros. Pictures, 1960).

Chapter 30: Who Am I?

Chapter Text

  1. Kapitel: Who Am I?

 

„One-two-three, one-two-three, one-two-three – good!“ Ramin lachte, hörte auf zu drehen und ging wieder zum Pendeln über, während die letzten Takte von Billy Joels „Piano Man“ ausklangen. Als das Lied vorbei war, blieb er endlich stehen. Ich ließ ihn los, taumelte zwei Schritte rückwärts, und das Sofa fing mich mit weichen Armen auf.

Es war Mitte Oktober. In der Bundesliga war Länderspielpause, und ich nutzte das freie Wochenende für einen Besuch in London. Abgesehen davon, dass es mehr als einen Monat her war, dass Ramin bei mir gewesen war, und ich ihn wie verrückt vermisst hatte, war es schön, zumindest mal kurz wegzukommen. Nach dem Sieg gegen Stuttgart hatten wir den damit geretteten Saisonstart in den nächsten Spielen noch zu einem wirklich guten gemacht, hatten am dritten Spieltag in Köln nur sehr unglücklich verloren und waren danach drei Spiele ungeschlagen geblieben, mit zwei Siegen in Gladbach und Ingolstadt und einem Unentschieden daheim gegen Frankfurt. Nach dem sechsten Spieltag waren wir Sechster gewesen. Sechster! Das war ein Platz, der am Ende der Saison für die Europa League reichen würde. Aber in den zwei Spielen danach hatten wir mit null zu eins daheim gegen Schalke und mit null zu drei auswärts in Berlin verloren und waren auf den elften Platz abgerutscht. Gegen Schalke waren wir immerhin noch dran gewesen, aber gegen Hertha hatte nach vorne nichts funktioniert. Gar nichts.

Ich presste die Lippen aufeinander und unterdrückte den Impuls, ein Sofakissen durch die Gegend zu pfeffern. Stattdessen konzentrierte ich mich auf Ramin, der sich vor den Fernseher gekniet hatte, um die Stereoanlage auszuschalten, und sich gerade wieder aufrichtete. Der Anblick vertrieb den Frust sofort. Aber leider war er mir nur kurz vergönnt. Ramin wandte sich um und grinste. „What’s that? Exhausted already? And I thought you were supposed to be a professional athlete!“

Ich schnitt eine Grimasse. “I am a professional athlete, thank you very much. But you’re the dancer here, not me. You hear a song, say, ‘Oh, that’s whatever,’ and you do it. Me, I have to concentrate on every single step. Now, if we’d spent the last two hours playing football, that’d be a different story.”

“Yeah, you’re never gonna drag me onto a football pitch, whatever you do.” Er nahm mein Glas vom Tisch, ging zur Küchenzeile und füllte es mit Wasser. “But the dancing wasn’t so bad. You’re beginning to get the hang of it.“

„Thanks.“ Ich streckte die Hand nach dem Glas aus und leerte die Hälfte in einem Zug. Das Wasser war herrlich. Es schien von meiner Kehle in jeden Muskel zu fließen und die Müdigkeit abzuschütteln. Ich schloss kurz die Augen, setzte das Glas ab und sah Ramin wieder an. „Do you really think so?“ Sein Lob hatte mich genauso durchströmt wie das Wasser, aber einen kleinen Zweifel konnte ich nicht aus meiner Stimme halten.

Finn und ich hatten Ramins Vorschlag in die Tat umgesetzt und in den letzten Wochen immer wieder geübt. Es machte Spaß, und dass Finn sich so bemühte, zeigte mir, dass ihm sein Ausbruch damals beim Essen wirklich leidtat. Den hatte ich ihm mittlerweile auch verziehen. Es war eben eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen, an denen ich auch nicht schuldlos gewesen war. Und Ramin war es ja sowieso egal gewesen. Aber beim Tanzen gab es leider ein paar Schwierigkeit, an die im ersten Moment keiner – Ramin vermutlich eingeschlossen – gedacht hatte.

Es war nicht nur zwei Jahre her, dass Finn das letzte Mal regelmäßig getanzt hatte, sondern er hatte damals in seinen Kursen natürlich die Herrenschritte – oder, wie Ramin es nannte, die Leaderschritte – gelernt. Um mit Ramin tanzen zu können, musste ich aber die Damen-, die Followerschritte lernen. Dass Ramin offensichtlich beides konnte, war mir erst klar geworden, als Finn mir den Grundschritt vom Langsamen Walzer hatte zeigen wollen und wir uns schnell einigermaßen ratlos angesehen hatten. Finn wusste zwar ungefähr, was seine Tanzpartnerinnen gemacht hatten, aber nicht genau genug, um es mir zeigen zu können. Nach ein bisschen konsterniertem Rumstehen hatten wir gegoogelt, und mithilfe von Tutorials hatte ich langsam und mühselig zumindest die Grundschritte in der Rumba, im Jive und den beiden Walzern gelernt, zusätzlich zu Discofox, Cha-Cha und Quickstep. Aber das hatte sich alles kompliziert und technisch und immer wie harte Arbeit angefühlt. Ich hatte trotzdem weitergemacht – um Ramin nicht zu enttäuschen, aber auch, weil die Erinnerungen vom Discofox und Quickstep in mir leuchteten und wirkten wie die Aussicht auf die Meisterschaft vor dem letzten Sprint in der letzten Minute des letzten Saisonspiels. Geflogen waren wir, hier, in Ramins Wohnzimmer. Und ich hätte alles getan, um das noch einmal zu erleben.

Also hatte ich geübt. Gestern Abend, als ich bei Ramin angekommen war, hatten wir andere Dinge zu tun gehabt, aber heute Morgen hatten wir sofort nach dem Frühstück angefangen. Jeden Tanz hatte Ramin getestet, gelobt und kritisiert, mir neue Figuren gezeigt, Tipps für die richtige Haltung gegeben und nur dann ein paar Sekunden Pause gemacht, wenn er eine neue CD einlegte. Deshalb war es kein Wunder, dass ich jetzt fix und fertig auf dem Sofa lag. Aber es hatte sich gelohnt. Vielleicht war es dieser Raum, vielleicht war es die Musik, vielleicht waren es Ramins Arme um mich herum. Vielleicht war es alles zusammen. Aber der Zauber war zurück gewesen. Die schweren, singenden Muskeln, der summende Kopf, der Nachhall von „Piano Man“ in den Gliedern – es war einfach perfekt. Und es war viel besser gegangen, als ich befürchtet hatte.

Als ich mit Finn geübt hatte, hatte ich es noch nicht realisiert, aber heute hatte ich zum ersten Mal gemerkt, was für einen Unterschied es machte, ob man mit jemandem tanzte, der selbst unsicher war und sich auf seine eigenen Schritte konzentrieren musste, oder mit jemandem, der beim Tanzen ein Diensttelefonat in einer anderen Sprache hätte führen können, ohne einen Fuß falsch zu setzen. Ich machte Finn keinen Vorwurf, aber mit ihm musste ich selber wissen und darüber nachdenken, wohin ich treten musste, während Ramins Führung wirklich eine war. Immer wieder hatte ich gerade Sachen getanzt, die weder er noch Finn mir je gezeigt hatten, und trotzdem hatte es geklappt. Nur, weil Ramin es geführt hatte. Weil er mir nur an einer Stelle Platz gegeben hatte und ich dann eben zwangsläufig da hingetanzt war. Solange sich der Schrittrhythmus nicht veränderte, ging es, und an den Momenten, an denen es geklappt hatte, hatte Ramin jedes Mal genauso gestrahlt wie ich.

Auch jetzt grinste er wieder. „Yeah, I do.“ Er setzte sich neben mich aufs Sofa und legte den rechten Arm auf die Rückenlehne. Seine Augen loderten. Ich spürte ein herrliches Ziehen im Bauch.

Er beugte sich ein winziges Stück nach vorne. „What can I say? When it comes to sports, you’re a genius.”

All kinds of sports?” Ich zog die Augenbrauen hoch. Aber ich ruinierte den Effekt durch ein breites Lachen.

All kinds.“ Er lehnte sich noch ein Stück nach vorne und nahm mir das Glas aus der Hand. Ohne sich umzudrehen, stellte er es hinter sich auf den Tisch. Sein rechter Arm war von der Sofalehne um meinen Rücken gewandert. Mit einem Ruck zog er mich an sich, presste seine Lippen auf meine und ließ sich plötzlich, aber sicher nach vorne fallen, sodass ich rücklings auf dem Sofa landete und schwer atmend und mit leuchtenden Augen zu ihm aufschaute.

 

*

 

„Sierra’s coming to lunch today.“

Ich spürte den Satz sanft durch mein Haar streichen. Wir lagen im Bett, beide auf dem Rücken, mein Kopf auf Ramins Brust, sein linker Arm um mich gelegt. Mit jedem seiner Atemzüge spürte ich ein leichtes Heben und Senken. Ich wollte nie wieder aufstehen.

„That’s great.“ Meine Stimme klang schläfrig. Es war zwar noch Vormittag, aber nach Frühstück, Tanzen und Sex war ich so ausgelastet und zufrieden, dass ich auf der Stelle wieder hätte einschlafen können.

„I want to tell her who you are.”

Ich brauchte zwei Sekunden. Dann flogen meine Augen auf. Ramin hätte mir ebenso gut einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gießen können. „You mean … that I’m a football player?“

„Yes.“

„But … why?“ Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nicht, dass er die Angst in meinen Augen sah. Aber aus meiner Stimme konnte sie nicht halten.

„Because she’s my best friend.“ Ramin sprach ganz ruhig. „How would you feel if I made you lie to Flint?”

“Finn!” Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Hier lag er und verlangte, dass ich meine Karriere in die Hände seiner besten Freundin legte, und war selbst nicht in der Lage, sich auch nur den Namen meines besten Freundes zu merken?

“Yeah, him.” Sein Augenrollen konnte ich förmlich hören. „Whatever. I don’t want to lie to her anymore. You have no idea what it took to keep it from her until now. She would not stop nagging me about you. She’s been a fucking pain in the ass, I can tell you. Even more than usual, I mean.”

“But … I just …” Ich rang nach Worten. Ich konnte ja verstehen, dass Ramin seine beste Freundin nicht anlügen wollte. Und dass er es bisher wohl doch getan hatte, zeigte, dass er sein Wort ernst nahm. Er hatte es nicht einfach so gebrochen. Aber … das musste eben unbedingt so bleiben. „I really don’t want to tell anyone who doesn’t absolutely have to know.”

“She does have to know.”

Why?” Ich krallte die linke Hand in die Bettdecke und versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Because she’s my best friend.“

“But …” Ich atmete flach, wühlte in meinem Kopf nach Worten und fand keine.

Ramin seufzte. Einen Moment später spürte ich seine Hand in meinem Haar, seine Finger, die es sanft zerzausten, leichten Druck auf meine Kopfhaut ausübten. „Martin, come on. This is one person we’re talking about. Not the newspapers, not television, just Sierra. And you’ve met her.”

„Only for ten minutes!“

„That’s enough.“ Ramin klang so endgültig, dass ich verstummte. „Martin, what do you think’s gonna happen if you tell her? She’s gonna run to the nearest newspaper and sell them the story? Put up billboards across London? Post it on facebook? Honestly? I mean –“

Er lachte, und mein Kopf verrutschte ein wenig auf seiner Brust, als er die freie Hand hob und sich damit durch sein eigenes Haar fuhr. „What is it that frightens you so much? Why are you this afraid? Huh? Why must nobody know, what do you think would happen if it got out? You’d go to prison, be flayed alive, be burned at the stake? I mean, Christ, you’re a football player and you’re gay, so what? It’s not a fucking crime, you know!” Diesmal war sein Lachen ganz und gar humorlos. „At least, not anymore.“

Ich schwieg. Er auch. Seine Haut unter meiner Wange war wärmer als zuvor, und sein Herz schlug heftig. Ich wartete darauf, dass er aufspringen und mich von sich stoßen würde, dass er androhen würde, er würde es Sierra sagen, egal, ob ich wollte oder nicht. Aber das tat er nicht. Er blieb liegen, er ließ seine Hand in meinem Haar, und nach und nach beruhigte sich sein Herzschlag. Ich atmete, einmal, zweimal. Seine Finger zwirbelten immer noch Strähnen meiner Haare. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich nur auf dieses Gefühl, bevor ich Augen und Mund gleichzeitig öffnete.

„You’re right. Of course, you’re right. It’s not a crime.” Meine Stimme klang ein wenig zittrig, aber fester, als ich befürchtet hatte. Ich schluckte, holte Luft. „But … still … it feels like it, you know? Always, every day, no matter where I go, no matter what I do, there’s always this fear of being found out. And it’s been there for so long that most days I don’t even really notice it any more. I just … hide, and it’s normal. I mean, I don’t like it.” Ich dachte an den Moment nach dem Stuttgart-Spiel, oben im VIP-Bereich. Wie er auf dem Sofa gesessen, wie er mich angesehen hatte. „I hate it, even.”

“Then why –“

“Because I have no choice, Ramin!” Beide Hände ballten sich zu Fäusten, die rechte vor meiner Brust, die linke mit der Bettdecke zwischen den Fingern. „I’m a professional football player, and so I have no choice! I love playing football, I’m good at it, it’s all I’ve ever wanted to do. Millions of children have this dream, well, for me it’s come true. And if I want to keep doing it – and I do –, then I can’t be out. Period. I can’t be.”

Es war still. Ich hörte und spürte nur seine Atemzüge und seinen Herzschlag. Seine Finger spielten immer noch mit meinem Haar. „Because of what you said that time, you mean? Because of the press and stuff?“

„Yeah.“ Das war nur ein Hauch gewesen. Ich schluckte, lauschte für einen Moment seinem Herzen und setzte neu an. „I mean, they’d … tear me apart, you know? For weeks and weeks, it’d be all they’d write about.” Ich dachte an die Morgenpost und die Blöd, an weiße Schlagzeilen auf rotem Grund. Und dann an das Abendblatt und den kicker. „Well, not all of them. But … some. The whole club would get publicity because of my sexuality. I have no idea how my teammates would react. And the fans …”

Bilder schwammen vor meinen Augen. Ein großes Banner, dicke, fette Buchstaben, schwarz auf weiß. GANZ BREMEN IST SCHWUL – BESONDERS DER WERDER HOOL. In meinem Bauch gab es einen Stich wie von einem glühenden Messer. „They’d make my life hell.“

Ramins Zeigefinger hatte eine Haarsträhne gefunden und zwirbelte sie um sich herum, rund und rund und rund. „The opposing fans, you mean?“

„Well … them too. But …“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Zittrig holte ich Luft. „But our own fans would be worse. And it’s them that I’m most afraid of.”

“How come?” Seine Stimme war sanft. Nicht der Hauch eines Vorwurfs lag darin. Sein Finger spielte noch immer mit meinem Haar.

Ich erzählte es ihm. Vom Nordderby, meinem ersten als Profi überhaupt, von der zuerst fantastischen Stimmung. Wie ich dem Ball hinterhergejagt und gesprintet war, gegrätscht, Lücken gestopft und Pässe gespielt hatte, beflügelt vom Spiel und der Raute auf meinem Trikot und den Fans. Und dann erzählte ich ihm vom Banner. Plötzlich da, mitten in der Nordkurve, da, wo der größte Support herkam, wo das Herz unserer Anhänger schlug. GANZ BREMEN IST SCHWUL – BESONDERS DER WERDER HOOL. Wie ich danach zwar immer noch gerannt war und gegrätscht und gepasst hatte, wie es aber überhaupt nicht mehr das Gleiche gewesen war. Wie es sich angefühlt hatte wie ein anderer Sport, von einem anderen Planeten. Wo vorher Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl mit 50.000 gewesen war, war plötzlich – nichts. Nur Pflicht. Und der flehentliche Wunsch, dass es vorbei sein möge.

Als ich fertig war, war es still. Ramin hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Nur der Druck seiner Finger auf meiner Kopfhaut war etwas stärker geworden. Als er das Schweigen schließlich brach, war seine Stimme hart. „Well, they’re assholes.“ Er stieß die Luft aus. „Motherfucking homophobes. Look, Martin, fuck ‘em! Why do you care what they think?”

“I don’t care what they think!” Es stimmte. Wenn ich ein normaler Student wäre, Hand in Hand mit meinem Freund durch die Straßen laufen und diese Leute mich bepöbeln würden, würde ich einfach weitergehen. Es würde mir zwar nicht gefallen, aber es würde mir auch nicht den Schlaf rauben. Aber das mit dem Weitergehen war eben so eine Sache, wenn man zuverlässig alle zwei Wochen im Volksparkstadion und dazwischen auf dem Trainingsplatz anzutreffen war. „I just want them to leave me alone, that’s all. It’s none of their business who I have sex with.”

“Exactly!” Das kam so heftig, dass ich zusammenzuckte – aber das lag vielleicht auch daran, dass Ramins Hand mit einem Ruck von meinem Kopf weggezuckt war und ein paar Haare mitgenommen hatte. „Sorry. But that’s exactly what I mean, Martin! You‘re right, you’re absolutely right, who you fuck is none of their fucking business.”

“So you see –“

“But by keeping it secret, you MAKE it their business!” Unter meiner Wange spürte ich seine Brustmuskeln zucken. „Don’t you see, you hide because these assholes can’t get their tiny brains around the idea of a gay guy who’s brilliant at football, and so you make it their fucking business instead of just being who you are and telling them to go fuck themselves!”

Ich öffnete den Mund, aber er war zu sehr in Fahrt. „Look, take the other day, okay? At the stadium, after your match, when you picked me up? Did we fuck, right then and there, like we both wanted to? Did you drag me to the nearest toilet? Huh? Did you? No, you didn’t, because you’ve got that fucking hiding-away thing going on!”

Schwer atmend brach er ab. Seine rechte Hand ballte sich zur Faust, öffnete sich, ballte sich wieder. Es gab eine kurze Pause.

„I did not want you to fuck me in a toilet cubicle in the stadium.”

Er schnaubte. „Yeah right, that must‘ve been why your dick was so hard, because you were so absolutely turned off.”

Na gut. Das konnte ich nicht leugnen. Trotzdem … “I still didn’t want to fuck in a toilet.”

“All right!” Wieder lag das Augenrollen in seinem Tonfall. „In the changing room then, in a broom cupboard, whatever! We would’ve found some place. Heck, we could’ve done it in the car! What you definitely didn’t want was a twenty-minute ride in that car before I could rip your pants off. And I didn’t, either.”

Ein paar Sekunden war nur unser Atem zu hören, und sein Herz, das jetzt wieder hämmerte. Wieder brauchte ich eine Weile, bis ich meine Gedanken sortiert hatte. „No, I guess not.“

Ich brachte die Worte nur langsam heraus. Etwas in meinem Kopf war ins Wanken geraten. Ich schloss die Augen, schüttelte den Kopf gegen Ramins Brust und öffnete sie wieder. „I guess I didn’t want the car ride first. And I would have liked to … you know, say some stuff to you, too. More stuff. Other stuff. But … I mean, I said I didn’t like the hiding. But …”

Ich stieß die Luft aus und kniff wieder die Augen zu. Schwindelerregende Möglichkeiten taten sich plötzlich in meinem Kopf auf. Noch nie hatte ich darüber nachgedacht, was die Vorteile eines Outings wären. Die Möglichkeit, dass es herauskommen könnte, hatte immer nur unfreiwillig in meinem Kopf existiert, wenn es jemand sah, wenn es jemand mitbekam, wenn ich ertappt wurde. Als Verrat. Als Bloßstellung. Dass ich es auch selbst tun könnte … freiwillig … einfach sagen … dass ich die Wahl hatte …

Ich schluckte. I have no choice. Das hatte ich gesagt, und ich hatte es immer geglaubt. Aber … das war nicht richtig. Eine Wahl hatte ich schon. Ich hätte Ramin küssen können, dort, mitten im Stadion, und niemand auf der Welt hätte mich daran hindern können. Dann wäre es raus gewesen. Kein Verstecken mehr. Keine Lügen, keine Ausreden. Stattdessen …

Meine linke Hand klammerte sich um die Bettdecke. Das Stattdessen schnürte mir mal wieder die Luft ab. Das war das Gefühl, das ich kannte, wenn es um dieses Thema ging. Und es brachte alles andere zum Stillstand. „Maybe you’re right. Maybe I make it their business because I hide. But … if I didn’t, they’d be the ones who made it their business. They’d never leave me alone, Ramin. Never. Not while I associated their team with …”

Ich schluckte. Fuhr mir mit der Zunge über die Oberlippe. Holte Luft. „Anyway, I am not going to paint a target on my face for these people. I won’t. Not ever.”

Stille. Ramin rührte sich nicht. Auf meinem linken Arm und dem Teil meines Oberkörpers, der nicht unter der Decke war, hatte ich Gänsehaut. Mein Haar fühlte sich ohne seine Hand seltsam kalt an.

„But they can’t all be like that.” Die Matratze sank ein Stück nach unten, als Ramin sich mit beiden Händen darauf stemmte. Er schob sich ein paar Zentimeter nach oben, aber er ließ den Arm um mich gelegt, und mein Kopf rutschte ein Stückchen, aber blieb sonst, wo er war. „The fans, I mean. They can’t all be assholes. I mean, take that boy, for instance. You know, the one at the port, who wanted your autograph?”

“Yeah.” Ich sah Arne vor mir, seine blonden Haare, seine leuchtenden Augen, sein strahlendes Gesicht, das freundliche Lächeln seiner Mutter. Plötzlich war mir so heiß, dass ich die Decke am liebsten von mir geschleudert hätte. „If they’d known that I’m gay, I bet his mother wouldn’t have let him anywhere near me.”

An meinem linken Ohr gab es einen Stich und dann ein Brennen. „Autsch!“ Ich fuhr hoch, rieb mir mit der Hand die Stelle, gegen die Ramin geschnipst hatte, und starrte ihn empört an.

Er verzog keine Miene. „You deserved that.“

„Why?!“

„Because you don’t know ANYTHING about that woman!” Er richtete sich ebenfalls ganz auf, sodass wir gegenüber auf der Matratze saßen und er wieder ein paar Zentimeter größer war als ich. „You don’t know anything about her, but you just ASSUME that if she knew you’re gay, she’d hate you. Why, Martin? Why? For all you know, she could have a wife! Or a gay brother! Or two fathers! Or she could be trans! Or she could be bi! Or she could be straight, from a straight family, with straight friends, and STILL not think gays should all get AIDS and die! I mean, Sierra calls ME a heterophobe, but even I don’t go around thinking that every person in the world is gonna hate me if they learn that I fuck guys! I mean, okay, some of your fans are assholes, I get it, fine. But most of them probably wouldn’t give a shit so long as you kept scoring goals. And some might even like you better if they knew.”

Ich starrte Ramin an. Was er sagte … War das wahr? Ging ich wirklich durch die Welt und glaubte, dass alle gegen mich wären, wenn sie es wüssten? Glaubte ich wirklich, dass so viele Menschen Schwulenhasser waren? Glaubte ich es von allen Fans in der Kurve? Von den Kindern, die bei jedem Training am Zaun standen, Kindern wie Arne, für die ein Autogramm und ein gemeinsames Foto das schönste Geschenk auf der Welt waren? Glaubte ich es von ihren Eltern? Von Bruno? Von Lewis? Von Michi? Von Gidi? Und wenn ich es glaubte – mit welchem Recht glaubte ich es? Hatte ich mich mit irgendjemandem, der nicht über mich Bescheid wusste, je über das Thema Homosexualität unterhalten? Was war ich, wenn ich so vorschnell urteilte? Und wenn ich es nicht glaubte – warum verhielt ich mich dann so?

Mein Kopf drehte sich, und Ramin verschwamm vor meinen Augen. Ich presste die Lider aufeinander und schüttelte den Kopf. Als ich sie wieder öffnete, sah ich Ramin wieder klar vor mir. Trotzdem konnte ich nur langsam antworten. Es war, als müsste ich mich erst wieder erinnern, wie das ging, Worte formen und aussprechen. „What do you mean … what do you mean, ‘they might like me better’?”

“Well, take that little boy. I mean, of course I didn’t understand what he said, but he clearly thought you were just about the coolest thing since pizza, right?”

Und wenn er wüsste, dass ich hier mit dir nackt in deinem Bett sitze, würde er sich schämen, das Trikot meiner Mannschaft zu tragen. Ich biss die Zähne zusammen. Der Satz war einfach in meinen Kopf geploppt, und ich hatte nichts dagegen tun können. „Yeah. I guess.“

„So he loves football, right? Probably plays himself?”

Ich nickte. Ramin lehnte sich nach vorn. Seine Augen bohrten sich so fest in meine, dass meine Fingerspitzen zu kribbeln begannen. „Just suppose that at some point, he realises he’d rather suck cock than eat pussy. And he still loves football, and he still plays football! What do you think it’d mean to him then to know that there are football players out there who are gay? Professional football players even? Don’t you think that’d be, like, a huge deal? Don’t you think you’d be – I dunno, his hero or something?”

Ich starrte ihn an. What do you think it’d mean to him …

Ich schluckte. Was hätte es mir bedeutet, mit vierzehn, fünfzehn, als die Jungs in der Schule und im Fußball mit leuchtenden Augen und dreckigem Grinsen von Scarlett Johansson und Jennifer Lawrence geschwärmt hatten und meine Gedanken doch immer nur bei Liam Hemsworth und Viggo Mortensen hängengeblieben waren? Als unser U-17-Trainer uns das Prinzip eines geduldigen Spielaufbaus gegen einen tiefstehenden Gegner damit veranschaulicht hatte, dass wir ja auch nicht in die Disco reingehen und der schönen Frau auf der Tanzfläche gleich mal einen Zungenkuss geben würden, woraufhin der Rest des Teams gelacht und ich erst mit einer Sekunde Verzögerung mitgemacht hatte, mein Bauch ein Eisklotz? Als Finn mir irgendwann mit schüchternem Lächeln und knallrotem Kopf von dem Mädchen erzählt hatte, das bei ihm um die Ecke wohnte, und ich einfach gewusst hatte, dass ich noch nie etwas Vergleichbares für irgendein Mädchen empfunden hatte und auch nie empfinden würde? Als ich kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag mit einem Mal alle seine Gefühle hatte nachvollziehen können, als ich Thomas kennengelernt hatte? Was hätte es mir damals bedeutet, zu wissen, dass ich nicht der einzige schwule Junge war, der seinen Traum vom Profifußball nicht aufgeben wollte? Nicht nur von meiner Mutter beruhigt zu werden, dass es ganz bestimmt noch andere schwule Profis gab und schon immer gegeben hatte, sondern sicher zu wissen, dass es so war? Und wer es war? Vielleicht ein Nationalspieler, vielleicht der Torschützenkönig, vielleicht ein Topkeeper? Vielleicht ein Kapitän, vielleicht ein Spielmacher, vielleicht ein Kampfschwein mit fünfzehn Gelben Karten jede Saison? Vielleicht einer meiner damaligen HSV-Helden, Mladen Petric oder Zé Roberto?

Ich starrte in Ramins funkelnde Augen. Es hätte mir die Welt bedeutet, zu wissen, dass ich nicht der Einzige war, dass Profifußball und Homosexualität sich eben nicht gegenseitig ausschlossen. Es hätte mir Mut gegeben. Es hätte alles so viel einfacher gemacht. Und der Gedanke, dass ich das sein könnte, für tausende Jungen oder nur einen einzigen, für einen Jungen wie mich …

„I’ve never thought of it like that before.”

Ich sah mich vor mir, durch die Zeit, wie ich mich wegdrehte, während die anderen Jungs über Schauspielerinnen, Brüste, Clubs und ihre Freundinnen redeten, wie ich in meiner Tasche nach meinem Handy wühlte, obwohl ich es im Reißverschlussfach längst ertastet hatte, damit ich wegschauen konnte, damit ich nicht mitmachen musste. Wenn ich jemanden gehabt hätte, der es mir vorgemacht hatte … einen Einzigen nur, der gezeigt hatte, dass es ging, damit ich nicht mehr zweifeln musste … damit ich nicht mehr der Erste sein musste …

Ich blinzelte. Vor mir saß Ramin, sein Blick bohrend und fordernd. Es gab keinen anderen. Keinen, der es zuerst gemacht hatte. Egal, wie viele Stillschweigende es gab – wenn ich aufhörte, mich zu verstecken, während ich noch aktiv spielte, würde ich der Erste sein.

„No.“ Meine Stimme war so hart und kalt, dass Ramins Augenbrauen einen Sprung nach oben machten. „You’re right. It would have meant everything to me to have an active player who’s out. But there isn’t, Ramin. There just isn’t. And if I was the first, then … then …”

Ich knetete mit den Fingern das Laken. Die Presse, die Mitspieler, die gegnerischen Fans, die eigenen Fans. GANZ BREMEN IST SCHWUL … „It’s always hardest for the first. And I don’t want that, Ramin. I don’t … wanna be a hero. Not at that price. I just … I’d rather … be me.”

Meine Finger zitterten, und ich krallte sie ins Laken. Es war vollkommen still. Nichts existierte außer er und ich, und seine Worte und meine Worte und seine Augen und meine Augen.

Er blinzelte, und sein hörbares Ausatmen zerschmetterte die Stille. Sein Blick zuckte zur Seite, und sein aufrechter Rücken fiel ein wenig in sich zusammen. Als er mich wieder ansah, spielte ein Lächeln auf seinen Lippen. „All right. Whatever you want. It’s your life, and it’s your choice.”

Ich atmete aus. „Yeah. I know. Thanks.“

Ramin schwang die Beine aus dem Bett und angelte seine Boxershorts vom Boden. Er sprach mit dem Rücken zu mir, während er die Füße durch die Beinlöcher steckte. „So will you tell Sierra or shall I?“

Mit den Augen war ich schon auf der Suche nach meinen eigenen Klamotten gewesen. Jetzt flog mein Kopf wieder herum. „What – but you just said it was my choice!“

Er stand auf, zog seine Shorts hoch, drehte sich um. „Yeah, it is.“

„So then –“

„COME ON, Martin! Telling Sierra is not the same thing as coming out in a TV interview. I told you, she’s never gonna tell, not ever!“

„But …“ Ich dachte an meinen zweiten Besuch bei Ramin. An Sierras Stimme aus der Sprechanlage, ihr Lachen, ihre hellwachen grünen Augen, ihre blitzschnelle, unerschrockene Zunge. Ja, ich hatte sie gemocht. Und ich war so froh gewesen, dass sie da gewesen war, damals, als ich so große Angst vor Ramins Reaktion auf mein Auftauchen gehabt hatte. Und sie hatte mir geholfen. Ich wusste zwar nicht, wie genau, aber sie hatte mir geholfen. Irgendwie war sie meine Verbündete gewesen. Trotzdem … „I don’t even know her. I mean, I did like her, but … I’ve only met her once. How do I know I can trust her?”

Ramin hob die Augenbrauen. “Do you trust me?“

Ich schaute hinauf in seine dunklen Augen. „Yes.“

„Then you can trust her.”

Ich holte Luft, zögerte. Meine Lippen ließen die Worte nicht durch.

Ramin seufzte. Er setzte sich auf die Bettkante und lehnte sich leicht nach vorne. Seine Hand fand meinen bloßen Knöchel. Sie war schwer und warm. Er legte den Kopf schief. „Come on, Martin. She’s my best friend. I swear to you, she’s never gonna betray you. Just tell her. Just her. No one else, okay? Just her. Please?”

Ich sah ihn an, seine Augen, sein Lächeln, seine Brust, an der gerade noch mein Kopf gelegen hatte. Seine Hand lag immer noch auf meinem Knöchel. Even I don’t go around thinking that every person in the world is gonna hate me if they learn that I fuck guys.

“Okay.” Ich holte Luft, lachte, biss mir auf die Unterlippe. „Yeah, okay. I’ll … I’ll do it.“

„Brave boy!“ Er lachte, nahm die Hand von meinem Knöchel und wuschelte mir durchs Haar. Dann sprang er wieder auf die Füße und zog sich seine restlichen Klamotten an. „Come on, get dressed, we need to cook!“ Das Hemd zu zwei Dritteln zugeknöpft, warf er im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel und verschwand ins Wohnzimmer.

Ich schaute auf die halboffene Tür. Dahinter hörte ich ihn in der Küche hantieren. Ich schluckte. Drei Menschen auf der Welt wussten, dass ich Profifußballer und schwul war. Finn, Thomas und Ramin. Wie lange würde es noch dauern, bis ich die Liste erweitern musste? Eine Stunde, zwei?

Even I don’t go around thinking that every person in the world is gonna hate me if they learn that I fuck guys.

Ich biss die Zähne zusammen und schlug die Decke zurück. Langsam sammelte ich meine Klamotten vom Boden auf. Stück für Stück wanderten sie zurück an meinen Körper. Mein T-Shirt fand ich auf der türabgelegenen Seite vom Bett. Ramin musste es vorhin dort hingeworfen haben. Nachdem ich es mir übergestreift hatte, blieb auch mein Blick am Spiegel hängen. Ich sah ihn an, den schlanken, athletischen Jungen mit feuerrotem Haar, der da vor mir stand. Um die Nase sah er ein bisschen blass aus. Ich presste die Lippen aufeinander und wandte mich ab. Für ihn. Komm schon, tu’s für ihn.

Mit langen Schritten durchquerte ich das Schlafzimmer und folgte Ramin in die Küche.

 

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Referenzen:

 

„Who Am I?“ – Song aus dem Musical “Les Misérables” von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg. Französischer Originaltext von Alain Boublil und Jean-Marc Natel, englische Songtexte von Herbert Kretzmer. Basierend auf dem Roman von Victor Hugo. Uraufführung 1985.

 

Die Anekdote des Jugendtrainers, der seiner Mannschaft das Prinzip des geduldigen Spielaufbaus anhand des Disco-Zungenkuss-Vergleichs demonstriert, habe ich entnommen aus Reng, Ronald: Der große Traum. Drei Jungs wollen in die Bundesliga. München 2021, S. 159. Der betreffende Trainer war Filip Tapalovic, damals U19-Trainer bei 1860 München, heute (Stand: 24.09.24) Co-Trainer bei Hull City – unter Tim Walter, und damit, ihr ahnt es schon, dazwischen von Juli 2021 bis Februar 2024 in selber Funktion beim HSV tätig.

Chapter 31: Who Am I? - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Who Am I?

 

„Eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, eins-zwei-drei – gut!“ Ramin lachte, hörte auf zu drehen und ging wieder zum Pendeln über, während die letzten Takte von Billy Joels „Piano Man“ ausklangen. Als das Lied vorbei war, blieb er endlich stehen. Ich ließ ihn los, taumelte zwei Schritte rückwärts, und das Sofa fing mich mit weichen Armen auf.

Es war Mitte Oktober. In der Bundesliga war Länderspielpause, und ich nutzte das freie Wochenende für einen Besuch in London. Abgesehen davon, dass es mehr als einen Monat her war, dass Ramin bei mir gewesen war, und ich ihn wie verrückt vermisst hatte, war es schön, zumindest mal kurz wegzukommen. Nach dem Sieg gegen Stuttgart hatten wir den damit geretteten Saisonstart in den nächsten Spielen noch zu einem wirklich guten gemacht, hatten am dritten Spieltag in Köln nur sehr unglücklich verloren und waren danach drei Spiele ungeschlagen geblieben, mit zwei Siegen in Gladbach und Ingolstadt und einem Unentschieden daheim gegen Frankfurt. Nach dem sechsten Spieltag waren wir Sechster gewesen. Sechster! Das war ein Platz, der am Ende der Saison für die Europa League reichen würde. Aber in den zwei Spielen danach hatten wir mit null zu eins daheim gegen Schalke und mit null zu drei auswärts in Berlin verloren und waren auf den elften Platz abgerutscht. Gegen Schalke waren wir immerhin noch dran gewesen, aber gegen Hertha hatte nach vorne nichts funktioniert. Gar nichts.

Ich presste die Lippen aufeinander und unterdrückte den Impuls, ein Sofakissen durch die Gegend zu pfeffern. Stattdessen konzentrierte ich mich auf Ramin, der sich vor den Fernseher gekniet hatte, um die Stereoanlage auszuschalten, und sich gerade wieder aufrichtete. Der Anblick vertrieb den Frust sofort. Aber leider war er mir nur kurz vergönnt. Ramin wandte sich um und grinste. „Wie jetzt? Schon kaputt? Und ich dachte, du bist Profisportler!“

Ich schnitt eine Grimasse. „Ich bin Profisportler, vielen Dank. Aber du bist hier der Tänzer, nicht ich. Du hörst ein Lied, sagst, ‚Oh, das ist das-und-das‘, und machst es. Aber ich muss mich hier auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren. Wenn wir die letzten zwei Stunden mit Fußballspielen verbracht hätten, wär das natürlich was anderes.“

„Ja, du wirst mich niemals auf einen Fußballplatz kriegen, egal, was du tust.“ Er nahm mein Glas vom Tisch, ging zur Küchenzeile und füllte es mit Wasser. „Aber das Tanzen war gar nicht so übel. So langsam hast du den Dreh raus.“

„Danke.“ Ich streckte die Hand nach dem Glas aus und leerte die Hälfte in einem Zug. Das Wasser war herrlich. Es schien von meiner Kehle in jeden Muskel zu fließen und die Müdigkeit abzuschütteln. Ich schloss kurz die Augen, setzte das Glas ab und sah Ramin wieder an. „Meinst du wirklich?“ Sein Lob hatte mich genauso durchströmt wie das Wasser, aber einen kleinen Zweifel konnte ich nicht aus meiner Stimme halten.

Finn und ich hatten Ramins Vorschlag in die Tat umgesetzt und in den letzten Wochen immer wieder geübt. Es machte Spaß, und dass Finn sich so bemühte, zeigte mir, dass ihm sein Ausbruch damals beim Essen wirklich leidtat. Den hatte ich ihm mittlerweile auch verziehen. Es war eben eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen, an denen ich auch nicht schuldlos gewesen war. Und Ramin war es ja sowieso egal gewesen. Aber beim Tanzen gab es leider ein paar Schwierigkeit, an die im ersten Moment keiner – Ramin vermutlich eingeschlossen – gedacht hatte.

Es war nicht nur zwei Jahre her, dass Finn das letzte Mal regelmäßig getanzt hatte, sondern er hatte damals in seinen Kursen natürlich die Herrenschritte – oder, wie Ramin es nannte, die Leaderschritte – gelernt. Um mit Ramin tanzen zu können, musste ich aber die Damen-, die Followerschritte lernen. Dass Ramin offensichtlich beides konnte, war mir erst klar geworden, als Finn mir den Grundschritt vom Langsamen Walzer hatte zeigen wollen und wir uns schnell einigermaßen ratlos angesehen hatten. Finn wusste zwar ungefähr, was seine Tanzpartnerinnen gemacht hatten, aber nicht genau genug, um es mir zeigen zu können. Nach ein bisschen konsterniertem Rumstehen hatten wir gegoogelt, und mithilfe von Tutorials hatte ich langsam und mühselig zumindest die Grundschritte in der Rumba, im Jive und den beiden Walzern gelernt, zusätzlich zu Discofox, Cha-Cha und Quickstep. Aber das hatte sich alles kompliziert und technisch und immer wie harte Arbeit angefühlt. Ich hatte trotzdem weitergemacht – um Ramin nicht zu enttäuschen, aber auch, weil die Erinnerungen vom Discofox und Quickstep in mir leuchteten und wirkten wie die Aussicht auf die Meisterschaft vor dem letzten Sprint in der letzten Minute des letzten Saisonspiels. Geflogen waren wir, hier, in Ramins Wohnzimmer. Und ich hätte alles getan, um das noch einmal zu erleben.

Also hatte ich geübt. Gestern Abend, als ich bei Ramin angekommen war, hatten wir andere Dinge zu tun gehabt, aber heute Morgen hatten wir sofort nach dem Frühstück angefangen. Jeden Tanz hatte Ramin getestet, gelobt und kritisiert, mir neue Figuren gezeigt, Tipps für die richtige Haltung gegeben und nur dann ein paar Sekunden Pause gemacht, wenn er eine neue CD einlegte. Deshalb war es kein Wunder, dass ich jetzt fix und fertig auf dem Sofa lag. Aber es hatte sich gelohnt. Vielleicht war es dieser Raum, vielleicht war es die Musik, vielleicht waren es Ramins Arme um mich herum. Vielleicht war es alles zusammen. Aber der Zauber war zurück gewesen. Die schweren, singenden Muskeln, der summende Kopf, der Nachhall von „Piano Man“ in den Gliedern – es war einfach perfekt. Und es war viel besser gegangen, als ich befürchtet hatte.

Als ich mit Finn geübt hatte, hatte ich es noch nicht realisiert, aber heute hatte ich zum ersten Mal gemerkt, was für einen Unterschied es machte, ob man mit jemandem tanzte, der selbst unsicher war und sich auf seine eigenen Schritte konzentrieren musste, oder mit jemandem, der beim Tanzen ein Diensttelefonat in einer anderen Sprache hätte führen können, ohne einen Fuß falsch zu setzen. Ich machte Finn keinen Vorwurf, aber mit ihm musste ich selber wissen und darüber nachdenken, wohin ich treten musste, während Ramins Führung wirklich eine war. Immer wieder hatte ich gerade Sachen getanzt, die weder er noch Finn mir je gezeigt hatten, und trotzdem hatte es geklappt. Nur, weil Ramin es geführt hatte. Weil er mir nur an einer Stelle Platz gegeben hatte und ich dann eben zwangsläufig da hingetanzt war. Solange sich der Schrittrhythmus nicht veränderte, ging es, und an den Momenten, an denen es geklappt hatte, hatte Ramin jedes Mal genauso gestrahlt wie ich.

Auch jetzt grinste er wieder. „Ja, mein ich.“ Er setzte sich neben mich aufs Sofa und legte den rechten Arm auf die Rückenlehne. Seine Augen loderten. Ich spürte ein herrliches Ziehen im Bauch.

Er beugte sich ein winziges Stück nach vorne. „Was soll ich sagen? Was Sport angeht, bist du halt ein Genie.“

Jede Art von Sport?” Ich zog die Augenbrauen hoch. Aber ich ruinierte den Effekt durch ein breites Lachen.

Jede Art.“ Er lehnte sich noch ein Stück nach vorne und nahm mir das Glas aus der Hand. Ohne sich umzudrehen, stellte er es hinter sich auf den Tisch. Sein rechter Arm war von der Sofalehne um meinen Rücken gewandert. Mit einem Ruck zog er mich an sich, presste seine Lippen auf meine und ließ sich plötzlich, aber sicher nach vorne fallen, sodass ich rücklings auf dem Sofa landete und schwer atmend und mit leuchtenden Augen zu ihm aufschaute.

 

*

 

„Sierra kommt heute zum Mittagessen.“

Ich spürte den Satz sanft durch mein Haar streichen. Wir lagen im Bett, beide auf dem Rücken, mein Kopf auf Ramins Brust, sein linker Arm um mich gelegt. Mit jedem seiner Atemzüge spürte ich ein leichtes Heben und Senken. Ich wollte nie wieder aufstehen.

„Super.“ Meine Stimme klang schläfrig. Es war zwar noch Vormittag, aber nach Frühstück, Tanzen und Sex war ich so ausgelastet und zufrieden, dass ich auf der Stelle wieder hätte einschlafen können.

„Ich will ihr sagen, wer du bist.”

Ich brauchte zwei Sekunden. Dann flogen meine Augen auf. Ramin hätte mir ebenso gut einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gießen können. „Du meinst … dass ich Fußballer bin?“

„Ja.“

„Aber … wieso?“ Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nicht, dass er die Angst in meinen Augen sah. Aber aus meiner Stimme konnte sie nicht halten.

„Weil sie meine beste Freundin ist.“ Ramin sprach ganz ruhig. „Wie fändest du es denn, wenn du meinetwegen Flint anlügen müsstest?“

“Finn!” Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Hier lag er und verlangte, dass ich meine Karriere in die Hände seiner besten Freundin legte, und war selbst nicht in der Lage, sich auch nur den Namen meines besten Freundes zu merken?

„Ja, den.” Sein Augenrollen konnte ich förmlich hören. „Wie auch immer. Ich will sie nicht mehr anlügen. Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es war, das bis jetzt vor ihr geheim zu halten. Sie hat einfach nicht aufgehört, mich über dich zu löchern. Sie war eine verdammte Plage, das kann ich dir sagen. Sogar noch schlimmer als sonst, mein ich.“

„Aber … ich …” Ich rang nach Worten. Ich konnte ja verstehen, dass Ramin seine beste Freundin nicht anlügen wollte. Und dass er es bisher wohl doch getan hatte, zeigte, dass er sein Wort ernst nahm. Er hatte es nicht einfach so gebrochen. Aber … das musste eben unbedingt so bleiben. „Ich will es wirklich niemanden sagen, der es nicht zwingend wissen muss.“

„Sie muss es zwingend wissen.”

Warum?” Ich krallte die linke Hand in die Bettdecke und versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Weil sie meine beste Freundin ist.“

„Aber …” Ich atmete flach, wühlte in meinem Kopf nach Worten und fand keine.

Ramin seufzte. Einen Moment später spürte ich seine Hand in meinem Haar, seine Finger, die es sanft zerzausten, leichten Druck auf meine Kopfhaut ausübten. „Martin, komm schon. Wir reden hier von einer einzigen Person. Nicht die Zeitungen, nicht das Fernsehen, nur Sierra. Und du hast sie doch kennengelernt.“

„Nur für zehn Minuten!“

„Das ist genug.“ Ramin klang so endgültig, dass ich verstummte. „Martin, was glaubst du denn, was passiert, wenn dus ihr sagst? Dass sie zur nächsten Zeitung rennt und denen die Story verkauft? Dass sie an jeder Kreuzung in London Plakattafeln aufstellt? Dass sies auf Facebook postet? Ernsthaft? Ich meine –“

Er lachte, und mein Kopf verrutschte ein wenig auf seiner Brust, als er die freie Hand hob und sich damit durch sein eigenes Haar fuhr. „Was macht dir denn solche Angst? Warum fürchtest du dich so sehr? Hm? Warum darf es niemand wissen, was glaubst du denn, was passieren würde, wenn es rauskäme? Du würdest ins Gefängnis kommen, bei lebendigem Leib gehäutet werden, auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden? Ich meine, Gott, du bist Fußballer und schwul, na und? Es ist kein verdammtes Verbrechen, weißt du!“ Diesmal war sein Lachen ganz und gar humorlos. „Nicht mehr, jedenfalls.“

Ich schwieg. Er auch. Seine Haut unter meiner Wange war wärmer als zuvor, und sein Herz schlug heftig. Ich wartete darauf, dass er aufspringen und mich von sich stoßen würde, dass er androhen würde, er würde es Sierra sagen, egal, ob ich wollte oder nicht. Aber das tat er nicht. Er blieb liegen, er ließ seine Hand in meinem Haar, und nach und nach beruhigte sich sein Herzschlag. Ich atmete, einmal, zweimal. Seine Finger zwirbelten immer noch Strähnen meiner Haare. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich nur auf dieses Gefühl, bevor ich Augen und Mund gleichzeitig öffnete.

„Du hast recht. Natürlich hast du recht. Es ist kein Verbrechen.“ Meine Stimme klang ein wenig zittrig, aber fester, als ich befürchtet hatte. Ich schluckte, holte Luft. „Aber … trotzdem … es fühlt sich so an, weißt du? Immer, jeden Tag, egal, wo ich hingehe, egal, was ich mache, ist da immer diese Angst, ertappt zu werden. Und sie ist schon so lange da, dass es mir an den meisten Tagen gar nicht mal mehr richtig auffällt. Ich … verstecke mich einfach, und es ist normal. Ich meine, es gefällt mir nicht.“ Ich dachte an den Moment nach dem Stuttgart-Spiel, oben im VIP-Bereich. Wie er auf dem Sofa gesessen, wie er mich angesehen hatte. „Ich hasse es sogar.”

“Warum machst du dann –“

“Weil ich keine Wahl habe, Ramin!” Beide Hände ballten sich zu Fäusten, die rechte vor meiner Brust, die linke mit der Bettdecke zwischen den Fingern. „Ich bin Fußballprofi, und deswegen habe ich keine Wahl! Ich liebe es, Fußball zu spielen, ich bin gut darin, es ist alles, was ich je machen wollte. Millionen von Kindern haben diesen Traum, für mich ist er wahr geworden. Und wenn ich das weiter machen will – und das will ich –, dann kann ich nicht geoutet sein. Basta. Kann ich nicht.“

Es war still. Ich hörte und spürte nur seine Atemzüge und seinen Herzschlag. Seine Finger spielten immer noch mit meinem Haar. „Wegen dem, was du damals gesagt hast, meinst du? Wegen der Presse und so?“

„Ja.“ Das war nur ein Hauch gewesen. Ich schluckte, lauschte für einen Moment seinem Herzen und setzte neu an. „Ich meine, sie würden … mich zerfetzen, weißt du? Wochenlang wäre es alles, worüber die Zeitungen schreiben würden.“ Ich dachte an die Morgenpost und die Blöd, an weiße Schlagzeilen auf rotem Grund. Und dann an das Abendblatt und den kicker. „Na ja, nicht alle. Aber … ein paar. Der ganze Verein würde in den Fokus rücken wegen meiner Sexualität. Ich hab keine Ahnung, wie meine Teamkollegen reagieren würden. Und die Fans …“

Bilder schwammen vor meinen Augen. Ein großes Banner, dicke, fette Buchstaben, schwarz auf weiß. GANZ BREMEN IST SCHWUL – BESONDERS DER WERDER HOOL. In meinem Bauch gab es einen Stich wie von einem glühenden Messer. „Sie würden mir das Leben zur Hölle machen.“

Ramins Zeigefinger hatte eine Haarsträhne gefunden und zwirbelte sie um sich herum, rund und rund und rund. „Die gegnerischen Fans, meinst du?“

„Na ja … die auch. Aber …“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Zittrig holte ich Luft. „Aber unsere eigenen Fans wären schlimmer. Und vor denen hab ich am meisten Angst.“

„Wieso?” Seine Stimme war sanft. Nicht der Hauch eines Vorwurfs lag darin. Sein Finger spielte noch immer mit meinem Haar.

Ich erzählte es ihm. Vom Nordderby, meinem ersten als Profi überhaupt, von der zuerst fantastischen Stimmung. Wie ich dem Ball hinterhergejagt und gesprintet war, gegrätscht, Lücken gestopft und Pässe gespielt hatte, beflügelt vom Spiel und der Raute auf meinem Trikot und den Fans. Und dann erzählte ich ihm vom Banner. Plötzlich da, mitten in der Nordkurve, da, wo der größte Support herkam, wo das Herz unserer Anhänger schlug. GANZ BREMEN IST SCHWUL – BESONDERS DER WERDER HOOL. Wie ich danach zwar immer noch gerannt war und gegrätscht und gepasst hatte, wie es aber überhaupt nicht mehr das Gleiche gewesen war. Wie es sich angefühlt hatte wie ein anderer Sport, von einem anderen Planeten. Wo vorher Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl mit 50.000 gewesen war, war plötzlich – nichts. Nur Pflicht. Und der flehentliche Wunsch, dass es vorbei sein möge.

Als ich fertig war, war es still. Ramin hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Nur der Druck seiner Finger auf meiner Kopfhaut war etwas stärker geworden. Als er das Schweigen schließlich brach, war seine Stimme hart. „Na ja, das sind halt Arschlöcher.“ Er stieß die Luft aus. „Gottverfluchte Homophobe. Schau, Martin, scheiß doch auf die! Warum interessiert dich überhaupt, was die denken?“

„Es interessiert mich nicht, was sie denken!” Es stimmte. Wenn ich ein normaler Student wäre, Hand in Hand mit meinem Freund durch die Straßen laufen und diese Leute mich bepöbeln würden, würde ich einfach weitergehen. Es würde mir zwar nicht gefallen, aber es würde mir auch nicht den Schlaf rauben. Aber das mit dem Weitergehen war eben so eine Sache, wenn man zuverlässig alle zwei Wochen im Volksparkstadion und dazwischen auf dem Trainingsplatz anzutreffen war. „Ich will einfach, dass sie mich in Ruhe lassen, das ist alles. Mit wem ich Sex habe, geht sie überhaupt nichts an.“

„Ganz genau!” Das kam so heftig, dass ich zusammenzuckte – aber das lag vielleicht auch daran, dass Ramins Hand mit einem Ruck von meinem Kopf weggezuckt war und ein paar Haare mitgenommen hatte. „Sorry. Aber das ist genau das, was ich meine, Martin! Du hast recht, du hast vollkommen recht, wen du fickst, geht sie einen Scheißdreck an.“

„Dann verstehst du also –“

„Aber indem dus verheimlichst, sorgst du dafür, DASS es sie was angeht!“ Unter meiner Wange spürte ich seine Brustmuskeln zucken. „Verstehst du das denn nicht, du versteckst dich, weil diese Arschlöcher ihren winzigen Hirnen nicht verklickern können, dass ein schwuler Typ ein genialer Fußballer sein kann, und damit sorgst du dafür, dass es sie verdammt noch mal was angeht, anstatt dass du einfach bist, wer du bist, und denen sagst, dass sie dich am Arsch lecken können.“

Ich öffnete den Mund, aber er war zu sehr in Fahrt. „Schau, neulich zum Beispiel, okay? Im Stadion, nach deinem Spiel, als du mich abgeholt hast? Haben wir gefickt, da und dort, so wie wir beide wollten? Hast du mich in die nächste Klokabine gezerrt? Hm? Hast du? Nein, hast du nicht, weil du dieses verdammte Versteck-Zeugs am Laufen hast!“

Schwer atmend brach er ab. Seine rechte Hand ballte sich zur Faust, öffnete sich, ballte sich wieder. Es gab eine kurze Pause.

„Ich wollte nicht in einer Klokabine im Stadion mit dir Sex haben.“

Er schnaubte. „Ja klar, deswegen warst du auch so dermaßen hart, weil du überhaupt nicht angetörnt warst.“

Na gut. Das konnte ich nicht leugnen. Trotzdem … „Ich wollte trotzdem keinen Sex auf dem Klo haben.”

„Na gut!” Wieder lag das Augenrollen in seinem Tonfall. „Dann halt in der Umkleidekabine, in einer Besenkammer, was auch immer! Irgendeinen Ort hätten wir gefunden. Zur Not hätten wirs halt im Auto gemacht! Was du definitiv nicht wolltest, war eine zwanzigminütige Fahrt in diesem Auto, bevor ich dir die Hose vom Leib reißen konnte. Und ich auch nicht.“

Ein paar Sekunden war nur unser Atem zu hören, und sein Herz, das jetzt wieder hämmerte. Wieder brauchte ich eine Weile, bis ich meine Gedanken sortiert hatte. „Nein, wahrscheinlich nicht.“

Ich brachte die Worte nur langsam heraus. Etwas in meinem Kopf war ins Wanken geraten. Ich schloss die Augen, schüttelte den Kopf gegen Ramins Brust und öffnete sie wieder. „Ich schätze, ich wollte nicht zuerst noch fahren. Und ich hätte auch gerne … du weißt schon, ein paar Sachen zu dir gesagt. Mehr Sachen. Andere Sachen. Aber … ich meine, ich hab ja gesagt, dass mir das Verstecken nicht gefällt. Aber …“

Ich stieß die Luft aus und kniff wieder die Augen zu. Schwindelerregende Möglichkeiten taten sich plötzlich in meinem Kopf auf. Noch nie hatte ich darüber nachgedacht, was die Vorteile eines Outings wären. Die Möglichkeit, dass es herauskommen könnte, hatte immer nur unfreiwillig in meinem Kopf existiert, wenn es jemand sah, wenn es jemand mitbekam, wenn ich ertappt wurde. Als Verrat. Als Bloßstellung. Dass ich es auch selbst tun könnte … freiwillig … einfach sagen … dass ich die Wahl hatte …

Ich schluckte. Ich habe keine Wahl. Das hatte ich gesagt, und ich hatte es immer geglaubt. Aber … das war nicht richtig. Eine Wahl hatte ich schon. Ich hätte Ramin küssen können, dort, mitten im Stadion, und niemand auf der Welt hätte mich daran hindern können. Dann wäre es raus gewesen. Kein Verstecken mehr. Keine Lügen, keine Ausreden. Stattdessen …

Meine linke Hand klammerte sich um die Bettdecke. Das Stattdessen schnürte mir mal wieder die Luft ab. Das war das Gefühl, das ich kannte, wenn es um dieses Thema ging. Und es brachte alles andere zum Stillstand. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht sorge ich dafür, dass es sie was angeht, weil ich mich verstecke. Aber … wenn ich mich nicht verstecken würde, würden sie dafür sorgen, dass es sie was angeht. Sie würden mich nie mehr zufriedenlassen, Ramin. Nie. Nicht, so lange ich ihre Mannschaft in Verbindung bringe mit …“

Ich schluckte. Fuhr mir mit der Zunge über die Oberlippe. Holte Luft. „Ich werde mich jedenfalls nicht zur Zielscheibe für diese Leute machen. Das mach ich nicht. Niemals.“

Stille. Ramin rührte sich nicht. Auf meinem linken Arm und dem Teil meines Oberkörpers, der nicht unter der Decke war, hatte ich Gänsehaut. Mein Haar fühlte sich ohne seine Hand seltsam kalt an.

„Aber die können doch nicht alle so sein.” Die Matratze sank ein Stück nach unten, als Ramin sich mit beiden Händen darauf stemmte. Er schob sich ein paar Zentimeter nach oben, aber er ließ den Arm um mich gelegt, und mein Kopf rutschte ein Stückchen, aber blieb sonst, wo er war. „Die Fans, mein ich. Die können doch nicht alle Arschlöcher sein. Ich meine, dieser eine Junge zum Beispiel. Du weißt schon, der am Hafen, der ein Autogramm von dir haben wollte?“

„Ja.” Ich sah Arne vor mir, seine blonden Haare, seine leuchtenden Augen, sein strahlendes Gesicht, das freundliche Lächeln seiner Mutter. Plötzlich war mir so heiß, dass ich die Decke am liebsten von mir geschleudert hätte. „Ich wette, wenn die gewusst hätten, dass ich schwul bin, hätte seine Mutter ihn nicht mal in meine Nähe gelassen.“

An meinem linken Ohr gab es einen Stich und dann ein Brennen. „Autsch!“ Ich fuhr hoch, rieb mir mit der Hand die Stelle, gegen die Ramin geschnipst hatte, und starrte ihn empört an.

Er verzog keine Miene. „Das geschieht dir recht.“

„Wieso?!“

„Weil du NICHTS über diese Frau weißt!“ Er richtete sich ebenfalls ganz auf, sodass wir gegenüber auf der Matratze saßen und er wieder ein paar Zentimeter größer war als ich. „Du weißt nichts über sie, aber du gehst einfach davon AUS, dass sie dich hassen würde, wenn sie wüsste, dass du schwul bist. Warum, Martin? Warum? Du hast doch keine Ahnung, ob sie nicht vielleicht eine Frau hat! Oder einen schwulen Bruder! Oder zwei Väter! Oder vielleicht ist sie transsexuell! Oder vielleicht ist sie bisexuell! Oder vielleicht ist sie heterosexuell, aus einer Heterofamilie, mit Hetero-Freunden, und findet TROTZDEM nicht, dass Homosexuelle alle an AIDS krepieren sollten! Ich meine, Sierra nennt MICH heterophob, aber selbst ICH lauf nicht in dem Glauben durch die Gegend, dass alle Menschen auf der Welt mich hassen würden, wenn sie erfahren, dass ich Männer ficke! Ich meine, okay, ein paar von euren Fans sind Arschlöcher, das seh ich ein, in Ordnung. Aber den meisten wäre es vermutlich scheißegal, solange du weiter Tore schießt. Und ein paar würden dich vielleicht sogar lieber mögen, wenn sies wüssten.“

Ich starrte Ramin an. Was er sagte … War das wahr? Ging ich wirklich durch die Welt und glaubte, dass alle gegen mich wären, wenn sie es wüssten? Glaubte ich wirklich, dass so viele Menschen Schwulenhasser waren? Glaubte ich es von allen Fans in der Kurve? Von den Kindern, die bei jedem Training am Zaun standen, Kindern wie Arne, für die ein Autogramm und ein gemeinsames Foto das schönste Geschenk auf der Welt waren? Glaubte ich es von ihren Eltern? Von Bruno? Von Lewis? Von Michi? Von Gidi? Und wenn ich es glaubte – mit welchem Recht glaubte ich es? Hatte ich mich mit irgendjemandem, der nicht über mich Bescheid wusste, je über das Thema Homosexualität unterhalten? Was war ich, wenn ich so vorschnell urteilte? Und wenn ich es nicht glaubte – warum verhielt ich mich dann so?

Mein Kopf drehte sich, und Ramin verschwamm vor meinen Augen. Ich presste die Lider aufeinander und schüttelte den Kopf. Als ich sie wieder öffnete, sah ich Ramin wieder klar vor mir. Trotzdem konnte ich nur langsam antworten. Es war, als müsste ich mich erst wieder erinnern, wie das ging, Worte formen und aussprechen. „Was meinst du damit … was meinst du damit, ‚sie würden mich vielleicht lieber mögen‘?“

„Na ja, dieser kleine Junge zum Beispiel. Ich meine, ich hab natürlich nicht verstanden, was er gesagt hat, aber er hat dich ja ganz klar für so ziemlich das Coolste auf der Welt gehalten, oder?“

Und wenn er wüsste, dass ich hier mit dir nackt in deinem Bett sitze, würde er sich schämen, das Trikot meiner Mannschaft zu tragen. Ich biss die Zähne zusammen. Der Satz war einfach in meinen Kopf geploppt, und ich hatte nichts dagegen tun können. „Ja. Ich schätze.“

„Er liebt also Fußball, oder? Spielt wahrscheinlich selber?“

Ich nickte. Ramin lehnte sich nach vorn. Seine Augen bohrten sich so fest in meine, dass meine Fingerspitzen zu kribbeln begannen. „Mal angenommen, er stellt irgendwann fest, dass er lieber Schwänze lutscht als Muschis zu lecken. Und er liebt immer noch Fußball, und er spielt immer noch Fußball! Was, meinst du, würde es ihm dann bedeuten, zu wissen, dass es da draußen Fußballer gibt, die schwul sind? Sogar Profifußballer? Meinst du nicht, das wär irgendwie ein riesengroßes Ding? Meinst du nicht, du wärst – keine Ahnung, sein Held oder so?“

Ich starrte ihn an. Was, meinst du, würde es ihm bedeuten …

Ich schluckte. Was hätte es mir bedeutet, mit vierzehn, fünfzehn, als die Jungs in der Schule und im Fußball mit leuchtenden Augen und dreckigem Grinsen von Scarlett Johansson und Jennifer Lawrence geschwärmt hatten und meine Gedanken doch immer nur bei Liam Hemsworth und Viggo Mortensen hängengeblieben waren? Als unser U-17-Trainer uns das Prinzip eines geduldigen Spielaufbaus gegen einen tiefstehenden Gegner damit veranschaulicht hatte, dass wir ja auch nicht in die Disco reingehen und der schönen Frau auf der Tanzfläche gleich mal einen Zungenkuss geben würden, woraufhin der Rest des Teams gelacht und ich erst mit einer Sekunde Verzögerung mitgemacht hatte, mein Bauch ein Eisklotz? Als Finn mir irgendwann mit schüchternem Lächeln und knallrotem Kopf von dem Mädchen erzählt hatte, das bei ihm um die Ecke wohnte, und ich einfach gewusst hatte, dass ich noch nie etwas Vergleichbares für irgendein Mädchen empfunden hatte und auch nie empfinden würde? Als ich kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag mit einem Mal alle seine Gefühle hatte nachvollziehen können, als ich Thomas kennengelernt hatte? Was hätte es mir damals bedeutet, zu wissen, dass ich nicht der einzige schwule Junge war, der seinen Traum vom Profifußball nicht aufgeben wollte? Nicht nur von meiner Mutter beruhigt zu werden, dass es ganz bestimmt noch andere schwule Profis gab und schon immer gegeben hatte, sondern sicher zu wissen, dass es so war? Und wer es war? Vielleicht ein Nationalspieler, vielleicht der Torschützenkönig, vielleicht ein Topkeeper? Vielleicht ein Kapitän, vielleicht ein Spielmacher, vielleicht ein Kampfschwein mit fünfzehn Gelben Karten jede Saison? Vielleicht einer meiner damaligen HSV-Helden, Mladen Petric oder Zé Roberto?

Ich starrte in Ramins funkelnde Augen. Es hätte mir die Welt bedeutet, zu wissen, dass ich nicht der Einzige war, dass Profifußball und Homosexualität sich eben nicht gegenseitig ausschlossen. Es hätte mir Mut gegeben. Es hätte alles so viel einfacher gemacht. Und der Gedanke, dass ich das sein könnte, für tausende Jungen oder nur einen einzigen, für einen Jungen wie mich …

„So hab ich das noch nie gesehen.“

Ich sah mich vor mir, durch die Zeit, wie ich mich wegdrehte, während die anderen Jungs über Schauspielerinnen, Brüste, Clubs und ihre Freundinnen redeten, wie ich in meiner Tasche nach meinem Handy wühlte, obwohl ich es im Reißverschlussfach längst ertastet hatte, damit ich wegschauen konnte, damit ich nicht mitmachen musste. Wenn ich jemanden gehabt hätte, der es mir vorgemacht hatte … einen Einzigen nur, der gezeigt hatte, dass es ging, damit ich nicht mehr zweifeln musste … damit ich nicht mehr der Erste sein musste …

Ich blinzelte. Vor mir saß Ramin, sein Blick bohrend und fordernd. Es gab keinen anderen. Keinen, der es zuerst gemacht hatte. Egal, wie viele Stillschweigende es gab – wenn ich aufhörte, mich zu verstecken, während ich noch aktiv spielte, würde ich der Erste sein.

„Nein.“ Meine Stimme war so hart und kalt, dass Ramins Augenbrauen einen Sprung nach oben machten. „Du hast recht. Es hätte mir alles bedeutet, einen aktiven Spieler zu haben, der geoutet ist. Aber es gibt keinen, Ramin. Es gibt einfach keinen. Und wenn ich der erste wäre, dann … dann …“

Ich knetete mit den Fingern das Laken. Die Presse, die Mitspieler, die gegnerischen Fans, die eigenen Fans. GANZ BREMEN IST SCHWUL … „Für den Ersten ist es immer am schwersten. Und das will ich nicht, Ramin. Ich … will kein Held sein. Nicht, wenn das der Preis ist. Ich … ich bin einfach lieber … ich.“

Meine Finger zitterten, und ich krallte sie ins Laken. Es war vollkommen still. Nichts existierte außer er und ich, und seine Worte und meine Worte und seine Augen und meine Augen.

Er blinzelte, und sein hörbares Ausatmen zerschmetterte die Stille. Sein Blick zuckte zur Seite, und sein aufrechter Rücken fiel ein wenig in sich zusammen. Als er mich wieder ansah, spielte ein Lächeln auf seinen Lippen. „Na gut. Wie du willst. Es ist dein Leben, und es ist deine Entscheidung.“

Ich atmete aus. „Ja. Ich weiß. Danke.“

Ramin schwang die Beine aus dem Bett und angelte seine Boxershorts vom Boden. Er sprach mit dem Rücken zu mir, während er die Füße durch die Beinlöcher steckte. „Also, willst dus Sierra sagen, oder soll ich?“

Mit den Augen war ich schon auf der Suche nach meinen eigenen Klamotten gewesen. Jetzt flog mein Kopf wieder herum. „Was – aber du hast doch grade gesagt, dass es meine Entscheidung ist!“

Er stand auf, zog seine Shorts hoch, drehte sich um. „Ja, ist es auch.“

„Na also, dann –“

„KOMM schon, Martin! Es Sierra zu sagen, ist nicht das Gleiche wie sich in einem Fernsehinterview zu outen. Ich hab dir doch gesagt, sie wird es niemals ausplaudern, nie im Leben!“

„Aber …“ Ich dachte an meinen zweiten Besuch bei Ramin. An Sierras Stimme aus der Sprechanlage, ihr Lachen, ihre hellwachen grünen Augen, ihre blitzschnelle, unerschrockene Zunge. Ja, ich hatte sie gemocht. Und ich war so froh gewesen, dass sie da gewesen war, damals, als ich so große Angst vor Ramins Reaktion auf mein Auftauchen gehabt hatte. Und sie hatte mir geholfen. Ich wusste zwar nicht, wie genau, aber sie hatte mir geholfen. Irgendwie war sie meine Verbündete gewesen. Trotzdem … „Ich kenn sie ja nicht mal. Ich meine, ich hab sie schon gemocht, aber … ich hab sie nur einmal getroffen. Woher soll ich denn wissen, dass ich ihr vertrauen kann?“

Ramin hob die Augenbrauen. „Vertraust du mir?“

Ich schaute hinauf in seine dunklen Augen. „Ja.“

„Dann kannst du ihr vertrauen.”

Ich holte Luft, zögerte. Meine Lippen ließen die Worte nicht durch.

Ramin seufzte. Er setzte sich auf die Bettkante und lehnte sich leicht nach vorne. Seine Hand fand meinen bloßen Knöchel. Sie war schwer und warm. Er legte den Kopf schief. „Komm schon, Martin. Sie ist meine beste Freundin. Ich schwöre dir, sie wird dich niemals verraten. Sags ihr einfach. Nur ihr. Niemandem sonst, okay? Nur ihr. Bitte?“

Ich sah ihn an, seine Augen, sein Lächeln, seine Brust, an der gerade noch mein Kopf gelegen hatte. Seine Hand lag immer noch auf meinem Knöchel. Selbst ICH lauf nicht in dem Glauben durch die Gegend, dass alle Menschen auf der Welt mich hassen würden, wenn sie erfahren, dass ich Männer ficke.

„Okay.” Ich holte Luft, lachte, biss mir auf die Unterlippe. „Ja, okay. Ich … ich machs.“

„Tapferer Junge!“ Er lachte, nahm die Hand von meinem Knöchel und wuschelte mir durchs Haar. Dann sprang er wieder auf die Füße und zog sich seine restlichen Klamotten an. „Auf geht’s, zieh dich an, wir müssen kochen!“ Das Hemd zu zwei Dritteln zugeknöpft, warf er im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel und verschwand ins Wohnzimmer.

Ich schaute auf die halboffene Tür. Dahinter hörte ich ihn in der Küche hantieren. Ich schluckte. Drei Menschen auf der Welt wussten, dass ich Profifußballer und schwul war. Finn, Thomas und Ramin. Wie lange würde es noch dauern, bis ich die Liste erweitern musste? Eine Stunde, zwei?

Selbst ICH lauf nicht in dem Glauben durch die Gegend, dass alle Menschen auf der Welt mich hassen würden, wenn sie erfahren, dass ich Männer ficke.

Ich biss die Zähne zusammen und schlug die Decke zurück. Langsam sammelte ich meine Klamotten vom Boden auf. Stück für Stück wanderten sie zurück an meinen Körper. Mein T-Shirt fand ich auf der türabgelegenen Seite vom Bett. Ramin musste es vorhin dort hingeworfen haben. Nachdem ich es mir übergestreift hatte, blieb auch mein Blick am Spiegel hängen. Ich sah ihn an, den schlanken, athletischen Jungen mit feuerrotem Haar, der da vor mir stand. Um die Nase sah er ein bisschen blass aus. Ich presste die Lippen aufeinander und wandte mich ab. Für ihn. Komm schon, tu’s für ihn.

Mit langen Schritten durchquerte ich das Schlafzimmer und folgte Ramin in die Küche.

 

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Referenzen:

 

„Who Am I?“ – Song aus dem Musical “Les Misérables” von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg. Französischer Originaltext von Alain Boublil und Jean-Marc Natel, englische Songtexte von Herbert Kretzmer. Basierend auf dem Roman von Victor Hugo. Uraufführung 1985.

 

Die Anekdote des Jugendtrainers, der seiner Mannschaft das Prinzip des geduldigen Spielaufbaus anhand des Disco-Zungenkuss-Vergleichs demonstriert, habe ich entnommen aus Reng, Ronald: Der große Traum. Drei Jungs wollen in die Bundesliga. München 2021, S. 159. Der betreffende Trainer war Filip Tapalovic, damals U19-Trainer bei 1860 München, heute (Stand: 24.09.24) Co-Trainer bei Hull City – unter Tim Walter, und damit, ihr ahnt es schon, dazwischen von Juli 2021 bis Februar 2024 in selber Funktion beim HSV tätig.

Chapter 32: This Is Me

Chapter Text

  1. Kapitel: This Is Me

 

„Martin, there you are!“ Sierra strahlte und umarmte mich, als wäre ich ein lang verschollener Freund. Ich erhaschte einen Hauch eines fruchtigen Geruchs – Orange vielleicht. Unbeholfen schloss ich die Arme um ihren Rücken. Als sie sich von mir löste, strahlte sie immer noch. „It’s so good to see you! How are you?“

„Ah, fine.“ Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Mein Magen war nur noch ein winziger Knoten.

Einen Herzschlag verharrte ihr Blick auf mir. Wie schon bei unserer ersten Begegnung fing mein ganzer Körper davon an zu kribbeln. Dann blinzelte sie, und erst jetzt wandte sie sich Ramin zu, der neben mir im Eingang stand. „Ramin.“

„Sierra.“

Sie tauschten einen Blick, ein Grinsen, und wieder hatte ich das Gefühl, dass sie blitzschnell kommunizierten. Dann erhielt auch Ramin eine Umarmung, bevor Sierra ihre Handtasche abstellte und Jacke und Schuhe auszog. „Hm, something smells good! Lasagne?“

Ramin grinste. „Meat-free, of course.”

“My hero!” In gespielter Verzückung legte Sierra eine Hand auf ihre Brust, lachte, und Ramin lachte auch. Meine Mundwinkel zuckten nur. Ramin ging voraus ins Wohnzimmer, Sierra folgte ihm. Ich bildete schweigend die Nachhut.

Die Form mit den dampfenden Nudeln stand schon auf dem Tisch. Ramins Platz war wie immer der zwischen Tisch und Küchenzeile, und Sierra setzte sich ganz selbstverständlich auf den dritten Stuhl an der kurzen Tischseite. Ich ließ mich gegenüber von Ramin sinken und starrte auf den Tisch, während Ramin erst Sierra, dann mir und schließlich sich selbst Lasagne auf den Teller häufte. Meine Hände lagen links und rechts von meinem Teller. Meine Fingerspitzen waren eiskalt, und sie zitterten. Ich ballte beide Hände zu Fäusten.

Es gab ein Schaben von Filzgleitern auf Fliesen, eine Pause, dann noch mal. Mein Blick zuckte hoch. Jetzt saß auch Ramin. Sierras Augen glitten so schnell von Ramin zu mir und wieder zurück, dass es fast nicht wahrzunehmen war. „Well.“ Ihre Stimme war leicht, aber der Hauch eines Untertons lag darin. „Thank you both!“

„Anytime.“ Ramin lächelte und spießte die erste Gabel auf.

Ich zog mit einer fast schmerzhaften Anstrengung die Mundwinkel nach oben, dann floh mein Blick nach unten. Nudeln, Gemüse und Soße dampften und dufteten. Mein Magen krampfte sich noch ein bisschen enger zusammen.

Beim Kochen war alles noch in Ordnung gewesen. Ramin und ich hatten gelacht, Musik gehört und uns gegenseitig die Soße von den Fingern geleckt, aber als die Lasagne im Ofen verschwunden war, hatte mein Magen angefangen zu schrumpfen. Mit jeder Minute, die von der Uhr rann, war er ein wenig kleiner geworden, und jetzt wurde mir vom Essensgeruch so schlecht, dass ich versuchte, möglichst flach zu atmen. Gleich. Gleich musst du es sagen. Er will, dass du es tust, er hat dich darum gebeten, und du hast es ihm versprochen. Gleich musst du sagen, wer du bist. Noch sind es drei. Gleich sind es vier. Gleich. Gleich.

Mein Unterkiefer versteifte sich. Die Fäuste ballte ich so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Die Stille wurde nur gebrochen von Ramins gelegentlichem Pusten auf seine dampfende Gabel. Von der Seite spürte ich Sierras Blick. Nicht durchgehend; vermutlich schaute sie immer noch zwischen Ramin und mir hin und her. Aber als sie sprach, war ich es, an den sie sich wandte. „So, Martin, how have you been since we last saw each other? What have you been doing?”

Ich hob den Blick. Ihr rotbraunes Haar lag offen über ihren Schultern, und sie lächelte. Ein zittriger Atemzug bahnte sich seinen Weg durch meine Kehle. „Well, I’ve been … ah … well, I suppose.” Ich stieß ein wackliges Lachen aus. „I’ve, ah … I’ve been working, I guess. And of course, I saw Ramin … once.”

Mein Blick schnellte zu ihm. Er sah mich mit leicht gehobenen Augenbrauen an. Ich schluckte und wandte mich wieder Sierra zu. „I suppose he told you.“

„He did … eventually.“ Auch ihre Augenbrauen wanderten nach oben, und auch ihr Blick glitt zu Ramin.

„Eventually?“ Ich runzelte die Stirn.

„Well, at first, he didn’t tell me anything!” Sie sah mich an, lachte, dann kehrte ihr Blick zu Ramin zurück. „Remember, Ramin? You said, ‘I’ll be away this weekend.’ I said, ‘Oh, you will?’, you said, ‘Yes, I will.’ And not a word more would you say! I asked, of course –“

“You pestered, you mean.“

„– but not until Friday night did you finally admit it! I mean, not that I really needed you to tell me. I knew who you were going to see, all right.”

Ramin presste die Lippen aufeinander und warf ihr einen mörderischen Blick zu. Sierra grinste. „But even when he came back, he wouldn’t tell me where he’d gone, or what you’d done, or anything at all about that weekend.” Ihre Augen schnellten zu Ramin, und da war der Hauch eines Kopfschüttelns, bevor ihr Blick zu mir zurückkehrte. „But now you’re here, and now you can tell me. What did you do, Martin? Did you enjoy yourselves?”

Einen Herzschlag sah ich Ramin an. Sein Blick schleuderte mir ein Come on! entgegen. Etwas in meiner Brust schlug mit einem Knall zu. Meine Augen fanden wieder Sierras. „Well … yeah, we did. We did some sightseeing, I showed him the city … and, ah … “

Mein Mund blieb offen. Meine Kehle arbeitete, meine Unterlippe zuckte. Aber es kamen keine Worte. Ich starrte Sierra an, ihre klaren grünen Augen, ihre Stirn, die jetzt leicht in Falten lag. Sag es. Jetzt. Ramins Blick brannte auf mir.

„What’s wrong?“ Sierra sah nur mich an. Ihre Stimme war sanft und so leise, dass ich sie mehr spürte als hörte. Gleichzeitig spürte ich noch etwas anderes. Ihre Hand, auf meinem rechten Unterarm. Leicht und schwer und warm. Sicher.

Ich holte Luft. „Nothing. It’s only … well, the reason Ramin didn’t tell you anything is because I asked him … not to. You know, because I – I didn’t want him to tell anyone about … me.”

Sierra blinzelte. Ihre Augen hielten meine fest, und ihre Hand blieb auf meinem Unterarm. In der rechten Hand hielt sie ihre Gabel, aber ihren Teller schien sie völlig vergessen zu haben. „What about you?“

Meine Augen klammerten sich an ihre. She’s never gonna tell. Not ever. Even I don’t go around thinking that every person in the world is gonna hate me if they learn that I fuck guys.

„Well … you know that I’m gay, obviously.“ Einatmen, ausatmen, schlucken. Nicht wegschauen. Nur nicht wegschauen. „And usually, that wouldn’t be a big deal, but – well, in combination with my job, it sort of … is.“

Von vorne, von weit, weit weg, hörte ich ein leises Schnauben. Mein Blick blieb starr. Sierra rührte sich nicht, blinzelte nicht, ihre Finger auf meinem Arm zuckten nicht.

„I’m a football player.“ Zack, ein Rutsch, viel lauter als vorher. Luft, schnell, tief, weiter. „A professional one. I play in Hamburg, for the HSV, in the Bundesliga. And that’s why – I mean – obviously – I don’t want people to know –“

„That you’re gay?“ Sanft, warm, in ihrer hellen, klaren Stimme. Ihre Hand lag immer noch auf meinem Unterarm.

Ich schluckte. Nickte. Hing an ihrem Blick wie ein Ertrinkender an einer Holzplanke. Ihre Augen ließen mich nicht fallen. Sie lächelte, ganz leicht, und langsam nickte sie. Der Druck auf meinem Unterarm verstärkte sich. „Of course. In that world, it must be tough. Of course you’d want to be careful.”

Ramin schnaubte. Diesmal zerschlug es das Band. Sierras Hand auf meinem Arm zuckte und verschwand, und ihr Blick schnellte nach rechts. Ramin erstarrte. Der stille Austausch zwischen den beiden war so schnell vorbei, dass ich nicht einmal anfangen konnte, zu erraten, worum es ging, aber die Spannung war so greifbar, als hätten sie sich angeschrien. Im nächsten Moment starrte Ramin mit zusammengepressten Lippen auf den Tisch, und Sierra lächelte mich wieder an, jede Anspannung aus ihrem Gesicht verschwunden.

„Wow. A professional football player, that’s quite a job!” Sie lachte. Ich atmete ein. Mein Magen entknotete sich ein winziges bisschen. „And at your age, that’s really impressive! Where did you say you play, in Hamburg?”

Ich nickte. “Yeah. For the HSV.“

„That’s such a beautiful city.”

“You’ve been there?” Das erste Mal, seit die Lasagne im Ofen verschwunden war, war mein Lächeln echt.

„Only once or twice. I don’t know it well. How long have you been living there?”

“Forever.” Mein Lächeln wurde breit. Auf dem Tisch entrollten sich meine Finger. „I was born there. It’s my home.“

Sierra studierte mich. Ein Funkeln trat in ihre Augen. „And you love it, huh?“

„Yeah.“ Ich blinzelte, schaute auf meinen Teller, atmete ein. Eigentlich roch die Lasagne ziemlich gut. Und mittlerweile war sie bestimmt nicht mehr zu heiß zum Essen. „I do. It’s –“

Ein Summen. Gut hörbar, und für mich vor allem gut spürbar, denn es kam aus meiner hinteren Hosentasche. „Shit. Sorry. Can I –“

„Absolutely!“ Sierra lachte und machte eine einladende Handbewegung. Ich sprang auf und angelte das vibrierende Handy aus der Tasche, während ich mit schnellen Schritten den Raum durchquerte und durch die Tür in den Flur schlüpfte. Hatte ich das verdammte Teil denn nicht auf Flugmodus gestellt?

Ich zog die Tür hinter mir zu und warf einen Blick aufs Display. Eingehender Anruf – Gidi. Ich biss mir auf die Oberlippe. Wegdrücken? Aber was, wenn er dann fragte, warum?

Durch die Tür hörte ich gedämpfte Stimmen. Ich ging ins Badezimmer, zog auch diese Tür hinter mir zu und hob ab. „Hi, Gidi?“

„Martin! Wie schaut’s aus, habt du und Finn Bock auf FIFA heute Abend? Bei Michi, er sagt, er kocht.“ Ein übermütiges Lachen. „Ich hab schon mal ein paar gute Lieferrestaurants in der Nähe rausgesucht. Sicher ist sicher.“

„Äh … klingt super.“ Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Badezimmertür und presste die Augen zu. „Frag Finn ruhig, ob er kann. Ich bin … nicht da heute.“

„Oh.“ Es gab eine kurze Pause. „Wochenendtrip?“

„Sozusagen.“ Ich wühlte nach einer guten Geschichte, aber mein Kopf war blank. „Ich … wollte einfach mal kurz raus. Weißt du? Nach den letzten Spielen.“

Mal kurz raus. Das klang, als wäre ich während einer Halbzeitansprache auf dem Klo verschwunden, aber nicht nach einer überzeugenden Erklärung für eine nächtliche Abwesenheit über das freie Wochenende. Mein Kopf, der gerade noch mit Ausreden gegeizt hatte, feuerte jetzt umso großzügiger mit Beschimpfungen um sich, und ich setzte schnell noch drei Sätze hinterher, um die grässliche Stille zu ersticken. „Aber hey, wie gesagt, frag Finn, der hat bestimmt Lust. Und das nächste Mal bin ich auch wieder dabei. Aber jetzt muss ich auflegen, ich hab … Zeug.“ Super. Das wird ja immer besser. Der Daumennagel meiner handyfreien Hand bohrte sich in meinen Zeigefinger.

„Okay.“ Gidi klang noch immer etwas perplex. Kein Wunder. Ich biss die Zähne zusammen. Hoffentlich würde er Finn nicht ausquetschen. Hoffentlich fiel mir bis zum Montagstraining eine gute Erklärung ein.

Einen Moment war es still in der Leitung. Ich hielt die Luft an. „Na dann. Dann ruf ich Finn mal an. Viel Spaß!“

„Euch auch!“ In einem Zug strömte der Atem aus mir heraus. Ich nahm das Handy vom Ohr und legte auf. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade einen Sprint von Strafraum zu Strafraum hinter mir. Was jetzt? Sollte ich Finn schreiben, ihn vorwarnen?

Aber wenn Gidi Finn sofort angerufen hatte, sprach er jetzt schon mit ihm. Und außerdem musste ich mir um Finn wirklich keine Sorgen machen, er hatte jahrelange Erfahrung darin, mir den Rücken freizuhalten. Ich konnte ihm vertrauen, auch ohne Warnung.

Ich atmete tief durch. Mit ein paar Berührungen stellte ich das Handy jetzt wirklich auf Flugmodus und steckte es zurück in die Hosentasche. Ich machte die Tür auf, trat in den Eingangsbereich und wollte gerade die Wohnzimmertür öffnen, als Sierras Stimme an mein Ohr drang. Gedämpft und ein wenig undeutlich, aber zu verstehen, wenn ich mich konzentrierte. Ich fror ein, die Hand schon auf der Klinke.

„… didn’t mean you were supposed to force him to tell me!” Sogar durch die Tür war ihr Ton unmissverständlich: scharf, eindringlich, vorwurfsvoll. „Not if he didn’t want to! And why should he? He doesn’t know me at all, why should he tell me of all people?”

“Sierra, I don’t get this!” Ramin klang genauso wütend wie sie. „For weeks, you’ve been pestering me about him! I told you to drop it a thousand times, but no, as usual, you wouldn’t let it go! You just had to know, didn’t you; well, now you do, and now you’re not happy either, I mean, what’s wrong with you?”

“I thought you were stalling, Ramin, not him! I never dreamed he was the one who didn’t want you to tell. If you had just told me that, I would’ve dropped it!”

“Yeah right, because you’re so good at keeping your nose out of things that are not your fucking business.”

“So what was your solution? Huh? Did you tell him he had to tell me, or you’d do it yourself?”

“Of course not, Sierra! It was his choice!”

“Oh yes, of course! He was absolutely bursting to tell me, I could tell! You know, I bet he woke up this morning and said, ‘Hey, I really want to tell this random person I’ve only met twice and whom I don’t know at all the biggest secret of my fucking life’! Yes, I bet it was all his idea, wasn’t it?”

“Well, of course – I mean, we discussed it, I told him I wanted you to know! But it was still his choice, he could’ve said no!”

“Oh, come off it, Ramin, you know as well as I do that he’d never have dared to tell you no, not if he could see that you really wanted him to do it!”

“Why not? He’s a grown person, he can make his own decisions. And anyway, you’re both making such a fucking big deal out of this. I mean, the biggest secret of his life, come on! You make it sound like he’s a fucking murderer, you both do! I told him so as well, I –“

“You told him so? Ramin – have you been giving him a hard time over this?”

“What d’you mean, a hard time? I haven’t been giving him a hard time, I just told him that it’s ridiculous to assume that –“

“Now you listen to me, Ramin, you listen closely. You know nothing, nothing about the world he lives in, all right? You have no idea what it’s like to be nineteen and gay in a world that is probably more dominated by hegemonic masculinity than any other, anywhere.”

“I’m –“

You are twenty-eight, you’ve been fucking everything that moves for ten years, and you’re a musician and an actor. You cannot compare your world to his, Ramin, and you can’t expect him to behave as you do! You should get down on your knees and give thanks that he trusted you enough to tell you the truth, and if he doesn’t want anyone else to know, then all you should do is nod and say, ‘Yes, Martin, of course’! There’s probably nothing in the world that he’s so afraid of as the wrong people getting wind of his sexuality, and it’s for HIM to decide who the right people are, not you! So you better leave him alone about this from now on, do you hear me?”

“Didn’t hear you stop him, though, did I? Just now, when he said that the reason I hadn’t told you anything was because he’d asked me not to, I didn’t hear you say, ‘Oh, well, in that case, please feel free not to tell me anything, Martin, not unless it’s something you really want me to know’! Huh? Where was all the it’s-for-him-to-decide-who-the-right-people-are THEN, eh?”

“Well, I didn’t know what it was that he was about to say! How was I supposed to know it was something like this, huh? But you knew, and you still made him tell me! Did you never stop to think how he was feeling when he told me?”

“Well, he did tell you and he’s fine, isn’t he? I mean, you’re not gonna tell anyone, are you? So nothing’s happened to him, has it?”

“Nothing beyond the terror he was in just now when he was forcing himself to tell me, no. But he wasn’t to know that, was he? He just doesn’t know me, Ramin! Of course you knew that it was safe to tell me, but he’s just laid his career into the hands of a stranger, and he did that for you. And you better make sure you don’t forget it.”

Schweigen. Durch die Tür drang kein Geräusch mehr als nur ab und an ein ganz leises Klink von Besteck auf Teller. Ich stand da, die Hand immer noch auf der Klinke, das Ohr ans Holz gepresst. In der plötzlichen Stille wurde mir bewusst, was ich getan hatte: gelauscht. Schamlos. Einer Konversation, die sicher nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war.

Ich nahm die Hand von der Klinke und trat einen Schritt zurück. Mit beiden Händen fuhr ich mir durchs Haar. Meine Augen jagten durch den Eingangsbereich, nach rechts, nach links, nach oben, nach unten. Meine Beine bewegten sich von selbst, gingen im Kreis, Richtung Badezimmertür, Richtung Wohnungstür, Richtung Garderobenstange, Schritt für Schritt für Schritt, immer darauf bedacht, ja leise zu treten, ja kein Geräusch zu machen. Ich legte den Kopf in den Nacken, die Hände hinter dem Hals verschränkt, presste die Augen zu, atmete, biss mir so fest auf die Lippen, wie ich es gerade aushielt, fest, fest, fest, damit ich mich kontrollieren konnte, damit ich nicht anfangen würde, zu lachen.

Ich hatte nicht alles verstanden, was Ramin und Sierra gesagt hatten; akustisch, ja, aber es war so schnell gegangen, die Worte waren so blitzartig hin- und hergeflogen. Diese Sache, die Sierra über den Profifußball gesagt hatte … in a world that is probably more dominated by … hegemonic masculinity? Was zur Hölle sollte das sein?

Aber es war egal. Es war egal, egal, egal, denn Sierra verstand. Sie wusste alles, sie verstand, was es für mich bedeutete, mich jemandem anzuvertrauen, sie verstand, dass meine Karriere vorbei wäre, wenn es herauskam, und sie verstand, dass ich vorsichtig war, sein musste.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wohnungstür, atmete schnell und presste mir die Hand vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken. Ich fühlte mich leicht, so leicht, mir war schwindelig, und mein Magen war nicht mehr zu einem winzigen Knoten verkrampft, sondern groß und weit und vor allem leer. Ich atmete tief ein und langsam und kontrolliert aus, arrangierte meine Gesichtszüge in locker-entspannt und schritt zur Wohnzimmertür. Ramin und Sierra wandten beide den Kopf, als ich durch die Tür trat.

„Sorry.“ Ich lächelte, setzte mich wieder und rückte mitsamt Stuhl an den Tisch heran. „That was a friend of mine. It took longer than I thought it would.”

“No problem.“ Das war Ramin. Er hielt seine Gabel in der Hand und sah mich mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen an. Ich hielt seinen Blick, grinste und löste endlich die erste Gabel Lasagne aus meinem Teller. Es war jetzt weder zu heiß noch zu kalt, und es schmeckte köstlich.

„Of course!“ Sierras Lächeln erhellte ihr ganzes Gesicht, ach was, den ganzen Raum. Ich sah ihr in die Augen, spürte, wie mir von Kopf bis Fuß warm wurde, und strahlte.

„Anyway, you wanted to know what Ramin and I did that weekend. Well, I had a match on Saturday night, so I couldn’t pick him up. I only saw him afterwards. But he was in the stadium, of course. I’d sent him a ticket. And the match was great! I mean, we’d lost our first two matches, one in the cup and one in the league, and we were under pressure, but our fans were all there, and they were supporting us and singing and shouting, and it was so brilliant! We played against Stuttgart, and they had played well in their first match, even though they lost. So we knew it was gonna be a tough match, and at first, we played really well, but then Stuttgart scored a goal. And it didn’t look too good for us then, but we weren’t gonna give up that easily, and then we scored, too …”

Ich redete und redete, erzählte vom Spiel und vom Training am Tag danach und von Uwes Fuß und vom Hafen und von der Alster, und in den Pausen schob ich mir Lasagne in den Mund. Sierra hörte zu, mit ihrer vollen und ungeteilten Aufmerksamkeit, und nickte und lachte und stellte immer wieder Fragen, und irgendwann fing Ramin an, auch mit zu erzählen, zuerst mit trockenen Kommentaren, dann mit richtigen Sätzen und seinen Erinnerungen. Zu dritt saßen wir am Tisch, aßen und redeten und lachten, und ich lauschte Sierras Stimme, sah in Ramins Augen und fühlte mich warm und sicher und geborgen und ganz und gar zu Hause.

 

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Referenzen:

 

„This Is Me“ – Song aus dem Musical “The Greatest Showman”. Songs von Benj Pasek und Justin Paul, Musik von John Debney und Joseph Trapanese, Story von Jenny Bicks (2017).

 

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Dieses Kapitel enthält meine Lieblingsszene der gesamten Geschichte. You can probably guess which one it is ;) Wenn sie euch auch gefallen hat – drop a line!

Chapter 33: This Is Me - D

Chapter Text

  1. Kapitel: This Is Me

 

„Martin, da bist du ja!“ Sierra strahlte und umarmte mich, als wäre ich ein lang verschollener Freund. Ich erhaschte einen Hauch eines fruchtigen Geruchs – Orange vielleicht. Unbeholfen schloss ich die Arme um ihren Rücken. Als sie sich von mir löste, strahlte sie immer noch. „Es ist so schön, dich zu sehen! Wie geht es dir?“

„Ähm, gut.“ Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Mein Magen war nur noch ein winziger Knoten.

Einen Herzschlag verharrte ihr Blick auf mir. Wie schon bei unserer ersten Begegnung fing mein ganzer Körper davon an zu kribbeln. Dann blinzelte sie, und erst jetzt wandte sie sich Ramin zu, der neben mir im Eingang stand. „Ramin.“

„Sierra.“

Sie tauschten einen Blick, ein Grinsen, und wieder hatte ich das Gefühl, dass sie blitzschnell kommunizierten. Dann erhielt auch Ramin eine Umarmung, bevor Sierra ihre Handtasche abstellte und Jacke und Schuhe auszog. „Hm, das riecht aber gut! Lasagne?“

Ramin grinste. „Fleischlos, natürlich.”

„Mein Held!” In gespielter Verzückung legte Sierra eine Hand auf ihre Brust, lachte, und Ramin lachte auch. Meine Mundwinkel zuckten nur. Ramin ging voraus ins Wohnzimmer, Sierra folgte ihm. Ich bildete schweigend die Nachhut.

Die Form mit den dampfenden Nudeln stand schon auf dem Tisch. Ramins Platz war wie immer der zwischen Tisch und Küchenzeile, und Sierra setzte sich ganz selbstverständlich auf den dritten Stuhl an der kurzen Tischseite. Ich ließ mich gegenüber von Ramin sinken und starrte auf den Tisch, während Ramin erst Sierra, dann mir und schließlich sich selbst Lasagne auf den Teller häufte. Meine Hände lagen links und rechts von meinem Teller. Meine Fingerspitzen waren eiskalt, und sie zitterten. Ich ballte beide Hände zu Fäusten.

Es gab ein Schaben von Filzgleitern auf Fliesen, eine Pause, dann noch mal. Mein Blick zuckte hoch. Jetzt saß auch Ramin. Sierras Augen glitten so schnell von Ramin zu mir und wieder zurück, dass es fast nicht wahrzunehmen war. „Na dann.“ Ihre Stimme war leicht, aber der Hauch eines Untertons lag darin. „Vielen Dank euch beiden!“

„Immer gerne.“ Ramin lächelte und spießte die erste Gabel auf.

Ich zog mit einer fast schmerzhaften Anstrengung die Mundwinkel nach oben, dann floh mein Blick nach unten. Nudeln, Gemüse und Soße dampften und dufteten. Mein Magen krampfte sich noch ein bisschen enger zusammen.

Beim Kochen war alles noch in Ordnung gewesen. Ramin und ich hatten gelacht, Musik gehört und uns gegenseitig die Soße von den Fingern geleckt, aber als die Lasagne im Ofen verschwunden war, hatte mein Magen angefangen zu schrumpfen. Mit jeder Minute, die von der Uhr rann, war er ein wenig kleiner geworden, und jetzt wurde mir vom Essensgeruch so schlecht, dass ich versuchte, möglichst flach zu atmen. Gleich. Gleich musst du es sagen. Er will, dass du es tust, er hat dich darum gebeten, und du hast es ihm versprochen. Gleich musst du sagen, wer du bist. Noch sind es drei. Gleich sind es vier. Gleich. Gleich.

Mein Unterkiefer versteifte sich. Die Fäuste ballte ich so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Die Stille wurde nur gebrochen von Ramins gelegentlichem Pusten auf seine dampfende Gabel. Von der Seite spürte ich Sierras Blick. Nicht durchgehend; vermutlich schaute sie immer noch zwischen Ramin und mir hin und her. Aber als sie sprach, war ich es, an den sie sich wandte. „Und, Martin, wie ist es dir ergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Was hast du so gemacht?“

Ich hob den Blick. Ihr rotbraunes Haar lag offen über ihren Schultern, und sie lächelte. Ein zittriger Atemzug bahnte sich seinen Weg durch meine Kehle. „Ja gut, mir ist es … äh … gut ergangen, schätze ich.“ Ich stieß ein wackliges Lachen aus. „Ich hab, äh … ich hab gearbeitet, schätze ich. Und natürlich hab ich mich noch mal mit Ramin getroffen … einmal.“

Mein Blick schnellte zu ihm. Er sah mich mit leicht gehobenen Augenbrauen an. Ich schluckte und wandte mich wieder Sierra zu. „Das hat er dir wahrscheinlich erzählt.“

„Hat er … letztendlich.“ Auch ihre Augenbrauen wanderten nach oben, und auch ihr Blick glitt zu Ramin.

„Letztendlich?“ Ich runzelte die Stirn.

„Na, zuerst hat er mir gar nichts erzählt!” Sie sah mich an, lachte, dann kehrte ihr Blick zu Ramin zurück. „Weißt du noch, Ramin? Du hast gesagt, ‚Dieses Wochenende bin ich nicht da.‘ Ich hab gesagt, ‚Ach, bist du nicht?‘, du hast gesagt, ‚Nein, bin ich nicht‘. Und nicht ein weiteres Wort hast du dir abringen lassen! Ich hab natürlich gefragt –“

„Du hast mich ausgequetscht, meinst du.“

„– aber erst am Freitagabend hast dus endlich zugegeben! Ich meine, nicht dass ich deine Bestätigung wirklich gebraucht habe. Ich wusste natürlich, wen du besuchen gehst.“

Ramin presste die Lippen aufeinander und warf ihr einen mörderischen Blick zu. Sierra grinste. „Aber sogar, nachdem er wieder da war, hat er sich geweigert, mir zu erzählen, wo er war, oder was ihr gemacht habt, oder überhaupt irgendwas über dieses Wochenende.“ Ihre Augen schnellten zu Ramin, und da war der Hauch eines Kopfschüttelns, bevor ihr Blick zu mir zurückkehrte. „Aber jetzt bist du ja hier, und jetzt kannst du es mir erzählen. Was habt ihr gemacht, Martin? Hattet ihr eine gute Zeit?“

Einen Herzschlag sah ich Ramin an. Sein Blick schleuderte mir ein Mach schon! entgegen. Etwas in meiner Brust schlug mit einem Knall zu. Meine Augen fanden wieder Sierras. „Ähm … ja, hatten wir. Wir haben ein bisschen Sightseeing gemacht, ich hab ihm die Stadt gezeigt … und, äh …“

Mein Mund blieb offen. Meine Kehle arbeitete, meine Unterlippe zuckte. Aber es kamen keine Worte. Ich starrte Sierra an, ihre klaren grünen Augen, ihre Stirn, die jetzt leicht in Falten lag. Sag es. Jetzt. Ramins Blick brannte auf mir.

„Was ist?“ Sierra sah nur mich an. Ihre Stimme war sanft und so leise, dass ich sie mehr spürte als hörte. Gleichzeitig spürte ich noch etwas anderes. Ihre Hand, auf meinem rechten Unterarm. Leicht und schwer und warm. Sicher.

Ich holte Luft. „Nichts. Nur … na ja, der Grund, warum Ramin dir nichts gesagt hat, ist, weil ich ihn gebeten habe … das nicht zu tun. Weißt du, weil ich – ich wollte nicht, dass er irgendwem von … mir erzählt.“

Sierra blinzelte. Ihre Augen hielten meine fest, und ihre Hand blieb auf meinem Unterarm. In der rechten Hand hielt sie ihre Gabel, aber ihren Teller schien sie völlig vergessen zu haben. „Was denn von dir?“

Meine Augen klammerten sich an ihre. Sie wird es niemals ausplaudern. Nie im Leben. Selbst ICH lauf nicht in dem Glauben durch die Gegend, dass alle Menschen auf der Welt mich hassen würden, wenn sie erfahren, dass ich Männer ficke.

„Na ja … du weißt natürlich, dass ich schwul bin.“ Einatmen, ausatmen, schlucken. Nicht wegschauen. Nur nicht wegschauen. „Und normalerweise wäre das keine große Sache, aber – na ja, zusammen mit meinem Job ist es das irgendwie … doch.“

Von vorne, von weit, weit weg, hörte ich ein leises Schnauben. Mein Blick blieb starr. Sierra rührte sich nicht, blinzelte nicht, ihre Finger auf meinem Arm zuckten nicht.

„Ich bin Fußballer.“ Zack, ein Rutsch, viel lauter als vorher. Luft, schnell, tief, weiter. „Profifußballer. Ich spiele in Hamburg, für den HSV, in der Bundesliga. Und deswegen – ich meine – natürlich – will ich nicht, dass die Leute wissen –“

„Dass du schwul bist?“ Sanft, warm, in ihrer hellen, klaren Stimme. Ihre Hand lag immer noch auf meinem Unterarm.

Ich schluckte. Nickte. Hing an ihrem Blick wie ein Ertrinkender an einer Holzplanke. Ihre Augen ließen mich nicht fallen. Sie lächelte, ganz leicht, und langsam nickte sie. Der Druck auf meinem Unterarm verstärkte sich. „Natürlich. In der Welt muss es echt hart sein. Natürlich willst du da vorsichtig sein.“

Ramin schnaubte. Diesmal zerschlug es das Band. Sierras Hand auf meinem Arm zuckte und verschwand, und ihr Blick schnellte nach rechts. Ramin erstarrte. Der stille Austausch zwischen den beiden war so schnell vorbei, dass ich nicht einmal anfangen konnte, zu erraten, worum es ging, aber die Spannung war so greifbar, als hätten sie sich angeschrien. Im nächsten Moment starrte Ramin mit zusammengepressten Lippen auf den Tisch, und Sierra lächelte mich wieder an, jede Anspannung aus ihrem Gesicht verschwunden.

„Wow. Profifußballer, das ist ein echt cooler Job!“ Sie lachte. Ich atmete ein. Mein Magen entknotete sich ein winziges bisschen. „Und in deinem Alter, das ist echt beeindruckend! Wo meintest du, spielst du, in Hamburg?“

Ich nickte. „Ja. Für den HSV.“

„Das ist so eine schöne Stadt.”

„Du bist mal da gewesen?” Das erste Mal, seit die Lasagne im Ofen verschwunden war, war mein Lächeln echt.

„Nur ein- oder zweimal. Wirklich auskennen tu ich mich da nicht. Wie lange wohnst du schon dort?“

„Schon immer.” Mein Lächeln wurde breit. Auf dem Tisch entrollten sich meine Finger. „Ich bin da geboren. Es ist mein Zuhause.“

Sierra studierte mich. Ein Funkeln trat in ihre Augen. „Und du liebst es, was?“

„Ja.“ Ich blinzelte, schaute auf meinen Teller, atmete ein. Eigentlich roch die Lasagne ziemlich gut. Und mittlerweile war sie bestimmt nicht mehr zu heiß zum Essen. „Tu ich. Es ist –“

Ein Summen. Gut hörbar, und für mich vor allem gut spürbar, denn es kam aus meiner hinteren Hosentasche. „Shit. Sorry. Kann ich –“

„Natürlich!“ Sierra lachte und machte eine einladende Handbewegung. Ich sprang auf und angelte das vibrierende Handy aus der Tasche, während ich mit schnellen Schritten den Raum durchquerte und durch die Tür in den Flur schlüpfte. Hatte ich das verdammte Teil denn nicht auf Flugmodus gestellt?

Ich zog die Tür hinter mir zu und warf einen Blick aufs Display. Eingehender Anruf – Gidi. Ich biss mir auf die Oberlippe. Wegdrücken? Aber was, wenn er dann fragte, warum?

Durch die Tür hörte ich gedämpfte Stimmen. Ich ging ins Badezimmer, zog auch diese Tür hinter mir zu und hob ab. „Hi, Gidi?“

„Martin! Wie schaut’s aus, habt du und Finn Bock auf FIFA heute Abend? Bei Michi, er sagt, er kocht.“ Ein übermütiges Lachen. „Ich hab schon mal ein paar gute Lieferrestaurants in der Nähe rausgesucht. Sicher ist sicher.“

„Äh … klingt super.“ Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Badezimmertür und presste die Augen zu. „Frag Finn ruhig, ob er kann. Ich bin … nicht da heute.“

„Oh.“ Es gab eine kurze Pause. „Wochenendtrip?“

„Sozusagen.“ Ich wühlte nach einer guten Geschichte, aber mein Kopf war blank. „Ich … wollte einfach mal kurz raus. Weißt du? Nach den letzten Spielen.“

Mal kurz raus. Das klang, als wäre ich während einer Halbzeitansprache auf dem Klo verschwunden, aber nicht nach einer überzeugenden Erklärung für eine nächtliche Abwesenheit über das freie Wochenende. Mein Kopf, der gerade noch mit Ausreden gegeizt hatte, feuerte jetzt umso großzügiger mit Beschimpfungen um sich, und ich setzte schnell noch drei Sätze hinterher, um die grässliche Stille zu ersticken. „Aber hey, wie gesagt, frag Finn, der hat bestimmt Lust. Und das nächste Mal bin ich auch wieder dabei. Aber jetzt muss ich auflegen, ich hab … Zeug.“ Super. Das wird ja immer besser. Der Daumennagel meiner handyfreien Hand bohrte sich in meinen Zeigefinger.

„Okay.“ Gidi klang noch immer etwas perplex. Kein Wunder. Ich biss die Zähne zusammen. Hoffentlich würde er Finn nicht ausquetschen. Hoffentlich fiel mir bis zum Montagstraining eine gute Erklärung ein.

Einen Moment war es still in der Leitung. Ich hielt die Luft an. „Na dann. Dann ruf ich Finn mal an. Viel Spaß!“

„Euch auch!“ In einem Zug strömte der Atem aus mir heraus. Ich nahm das Handy vom Ohr und legte auf. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade einen Sprint von Strafraum zu Strafraum hinter mir. Was jetzt? Sollte ich Finn schreiben, ihn vorwarnen?

Aber wenn Gidi Finn sofort angerufen hatte, sprach er jetzt schon mit ihm. Und außerdem musste ich mir um Finn wirklich keine Sorgen machen, er hatte jahrelange Erfahrung darin, mir den Rücken freizuhalten. Ich konnte ihm vertrauen, auch ohne Warnung.

Ich atmete tief durch. Mit ein paar Berührungen stellte ich das Handy jetzt wirklich auf Flugmodus und steckte es zurück in die Hosentasche. Ich machte die Tür auf, trat in den Eingangsbereich und wollte gerade die Wohnzimmertür öffnen, als Sierras Stimme an mein Ohr drang. Gedämpft und ein wenig undeutlich, aber zu verstehen, wenn ich mich konzentrierte. Ich fror ein, die Hand schon auf der Klinke.

„… hab nicht gemeint, dass du ihn zwingen sollst, es mir zu sagen!“ Sogar durch die Tür war ihr Ton unmissverständlich: scharf, eindringlich, vorwurfsvoll. „Nicht, wenn er nicht will! Und warum sollte er? Er kennt mich überhaupt nicht, warum sollte er es ausgerechnet mir erzählen?“

„Sierra, ich kapier das nicht!” Ramin klang genauso wütend wie sie. „Seit Wochen quetschst du mich über ihn aus! Ich hab dir tausendmal gesagt, dass du es gut sein lassen sollst, aber nein, wie immer hast du nicht locker gelassen! Du musstest es einfach wissen, oder; und jetzt weißt dus, und jetzt bist du wieder nicht zufrieden, ich meine, was ist falsch mit dir?“

„Ich dachte, du blockst ab, Ramin, nicht er! Ich wäre nie drauf gekommen, dass er derjenige ist, der nicht wollte, dass dus erzählst. Wenn du mir das einfach gesagt hättest, hätte ichs gut sein lassen!“

„Ja sicher, weil du so gut darin bist, dich aus Sachen rauszuhalten, die dich verdammt noch mal nichts angehen.“

„Und was war dann deine Lösung? Hm? Hast du ihm gesagt, er muss es mir sagen, oder du machst es selber?“

„Natürlich nicht, Sierra! Es war seine Entscheidung!“

„Oh ja, natürlich! Er ist förmlich geplatzt, weil ers mir so unbedingt sagen wollte, das war offensichtlich! Weißt du, ich wette, er ist heute Morgen aufgewacht und hat gesagt, ‚Hey, ich will unbedingt dieser wildfremden Person, der ich nur zweimal begegnet bin und die ich überhaupt nicht kenne, das größte Geheimnis meines verdammten Lebens verraten‘! Ja, ich wette, es war alles seine Idee, oder?“

„Na ja, natürlich – Ich meine, wir haben drüber gesprochen, ich hab ihm gesagt, dass ich will, dass du es weißt! Aber es war trotzdem seine Entscheidung, er hätte auch Nein sagen können!“

„Oh, komm schon, Ramin, du weißt so gut wie ich, dass er niemals gewagt hätte, Nein zu dir zu sagen, nicht, wenn er sehen konnte, dass du wirklich willst, dass er es macht!“

„Warum nicht? Er ist erwachsen, er kann seine eigenen Entscheidungen treffen. Und sowieso, ihr macht beide so eine verdammte riesengroße Sache da draus. Ich meine, das größte Geheimnis seines Lebens, ich bitte dich! So wie du das sagst, klingt das, als wäre er ein verdammter Mörder, und bei ihm genau so! Das hab ich ihm auch gesagt, ich –“

„Das hast du ihm gesagt? Ramin – hast du ihm in dieser Sache das Leben schwergemacht?“

„Was meinst du damit, das Leben schwergemacht? Ich hab ihm das Leben nicht schwergemacht, ich hab ihm nur gesagt, dass es lächerlich ist, davon auszugehen, dass –“

„Jetzt hörst du mir mal zu, Ramin, jetzt hörst du mir mal genau zu. Du weißt nichts, gar nichts über die Welt, in der er lebt, okay? Du hast keine Ahnung, wie es ist, neunzehn und schwul zu sein in einer Welt, die vermutlich so sehr von hegemonialer Maskulinität bestimmt ist wie keine andere, egal welche.“

„Ich –“

Du bist achtundzwanzig, du fickst seit zehn Jahren alles, was sich bewegt, und du bist Musiker und Schauspieler. Du kannst deine Welt nicht mit seiner vergleichen, Ramin, und du kannst nicht erwarten, dass er sich so verhält wie du! Du solltest dich auf Knien dafür bedanken, dass er dir genug vertraut hat, um dir die Wahrheit zu sagen, und wenn er nicht will, dass es sonst noch jemand weiß, dann solltest du nichts anderes tun als nicken und sagen ‚Ja, Martin, selbstverständlich‘! Es gibt vermutlich nichts auf der Welt, wovor er so sehr Angst hat, wie dass die falschen Leute Wind von seiner Sexualität kriegen, und es liegt an ihm, zu entscheiden, wer die richtigen Leute sind, nicht an dir! Also lässt du ihn ab sofort besser zufrieden, was das angeht, hast du mich verstanden?“

„Du hast ihn aber auch nicht aufgehalten, oder? Gerade eben, als er gesagt hat, dass der Grund, warum ich dir nichts erzählt habe, ist, dass er mich gebeten hat, es nicht zu tun, hast du nicht gesagt, ‚Oh, na, in dem Fall fühl dich bitte frei, mir nichts zu erzählen, Martin, nicht, wenn du nicht wirklich willst, dass ich es weiß‘! Hm? Wo war da das Ganze Es-liegt-an-ihm-zu-entscheiden-wer-die-richtigen-Leute-sind, hm?“

„Na, ich wusste doch nicht, was er gleich sagen würde! Woher hätte ich denn wissen sollen, dass es so was ist, hm? Aber du hast es gewusst, und du hast ihn trotzdem gezwungen, es mir zu sagen! Hast du nie darüber nachgedacht, wie er sich wohl gefühlt hat, als ers mir gesagt hat?“

„Na, jetzt hat ers dir gesagt, und es geht ihm gut, oder? Ich meine, du wirst es niemand anderem sagen, oder? Also ist ihm nichts passiert, oder?“

„Nichts außer der Heidenangst, die er grade hatte, als er sich gezwungen hat, es mir zu sagen, nein. Aber das konnte er doch nicht wissen, oder? Er kennt mich einfach nicht, Ramin! Natürlich hast du gewusst, dass er es mir erzählen kann, aber er hat seine Karriere gerade in die Hände einer Fremden gelegt, und das hat er für dich getan. Und du solltest zusehen, dass du das nicht vergisst.“

Schweigen. Durch die Tür drang kein Geräusch mehr als nur ab und an ein ganz leises Klink von Besteck auf Teller. Ich stand da, die Hand immer noch auf der Klinke, das Ohr ans Holz gepresst. In der plötzlichen Stille wurde mir bewusst, was ich getan hatte: gelauscht. Schamlos. Einer Konversation, die sicher nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war.

Ich nahm die Hand von der Klinke und trat einen Schritt zurück. Mit beiden Händen fuhr ich mir durchs Haar. Meine Augen jagten durch den Eingangsbereich, nach rechts, nach links, nach oben, nach unten. Meine Beine bewegten sich von selbst, gingen im Kreis, Richtung Badezimmertür, Richtung Wohnungstür, Richtung Garderobenstange, Schritt für Schritt für Schritt, immer darauf bedacht, ja leise zu treten, ja kein Geräusch zu machen. Ich legte den Kopf in den Nacken, die Hände hinter dem Hals verschränkt, presste die Augen zu, atmete, biss mir so fest auf die Lippen, wie ich es gerade aushielt, fest, fest, fest, damit ich mich kontrollieren konnte, damit ich nicht anfangen würde, zu lachen.

Ich hatte nicht alles verstanden, was Ramin und Sierra gesagt hatten; akustisch, ja, aber es war so schnell gegangen, die Worte waren so blitzartig hin- und hergeflogen. Diese Sache, die Sierra über den Profifußball gesagt hatte … in einer Welt, die vermutlich so sehr bestimmt wird von … hegemonialer Maskulinität? Was zur Hölle sollte das sein?

Aber es war egal. Es war egal, egal, egal, denn Sierra verstand. Sie wusste alles, sie verstand, was es für mich bedeutete, mich jemandem anzuvertrauen, sie verstand, dass meine Karriere vorbei wäre, wenn es herauskam, und sie verstand, dass ich vorsichtig war, sein musste.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wohnungstür, atmete schnell und presste mir die Hand vor den Mund, um das Lachen zu unterdrücken. Ich fühlte mich leicht, so leicht, mir war schwindelig, und mein Magen war nicht mehr zu einem winzigen Knoten verkrampft, sondern groß und weit und vor allem leer. Ich atmete tief ein und langsam und kontrolliert aus, arrangierte meine Gesichtszüge in locker-entspannt und schritt zur Wohnzimmertür. Ramin und Sierra wandten beide den Kopf, als ich durch die Tür trat.

„Sorry.“ Ich lächelte, setzte mich wieder und rückte mitsamt Stuhl an den Tisch heran. „Das war ein Freund von mir. Hat länger gedauert, als ich dachte.“

„Kein Problem.“ Das war Ramin. Er hielt seine Gabel in der Hand und sah mich mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen an. Ich hielt seinen Blick, grinste und löste endlich die erste Gabel Lasagne aus meinem Teller. Es war jetzt weder zu heiß noch zu kalt, und es schmeckte köstlich.

„Na klar!“ Sierras Lächeln erhellte ihr ganzes Gesicht, ach was, den ganzen Raum. Ich sah ihr in die Augen, spürte, wie mir von Kopf bis Fuß warm wurde, und strahlte.

„Jedenfalls, du wolltest ja wissen, was Ramin und ich an dem Wochenende gemacht haben. Also, ich hatte am Samstagabend ein Spiel, deswegen konnte ich ihn nicht abholen. Ich hab ihn erst danach gesehen. Aber er war natürlich im Stadion. Ich hatte ihm eine Karte geschickt. Und das Spiel war super! Ich meine, wir hatten unsere ersten beiden Spiele verloren, eins im Pokal und eins in der Liga, und wir standen unter Druck, aber unsere Fans waren alle da, und sie haben uns angefeuert und gesungen und geschrien, und es war dermaßen genial! Wir haben gegen Stuttgart gespielt, und die hatten in ihrem ersten Spiel gut gespielt, obwohl sie verloren haben. Wir wussten also, dass es ein schweres Spiel wird, und am Anfang haben wir echt gut gespielt, aber dann haben die Stuttgarter ein Tor geschossen. Und dann sahs erst mal nicht gut für uns aus, aber so leicht haben wir uns nicht geschlagen gegeben, und dann haben wir auch getroffen …“

Ich redete und redete, erzählte vom Spiel und vom Training am Tag danach und von Uwes Fuß und vom Hafen und von der Alster, und in den Pausen schob ich mir Lasagne in den Mund. Sierra hörte zu, mit ihrer vollen und ungeteilten Aufmerksamkeit, und nickte und lachte und stellte immer wieder Fragen, und irgendwann fing Ramin an, auch mit zu erzählen, zuerst mit trockenen Kommentaren, dann mit richtigen Sätzen und seinen Erinnerungen. Zu dritt saßen wir am Tisch, aßen und redeten und lachten, und ich lauschte Sierras Stimme, sah in Ramins Augen und fühlte mich warm und sicher und geborgen und ganz und gar zu Hause.

 

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Referenzen:

 

„This Is Me“ – Song aus dem Musical “The Greatest Showman”. Songs von Benj Pasek und Justin Paul, Musik von John Debney und Joseph Trapanese, Story von Jenny Bicks (2017).

 

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Dieses Kapitel enthält meine Lieblingsszene der gesamten Geschichte. Ich bin sicher, ihr wisst, welche ich meine ;) Wenn sie euch auch gefallen hat – lasst doch ein Review da! :)

Chapter 34: The Other Side

Chapter Text

  1. Kapitel: The Other Side

 

„Und hier ist die Aufstellung unseres HSV! Im Tor mit der Nummer 15, René …“

„ADLER!“

„Mit der Nummer 4, Emir …“

„SPAHIC!“

„Mit der 5, unser Kapitän, Johan …“

„DJOUROU!“

„Mit der 6, Martin …“

„BRANT!“

„Die 7, Ivo …“

„ILICEVIC!“

„Mit der 8, Lewis …“

„HOLTBY!“

„Die 10, Pierre-Michel …“

„LASOGGA!“

„Mit der 22, Matthias …“

„OSTRZOLEK!“

„Mit der 24, Gotoku …“

„SAKAI!“

„Unsere Nummer 27, Nicolai …“

„MÜLLER!“

„Und mit der 28, Gideon …“

„JUNG!“

„Auf der Bank heute mit der Nummer 1, Jaroslav Drobny, mit der 3, Cleber, mit der 9, Sven Schipplock, mit der 11, Ivica Olic, mit der 17, Zoltan Stieber, mit der 23, Michael Gregoritsch und mit der 40, Gojko Kacar. Unser Trainer heißt Bruno …“

„LABBADIA!“

Die Verkündung der Aufstellung durch Stadionsprecher Lotto und die donnernden Antworten der über 50.000 Fans drangen mühelos in die Mixed Zone hinein. Ich lockerte die Schultern, bewegte den Kopf hin und her und nahm tiefe, langsame Atemzüge. Es roch nach Rasen und Kälte und Flutlicht. Nach einem Gänsehaut-Spiel.

Ich schaute nach links, auf die elf Spieler in Gelb, die neben uns in einer Reihe aufgebaut waren. Ganz vorne stand Innenverteidiger und Kapitän Mats Hummels, direkt neben mir Achter Ilkay Gündogan, und hinter Gündogan nacheinander der zweite Achter Shinji Kagawa, die Flügelspieler Henrikh Mkhitaryan und Marco Reus und Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang. Alle entweder blitzschnell, technisch brillant, mit herausragendem Spielverständnis oder alles zusammen. Das war die Offensive von Borussia Dortmund, des souveränen Tabellenzweiten, und sie waren gekommen, um heute Abend zum Auftakt des dreizehnten Spieltags unseren Volkspark zu erobern.

Ich ballte die freie Hand zur Faust und entspannte sie wieder. Mein Blick wandte sich von der BVB-Mannschaft ab und konzentrierte sich auf Gidis breiten Rücken, der mir nach vorne jegliche Sicht versperrte. Meine Zunge fuhr meine Zähne entlang. Es war Freitagabend, Flutlicht, das Stadion war ausverkauft, und auf der Haupttribüne saß Ramin. Es war egal, dass die Spieler links von mir bisher aus zwölf Partien neun Siege geholt hatten, egal, dass sie dabei mit fünfunddreißig Toren die zweitbeste Offensive der Liga stellten. Heute würde es kein Vorbeikommen für sie geben.

Die Einlaufmusik ertönte. An der Spitze der Schlangen setzte sich Schiedsrichter Felix Zwayer in Bewegung. Ich atmete ein letztes Mal durch, lächelte das braungelockte Mädchen an, das mit leuchtenden Augen zu mir aufsah und meine Finger mit einer kleinen, heißen Hand umklammert hielt, und trat aus dem Halbdunkel des Spielertunnels in das Meer aus gleißendem Licht, ohrenbetäubender Musik und Gesängen und wehenden Fahnen und Schals.

Aber als wir uns nach der Platzwahl am Mittelkreis aufstellten und Lotto das Stadion bat, sich für die Schweigeminute, die es an diesem Spieltag in jedem Stadion geben würde, zu erheben, verschwanden Lichter und Luft und Lärm noch einmal aus meinem Kopf. Den einen Arm um Lewis‘ Schultern, den anderen um Gidis Rücken gelegt, stand ich inmitten der vollkommenen Stille von 57.000 Fans. Meine Augen blickten in den Hamburger Nachthimmel, aber blau-schwarze Dunkelheit und hier und da ein weißer Wolkenfetzen waren nicht das, was ich sah.

Eine Woche. Genau eine Woche war es her, dass ich abends mit Finn vor dem Fernseher gesessen hatte, und eigentlich hatten wir nur ein Fußballspiel sehen wollen und vielleicht ein bisschen davon träumen, selbst auch mal in der Nationalmannschaft zu spielen, so wie Gündogan und Hummels, die jetzt Arm in Arm mit ihren Teamkollegen mir gegenüber an der anderen Seite des Mittelkreises standen. Sie waren dabei gewesen, vor einer Woche beim Freundschaftsspiel gegen Frankreich. In Paris. Sie hatten es auf dem Feld gehört, das Knallen, von dem auch wir auf dem Sofa zusammengezuckt waren, das viel zu laut gewesen war für Pyro. Und dann waren nach und nach die Informationen durchgesickert: Terroranschläge, Tote und Verletzte.

Blicklos starrte ich in den Nachthimmel. Kühle Luft strömte durch meine Kehle, und trotz des langen Unterziehshirts fröstelte ich. Wie diese Menschen den Abend wohl erlebt hatten. In den Bars, im Konzertsaal. Sie waren gegangen für Musik und Tanz und Kultur und Spaß. Für Freiheit. Und gefunden hatten sie Gewalt und Tod. Ich schauderte und schloss die Augen. Bitte, lass die Verletzten gesund werden und diejenigen, die geliebte Menschen verloren haben, irgendwie Kraft und Trost finden. Lass sie trauern, und lass sie heilen. Lass sie vor allem bitte, bitte nicht allein sein. Lass niemanden, der betroffen ist, allein sein.

Ich wusste nicht, an wen ich die stummen Worte richtete. An einen Gott glaubte ich nicht. Aber ab und an, selten, gab es Momente, in denen ich etwas anflehen musste, das größer war als ich selbst.

„Vielen Dank.“

Lottos ernste Stimme hob den Schleier. Die 57.000 erwachten wieder zum Leben, und sowohl aus der Gästekurve als auch von der Nordtribüne schallten Gesänge und Anfeuerungsrufe. Ich öffnete die Augen, atmete durch, fuhr herum und zog einen kurzen Sprint an, bevor ich mich wieder umwandte, meine Position einnahm und mit dem Blick auf den Mittelkreis Lassos und Lewis‘ Anstoß erwartete.

 

*

 

Noch nie war ich die Treppen zum VIP-Bereich so schwungvoll hinaufgestiegen wie heute. Über beide Ohren grinsend nahm ich von allen Seiten Glückwünsche entgegen, schüttelte Hände, ließ mir auf die Schulter klopfen und erwiderte Lob mit einem breiten Lachen. Heute hatten wir uns das verdient. Selten hatten wir so überragend gespielt.

Diesmal musste ich nicht nach Ramin suchen. Er stand schon bereit, gleich neben der Tür an die Wand gelehnt. Als ich die Lounge betrat, verzogen seine Lippen sich zu einem breiten Grinsen. In zwei Schritten war er bei mir, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde mich küssen. Aber er blieb stehen, die Reisetasche über der Schulter, und stieß mir nur leicht mit der Faust gegen die Brust. „That was a great match. Even better than last time. It was brilliant. You were brilliant.“

Das Feuer in seinen Augen loderte so hell, dass mir von Kopf bis Fuß heiß wurde. Ich lachte. „Thanks! It felt that way on the field. Tonight, it was just – perfect.“

Ich sah ihn Luft holen, innehalten. Er legte die Lippen aufeinander und lächelte. Seine Augen prasselten. Let’s make it more perfect still, las ich darin. Ob das genau die Worte waren, die er gerade nicht ausgesprochen hatte?

Ich strahlte und ruckte den Kopf in Richtung Ausgang. „Come on. Let’s go.“

Diesmal war noch etwas mehr los. Ich schlängelte mich an Männern in Anzügen, Frauen in engen Jeans oder Röcken und Spielern in Trainingsanzügen vorbei und erwiderte hier und da einen Gruß oder eine Verabschiedung, aber ich blieb nicht stehen. Ramin folgte mir wie ein Schatten. Auf dem Weg nach unten zum Parkplatz sog ich die herrlich kühle Luft ein, legte den Kopf in den Nacken und lachte. Am Fuß der Treppe angekommen, wollte ich mich gerade zu Ramin umdrehen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und gleich darauf meinen Namen hörte. „Martin!“

„Gidi!“

Er stand am Kofferraum seines Autos, das direkt neben meinem geparkt war, seine Hände schon sporttaschenfrei. Er war allein, und genau wie ich strahlte er von einem Ohr zum anderen. Ich ging zu ihm hinüber, Ramin hinter mir. Ich hatte Gidi nichts von meinem Besuch erzählt, aber es war kein Problem, dass er es jetzt doch mitbekam. Viele Jungs brachten ab und an verschiedene oder auch immer wieder die gleichen Freunde mit zu Spielen. Dass Ramin meinetwegen hier war, würde Gidi nicht zu irgendwelchen Schlüssen verleiten.

Hinter meinem Auto ließ ich die Sporttasche auf den Boden gleiten und schlug meine Hand in Gidis dargebotene Rechte. „Denen haben wir’s gezeigt, was? Die machen vier Tore gegen Gladbach, Ingolstadt und Hannover, fünf gegen Augsburg, und haben den Derbysieg gegen Schalke im Rücken –“

„– und heute gehen sie unter!“ Gidis linke Hand landete krachend auf meiner Schulter, und ich boxte ihm genauso vor die Brust, wie Ramin es gerade bei mir getan hatte.

„Wie du den Kagawa im Griff hattest –“

„Wie du den Reus abgegrätscht hast –“

„Der Gündogan konnte nicht einen Pass spielen –“

„Die hatten keine Chance gegen uns!“

Wir lachten, hielten uns aneinander fest und wären doch beinahe umgekippt. Ich fühlte mich betrunken. Es war November, es war nach 23 Uhr, wir hatten gerade vor 57.000 Zuschauern in einem Flutlichtspiel die Stars von Borussia Dortmund mit drei zu eins besiegt, Gidi und ich hatten zusammen vor der Abwehr alles aufgeräumt und selber Akzente in der Offensive gesetzt, und jetzt würde ich gleich mit Ramin nach Hause fahren. Ach ja, Ramin …

„Oh, ja, Gidi.“ Ich löste die Hand aus seiner Lederjacke und gestikulierte, immer noch breit grinsend, in seine Richtung. Er stand zwei Schritte entfernt von uns neben meiner Sporttasche. „That’s Ramin, a friend of mine. He’s from London.“

Gidi machte einen Schritt auf ihn zu und hielt ihm grinsend seine große, feingliedrige Hand hin. „Hi, Ramin. Nice to meet you. I’m Gidi.“

„Hi.“ Er ergriff Gidis Hand. Seine Augen wanderten über ihn hinweg, von raspelkurzen schwarzen Locken über Lederjacke und Ripped Jeans bis zu weißen Sneakern. Obwohl Ramin größer als ich war, war er immer noch kleiner als Gidi.

Ich sah ihn an, wie er dastand, schwarzhaarig in schwarzer Kleidung im Dunkel der Hamburger Nacht, und spürte ein heftiges Ziehen im Bauch. „We‘d better go. Ramin only arrived today. Bye, Gidi!”

“Bye, see you tomorrow!”

Wir tauschten ein letztes Grinsen, dann stieg Gidi in sein Auto, setzte zurück und fuhr davon. Ich öffnete den Kofferraum und schmiss meine Sporttasche hinein. Ramin ließ seine Reisetasche etwas langsamer daneben gleiten. Mit einem Rumms schlug ich die Klappe zu und stieg ein. Als Ramin ebenfalls saß, startete ich den Motor.

Auf dem Weg vom Parkplatz und übers Stadiongelände schwieg Ramin. Erst als wir die Straße erreicht hatten und ich beschleunigte, sprach er. „Friend of yours?“

„Yeah. A very good one.“ Ich setzte den Blinker links, verrenkte den Hals nach Fahrradfahrern und bog ab. „Why?“

„Oh, nothing.“ Sein Ton war irgendwie komisch. Wieder schwieg er einen Moment. Dann setzte er abrupt hinterher: „Didn’t he play last time I was here as well?“

„Yeah. Right next to me, same as tonight. And he’s just one year older than me, too. But our coach trusts us. And it’s getting better and better. We’re a great team. I love playing next to him.”

„Yeah, I thought I recognised him.“

Er schwieg. Die Straße, die ich entlangfuhr, war fast völlig leer, auch auf dem Bürgersteig waren nur noch ganz vereinzelte Fans unterwegs. Ich warf einen schnellen Blick nach rechts. Ramins Lippen waren zusammengepresst, er schaute geradeaus, und auf seinem Oberschenkel flatterte sein rechter Daumen, auf und ab und auf und ab.

„What’s the matter?“

“Nothing.” Er klang bissig wie ein eingesperrter Hund.

Meine Stirn hatte sich gefurcht, und ich holte Luft, um nachzubohren, da zerschnitt seine Stimme messerscharf die Luft. „He’s really good-looking, isn’t he?“

Mein Kopf fuhr so schnell herum, dass meine Wirbel knackten. Ein paar Sekunden starrte ich ihn mit offenem Mund an. Er konnte doch nicht ernsthaft vorhaben, Gidi demnächst in sein Bett zu kriegen? Und dafür jetzt von mir hören wollen, ob Gidi dafür offen sein würde? Jetzt, nach fast fünf Monaten, nach dem Tanzen und seinem ersten Besuch und Sierra und allem?

Ich blinzelte, sah durch das Fenster hinter Ramin Bäume und Häuser vorbeiziehen und wurde mir bewusst, dass ich immer noch mit fast fünfzig Stundenkilometern am Straßenverkehr teilnahm. Ich riss den Kopf herum, sah vor mir eine rote Ampel und haute auf die Bremse. Mit einem Ruck und quietschenden Reifen kamen wir zum Stehen.

Das Gummi der Räder war nicht das Einzige, das heißgelaufen war. Mein Gesicht brannte, und meine Finger hatten sich so fest ums Lenkrad gekrallt, dass meine Knöchel weiß hervortraten. So viel zu wir sind mehr als Sex. Hatte Finn etwa doch die ganze Zeit Recht gehabt? Das mit der queue war dann wohl wirklich die Wahrheit gewesen.

Ich starrte Ramin an. Wenn er mir wenigstens ins Gesicht sehen würde, dann könnte ich ihn besser anbrüllen. Aber er schaute immer noch geradeaus, locker, entspannt, gleichgültig, als würde er sich überhaupt nichts dabei denken. Als wäre es für ihn völlig normal, sich von einem seiner tausenden Sexobjekte direkt Informationen über das nächste abzuholen. Ich presste die Lippen aufeinander, und während ich die Luft einsog, um genug Atem für meinen Wutausbruch zu haben, glitten meine Augen nach unten. Ich stockte.

Ramins Hände lagen auf seinen Oberschenkeln. Aber nein, das war falsch. Sie lagen nicht. Sie klammerten sich daran. Die Finger der linken Hand hatten sich so tief in seine Jeans gegraben, dass es wehtun musste, und seine rechte war nur deshalb nicht so verkrampft, damit der Daumen Platz hatte, sich zu bewegen. Er flog auf und ab und auf und ab, so schnell, dass ich mit den Augen fast nicht folgen konnte. Seine restlichen Finger sahen so steif und angespannt aus, als ob sie bei der kleinsten Berührung brechen müssten. Von Lockerheit – keine Spur.

Schämte er sich? Hatte er wenigstens genug Anstand, sich bewusst zu sein, wie sich das Ganze für mich anfühlte? Bohrte er sich deshalb Löcher in die Oberschenkel, waren seine Lippen deshalb so schmal, konnte er mir deshalb nicht in die Augen schauen? Oder … war meine ganze Erklärung für seine Frage … falsch? Und zwar so falsch, dass …

Mein Blick schnellte hoch. Ramin starrte immer noch durch die Windschutzscheibe. Nicht nur seine Lippen, auch seine Augen waren verengt. Locker, entspannt … Wie hatte ich das nur glauben können? Ich hatte noch nie jemanden so unentspannt gesehen. Und – Konnte das wirklich wahr sein? – wenn mich nicht alles täuschte, war der Grund für seine Anspannung – Angst. Angst vor meiner Reaktion.

Ein paar Sekunden kriegte ich kein Wort heraus. Obwohl ich doch noch eingeatmet hatte, fühlte sich meine Lunge an, als wäre unser Mannschaftsbus darübergefahren. „Ramin … are you … jealous?“

Sein Mundwinkel zuckte. Sein Blick glitt zu mir und sofort wieder weg. „It’s green.“

„Never mind the traffic light! ARE YOU JEALOUS?”

Er stieß die Luft aus und wirbelte herum. „Well, he’s always touching you! Last time during the match, and tonight, and just now … He can’t keep his fucking hands off you!”

Seine Augen blitzten. Ich saß mit offenem Mund da. Träumte ich? Würde ich gleich aufwachen und feststellen, dass es noch Morgen war? Dass wir noch nicht gespielt hatten und Ramin noch nicht hier war?

Ramin blinzelte und presste die Lippen zusammen. Seine Augen zuckten weg. Flohen sie etwa? Und – war das das Licht der Straßenlaternen, oder liefen seine Wangen wirklich rot an?

Mit einem Ruck kehrte sein Blick zu mir zurück. „And I’m telling you, it’s not just him! I mean, the way you all fawn over each other, the high-fiving and the hugging and the jumping on each other’s backs and the shirt swapping and whatnot … You know, for a bunch of oh so straight guys, you’re a fucking touchy lot altogether!”

Sein Kopf flog wieder herum, und er presste Rücken und Hinterkopf gegen die Lehne und starrte geradeaus. Seine Finger malträtierten noch immer seine Oberschenkel.

Hinter uns hupte es. Ich rührte mich nicht. Es war, als wäre ich gerade bei einem Kopfballduell mit voller Wucht mit meinem Gegner zusammengeknallt. Nur zwei Dinge drangen zu mir durch: Ramin war der Meinung, dass ich viel Körperkontakt zu meinen Mitspielern hatte. Und es gefiel ihm nicht.

„You ARE jealous!“ Der Klang meiner eigenen Stimme riss meinen Körper aus seiner Starre. Plötzlich spürte ich wieder die rauen Lenkradgriffe unter den Fingern, das Bremspedal unterm rechten Fuß, den Sitz am Rücken, den Gurt über der linken Schulter. Meine Mundwinkel schossen nach oben, und ich lachte. „You are! You’re jealous!“

Hinter uns hupte es wieder. Einmal, zweimal, langgezogen und dröhnend. Ich drehte den Kopf nach vorne, nahm den Fuß vom Bremspedal, fuhr an, und lachte und lachte und lachte.

„All right, that’s enough. Shut up, will you?”

Ich sah zu ihm herüber und schüttelte den Kopf. Seine Züge waren immer noch angespannt, aber seine Lippen waren nicht mehr ganz so fest aufeinandergepresst. Sein linker Mundwinkel zuckte. Ich schaute noch einen Herzschlag länger hin. Seine Wangen waren immer noch von einem Hauch Röte überzogen.

Ich richtete den Blick wieder auf die Straße, setzte den Blinker rechts und bog ab. Langsam kriegte ich das Lachen unter Kontrolle, aber nicht das Grinsen. Jetzt waren wir völlig allein in ruhigen Seitenstraßen unterwegs, und ich blinzelte und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Es war fast Mitternacht, aber in mir drin strahlte die Sonne. He gives a shit, tönte es durch meinen Kopf. He gives a shit, he gives a shit. Ramin Karimloo gives a shit!

Ich spürte seinen Blick und biss mir auf die Unterlippe, um nicht wieder in Gelächter auszubrechen. Meine Hände umklammerten das Lenkrad. Die Griffe waren kalt und rissig. Ich wollte jetzt nicht Auto fahren. Ich wollte nicht auf die Straße schauen. Ich wollte Ramin anschauen, ihn fühlen, ihm die Hände um den Nacken legen und mich auf die Zehenspitzen stellen und ihn zu mir herunterziehen und ihn küssen, ihn schmecken und riechen und lieben. Gleich. Gleich sind wir zu Hause.

„Oh, yeah, before I forget.“ Ramins Ton war angestrengt locker. Ich biss mir noch fester auf die Lippe. „Sierra told me to say hi. She sends her love.“

“Love back!” Ich strahlte, während ich den Rückwärtsgang zum Parken einlegte. „How is she?“

“Wonderful and dying to know when you‘ll be able to come to London again.”

Mit verrenktem Nacken schüttelte ich den Kopf. „Not before the end of the first half of the season. There isn’t another break before then, there’s no way I’ll be able to get away. But I could come over after the last match. On the twentieth of December?” Ich stellte den Hebel auf P und schaltete den Motor ab.

Ramin nickte. “Sounds good. You can’t stay for Christmas, though. I’m flying over to Canada on the twenty-fourth.”

„No problem.“ Ich spürte einen kleinen Stich im Magen, aber nur ganz schwach. Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Ramin und ich Weihnachten zusammen verbringen würden. Wenn er es doch vorgeschlagen hätte, hätte ich mich zwar wahnsinnig gefreut, aber ich hätte mich fast genauso so sehr gefürchtet. Wir hätten die Weihnachtsfeiertage ja schlecht genauso verbringen können wie unsere bisherige Zeit zusammen – mit Musik, Tanzen und Sex. Oder? Ich verkniff mir ein nervöses Grinsen. Ne, ne. Ich würde mit Finn feiern, ganz entspannt. Und dann … vielleicht … Ramin und ich … nächstes Jahr?

Ich sah hinauf in seine Augen. Im fahlen Licht der Autolampe wirkten sie fast schwarz. Ich hatte mich immer einen Idioten genannt, wenn ich das gedacht hatte. Aber hätte ich das nicht auch getan, wenn ich mir vorgestellt hätte, dass Ramin eifersüchtig werden würde, weil Gidi und ich uns beim Torjubel umarmt hatten?

Ich presste die Lippen zusammen und versuchte, meine Mundwinkel daran zu hindern, schon wieder auszubrechen. „I’ll just fly back to Hamburg on the twenty-fourth too, then.”

Ramin runzelte die Stirn. Wieder wurden seine Lippen schmal. „No. I think you’d better leave on the twenty-third.“

Auch meine Stirn legte sich in Falten. Eine Nacht auslassen? Eine Nacht Sex, eine Nacht … wir? „Why? Do you have to pack? I’m sure it wouldn’t take all day, and I could always help!”

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Nah, that’s not it. But … I’m gonna be busy that night.”

Wieder ein Stich. Heftiger, tiefer. “Busy? But … what with?“ WHO with?, korrigierte eine grausame Stimme in meinem Kopf. Mein Unterkiefer versteifte sich.

Ramins Augen ließen mich nicht los. Einen Moment war es vollkommen still. Dann atmete er aus. „With dancing. The twenty-third of December is the night of one of the biggest balls of the year, and I always go. You’ll be bored alone at my place.”

Ich starrte ihn an. Ein Ball … ein richtiger Ball mit Abendkleidung und Kronleuchtern und Liveband und allem …

„Well, couldn’t I come?“ Meine Stimme hallte durchs Auto. So laut hatte ich gar nicht sprechen wollen. Der Satz war einfach aus mir herausgebrochen.

Ramins Augen verengten sich. „You want to come to the ball?”

“Yeah!” Ich hatte mich kerzengerade aufgerichtet. Jetzt konnte ich Ramin fast gerade in die Augen schauen. „I mean, I know I don’t dance nearly as well as you, but I’ve been practising, and I’m sure that if you were leading …”

Er schüttelte den Kopf, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen. „That’s not what I meant.“

„Well, what then?“ Ein Gedanke schlug wie ein Blitz ein. Ich schluckte, blinzelte und zwang meine Zunge, sich zu bewegen. „Are you – are you going with someone else?“

„Well, Sierra, but –“ Er starrte mich an, als könne er nicht glauben, was hier gerade passierte. Ich dagegen fühlte mich, als sei mir ein Gebirge von den Schultern gewuchtet worden. Es gab also keinen anderen. Gottseidank.

„Look, Martin – you really want to come to a ball with me? As my partner?”

“Yeah!”

„With hundreds of people there to see?”

“Oh …”

Die Festhalle, die Kronleuchter, die tanzenden Menschen, die Musik – alles zerplatzte. Übrig blieb nur das Auto. Ich sah Ramin an, die schwarzen Tiefen seiner Augen, und mein Magen fühlte sich an, als würde er fallen, durch mich hindurch und durch das Auto und den Asphalt und die Erde, tiefer und tiefer, als hätte Ramins Frage einen tonnenschweren Anker daran gehängt.

Ich hatte es vergessen. Für ein paar Sekunden hatte ich es vergessen. Für ein paar Sekunden war ich einfach ein neunzehnjähriger Junge gewesen, der sich darauf gefreut hatte, mit seinem Partner auf einen Ball zu gehen. Jetzt war ich wieder ein Fußballprofi. Ein schwuler Fußballprofi.

Ich schluckte. Aus Ramins Augen schälten sich Bilder heraus, Bilder von heute Abend, vom Volksparkstadion. Vollbesetzte Ränge, Fahnen, Schals, Gesänge, die Siegesfeier. Das Echo hörte sich hohl an. Fast höhnisch. Ein bitterer Geschmack stieg in meiner Kehle auf. „Yeah … right. I … shit. Yeah. You’re right. I … I can’t.” Ich biss mir auf die Unterlippe. Blicklos starrte ich auf den Schalthebel.

„I’ll take you.“ Meine Augen zuckten hoch. Ramin sah mich an. „If you really want to go, I’ll take you.“

„I …“ Ich starrte in seine Augen. Er hatte sich leicht nach vorn gelehnt, sodass das Licht direkt auf sein Gesicht fiel und sie so braun aussehen ließ wie immer. Mein Magen musste in meinen Bauch zurückgekehrt sein, denn jetzt fühlte es sich an, als hätte jemand seine Faust darum geschlossen und versuchte mit aller Macht, ihn herauszureißen. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so sehr gewollt, wie mit Ramin auf diesen Ball zu gehen. „I can’t, Ramin. I … want to, believe me, but … I … if I’m recognised …”

Seine Lippen wurden schmaler. Er blinzelte, atmete aus. „This is a ball in London, you know. I mean, the people who are even interested in football will be interested in the Premier League and the English national side. There’s a good chance no one will even know the name of your team, let alone you.”

“They’ll know the name of my team.” Schließlich spielte ich beim HSV, nicht bei Hoffenheim oder Ingolstadt. „And – even if you’re right about most of them … It only takes one. You know? And I – I just can’t – I don’t want to –“

Ich konnte keine Worte mehr zusammenkratzen. Ramin schnaubte, und sein Blick irrte über die dunklen Konturen um uns herum. „Down there, you’re different, you know.“

Down there war der Fußballplatz. Aber verstanden hatte ich ihn trotzdem nicht. „What do you mean?“

„Down there, you’re – not afraid.“

Ich blinzelte. Das klang ja, als würde er mich für einen Feigling halten. „I’m not afraid here, either!“

„Then come to the ball with me! If you‘re really not afraid, come to the ball with me!”

“I – Ramin, I want to, I –“ Ich musste mich zwingen, nicht zurückzuweichen. Das Feuer in seinen Augen loderte so hell, dass ich das Gefühl hatte, mich jeden Moment zu verbrennen. Ich schluckte und holte Luft. „I’d love to go. I would, I do, you’ve no idea how much. But – I just – It’d be such a big risk, it’s –“

Mit den Augen bettelte ich weiter, flehte ihn an, zu verstehen, mich nicht für feige zu halten, mich nicht zu drängen, mich nicht weiter zu zwingen zu Worten, die mir die Kehle abschnürten, nicht darauf zu bestehen, dass ich ein Nein erklärte, das ich doch überhaupt nicht geben wollte, für das ich nicht verantwortlich war.

Ramins Augen durchleuchteten mich. Er stieß die Luft aus und hob die Hand. „Look. What if – I swear to you no one’s gonna recognise you? That you can come with me and no one’s gonna know it’s you? Huh? Will you come then?”

Ich starrte ihn an. Er sah nicht aus, als würde er scherzen. Aber … „How can you promise that?“

„I’ll think of something. I swear. No one’s gonna know. Huh? Martin? Come on, you said you trusted me!”

“But …”

Sein Blick nagelte mich noch immer fest. Er meinte, was er sagte. Dass er dafür sorgen könne, dass beides ging – dass ich mit ihm auf den Ball gehen und trotzdem ein normaler Fußballprofi bleiben konnte. Aber … wie konnte das sein? Wie zur Hölle wollte er dieses Wunder wirken?

Ramin starrte mich an und stieß die Luft aus. Seine Hand fiel zurück auf seinen Oberschenkel und ballte sich zur Faust. „Look, Martin – you always deny yourself these things! Always, when we’re with people, you think about every fucking thing you do so you don’t ever slip up, so you never do ANYTHING that might make people wonder. No touching, no kissing – the way you hugged that guy tonight, you’d never DARE do that with me! I mean –“

Er fuhr sich durchs Haar, presste die Lippen aufeinander, ballte die andere Hand zur Faust und öffnete sie wieder. „All the time, you’re in this cage, locking yourself away! But don’t you think that sometimes, it’s you who gets hurt the most? Huh? That you’re not … protecting yourself, but robbing yourself? Of things that might be fun, of things that you really, really want to do? Look, I KNOW you want to go to the ball. I’ve seen you, I’ve seen you when we were dancing, I saw the look in your eyes just now, and I KNOW you want to go. So do it, Martin! Come on! Just this once, forget the cage and forget all the others and do what YOU want. I promise no one’s gonna know it’s you, so just this once, take the key and stop being afraid and GO! Just go! Don’t lock yourself away forever! It’s YOUR fucking life, you know, and football doesn’t have to be the only thing that’s in it!”

Stille. Ramin atmete schwer. Sein Haar war zerzaust, seine Wangen gerötet. Seine Augen funkelten.

Ich kauerte in meinem Sitz. Mein Mund war trocken, meine Finger in die Trainingshose gekrallt. Ich schaute ihn an, den Mann, den ich liebte, der mich verführt hatte und dann nicht weggestoßen, der auch zu mir gekommen war, der mich aufbauen konnte und zum Lachen bringen und zum Weinen und zum Nachdenken, der mir das Fliegen beigebracht hatte und der mich jetzt mitnehmen wollte, raus aus dem Simulator, zum ersten richtigen Flug, hinaus in die Welt. In die Freiheit. Forget the cage … take the key … it’s YOUR fucking life …

Ich versuchte zu schlucken. Vergeblich. Zittrig atmete ich ein, fuhr mir mit der Zunge über die Zähne und nahm einen zweiten Anlauf. No one’s gonna know it’s you … I promise …

Konnte es wirklich stimmen? Konnte ich wirklich gehen? Ausbrechen? Ohne, dass ich alles andere verlor?

Das Bild von Anzügen, Kleidern, Kronleuchtern und Musik blitzte wieder vor mir auf. Mein Magen tat einen Hüpfer. Aber gleichzeitig zog er sich zusammen. Das Risiko … Mit einem Mann zusammen auf einen Ball, als Paar … Und wenn es doch schiefging …

„But … what about Sierra?“ Vermutlich war es ein bescheuertes Gegenargument. Aber es war das einzige, das mir einfiel, bei dem Ramin mich nicht wieder für einen Feigling halten würde. „Won’t she mind? I mean, you said you were going to go with her –“

Ramin schnaubte. Mit einer Handbewegung wischte er meine Worte weg. „Sierra will be thrilled. I’m never gonna hear the fucking end of it. Look –“ Seine Hand schnellte nach vorne und packte meinen Oberarm. „Just say yes, Martin, all right? Just say yes. Please.”

Ein leichtes Schütteln. Seine Augen hielten meine. Seine Stimme war am Ende fast sanft gewesen.

Ich spürte den Druck seiner Finger durch die Trainingsjacke, die Wärme, die sich von dort ausbreitete. Sah das Dunkelbraun seiner Augen, das Funkeln tief in den Höhlen. Und in meinem Kopf sah ich noch ein anderes Funkeln. Das Funkeln von Kronleuchtern, das sich in Sektgläsern spiegelte.

Luft durchströmte meine Lunge, öffnete meinen Hals. „You promise you’ll make it safe?“

Sein Grinsen erleuchtete sein ganzes Gesicht. „I promise.“

Seine Hand lag immer noch um meinen Oberarm. Ich holte noch einmal Luft. „All right.“

 

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Referenzen:

 

„The Other Side“ – Song aus dem Musical “The Greatest Showman”. Songs von Benj Pasek und Justin Paul, Musik von John Debney und Joseph Trapanese, Story von Jenny Bicks (2017).

… und Teile der Äußerungen von Ramin in diesem Kapitel sind den Lyrics dieses Songs natürlich nicht zufällig so ähnlich ;)

 

Die Szene rund um die Gedankenrede „He gives a shit“ ist inspiriert und frei adaptiert von der amerikanischen Version der TV-Serie „Queer as Folk“, Season 1, Episode 16, „French Fried“. Drehbuch von Jason Schafer, Ron Cowen und Daniel Lipman, Regie von Jeremy Podeswa.

Chapter 35: The Other Side - D

Chapter Text

  1. Kapitel: The Other Side

 

„Und hier ist die Aufstellung unseres HSV! Im Tor mit der Nummer 15, René …“

„ADLER!“

„Mit der Nummer 4, Emir …“

„SPAHIC!“

„Mit der 5, unser Kapitän, Johan …“

„DJOUROU!“

„Mit der 6, Martin …“

„BRANT!“

„Die 7, Ivo …“

„ILICEVIC!“

„Mit der 8, Lewis …“

„HOLTBY!“

„Die 10, Pierre-Michel …“

„LASOGGA!“

„Mit der 22, Matthias …“

„OSTRZOLEK!“

„Mit der 24, Gotoku …“

„SAKAI!“

„Unsere Nummer 27, Nicolai …“

„MÜLLER!“

„Und mit der 28, Gideon …“

„JUNG!“

„Auf der Bank heute mit der Nummer 1, Jaroslav Drobny, mit der 3, Cleber, mit der 9, Sven Schipplock, mit der 11, Ivica Olic, mit der 17, Zoltan Stieber, mit der 23, Michael Gregoritsch und mit der 40, Gojko Kacar. Unser Trainer heißt Bruno …“

„LABBADIA!“

Die Verkündung der Aufstellung durch Stadionsprecher Lotto und die donnernden Antworten der über 50.000 Fans drangen mühelos in die Mixed Zone hinein. Ich lockerte die Schultern, bewegte den Kopf hin und her und nahm tiefe, langsame Atemzüge. Es roch nach Rasen und Kälte und Flutlicht. Nach einem Gänsehaut-Spiel.

Ich schaute nach links, auf die elf Spieler in Gelb, die neben uns in einer Reihe aufgebaut waren. Ganz vorne stand Innenverteidiger und Kapitän Mats Hummels, direkt neben mir Achter Ilkay Gündogan, und hinter Gündogan nacheinander der zweite Achter Shinji Kagawa, die Flügelspieler Henrikh Mkhitaryan und Marco Reus und Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang. Alle entweder blitzschnell, technisch brillant, mit herausragendem Spielverständnis oder alles zusammen. Das war die Offensive von Borussia Dortmund, des souveränen Tabellenzweiten, und sie waren gekommen, um heute Abend zum Auftakt des dreizehnten Spieltags unseren Volkspark zu erobern.

Ich ballte die freie Hand zur Faust und entspannte sie wieder. Mein Blick wandte sich von der BVB-Mannschaft ab und konzentrierte sich auf Gidis breiten Rücken, der mir nach vorne jegliche Sicht versperrte. Meine Zunge fuhr meine Zähne entlang. Es war Freitagabend, Flutlicht, das Stadion war ausverkauft, und auf der Haupttribüne saß Ramin. Es war egal, dass die Spieler links von mir bisher aus zwölf Partien neun Siege geholt hatten, egal, dass sie dabei mit fünfunddreißig Toren die zweitbeste Offensive der Liga stellten. Heute würde es kein Vorbeikommen für sie geben.

Die Einlaufmusik ertönte. An der Spitze der Schlangen setzte sich Schiedsrichter Felix Zwayer in Bewegung. Ich atmete ein letztes Mal durch, lächelte das braungelockte Mädchen an, das mit leuchtenden Augen zu mir aufsah und meine Finger mit einer kleinen, heißen Hand umklammert hielt, und trat aus dem Halbdunkel des Spielertunnels in das Meer aus gleißendem Licht, ohrenbetäubender Musik und Gesängen und wehenden Fahnen und Schals.

Aber als wir uns nach der Platzwahl am Mittelkreis aufstellten und Lotto das Stadion bat, sich für die Schweigeminute, die es an diesem Spieltag in jedem Stadion geben würde, zu erheben, verschwanden Lichter und Luft und Lärm noch einmal aus meinem Kopf. Den einen Arm um Lewis‘ Schultern, den anderen um Gidis Rücken gelegt, stand ich inmitten der vollkommenen Stille von 57.000 Fans. Meine Augen blickten in den Hamburger Nachthimmel, aber blau-schwarze Dunkelheit und hier und da ein weißer Wolkenfetzen waren nicht das, was ich sah.

Eine Woche. Genau eine Woche war es her, dass ich abends mit Finn vor dem Fernseher gesessen hatte, und eigentlich hatten wir nur ein Fußballspiel sehen wollen und vielleicht ein bisschen davon träumen, selbst auch mal in der Nationalmannschaft zu spielen, so wie Gündogan und Hummels, die jetzt Arm in Arm mit ihren Teamkollegen mir gegenüber an der anderen Seite des Mittelkreises standen. Sie waren dabei gewesen, vor einer Woche beim Freundschaftsspiel gegen Frankreich. In Paris. Sie hatten es auf dem Feld gehört, das Knallen, von dem auch wir auf dem Sofa zusammengezuckt waren, das viel zu laut gewesen war für Pyro. Und dann waren nach und nach die Informationen durchgesickert: Terroranschläge, Tote und Verletzte.

Blicklos starrte ich in den Nachthimmel. Kühle Luft strömte durch meine Kehle, und trotz des langen Unterziehshirts fröstelte ich. Wie diese Menschen den Abend wohl erlebt hatten. In den Bars, im Konzertsaal. Sie waren gegangen für Musik und Tanz und Kultur und Spaß. Für Freiheit. Und gefunden hatten sie Gewalt und Tod. Ich schauderte und schloss die Augen. Bitte, lass die Verletzten gesund werden und diejenigen, die geliebte Menschen verloren haben, irgendwie Kraft und Trost finden. Lass sie trauern, und lass sie heilen. Lass sie vor allem bitte, bitte nicht allein sein. Lass niemanden, der betroffen ist, allein sein.

Ich wusste nicht, an wen ich die stummen Worte richtete. An einen Gott glaubte ich nicht. Aber ab und an, selten, gab es Momente, in denen ich etwas anflehen musste, das größer war als ich selbst.

„Vielen Dank.“

Lottos ernste Stimme hob den Schleier. Die 57.000 erwachten wieder zum Leben, und sowohl aus der Gästekurve als auch von der Nordtribüne schallten Gesänge und Anfeuerungsrufe. Ich öffnete die Augen, atmete durch, fuhr herum und zog einen kurzen Sprint an, bevor ich mich wieder umwandte, meine Position einnahm und mit dem Blick auf den Mittelkreis Lassos und Lewis‘ Anstoß erwartete.

 

*

 

Noch nie war ich die Treppen zum VIP-Bereich so schwungvoll hinaufgestiegen wie heute. Über beide Ohren grinsend nahm ich von allen Seiten Glückwünsche entgegen, schüttelte Hände, ließ mir auf die Schulter klopfen und erwiderte Lob mit einem breiten Lachen. Heute hatten wir uns das verdient. Selten hatten wir so überragend gespielt.

Diesmal musste ich nicht nach Ramin suchen. Er stand schon bereit, gleich neben der Tür an die Wand gelehnt. Als ich die Lounge betrat, verzogen seine Lippen sich zu einem breiten Grinsen. In zwei Schritten war er bei mir, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er würde mich küssen. Aber er blieb stehen, die Reisetasche über der Schulter, und stieß mir nur leicht mit der Faust gegen die Brust. „Das war ein tolles Spiel. Noch besser als letztes Mal. Es war super. Du warst super.“

Das Feuer in seinen Augen loderte so hell, dass mir von Kopf bis Fuß heiß wurde. Ich lachte. „Danke! Es hat sich auf dem Platz auch so angefühlt. Heute wars einfach – perfekt.“

Ich sah ihn Luft holen, innehalten. Er legte die Lippen aufeinander und lächelte. Seine Augen prasselten. Lass es uns noch perfekter machen, las ich darin. Ob das genau die Worte waren, die er gerade nicht ausgesprochen hatte?

Ich strahlte und ruckte den Kopf in Richtung Ausgang. „Komm. Lass uns gehen.“

Diesmal war noch etwas mehr los. Ich schlängelte mich an Männern in Anzügen, Frauen in engen Jeans oder Röcken und Spielern in Trainingsanzügen vorbei und erwiderte hier und da einen Gruß oder eine Verabschiedung, aber ich blieb nicht stehen. Ramin folgte mir wie ein Schatten. Auf dem Weg nach unten zum Parkplatz sog ich die herrlich kühle Luft ein, legte den Kopf in den Nacken und lachte. Am Fuß der Treppe angekommen, wollte ich mich gerade zu Ramin umdrehen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und gleich darauf meinen Namen hörte. „Martin!“

„Gidi!“

Er stand am Kofferraum seines Autos, das direkt neben meinem geparkt war, seine Hände schon sporttaschenfrei. Er war allein, und genau wie ich strahlte er von einem Ohr zum anderen. Ich ging zu ihm hinüber, Ramin hinter mir. Ich hatte Gidi nichts von meinem Besuch erzählt, aber es war kein Problem, dass er es jetzt doch mitbekam. Viele Jungs brachten ab und an verschiedene oder auch immer wieder die gleichen Freunde mit zu Spielen. Dass Ramin meinetwegen hier war, würde Gidi nicht zu irgendwelchen Schlüssen verleiten.

Hinter meinem Auto ließ ich die Sporttasche auf den Boden gleiten und schlug meine Hand in Gidis dargebotene Rechte. „Denen haben wir’s gezeigt, was? Die machen vier Tore gegen Gladbach, Ingolstadt und Hannover, fünf gegen Augsburg, und haben den Derbysieg gegen Schalke im Rücken –“

„– und heute gehen sie unter!“ Gidis linke Hand landete krachend auf meiner Schulter, und ich boxte ihm genauso vor die Brust, wie Ramin es gerade bei mir getan hatte.

„Wie du den Kagawa im Griff hattest –“

„Wie du den Reus abgegrätscht hast –“

„Der Gündogan konnte nicht einen Pass spielen –“

„Die hatten keine Chance gegen uns!“

Wir lachten, hielten uns aneinander fest und wären doch beinahe umgekippt. Ich fühlte mich betrunken. Es war November, es war nach 23 Uhr, wir hatten gerade vor 57.000 Zuschauern in einem Flutlichtspiel die Stars von Borussia Dortmund mit drei zu eins besiegt, Gidi und ich hatten zusammen vor der Abwehr alles aufgeräumt und selber Akzente in der Offensive gesetzt, und jetzt würde ich gleich mit Ramin nach Hause fahren. Ach ja, Ramin …

„Oh, ja, Gidi.“ Ich löste die Hand aus seiner Lederjacke und gestikulierte, immer noch breit grinsend, in seine Richtung. Er stand zwei Schritte entfernt von uns neben meiner Sporttasche. „Das ist Ramin, ein Freund von mir. Aus London.“

Gidi machte einen Schritt auf ihn zu, hielt ihm grinsend seine große, feingliedrige Hand hin und wechselte ebenfalls ins Englische. „Hi, Ramin. Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Gidi.“

„Hi.“ Er ergriff Gidis Hand. Seine Augen wanderten über ihn hinweg, von raspelkurzen schwarzen Locken über Lederjacke und Ripped Jeans bis zu weißen Sneakern. Obwohl Ramin größer als ich war, war er immer noch kleiner als Gidi.

Ich sah ihn an, wie er dastand, schwarzhaarig in schwarzer Kleidung im Dunkel der Hamburger Nacht, und spürte ein heftiges Ziehen im Bauch. „Wir fahren dann mal besser. Ramin ist heute erst angekommen. Tschüss, Gidi!“

„Tschüss, bis morgen!”

Wir tauschten ein letztes Grinsen, dann stieg Gidi in sein Auto, setzte zurück und fuhr davon. Ich öffnete den Kofferraum und schmiss meine Sporttasche hinein. Ramin ließ seine Reisetasche etwas langsamer daneben gleiten. Mit einem Rumms schlug ich die Klappe zu und stieg ein. Als Ramin ebenfalls saß, startete ich den Motor.

Auf dem Weg vom Parkplatz und übers Stadiongelände schwieg Ramin. Erst als wir die Straße erreicht hatten und ich beschleunigte, sprach er. „Kumpel von dir?“

„Ja. Ein sehr guter.“ Ich setzte den Blinker links, verrenkte den Hals nach Fahrradfahrern und bog ab. „Warum?“

„Ach, nichts.“ Sein Ton war irgendwie komisch. Wieder schwieg er einen Moment. Dann setzte er abrupt hinterher: „Hat der nicht auch gespielt, als ich das letzte Mal hier war?“

„Ja. Direkt neben mir, genau wie heute. Und er ist auch nur ein Jahr älter als ich. Aber unser Trainer vertraut uns. Und es wird immer besser. Wir sind ein super Team. Ich liebe es, neben ihm zu spielen.“

„Ja, ich hab mir gedacht, dass der mir bekannt vorkommt.“

Er schwieg. Die Straße, die ich entlangfuhr, war fast völlig leer, auch auf dem Bürgersteig waren nur noch ganz vereinzelte Fans unterwegs. Ich warf einen schnellen Blick nach rechts. Ramins Lippen waren zusammengepresst, er schaute geradeaus, und auf seinem Oberschenkel flatterte sein rechter Daumen, auf und ab und auf und ab.

„Was ist denn los?“

„Nichts.” Er klang bissig wie ein eingesperrter Hund.

Meine Stirn hatte sich gefurcht, und ich holte Luft, um nachzubohren, da zerschnitt seine Stimme messerscharf die Luft. „Er sieht echt gut aus, oder?“

Mein Kopf fuhr so schnell herum, dass meine Wirbel knackten. Ein paar Sekunden starrte ich ihn mit offenem Mund an. Er konnte doch nicht ernsthaft vorhaben, Gidi demnächst in sein Bett zu kriegen? Und dafür jetzt von mir hören wollen, ob Gidi dafür offen sein würde? Jetzt, nach fast fünf Monaten, nach dem Tanzen und seinem ersten Besuch und Sierra und allem?

Ich blinzelte, sah durch das Fenster hinter Ramin Bäume und Häuser vorbeiziehen und wurde mir bewusst, dass ich immer noch mit fast fünfzig Stundenkilometern am Straßenverkehr teilnahm. Ich riss den Kopf herum, sah vor mir eine rote Ampel und haute auf die Bremse. Mit einem Ruck und quietschenden Reifen kamen wir zum Stehen.

Das Gummi der Räder war nicht das Einzige, das heißgelaufen war. Mein Gesicht brannte, und meine Finger hatten sich so fest ums Lenkrad gekrallt, dass meine Knöchel weiß hervortraten. So viel zu wir sind mehr als Sex. Hatte Finn etwa doch die ganze Zeit Recht gehabt? Das mit der Schlange war dann wohl wirklich die Wahrheit gewesen.

Ich starrte Ramin an. Wenn er mir wenigstens ins Gesicht sehen würde, dann könnte ich ihn besser anbrüllen. Aber er schaute immer noch geradeaus, locker, entspannt, gleichgültig, als würde er sich überhaupt nichts dabei denken. Als wäre es für ihn völlig normal, sich von einem seiner tausenden Sexobjekte direkt Informationen über das nächste abzuholen. Ich presste die Lippen aufeinander, und während ich die Luft einsog, um genug Atem für meinen Wutausbruch zu haben, glitten meine Augen nach unten. Ich stockte.

Ramins Hände lagen auf seinen Oberschenkeln. Aber nein, das war falsch. Sie lagen nicht. Sie klammerten sich daran. Die Finger der linken Hand hatten sich so tief in seine Jeans gegraben, dass es wehtun musste, und seine rechte war nur deshalb nicht so verkrampft, damit der Daumen Platz hatte, sich zu bewegen. Er flog auf und ab und auf und ab, so schnell, dass ich mit den Augen fast nicht folgen konnte. Seine restlichen Finger sahen so steif und angespannt aus, als ob sie bei der kleinsten Berührung brechen müssten. Von Lockerheit – keine Spur.

Schämte er sich? Hatte er wenigstens genug Anstand, sich bewusst zu sein, wie sich das Ganze für mich anfühlte? Bohrte er sich deshalb Löcher in die Oberschenkel, waren seine Lippen deshalb so schmal, konnte er mir deshalb nicht in die Augen schauen? Oder … war meine ganze Erklärung für seine Frage … falsch? Und zwar so falsch, dass …

Mein Blick schnellte hoch. Ramin starrte immer noch durch die Windschutzscheibe. Nicht nur seine Lippen, auch seine Augen waren verengt. Locker, entspannt … Wie hatte ich das nur glauben können? Ich hatte noch nie jemanden so unentspannt gesehen. Und – Konnte das wirklich wahr sein? – wenn mich nicht alles täuschte, war der Grund für seine Anspannung – Angst. Angst vor meiner Reaktion.

Ein paar Sekunden kriegte ich kein Wort heraus. Obwohl ich doch noch eingeatmet hatte, fühlte sich meine Lunge an, als wäre unser Mannschaftsbus darübergefahren. „Ramin … bist du … eifersüchtig?“

Sein Mundwinkel zuckte. Sein Blick glitt zu mir und sofort wieder weg. „Es ist grün.“

„Scheiß auf die Ampel!* BIST DU EIFERSÜCHTIG?“

Er stieß die Luft aus und wirbelte herum. „Na, er grabscht dich ständig an! Beim letzten Spiel, und heute, und grade eben … Er kann seine verdammten Finger einfach nicht bei sich behalten!“

Seine Augen blitzten. Ich saß mit offenem Mund da. Träumte ich? Würde ich gleich aufwachen und feststellen, dass es noch Morgen war? Dass wir noch nicht gespielt hatten und Ramin noch nicht hier war?

Ramin blinzelte und presste die Lippen zusammen. Seine Augen zuckten weg. Flohen sie etwa? Und – war das das Licht der Straßenlaternen, oder liefen seine Wangen wirklich rot an?

Mit einem Ruck kehrte sein Blick zu mir zurück. „Und ich sage dir, er ist nicht der Einzige! Ich meine, wie ihr euch alle gegenseitig anschmachtet, das Abklatschen und das Umarmen und das Einander-auf-den-Rücken-Springen und das Trikottauschen und was sonst noch … Weißt du, für eine Truppe ach so heterosexueller Typen seid ihr insgesamt ein ganz schön kuscheliger Haufen!“

Sein Kopf flog wieder herum, und er presste Rücken und Hinterkopf gegen die Lehne und starrte geradeaus. Seine Finger malträtierten noch immer seine Oberschenkel.

Hinter uns hupte es. Ich rührte mich nicht. Es war, als wäre ich gerade bei einem Kopfballduell mit voller Wucht mit meinem Gegner zusammengeknallt. Nur zwei Dinge drangen zu mir durch: Ramin war der Meinung, dass ich viel Körperkontakt zu meinen Mitspielern hatte. Und es gefiel ihm nicht.

„Du BIST eifersüchtig!“ Der Klang meiner eigenen Stimme riss meinen Körper aus seiner Starre. Plötzlich spürte ich wieder die rauen Lenkradgriffe unter den Fingern, das Bremspedal unterm rechten Fuß, den Sitz am Rücken, den Gurt über der linken Schulter. Meine Mundwinkel schossen nach oben, und ich lachte. „Bist du wirklich! Du bist eifersüchtig!“

Hinter uns hupte es wieder. Einmal, zweimal, langgezogen und dröhnend. Ich drehte den Kopf nach vorne, nahm den Fuß vom Bremspedal, fuhr an, und lachte und lachte und lachte.

„Ja, ja, ist ja gut. Halt den Mund, okay?”

Ich sah zu ihm herüber und schüttelte den Kopf. Seine Züge waren immer noch angespannt, aber seine Lippen waren nicht mehr ganz so fest aufeinandergepresst. Sein linker Mundwinkel zuckte. Ich schaute noch einen Herzschlag länger hin. Seine Wangen waren immer noch von einem Hauch Röte überzogen.

Ich richtete den Blick wieder auf die Straße, setzte den Blinker rechts und bog ab. Langsam kriegte ich das Lachen unter Kontrolle, aber nicht das Grinsen. Jetzt waren wir völlig allein in ruhigen Seitenstraßen unterwegs, und ich blinzelte und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Es war fast Mitternacht, aber in mir drin strahlte die Sonne. Es ist ihm nicht egal, tönte es durch meinen Kopf. Es ist ihm nicht egal, es ist ihm nicht egal. Es ist Ramin Karimloo nicht egal!

Ich spürte seinen Blick und biss mir auf die Unterlippe, um nicht wieder in Gelächter auszubrechen. Meine Hände umklammerten das Lenkrad. Die Griffe waren kalt und rissig. Ich wollte jetzt nicht Auto fahren. Ich wollte nicht auf die Straße schauen. Ich wollte Ramin anschauen, ihn fühlen, ihm die Hände um den Nacken legen und mich auf die Zehenspitzen stellen und ihn zu mir herunterziehen und ihn küssen, ihn schmecken und riechen und lieben. Gleich. Gleich sind wir zu Hause.

„Oh, ja, bevor ichs vergesse.“ Ramins Ton war angestrengt locker. Ich biss mir noch fester auf die Lippe. „Ich soll dich von Sierra grüßen. Alles Liebe, sagt sie.“

„Alles Liebe zurück!” Ich strahlte, während ich den Rückwärtsgang zum Parken einlegte. „Wie gehts ihr?“

„Hervorragend, und sie will unbedingt wissen, wann du wieder nach London kommen kannst.“

Mit verrenktem Nacken schüttelte ich den Kopf. „Nicht vor dem Ende der Hinrunde. Bis dahin gibt’s keine Pause mehr, da komm ich auf keinen Fall mehr weg. Aber ich könnte nach dem letzten Spiel rüberkommen. Am zwanzigsten Dezember?“ Ich stellte den Hebel auf P und schaltete den Motor ab.

Ramin nickte. „Klingt gut. Über die Weihnachtstage kannst du aber nicht bleiben. Ich fliege am vierundzwanzigsten rüber nach Kanada.“

„Kein Problem.“ Ich spürte einen kleinen Stich im Magen, aber nur ganz schwach. Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass Ramin und ich Weihnachten zusammen verbringen würden. Wenn er es doch vorgeschlagen hätte, hätte ich mich zwar wahnsinnig gefreut, aber ich hätte mich fast genauso so sehr gefürchtet. Wir hätten die Weihnachtsfeiertage ja schlecht genauso verbringen können wie unsere bisherige Zeit zusammen – mit Musik, Tanzen und Sex. Oder? Ich verkniff mir ein nervöses Grinsen. Ne, ne. Ich würde mit Finn feiern, ganz entspannt. Und dann … vielleicht … Ramin und ich … nächstes Jahr?

Ich sah hinauf in seine Augen. Im fahlen Licht der Autolampe wirkten sie fast schwarz. Ich hatte mich immer einen Idioten genannt, wenn ich das gedacht hatte. Aber hätte ich das nicht auch getan, wenn ich mir vorgestellt hätte, dass Ramin eifersüchtig werden würde, weil Gidi und ich uns beim Torjubel umarmt hatten?

Ich presste die Lippen zusammen und versuchte, meine Mundwinkel daran zu hindern, schon wieder auszubrechen. „Ich flieg dann einfach auch am vierundzwanzigsten nach Hamburg zurück.“

Ramin runzelte die Stirn. Wieder wurden seine Lippen schmal. „Nein. Ich denke, du solltest besser am dreiundzwanzigsten schon gehen.“

Auch meine Stirn legte sich in Falten. Eine Nacht auslassen? Eine Nacht Sex, eine Nacht … wir? „Wieso? Musst du packen? Das dauert doch bestimmt nicht den ganzen Tag, und ich kann dir sonst auch gerne helfen!“

Er zog einen Mundwinkel hoch. „Ne, das ist es nicht. Aber … an dem Abend hab ich schon was vor.“

Wieder ein Stich. Heftiger, tiefer. „Schon was vor? Aber … was denn?“ WEN denn?, korrigierte eine grausame Stimme in meinem Kopf. Mein Unterkiefer versteifte sich.

Ramins Augen ließen mich nicht los. Einen Moment war es vollkommen still. Dann atmete er aus. „Tanzen. Am dreiundzwanzigsten Dezember ist einer der größten Bälle des Jahres, und ich geh da immer hin. Du wirst dich allein bei mir langweilen.“

Ich starrte ihn an. Ein Ball … ein richtiger Ball mit Abendkleidung und Kronleuchtern und Liveband und allem …

„Kann ich nicht mitkommen?“ Meine Stimme hallte durchs Auto. So laut hatte ich gar nicht sprechen wollen. Der Satz war einfach aus mir herausgebrochen.

Ramins Augen verengten sich. „Du willst auf den Ball mitkommen?”

„Ja!” Ich hatte mich kerzengerade aufgerichtet. Jetzt konnte ich Ramin fast gerade in die Augen schauen. „Ich meine, ich weiß, dass ich nicht annähernd so gut tanze wie du, aber ich üb ja fleißig, und ich bin sicher, dass, wenn du führst …“

Er schüttelte den Kopf, den Hauch eines Lächelns auf den Lippen. „Das mein ich nicht.“

„Was denn dann?“ Ein Gedanke schlug wie ein Blitz ein. Ich schluckte, blinzelte und zwang meine Zunge, sich zu bewegen. „Gehst du – gehst du mit jemand anderem hin?“

„Na ja, Sierra, aber –“ Er starrte mich an, als könne er nicht glauben, was hier gerade passierte. Ich dagegen fühlte mich, als sei mir ein Gebirge von den Schultern gewuchtet worden. Es gab also keinen anderen. Gottseidank.

„Martin – du willst wirklich mit mir auf einen Ball gehen? Als mein Partner?“

„Ja!”

„Vor Hunderten von Leuten?”

„Oh …”

Die Festhalle, die Kronleuchter, die tanzenden Menschen, die Musik – alles zerplatzte. Übrig blieb nur das Auto. Ich sah Ramin an, die schwarzen Tiefen seiner Augen, und mein Magen fühlte sich an, als würde er fallen, durch mich hindurch und durch das Auto und den Asphalt und die Erde, tiefer und tiefer, als hätte Ramins Frage einen tonnenschweren Anker daran gehängt.

Ich hatte es vergessen. Für ein paar Sekunden hatte ich es vergessen. Für ein paar Sekunden war ich einfach ein neunzehnjähriger Junge gewesen, der sich darauf gefreut hatte, mit seinem Partner auf einen Ball zu gehen. Jetzt war ich wieder ein Fußballprofi. Ein schwuler Fußballprofi.

Ich schluckte. Aus Ramins Augen schälten sich Bilder heraus, Bilder von heute Abend, vom Volksparkstadion. Vollbesetzte Ränge, Fahnen, Schals, Gesänge, die Siegesfeier. Das Echo hörte sich hohl an. Fast höhnisch. Ein bitterer Geschmack stieg in meiner Kehle auf. „Ja … stimmt. Ich … scheiße. Ja. Du hast recht. Ich … ich kann nicht.“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Blicklos starrte ich auf den Schalthebel.

„Ich nehm dich mit.“ Meine Augen zuckten hoch. Ramin sah mich an. „Wenn du wirklich hingehen willst, nehm ich dich mit.“

„Ich …“ Ich starrte in seine Augen. Er hatte sich leicht nach vorn gelehnt, sodass das Licht direkt auf sein Gesicht fiel und sie so braun aussehen ließ wie immer. Mein Magen musste in meinen Bauch zurückgekehrt sein, denn jetzt fühlte es sich an, als hätte jemand seine Faust darum geschlossen und versuchte mit aller Macht, ihn herauszureißen. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so sehr gewollt, wie mit Ramin auf diesen Ball zu gehen. „Ich kann nicht, Ramin. Ich … will ja, glaub mir, aber … ich … wenn mich jemand erkennt …“

Seine Lippen wurden schmaler. Er blinzelte, atmete aus. „Das ist ein Ball in London, weißt du. Ich meine, die Leute, die sich überhaupt für Fußball interessieren, werden sich für die Premier League und die englische Nationalmannschaft interessieren. Wahrscheinlich kennt niemand überhaupt den Namen von deinem Verein, geschweige denn deinen.“

„Sie kennen bestimmt den Namen von meinem Verein.” Schließlich spielte ich beim HSV, nicht bei Hoffenheim oder Ingolstadt. „Und – auch wenn du bei den meisten recht hast … Einer reicht ja. Weißt du? Und ich – ich kann einfach nicht – Ich will nicht –“

Ich konnte keine Worte mehr zusammenkratzen. Ramin schnaubte, und sein Blick irrte über die dunklen Konturen um uns herum. „Da unten bist du anders, weißt du.“

Da unten war der Fußballplatz. Aber verstanden hatte ich ihn trotzdem nicht. „Was meinst du?“

„Da unten hast du – keine Angst.“

Ich blinzelte. Das klang ja, als würde er mich für einen Feigling halten. „Ich hab hier auch keine Angst!“

„Dann geh mit mir auf den Ball! Wenn du wirklich keine Angst hast, geh mit mir auf den Ball!“

„Ich – Ramin, ich will ja, ich –“ Ich musste mich zwingen, nicht zurückzuweichen. Das Feuer in seinen Augen loderte so hell, dass ich das Gefühl hatte, mich jeden Moment zu verbrennen. Ich schluckte und holte Luft. „Ich würde so gerne hingehen. Würde ich wirklich, glaub mir, du hast ja keine Ahnung, wie gern. Aber – Ich will einfach – Das Risiko wäre so hoch, es –“

Mit den Augen bettelte ich weiter, flehte ihn an, zu verstehen, mich nicht für feige zu halten, mich nicht zu drängen, mich nicht weiter zu zwingen zu Worten, die mir die Kehle abschnürten, nicht darauf zu bestehen, dass ich ein Nein erklärte, das ich doch überhaupt nicht geben wollte, für das ich nicht verantwortlich war.

Ramins Augen durchleuchteten mich. Er stieß die Luft aus und hob die Hand. „Okay. Was, wenn – ich dir verspreche, dass dich niemand erkennt? Dass du mit mir hingehen kannst und niemand weiß, dass du es bist? Na? Gehst du dann hin?“

Ich starrte ihn an. Er sah nicht aus, als würde er scherzen. Aber … „Wie willst du das denn versprechen können?“

„Mir fällt schon was ein. Versprochen. Niemand wird es wissen. Na? Martin? Komm schon, du hast gesagt, du vertraust mir!“

„Aber …”

Sein Blick nagelte mich noch immer fest. Er meinte, was er sagte. Dass er dafür sorgen könne, dass beides ging – dass ich mit ihm auf den Ball gehen und trotzdem ein normaler Fußballprofi bleiben konnte. Aber … wie konnte das sein? Wie zur Hölle wollte er dieses Wunder wirken?

Ramin starrte mich an und stieß die Luft aus. Seine Hand fiel zurück auf seinen Oberschenkel und ballte sich zur Faust. „Schau, Martin – immer versagst du dir solche Sachen! Immer, wenn wir unter Leuten sind, denkst du über verdammt noch mal alles nach, was du tust, damit du nie was Falsches machst, damit du nie IRGENDWAS machst, was die Leute vielleicht stutzig macht. Nicht anfassen, nicht küssen – wie du diesen Typ heute umarmt hast, das würdest du mit mir nie WAGEN! Ich meine –“

Er fuhr sich durchs Haar, presste die Lippen aufeinander, ballte die andere Hand zur Faust und öffnete sie wieder. „Du bist ständig in diesem Käfig und sperrst dich selber ein! Aber meinst du nicht, dass manchmal du derjenige bist, den das am meisten verletzt? Hm? Dass du dich nicht … schützt, sondern beraubst? An Sachen, die vielleicht Spaß machen könnten, an Sachen, die du wirklich, wirklich machen willst? Schau, ich WEISS, dass du auf den Ball gehen willst. Ich hab dich doch gesehen, ich hab dich gesehen, wenn wir tanzen, ich hab jetzt grade deinen Blick gesehen, und ich WEISS, dass du hingehen willst. Also machs einfach, Martin! Komm schon! Nur dieses eine Mal, vergiss den Käfig und vergiss alle anderen und mach, was DU willst. Ich verspreche dir, dass niemand wissen wird, dass du es bist, also nimm nur dieses eine Mal den Schlüssel und hör auf, Angst zu haben, und GEH HIN! Geh einfach hin! Sperr dich nicht für immer ein! Es ist DEIN verdammtes Leben, weißt du, und Fußball muss nicht der einzige Inhalt sein!“

Stille. Ramin atmete schwer. Sein Haar war zerzaust, seine Wangen gerötet. Seine Augen funkelten.

Ich kauerte in meinem Sitz. Mein Mund war trocken, meine Finger in die Trainingshose gekrallt. Ich schaute ihn an, den Mann, den ich liebte, der mich verführt hatte und dann nicht weggestoßen, der auch zu mir gekommen war, der mich aufbauen konnte und zum Lachen bringen und zum Weinen und zum Nachdenken, der mir das Fliegen beigebracht hatte und der mich jetzt mitnehmen wollte, raus aus dem Simulator, zum ersten richtigen Flug, hinaus in die Welt. In die Freiheit. Vergiss den Käfig … nimm den Schlüssel … es ist DEIN verdammtes Leben …

Ich versuchte zu schlucken. Vergeblich. Zittrig atmete ich ein, fuhr mir mit der Zunge über die Zähne und nahm einen zweiten Anlauf. Niemand wird wissen, dass du es bist … versprochen …

Konnte es wirklich stimmen? Konnte ich wirklich gehen? Ausbrechen? Ohne, dass ich alles andere verlor?

Das Bild von Anzügen, Kleidern, Kronleuchtern und Musik blitzte wieder vor mir auf. Mein Magen tat einen Hüpfer. Aber gleichzeitig zog er sich zusammen. Das Risiko … Mit einem Mann zusammen auf einen Ball, als Paar … Und wenn es doch schiefging …

„Aber … was ist mit Sierra?“ Vermutlich war es ein bescheuertes Gegenargument. Aber es war das einzige, das mir einfiel, bei dem Ramin mich nicht wieder für einen Feigling halten würde. „Wird sie nicht sauer sein? Ich meine, du hast doch gesagt, dass du mit ihr hingehst –“

Ramin schnaubte. Mit einer Handbewegung wischte er meine Worte weg. „Sierra wird überglücklich sein. Das werd ich mir bis an mein verdammtes Lebensende anhören müssen. Schau –“ Seine Hand schnellte nach vorne und packte meinen Oberarm. „Sag einfach Ja, Martin, okay? Sag einfach Ja. Bitte.“

Ein leichtes Schütteln. Seine Augen hielten meine. Seine Stimme war am Ende fast sanft gewesen.

Ich spürte den Druck seiner Finger durch die Trainingsjacke, die Wärme, die sich von dort ausbreitete. Sah das Dunkelbraun seiner Augen, das Funkeln tief in den Höhlen. Und in meinem Kopf sah ich noch ein anderes Funkeln. Das Funkeln von Kronleuchtern, das sich in Sektgläsern spiegelte.

Luft durchströmte meine Lunge, öffnete meinen Hals. „Versprochen, dass du dafür sorgst, dass es sicher ist?“

Sein Grinsen erleuchtete sein ganzes Gesicht. „Versprochen.“

Seine Hand lag immer noch um meinen Oberarm. Ich holte noch einmal Luft. „Okay.“

 

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Referenzen:

 

„The Other Side“ – Song aus dem Musical “The Greatest Showman”. Songs von Benj Pasek und Justin Paul, Musik von John Debney und Joseph Trapanese, Story von Jenny Bicks (2017).

… und Teile der Äußerungen von Ramin in diesem Kapitel sind den Lyrics dieses Songs natürlich nicht zufällig so ähnlich ;)

 

Die Szene rund um die Gedankenrede „Es ist ihm nicht egal“ ist inspiriert und frei adaptiert von der amerikanischen Version der TV-Serie „Queer as Folk“, Season 1, Episode 16, „French Fried“. Drehbuch von Jason Schafer, Ron Cowen und Daniel Lipman, Regie von Jeremy Podeswa. Originalversion „You give a shit“, in der Serie übersetzt mit „Ich bin dir nicht egal“.

 

*Hier ist keine politische Aussage intendiert ;)

Chapter 36: A Kind of Magic

Chapter Text

  1. Kapitel: A Kind of Magic

 

„You’re kidding!“ Mit offenem Mund starrte ich Ramin an. Ich stand in der Schlafzimmertür, er am Fußende des Bettes neben dem zurückgezogenen Vorhang, der normalerweise seinen Kleiderschrank verdeckte. Er hatte in einem der unzähligen Fächer gewühlt, und jetzt hielt er mir mit hochgezogenen Augenbrauen hin, was er zutage gefördert hatte.

„What? I told you I’d make it work. I promise nobody’s gonna recognise you in this.”

“But …” Mein Blick wechselte zwischen Ramins Händen hin und her. In der rechten hielt er eine Brille mit braungoldenem Rand und rechteckigen Gläsern. Von der linken baumelte eine Perücke mit kurzem, blondem Haar.

Ich schluckte. „You … you really want me to go like that? I mean …”

Ich wusste selbst nicht, was mich so störte. Ich hatte keine genaue Vorstellung davon gehabt, wie Ramin es schaffen würde, sein Versprechen zu halten. Und die Lösung, die er mir da hinhielt, war vermutlich ziemlich gut. Eine Gruppe Menschen, die überhaupt keine Verbindung zu Hamburg oder zu Fußball hatte, mein Status als immer noch höchstens mittelmäßig bekanntes Talent, und dann noch mit Brille und anderer Haarfarbe … Wenn ich mich mit Ramin als Paar in der Öffentlichkeit zeigen wollte, ging es wohl kaum sicherer. Eigentlich müsste ich ihm jubelnd um den Hals fallen. Stattdessen zog sich mein Magen zusammen. Wollte ich wirklich so auf diesen Ball gehen? Mit Brille und blondem Haar? So … unecht? Fast gelogen?

Ramin stöhnte. „Of course I don’t want you to go like that! You’re the one who’s too fucking scared to go without it, aren’t you?”

Ein Stich fuhr durch meinen verknoteten Magen. Ich presste die Lippen aufeinander.

Ramin sah mir einen Moment in die Augen und seufzte. „I’m sorry. Look. Just – forget it, okay?” Er kam einen Schritt auf mich zu und nahm die Brille in die linke Hand, sodass er mir die rechte auf den Arm legen konnte. „Look. Martin. You wanted to go to the ball without anyone recognising you. Well, you can do that now. You’ll be safe like this. Don’t you think so?”

Er hob die linke Hand samt Requisiten auf meine Augenhöhe. Mein Blick flackerte hinüber. Ramins Hand auf meinem Oberarm war schwer und warm. Ich schluckte und nickte.

“Good.” Er grinste. Tief unten in seinen Augen begann es zu funkeln. „Then come on! Let’s get ready.”

Mit zwei Schritten war er an mir vorbei im Wohnzimmer. Ich blieb in der Tür stehen, die Hand um den Rahmen geklammert. Meine Augen klebten an seiner Hand, an der Brille und der Perücke. Dem Versteckspiel. Der Lüge.

Als Ramin merkte, dass ich ihm nicht folgte, blieb er stehen und wandte sich um. Seine Augen fanden meine, rissen sie los von seiner Hand. Er zögerte. Sein Blick huschte zur Decke, während er sich mit der freien Hand durchs Haar fuhr. „Martin – look. I –“ Seine Zunge glitt über seine Oberlippe. „I don’t care what you look like tonight, okay? I mean whether your hair’s red or blond. Whether you wear glasses or not.”

Seine linke Hand zuckte. Die Brille tat einen Hüpfer. Die Perücke schwankte hin und her.

„I just – want you to be there, okay? It’s – I dunno. It’s still you. And I – I mean, if you don’t come, then what did we do all that dancing for, huh?”

Er grinste ein wenig wacklig. Ein paar Sekunden war es still. Ich stand in der Tür, die Hand noch immer am Rahmen. Er will, dass du mitkommst. Er will mit dir auf diesen Ball gehen. Als Paar. Er will es unbedingt.

Ich holte Luft. Meine Finger gaben den Rahmen frei. Mit einem großen Schritt war ich über der Schwelle. „Give that here, then!“ Mit einem schnellen Griff klaute ich Ramin Brille und Perücke, grinste und ging voraus ins Bad.

 

*

 

Zweieinhalb Stunden später ging ich neben Ramin über den Asphalt in Richtung der Halle, in der der Ball stattfinden würde – ein riesiger, moderner Komplex ein gutes Stück außerhalb der Stadt. Es war noch nicht einmal halb acht, aber es war der Abend vor Weihnachten, und natürlich war die Sonne längst weg. Der Parkplatz war trotzdem gut erhellt, von Laternen und Autoscheinwerfern, die überall um uns herum leuchteten, beim Rangieren nach links und rechts schwankten und dann ausgingen.

Ich hielt das Gesicht stur auf die doppelflügeligen Eingangstüren gerichtet, aber meine Augen zuckten immer wieder in alle Richtungen. Von links, von rechts, von hinten und von vorne um die Halle herum – überall strömten Menschen auf die Türen zu. Männer in Anzügen, Frauen in Kleidern, auch ein paar Frauen in Anzügen, allein, zu zweit oder in Gruppen, viele mit Schuhtaschen in der Hand oder wie Ramin über der Schulter. Lachend, redend, strahlend. Und alle wollten sie dahin, wo wir auch hinwollten.

Ich schluckte. Trotz des Anzugs kroch die Kälte in jeden Muskel. Meine rechte Hand klammerte sich noch etwas fester um Ramins Unterarm. Jetzt waren wir hier, zu zweit, meine Hand war an seinem Arm, wir gingen zu einem Tanzball. Und alle konnten es sehen.

Ich presste die Lippen aufeinander. Keine Angst. Du brauchst keine Angst zu haben. Hier interessiert sich niemand für den deutschen Fußball, und du bist … nicht du.

Das immerhin stimmte. Als ich vorhin in Ramins Badezimmer in den Spiegel geschaut hatte, hatte ich mich selbst kaum noch erkannt.

Die Brille war leicht und saß ziemlich gut, nachdem Ramin die Bügel noch ein Stück enger gebogen hatte. Trotzdem war das Gefühl auf der Nase und hinter den Ohren ungewohnt, und wenn ich nach außen schielte, hatte ich das Gestell im Sichtfeld. Natürlich hatte ich schon mal eine Sonnenbrille getragen, aber das war irgendwie … normaler gewesen. Ich hätte es vorher nie gedacht, aber die Perücke spürte ich im Vergleich fast weniger. Meine echten Haare waren unter einer hauchdünnen Nylonhaube eingefangen, und Ramin hatte die Perücke auf die richtige Größe eingestellt und mit Haarspray auf der Haube fixiert. Sie konnte jetzt nicht mehr verrutschen, hatte er mir wieder und wieder versichert, außer jemand riss sie mir vom Kopf. Trotzdem hatte auf der fast einstündigen Autofahrt eine Horrorvision die nächste gejagt: Ich würde vergessen, dass das da oben nicht meine echten Haare waren, mir mit der Hand hindurchfahren und das Ding abziehen, ich würde mich beim Cha-Cha oder bei der Rumba unter Ramins Arm hindurchdrehen und daran hängenbleiben, der Schwung der halben Drehung beim Wiener Walzer würde mir die Perücke vom Kopf reißen und sie durch den halben Saal segeln lassen …

Der Daumennagel meiner freien Hand bohrte sich in meinen Zeigefinger. Ich atmete ein, und statt auf die anderen Leute oder die Albträume vor meinem inneren Auge schaute ich lieber zu Ramin. Wie ich trug er einen schwarzen Anzug, aber während mein Hemd weiß und meine Krawatte rot war, trug er beides in blau. Aufrecht ging er neben mir, ein dunkler Fixpunkt im fahlen Parkplatzlicht. Wie aus der Herrenmodewerbung geschnitten. Und ich ging neben ihm her. Ich hielt seinen Arm. Ich war sein Partner heute Abend. Sein Partner.

Er sah mich an und grinste. In meinem Bauch gab es ein Ziehen. Sein Blick, sein Grinsen … Irgendwas daran war anders. Irgendetwas lag darin. Etwas Neues. Etwas, das … Ich schluckte. Was würde passieren zwischen uns, heute Nacht, in diesem Ballsaal?

Ramin grinste noch immer. Er stupste mich mit der Schulter an. „Well? Excited?“

Ich schaffte ein schiefes Lächeln. „Cold.“

Er lachte. „Not for long.“

Wir schlossen uns dem Pulk vor den Türen an, der sich schleppend vorwärtsbewegte. Als wir vorne angekommen waren, zeigte Ramin unsere Karten vor. Der Türsteher begutachtete uns. Mein Körper fing von oben bis unten an zu kribbeln. Die Hand an Ramins Unterarm brannte. Ich hätte gerne weggeschaut, aber mein Blick war festgenagelt.

Ohne jede sonstige Regung nickte der Türsteher, riss unsere Karten ein und gab sie Ramin zurück. „Have a good time.“

„Thank you, we will.” Ramin setzte sich wieder in Bewegung und zog meine tauben Füße mit. Mit halbem Ohr bekam ich noch mit, wie der Türsteher das nächste Paar mit genau demselben Satz in genau demselben Tonfall hereinließ, dann empfingen uns die warme Luft und die glitzernden Lichter des Gebäudes.

Schon das Foyer war riesig. Erhellt wurde es durch mehrere kristallene Kronleuchter, die den Marmorboden in einem glänzenden Licht erstrahlen ließen. Über die komplette Wand gegenüber dem Eingang erstreckte sich eine Garderobe, wo gleich fünf oder sechs Angestellte gleichzeitig Mäntel entgegennahmen und Marken aushändigten. Links von den Eingangstüren ging es zu den Toiletten, und rechts hinter uns stand in einer Nische ein Gigant von einem Weihnachtsbaum, mit Kugeln und Lametta und Lichterketten und einem silbernen Stern oben auf der Spitze. In der Wand daneben gab es zwei ziemlich weit auseinanderliegende Doppeltüren. Durch die linke strömte Licht, die rechte war zwar auch offen, aber dahinter war es dunkel. Wahrscheinlich führten sie in verschiedene Säle. Die Türen waren nicht so gewaltig wie der Eingang, aber breit genug, um drei oder vier Paare gleichzeitig hindurchzulassen. Und das war auch gut so, denn Menschen waren einfach – überall. Sie standen in kurzen, sich rasch vorwärtsbewegenden Schlangen an der Garderobe oder in kleinen Gruppen im Foyer, unterhielten sich, bewunderten den Weihnachtsbaum oder reckten die Hälse, um im Pulk vor dem Eingang vertraute Gesichter zu erhaschen, und sie strömten durch die Türen. Durch die rechte steckten die meisten nur kurz den Kopf, aber die linke verschluckte einen stetigen Strom von lachenden Menschen in maßgeschneiderten Anzügen und Kleidern in allen möglichen Farben und Schnitten, und nur selten spuckte sie vereinzelte Leute wieder aus.

Diese Tür war es, auf die Ramin zusteuerte. Stumm ließ ich mich von ihm führen. Ein dumpfes Summen lag auf meinen Ohren. Meine Augen flogen von Menschen zu Baum zu Menschen zu Garderobe zu Menschen zu Kronleuchtern zu Menschen zu Tür zu Menschen. Dann erreichten wir den Durchgang, und der Strom der Gäste spülte uns mit.

„Wow.“

Ich spürte, wie meine Lippen sich bewegten, aber bei meinen Ohren kam meine Stimme nicht an. Ich wusste nicht, ob das am Gewirr aus Reden und Lachen um uns herum lag oder daran, dass ich einfach keinen Ton zustande gebracht hatte. Hinter uns teilte sich der Menschenstrom und floss vor uns wieder zusammen.

Der Tanzsaal war … nicht riesig. Riesig reichte nicht. Er war riesiger als riesig. Der Gang vor uns war genauso breit wie die Doppeltür, und links und rechts davon standen Tische. Hölzern und rechteckig, mit Platz für vier Personen auf jeder der langen Seiten. Auf beiden Seiten erstreckten sie sich bis zur Wand, und während links nur für vier Reihen Platz war, folgte auf der rechten Seite Tisch an Tisch an Tisch, so weitläufig war der Saal. Kleine Gänge zwischen den Tischreihen gaben Platz zum Durchlaufen, und fast alle Tische waren schon mindestens zur Hälfte besetzt. Menschen saßen, standen, lachten, winkten einander zu, umarmten sich und stießen mit Sektgläsern an. Von der Decke hingen dutzende Kronleuchter, die noch größer und mit noch mehr Kristallleuchten behangen waren als die im Foyer, und ihr Licht spiegelte sich in den Gläsern, dem Marmorboden und den Gesichtern der Menschen. Wo ich auch hinsah, glänzte, glitzerte und glühte es.

„Well? It’s quite something, isn’t it?”

Ich blinzelte, wollte schlucken und merkte, dass mein Mund trocken war. Ich schloss die Lippen, sog zittrig die Luft durch die Nase ein – es roch nach Holz und Tannenzweigen und Zimt – und drehte den Kopf nach rechts. Ramins Augen waren auf nichts gerichtet als nur auf mich. Das Funkeln darin war heller als das der Kronleuchter.

„It’s … It’s …“

Ich hätte gerne richtig geantwortet, hätte gerne gesagt, was ich fühlte, was ich sah in all den Lichtern und dem Lachen und dem Leuchten und dem Lärm, hätte gerne erzählt von der Welt, dieser ganz anderen Welt, in der er mich geführt hatte. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nur stehen und atmen und starren.

Ramins Strahlen holte die Sonne in den Saal. Er lachte, kehlig und rau, und in seinen Augen loderte das Feuer. „Come on! Our table‘s right at the front.“

Er setzte unseren Weg fort. Der Gang führte von den Türen schnurstracks geradeaus, und ungefähr in der Mitte der Halle, wo die Tische zu beiden Seiten wegfielen, öffnete er sich zur Tanzfläche. Als wir vorne angekommen waren und Ramin die Tische links von uns mit den Augen absuchte, blieb mir schon wieder die Luft weg.

Die freie Fläche vor uns erstreckte sich von ganz links bis ganz rechts, und sie war mindestens so groß wie ein ganzes halbes Fußballfeld. Der Boden war hier nicht mehr aus Marmor, sondern aus irgendetwas, das aussah wie Holz und vermutlich zum Tanzen besser geeignet war. Zur gegenüberliegenden Seite wurde die Fläche begrenzt durch ein erhöhtes Podest, das sich wiederum über die komplette Breite des Saals erstreckte und auf dem Instrumente, Mikrofone und Verstärker bereitstanden – die Bühne. Noch war sie leer.

Ich starrte auf die riesige Tanzfläche, auf die gewaltigen Verstärker links und rechts auf der Bühne. In meinen Zehen begann es zu kribbeln. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Gleich viertel vor acht. Um acht sollte es losgehen. Nur eine Viertelstunde noch.

Ramin schien derweil unsere Plätze entdeckt zu haben, denn es gab ein Ziehen an meiner rechten Hand. „Come on! We’re at that table over there!“

Wir passierten den Tisch gleich neben dem Gang und den dahinter, aber am nächsten machten wir halt. Die Tische waren mit der Stirnseite zur Bühne hin ausgerichtet, und die drei Plätze, die der Tanzfläche am nächsten waren, waren schon besetzt. Das Kribbeln strömte von den Zehen meine Beine hinauf in den Bauch. Ich versuchte, die Leute nicht anzusehen, mich nur auf das samtene Gefühl von Ramins Jackett an meinen Fingern zu konzentrieren, und meine Augen flohen zu seinem Gesicht.

Mit einem unverbindlichen Lächeln nickte Ramin den Leuten zu und führte mich ohne stehenzubleiben ans hintere Ende des Tisches. Dort angekommen, grinste er und zog mir den Stuhl mit dem Rücken zur Wand zurück. Mein Blick zuckte für den Bruchteil einer Sekunde über die Schulter nach hinten. Die drei am anderen Tischende unterhielten sich lebhaft und schenkten uns überhaupt keine Beachtung. Ich stieß den zu lang angehaltenen Atem aus, ließ Ramins Arm los und sank auf den Stuhl nieder. Meine Beine und mein Bauch kribbelten immer noch.

Ramin setzte sich auf den Stuhl neben mich, ließ die Tasche von seiner rechten Schulter gleiten und öffnete den Reißverschluss. Nacheinander förderte er zwei Paar glänzende schwarze Schuhe zutage und hielt mir das kleinere hin. „There you go!“

„Thanks.“ Ich nahm die Schuhe, zog meine eigenen aus und schlüpfte in die neuen hinein. Ich hatte sie in Ramins Wohnung schon anprobiert – er hatte mehrere Größen zur Auswahl mitgebracht –, aber trotzdem bewegte ich die Zehen auf und ab. Die Schuhe fühlten sich nicht viel anders an als meine Anzugschuhe, aber als ich Ramin gefragt hatte, ob ich nicht einfach in meinen eigenen Schuhen tanzen konnte, hatte er mich angestarrt wie einen Außerirdischen und gesagt „No fucking way!“. Der Unterschied, hatte er mir erklärt, lag in der Sohle, die bei Tanzschuhen aus Rauleder war und genau die richtige Menge Halt bot: In diesen Schuhen würde ich weder ausrutschen noch am Boden kleben bleiben, sodass ich auch schnelle Drehungen problemlos hinkriegen würde. Theoretisch.

Während Ramin mit routinierten Handgriffen seine eigenen Schuhe wechselte, zog ich meine Füße probehalber ein Stückchen über den Boden. Ich spürte keinen Unterschied zu vorher. Aber der Boden war ja auch noch nicht der Tanzboden. Ich starrte auf meine Füße hinunter, und etwas in meinem Bauch flatterte. Tja. Wenn jetzt bei einer Drehung etwas schiefging, würde es zumindest nicht an den Schuhen liegen.

„Come on, give me your shoes, I’ll put them away!”

Wortlos nahm ich meine Schuhe vom Boden und übergab sie Ramins auffordernd ausgestreckter Hand. Zusammen mit seinen eigenen packte er sie in die Tasche und sprang auf. „I’m just gonna take this back to the –“

Er brach ab. Seine Augen waren fixiert auf etwas hinter meinem Kopf, und sein ganzes Gesicht strahlte. Ich wandte mich um und reckte den Hals, um über die Menschen und Tische hinweg erspähen zu können, was Ramin da erblickt hatte. Und im nächsten Moment musste ich mich nicht mehr strecken, denn meine Beine hatten mich aus dem Stuhl erhoben, ohne, dass ich ihnen einen bewussten Befehl dazu gegeben hätte.

Sierra sah unglaublich aus. Sie trug ein schulterfreies rotes Kleid, dessen Farbton deutlich kräftiger war als das Rot ihrer Haare, sich aber nicht mit ihnen biss. Ihr Haar fiel elegant und einfach über ihre Schultern, goldene Ohrringe blitzten im Kronleuchterlicht, eine passende Kette lag um ihren Hals. Aber das, was am meisten leuchtete, war ihr Lachen. Es war nicht nur ihr Mund, der lachte, sondern ihr ganzes Gesicht, und es strahlte so hell, dass ich die Wärme schon spürte, als sie noch drei Tische von uns entfernt war.

Seite an Seite standen wir, schweigend, während sie wie auf unsichtbaren Flügeln auf uns zuglitt. Ich wusste nicht, wie es Ramin ging, er sah sie ja schließlich nicht zum ersten Mal … so. Aber mir hatte es gründlich die Sprache verschlagen.

Als sie bei uns angekommen war, war ich trotzdem der Erste, an den sie sich wandte. „Oh Martin, it’s wonderful to see you here!“ Zack, bekam ich einen Kuss auf die Wange. Ihre Hände lagen auf meinen Oberarmen, und ihre Augen flogen über mich hinweg. „You look so handsome! This is your first ball, isn’t it? Do you like it?”

“Ah…” Mein Kopf drehte sich, und meine Zunge war festgefroren.

Sierras Lachen wurde noch breiter. Sie gab mir einen sanften Klaps auf die ohnehin schon brennende Wange. „Oh, never mind! You will once the dancing starts, I promise!”

Dann glitten ihre Augen nach rechts. „Well, Ramin?“ Sowohl ihr Lächeln als auch ihr Tonfall hatten sich verändert. Sie waren jetzt leicht, spielerisch. Ein wenig herausfordernd. So, als würde sie ihm gleich ein verzwicktes Rätsel präsentieren und wäre gespannt, ob er clever genug war, es zu lösen. „Do I look all right?“

Ich schaute nach links. Ramins Strahlen war noch breiter geworden, und seine Augen funkelten. „Sierra –“ Er hielt inne, musterte sie von oben bis unten und stieß die Luft aus in einem Lachen, das brodelte und zischte – „you look wonderful tonight.“

Einen Moment sahen sie sich an. Dann legte Sierra den Kopf in den Nacken und lachte. Auch Ramin erhielt einen Begrüßungskuss, und kurz verharrte Sierra auf den Zehenspitzen, eine Hand an seinem Oberarm, die andere auf seiner Brust. „I’ll find you when they play it.“

„Do.“

Ich hörte es nur, weil ich so dicht neben ihnen stand. Sie tauschten noch ein Lächeln, einen Blick, dann glitt Sierra einen Schritt zurück, und ich spürte Ramins Hand an meinem Rücken.

„Bye, you two! See you later! Have fun!” Sie wirbelte herum und verschwand in den Wogen der Menge.

Ich blinzelte. Einmal, dann mehrmals hintereinander. Ich schüttelte den Kopf, während die Starre langsam aus meinem Körper floss. Ich schaute zu Ramin und fand seinen Blick, warm und sicher, und ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen.

„You know, she’s … she‘s, um …”

Er lachte leise. “Yeah. I know. She belongs here, you know? She … shines.”

Wärme durchströmte mich bis in die Finger- und Zehenspitzen. Ganz von selbst wanderte mein linker Arm nach oben und legte sich um Ramins Rücken. „What was that about? That thing you were talking about, I mean. She’ll find you when they play it? When they play … what?”

Er hob die Augenbrauen. “Don’t you know?“

Ich schüttelte den Kopf.

Er grinste. „Christ, and I thought your musical education was sound!”

“What do you mean?”

Er lachte und schüttelte den Kopf. „No, no. No explanations. You’ll find out later, I promise you. They’re bound to play this song, I don’t think I’ve ever been to a single ball where they haven’t.” Seine Hand strich über meinen Rücken. „Anyway, I’ll just take our shoes back to the cloakroom. I’ll be back in a sec!”

Bevor ich irgendetwas sagen konnte, war er verschwunden, verschluckt von der Menge an breiten Rücken in schwarzen Jacketts. Einen Moment starrte ich ihm hinterher. Von der Stelle, an der eben noch seine Hand gelegen hatte, breitete sich eine Kälte aus, die nichts mit den Temperaturen im Saal zu tun hatte.

Meine Zähne suchten Halt in meiner Unterlippe. Ich senkte den Kopf, starrte auf das Stück Marmorboden unter meinen Füßen in den fremden Schuhen und ließ mich in Zeitlupe zurück auf den Stuhl sinken. Es ist nicht weit zur Garderobe. Er ist schon gleich wieder da. Du bist nicht allein. Und momentan sieht es dir ja keiner an. Keiner, der dich jetzt hier sitzen sieht, wird wissen, dass …

Ich holte Luft. Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger. Nein, keiner im Saal, der jetzt gerade zufällig zu mir herüberschaute, würde mir ansehen, dass ich mit einem Mann hier war. Außer natürlich, sie hatten uns zusammen durch die Halle gehen sehen und genau genug hingeschaut, um sich mein Gesicht zu merken. So wie zum Beispiel die drei am anderen Ende vom Tisch. Denen war es garantiert aufgefallen.

Mein Herz hämmerte so heftig gegen meinen Brustkorb, dass es sich anfühlte, als würde er gleich zerspringen. Auf meinen Knien verkrampften sich beide Hände zu Fäusten. Ich atmete, einmal, zweimal, zwang meinen Kopf nach oben und drehte ihn nach links.

Ich sah – nichts. Keinen Spott, keine Geringschätzung, keine Verachtung. Keine verkniffenen Lippen und sich hastig abwendende Blicke. Die drei – ein Mann und eine Frau um die fünfzig und ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen – saßen beieinander, leicht über den Tisch nach vorne geneigt, um sich über den Geräuschpegel unterhalten zu können. Die Frau deutete in Richtung Bühne und sagte etwas, und das Mädchen nickte strahlend. Eltern mit Tochter, zusammen auf einem Ball, voller Vorfreude auf einen wunderbaren Abend. Und selbst jetzt, während ich sie anstarrte, vollkommen uninteressiert an dem rothaarigen – nein, blonden, blonden – Mann am anderen Tischende.

Zittrig atmete ich aus. Der Presslufthammer in meiner Brust ließ ein wenig nach. Ramin war noch nicht zurück, aber trotzdem hörte ich ein Echo seiner Stimme in meinem Kopf. You don’t know ANYTHING about that woman! You don’t know anything about her, but you just ASSUME that if she knew you’re gay, she’d hate you.

Meine Wangen wurden warm. Hastig wandte ich den Kopf von der Familie ab. Mein Herzschlag beruhigte sich immer mehr, aber mein Rücken prickelte noch immer, und die Hitze in meinen Wangen konnte ich auch nicht zurückdrängen.

Ich kannte es einfach nicht. Ich wusste nicht, wie es war, sich als offensichtlich homosexuelles Paar in der Öffentlichkeit zu zeigen, weil ich es noch nie zuvor getan hatte. Mit Ramin nicht, und auch mit Thomas nicht, obwohl ich damals erst sechzehn gewesen war und noch in der Jugend gespielt hatte. Aber auch da hatte ich schon unbedingt Profi werden wollen, und für diesen Traum hatte ich alles getan. Auf dem Platz und daneben. Ich war zwar mit Thomas in Hamburg unterwegs gewesen, so wie mit Ramin ja auch, aber nach außen eben immer – als Freunde. Wenn wir an der Alster spazieren gegangen waren, waren wir wie Kumpels nebeneinander her geschlendert, und ich hatte immer höllisch aufgepasst, jede noch so kleine Berührung zu vermeiden. Und den händchenhaltenden Pärchen links und rechts hatte ich verstohlen neidische Blicke zugeworfen.

Aber jetzt – jetzt war ich hier. Mit Ramin. Zu zweit. Als Paar. Auf einem Tanzball. Heute ging es, weil Ramin dafür gesorgt hatte, dass ich heute, für diesen einen Abend, jemand anders sein durfte. Dieser blonde, bebrillte junge Mann durfte gesehen werden. Und er durfte auch selbst sehen.

Ich hob den Blick und ließ die Augen langsam, Stück für Stück, über die umliegenden Tische schweifen. Viele waren mittlerweile komplett besetzt, aber einige Leute standen auch immer noch in kleinen Gruppen zusammen oder bewegten sich hierhin und dorthin. Sie unterhielten sich, stießen miteinander an, lachten und ließen ihre Blicke bewundernd durch den Saal schweifen. Kein Einziger sah zu mir hinüber. Keine einzige Gruppe sah so aus, als hätte sie Ramin und mich beim Hereinkommen beobachtet und ihre Zeit seitdem damit verbracht, über das schwule Paar am Tisch vorne links zu lästern. Im Gegenteil. Zwei Tische weiter weg von der Tanzfläche saßen zwei Männer in schwarzen Sakkos nebeneinander, Arm in Arm, genau so, wie Ramin und ich gerade dagestanden hatten. Und auf der anderen Seite des Mittelgangs standen drei Frauen und ein Mann vorne neben der Tanzfläche und unterhielten sich lebhaft. Eine der Frauen war unübersehbar schwanger. Während ich hinsah, strich die Frau links von ihr liebevoll mit der Hand über ihren gewölbten Bauch, beugte sich zu ihr herüber und küsste sie auf die Wange. Der Mann legte der dritten Frau in der Gruppe den Arm um den Rücken und schien irgendetwas Lustiges zu sagen, denn einen Moment später brachen alle in Gelächter aus. Die schwangere Frau stieß den Mann spielerisch-empört in die Seite.

Gefesselt starrte ich zu ihnen hinüber. Meine Lippen hatten sich leicht geöffnet. Ich schaute und schaute und schaute, ertrank in dem Bild. Es ist egal. Es ist ihnen egal, mit wem du hier bist, es ist ihnen egal, mit wem du ins Bett gehst. Dem Türsteher war es egal, den Leuten an deinem Tisch ist es egal, ALLEN ist es egal. Egal, egal, egal.

Das Prickeln an meinem Rücken verschwand, und die Wärme aus meinen Wangen breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Ich saß und schaute und atmete, und mit jeder Sekunde wurde meine Brust ein bisschen weiter, mein Kopf ein bisschen leichter. Wieder warf ich einen Blick auf die Uhr. Vier Minuten vor acht. Wo blieb Ramin? Ich wollte Musik. Ich wollte tanzen. Und ich wollte ihn.

Die nächsten Minuten reckte ich den Hals in Richtung Saaltür und warf dazwischen immer wieder Blicke zur Bühne, aber da tat sich noch nichts. Dafür leerten sich die Gänge immer mehr, und auch die letzten freien Stühle füllten sich. Die übrigen Plätze an unserem Tisch wurden von drei Frauen eingenommen, die vielleicht zwei oder drei Jahre älter waren als ich und sich in atemberaubendem Tempo auf Französisch unterhielten. Ihre einzige Begrüßung bestand in einem flüchtigen Grinsen. Ich erwiderte es. Unter dem Tisch wippten meine Füße unentwegt hin und her.

Um eine Minute vor acht sah ich Ramin endlich durch die Doppeltür hasten. Er bog gleich nach links ab, schlängelte sich an der Wand entlang an den Tischen vorbei und ließ sich mit einem Grinsen und einem Schnaufen in seinen Stuhl fallen. „Sorry. Met a few people and got held up.” Er legte den Kopf in den Nacken, lachte atemlos und sprang wieder auf die Füße. „Christ, it’s hot in here! And we haven’t even started yet.”

Er öffnete den Knopf seines Jacketts, streifte es ab, hängte es über seine Stuhllehne, setzte sich wieder und drehte sich endlich richtig zu mir. Seine Wangen waren gerötet, und in seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. Übermut, und Vorfreude, und – war da noch etwas anderes? Aber er blinzelte, und was immer es gewesen war, verschwand. „Well? Are you ready to dance?“

„I’m more than ready.“ Mein Strahlen war genauso breit wie seins. „I can’t wait!“

Er lachte, legte den Arm um die Rückenlehne meines Stuhls, und im selben Moment brandete Applaus auf.

Zusammen mit allen anderen Gästen schauten wir zur Bühne, die die Band, ebenfalls in Abendkleidung, gerade betreten hatte. Die Musiker lächelten und hoben grüßend die Hände, bevor sie ihre Plätze an ihren Instrumenten einnahmen. Eine große, schlanke Frau mit kunstvoll hochgesteckten dunkelbraunen Haaren und einem nachtblauen Kleid trat ans Mikrofon, löste es aus der Halterung und wartete strahlend, bis das Klatschen verebbte. „Ladies and Gentlemen, welcome! We’re really excited that you’re all here tonight, and we hope you will all have a wonderful evening with great songs and great dancing.”

Ihre Stimme war kehlig, voll und ziemlich tief für eine Frau. Sie sprach mit dem Hauch eines Akzents, irgendwie südländisch, vielleicht Spanisch oder Italienisch. Ich schaute zu ihr hinauf, zu den anderen Musikern mit ihren Instrumenten, spürte Ramins Finger über meine rechte Schulter streichen, und irgendetwas in mir explodierte. Als hätte jemand in meinem Bauch eine Champagnerflasche geöffnet. Ein Lachen kochte meine Kehle hoch, und ich presste die Lippen zusammen. Meine Augen jagten über die Tische, die Menschen, die Tanzfläche. Ich war hier. Ich war wirklich hier.

„So, we hope you all have a really great time and it is now our great pleasure to open this ball! Enjoy!” Die Sängerin lachte, und der Saal klatsche und lachte auch. Überall erhoben sich die Leute von ihren Plätzen, und auf jedem einzelnen Gesicht lag ein Strahlen.

„Well, Martin?“ Ramin stand auch, von Ohr zu Ohr grinsend, und hielt mir die rechte Hand hin. “May I have the honour of this dance?”

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ihn nur an. Ramin, in azurblauem Hemd und Krawatte, schwarzer Anzughose und schwarzen Tanzschuhen, Augen und Grinsen um die Wette strahlend, die Hand ausgestreckt – für mich.

Das Lachen brach aus mir heraus, und mit der Musik auf der Bühne begann auch in mir alles zu vibrieren und zu singen. Hier war ich. Hier war Ramin. Und jetzt würden wir tanzen.

Ich ergriff seine Finger und stand auf. “You may.“

Der erste Tanz war ein Cha-Cha. Das Lied kannte ich nicht, aber der Rhythmus war gut und regelmäßig, und die Sängerin sang fantastisch. Auf die ersten Schritte musste ich mich ziemlich konzentrieren, und ich passte wie verrückt auf, um ja die Einstiege in die Figuren nicht zu verpassen. Aber Ramin führte ruhig und klar, und nach jeder Figur tanzte er zwei, dreimal den Grundschritt, bevor es an die nächste ging. Als das Lied vorbei war, applaudierten wieder alle, und er sah mich an und grinste. „Well? Do you like it?“

„No.“ Mein Ellbogen stupste seinen an. „I love it!“

Er lachte. Die Band spielte das nächste Lied an, und zack, war gefühlt kein Tisch mehr besetzt. Schon für den Cha-Cha war die Tanzfläche gut bevölkert gewesen, aber diesen Discofox auf „Mamma Mia“ tanzte einfach jeder. Mit Geschick und vermutlich einiger Erfahrung verschaffte Ramin uns Platz und wirbelte mich durch die Gegend. Diesmal war der Ablauf schneller, Ramin reihte Figur an Figur, und meine Füße flogen. Der Discofox war ein toller Führtanz. Weil der Schritt-Schritt-Tap-Rhythmus sich nie änderte, konnte Ramin Figuren führen, die er mir nie oder nur kurz gezeigt hatte, und ich drehte mich ein und zurück, an seine Seite und wieder weg, nahm die Hände, die er mir bot, hielt die Spannung in den Armen und den Rhythmus in den Füßen und lachte und lachte und lachte. Die Schuhe saßen wie eine zweite Haut.

Das nächste Lied war langsamer, schwerer. Ein ganz anderer Rhythmus. Ramin zog mich zu sich, ich legte die linke Hand auf seinen Oberarm, lehnte den Oberkörper leicht zurück und drehte den Kopf nach links, und wir begannen den Langsamen Walzer.

 

There’s a calm surrender to the rush of day

When the heat of a rolling wind can be turned away

An enchanted moment and it sees me through

It’s enough for this restless warrior just to be with you

 

“Can You Feel the Love Tonight”, aus “The Lion King”. Ich schloss die Augen, sah ein gelbes Zelt mit einem großen Löwenkopf darüber jenseits der dunklen Wogen der Elbe aufblitzen, und atmete tief ein. Ramins Hände waren fest und warm an meinem Rücken, und fest und warm an meiner rechten Hand.

Dann kam das erste Weihnachtslied. Ramin stöhnte, als die ersten Töne erklangen, während um uns herum schon wieder alle Welt auf die Tanzfläche strömte. „Honestly, they play this one every single year! I mean, it’s not like there aren’t any other jives out there!”

Aber er lachte, und natürlich tanzten wir trotzdem. Ich wusste überhaupt nicht, was er hatte. Ich hatte „All I Want for Christmas Is You“ vorher auch schon gemocht, aber jetzt wurde es sofort mein favourite Christmas song of all time.

Das nächste Lied war wieder im Dreivierteltakt, aber schneller und schwungvoller – ein Wiener Walzer. Fast sofort fanden sich alle Paare in einem riesigen Kreis rund um die Tanzfläche ein. Ich wandte mich Ramin zu und wollte Tanzhaltung einnehmen, aber er legte mir die Hand auf den Arm und beugte sich leicht zu mir herunter. “I’m sorry Martin, that’s „Que Sera Sera”. I’ve got to dance it with Sierra.”

“Oh, so is this the song you were talking about earlier?”

“What?” Er sah mich mit gerunzelter Stirn an. Dann lachte er. “No! No, this is something else. We just –“

“Ramin, come on!” Wie aus dem Boden gestampft stand Sierra plötzlich neben uns, Ramins linke Hand schon in ihrer rechten. „Let’s go or we’ll miss it! I’m sorry, Martin!“, rief sie über die Schulter zurück, während sie Ramin in eine Lücke im Kreis zog. „I’ll bring him back, I promise!“

„No problem!“

Aber das hörten sie vermutlich nicht mehr. Ich blieb am Rand der Tanzfläche stehen und reckte den Hals, um Ramin und Sierra im Blick behalten zu können. Auf der Bühne begann die Sängerin zu singen.

 

When I was just a little girl

I asked my mother: what will I be?

Will I be pretty? Will I be rich?

Here’s what she said to me:

 

Que sera, sera!

Whatever will be, will be

The future’s not ours to see

Que sera, sera!

 

Es war ein wunderschönes Lied. Schwungvoll und dynamisch, warm vorgetragen in der tiefen, vollen Stimme der Sängerin. Selbst am Rand der Tanzfläche schaukelte mein Kopf hin und her. Aber meine Augen nahm ich keine Sekunde von Ramin und Sierra.

Sie – flogen. Sie glitten und schwebten, leicht und elegant und schwerelos, immer rundherum, im großen Kreis um die Tanzfläche und im kleinen um die eigene Achse. Sierras Kleid wirbelte durch die Luft wie ein roter Komet, ihre Schuhe waren ein verschwommener goldener Streif, und ihr Haar wirbelte auch. Ramin war ein Fels, ruhig, sicher, unumstößlich, aufrecht und gewandt. Unaufhaltsam und so mühelos, so selbstverständlich zogen sie ihre Kreise über die Tanzfläche, als wären sie an unsichtbaren Fäden verbunden. Nur einmal musste Ramin scharf abbremsen, weil das Paar vor ihnen aus dem Tritt gekommen war. Er konnte Sierra gerade noch daran hindern, mit dem Rücken in sie hineinzukrachen. Offensichtlich erleichtert stieß er die Luft aus, und mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Grinsen sagte er irgendetwas. Sierra warf einen kurzen Blick über die Schulter, lächelte dem anderen Paar zu, erwiderte etwas zu Ramin, und beide lachten. Sie pendelten ein paarmal und setzten wieder zum Fliegen an.

Als die letzten Takte verklungen waren, war der Applaus so laut und lang wie bisher noch nicht. Auch Ramin und Sierra klatschen, von ihrem Platz auf halbem Weg zwischen Tischen und Bühne, wo sie am Ende des Liedes aufgehört hatten zu drehen. Dann wandten sie sich um und kamen nebeneinander auf mich zu.

„I’m so sorry!“ Sierra lachte und rieb mir mit der Hand über den Oberarm. „I didn’t mean to steal him, it’s just that this was the first song we ever danced together to! And every time it’s played at a ball, it’s sort of a tradition for us to –“

“It’s really, really no problem.” Ich lachte und schüttelte den Kopf. „It was … amazing. Really. You dance … beautifully together.”

Sierra lachte. „You’re a darling, Martin! Well, now he’s all yours again. See you later!“ Und wieder verschwand sie in der Menge.

Einen Moment standen Ramin und ich wortlos nebeneinander. Durch den Saal hallte „Viva La Vida“. Ich löste meinen Blick von der Tanzfläche und hatte schon halb den Mund offen, um Ramin zu fragen, was das für ein Tanz war, als ich stockte. Ramins Augen brannten sich in meine. Da war es wieder, dieses Etwas, das ich beim Reingehen schon gesehen hatte. Und es war deutlicher als zuvor.

„What?“

Er blinzelte. Das Brennen ließ ein wenig nach. „Nothing.“ Einen Moment schwieg er. Dann lächelte er und bot mir seine Hand. „Well? I showed you the tango the day before yesterday. Shall we try it?”

Ich nickte, ergriff seine Hand, und er führte mich zurück auf die Tanzfläche.

 

*

 

Wir tanzten die ganze Nacht. Discofox und Jive, Quickstep und Cha-Cha, Rumba und die beiden Walzer. Weil ich nicht viele Figuren konnte, wiederholte sich alles ziemlich schnell, und bei Tango und Samba, die Ramin mir erst in den letzten Tagen beigebracht hatte, konnte ich kaum mehr als den Grundschritt. Trotzdem tanzten wir ein Lied nach dem anderen. Ab und zu nickte Ramin anderen Leuten zu und wechselte manchmal ein paar Worte zwischen Tänzen mit ihnen, aber nur beiläufig. Richtig reden tat er nur mit mir. Er lachte mit mir, er tanzte mit mir, und wenn wir uns ansahen, wurde mir jedes Mal heiß, noch heißer als vom Tanzen und der feuchtwarmen Luft im Saal. Die Musik war laut und klar, die Lichter funkelten, und Ramins Arme waren der einzige Ort auf der Welt.

Sierra war die einzige andere Person, mit der Ramin hin und wieder auch ein Lied tanzte. Mir machte es nichts aus. Den beiden zuzusehen war zwar nicht ganz so schön, wie selbst in Ramins Armen zu liegen, aber fast. Als die Sängerin der Band die ersten Zeilen von Eric Claptons „Wonderful Tonight“ sang, wusste ich sofort, worauf Sierra am Anfang des Balls angespielt hatte, und die beiden tanzten eine wunderschöne Rumba darauf. Grundschritt machten sie überhaupt nicht, sie reihten Figur an Figur an Figur, und ihre Lippen bewegten sich zu den Lyrics. Als die Band zu einem Tango auf „Phantom of the Opera“ ansetzte, war ich es selbst, der Ramin in Sierras Richtung schob, und schade war nur, dass die beiden nicht während des Tanzens auch noch selbst singen konnten. Die Sängerin sang auch dieses Lied gut, aber zu Ramin und Sierra war es kein Vergleich.

Und dann waren da die Tänze, die Ramin mir noch nicht beigebracht hatte. Beim Slowfox holten wir das am Rand der Tanzfläche nach, und auf „Strangers in the Night“ tanzten wir ganz langsam den Grundschritt. Auch das trieb mir schon den Schweiß auf die Stirn, aber es ging, weil wir die ganze Zeit in geschlossener Tanzhaltung waren und Ramin meine Schritte eng führen konnte. Das war beim Paso Doble anders. Genauso wie Rumba und Cha-Cha war es ein Lateintanz, die Haltung war viel offener, und ich musste wissen, wo ich meine Füße zu setzen hatte und wo nicht. Wieder winkte ich Ramin zu Sierra, und während ich meinen Füßen eine dringend benötigte Pause gönnte, beobachtete ich, wie sie die Tanzfläche im Sturm eroberten. Die Rumba, hatte Ramin mir erklärt, war ein Flirttanz: Die beiden Partner glitten umeinander herum, näherten sich an, umgarnten sich, kehrten einander abrupt den Rücken und ließen sich dann doch wieder anlocken, und genau so hatte es vorhin bei Ramin und Sierra auch ausgesehen. Der Paso dagegen war zackiger, ruckartiger, fast aggressiv. Ramin wirbelte Sierra durch die Gegend, nach vorne, nach hinten, zur Seite, zur Drehung und zurück in seinen Griff, und es sah aus wie ein Kampf.

Irgendwann machten wir Pause. Wir gingen ins Foyer zurück und durch die andere Doppeltür in einen deutlich kleineren Saal, der mittlerweile ebenfalls hell erleuchtet war. Dort waren mehrere lange Tische und ein Buffet aufgebaut. Wir aßen, gaben unseren Beinen die Chance, sich zu erholen, und dann tanzten wir weiter. Wir tanzten und tanzten, und je später es wurde, desto schwerer wurden meine Muskeln, desto lauter vibrierte die Musik in meinen Adern. Es wurde zehn, es wurde elf, und müde war ich nicht. Diese Nacht sollte niemals enden.

Es ging gegen Mitternacht, als Ramin mich mal wieder in einem Wiener Walzer über die Tanzfläche drehte. Das Lied erkannte ich, es war in letzter Zeit öfter im Radio gelaufen. Aber entweder hatte ich nie richtig hingehört, oder ich hatte einfach nie realisiert, wie wunderschön es war.

 

Baby, I’m dancing in the dark

With you between my arms

Barefoot on the grass

Listening to our favourite song

When you said you looked a mess

I whispered underneath my breath

But you heard it

Darling, you look perfect tonight

 

Der Saal zog in verschwommenen Farben und Lichtern vorbei. Einen fixen Punkt in den Blick nehmen, damit mir nicht schwindelig wurde, hatte Ramin mich angewiesen, aber ich tat es nicht. I don’t derseve this, you look perfect tonight, formte ich mit den Lippen, schloss die Augen, spürte Ramins Hand in meiner und seine Beine an meinen Beinen und meine Hand an seinem Oberarm, und der Schwindel, der in mir aufstieg, hatte nichts mit dem Drehen zu tun. Ich sog die Luft ein, während wir drehten und drehten, und ich strahlte und strahlte und fühlte mich, als schwebte ich.

Als das Lied vorbei war, blieben wir stehen. Einen Moment ließ ich die Augen noch geschlossen. Der Nachhall des Liedes klang in mir. Ich schmeckte den Augenblick wie flüssige Schokolade auf der Zunge. Dann atmete ich aus, öffnete die Augen und wollte Tanzhaltung für das nächste Lied einnehmen. Aber ich sah Ramins Gesicht und vergaß alles andere.

Seine Lippen waren leicht geöffnet, seine Wangen gerötet, sein Haar ein wenig zerzaust. Und seinen Augen …

Sie brannten nicht, nicht so wie vorhin. Es war kein Platz mehr dafür. Das Etwas, das ich in einem Hauch vorher schon gesehen hatte, war allumfassend. Ich schaute hinauf, in dieses Etwas. Meine Kehle wurde trocken, und meine Knie fingen an zu zittern. Noch nie zuvor hatte Ramin mich so angeschaut.

Er sprach kein Wort. Meine rechte Hand lag immer noch in seiner, und er führte mich daran von der Tanzfläche. Ich stolperte ihm mehr hinterher, als dass ich ging. Ich spürte meine Beine nicht.

Als wir niemandem mehr im Weg waren, blieb er stehen und wandte sich um. Durch den Saal schallte „Last Christmas“. Ramin ließ meine Hand nicht los. Er studierte mein Gesicht, als müsse er sich jedes Detail einprägen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. So leise, dass ich es nur hören könnte, weil wir so nah voreinander standen, murmelte er: „I don’t know if I deserve it or not, but … you do look perfect tonight.“

Ich starrte ihn an. Ich konnte nicht schlucken. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte keinen Muskel rühren.

Dann blinzelte ich, und plötzlich konnte ich Ramin nicht mehr anschauen. Stattdessen starrte ich nach unten, auf meine Füße in den Tanzschuhen, auf seine Schuhe, die fast haargenau so aussahen wie meine, auf den glänzenden Marmorboden.

„I don’t even look like myself.“ Meine Stimme war brüchig und so leise, dass selbst ich sie kaum richtig gehört hatte.

„Yes, you do.“

Mein Kopf glitt nach oben. Ramins Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Er sprach leise und sanft und so … selbstverständlich.

„You do. You look more like yourself tonight than you ever have before.”

Ich versuchte, Luft zu holen, einmal, zweimal. Schließlich schaffte ich es. „But … you know, all this …” Meine Stimme war nur ein Krächzen. Fahrig hob ich die Hand in Richtung blondes Haar und Brille.

Ramin lachte. „You think I care about that? You think it matters? You think it means anything to me?” Er schüttelte den Kopf. Seine Augen funkelten. „What matters is that you’re here tonight. You’re here. In a hall full of people. And you’re not afraid.” Das Funkeln wurde heller. Es durchflutete mich vom Kopf bis in die Zehenspitzen, füllte mich mit gleißendem Licht. „Tonight, you’re really you. You’re just you. And that’s just … perfect.”

Er sah mich an. Er lächelte. Seine Finger hielten meine rechte Hand.

Ein paar Sekunden war es still. Und dann küsste ich ihn. Mitten im Tanzsaal und mitten auf den Mund. Ich schloss die Augen und vergrub meine Hand in seinem Haar, und er legte die rechte Hand in meinen Nacken, da, wo ich sie noch spüren konnte.

Irgendwann löste ich meine Lippen von seinen. Wir sahen uns an. Ich brach in ein Strahlen aus, das sich anfühlte, als hätte ich noch nie zuvor in meinem Leben gelacht. „Come on. Let’s dance.“ Ich zog ihn zurück auf die Tanzfläche.

 

*

 

Um kurz nach zwei brachen wir auf. Wir holten unsere Schuhe aus der Garderobe, wechselten sie und traten hinaus in die eiskalte Dezembernacht. Der Himmel war klar und wolkenlos. Die Sterne leuchteten. Wir standen auf dem Parkplatzasphalt, die Köpfe in den Nacken gelegt, unser Atem in kleinen Dampfwolken vor uns aufsteigend. Ramins Arme umschlangen mich fest von hinten.

„You know.“ Er murmelte so leise, dass ich seine Worte mehr spürte als hörte. Sein Mund war ganz nah an meinem Ohr. „I’m really glad you came tonight.“

„Yeah.“ Ich starrte in den Sternenhimmel. Es musste an die null Grad sein, und ich trug keinen Mantel. Mir war nicht ein winziges bisschen kalt. „This is the best night of my life.”

Er löste den Griff seiner Arme um meine Brust und drehte mich um. Wir sahen uns an, dunkelbraun in graublau. Ich schloss die Augen. Seine Lippen schmeckten nach Musik und Tanz und Weihnachten.

„Come on. Let’s go home.“

 

*

 

Diese Nacht war der Sex anders. Bisher hatten wir uns immer nacheinander verzehrt, uns gegenseitig die Kleider vom Leib gerissen und es hatte nicht schnell genug gehen können. Heute ließen wir uns Zeit. Langsam, ein Kleidungsstück nach dem anderen, fanden wir zueinander.

Bisher hatten wir immer Sex gehabt. Heute Nacht liebten wir uns.

 

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Referenzen:

 

„A Kind of Magic“ – Song aus dem Album “A Kind of Magic” von Queen (Freddie Mercury, Brian May, John Deacon, Roger Taylor). EMI / Parlophone Records; Capitol, Hollywood Records 1986.

 

“Mamma Mia” – Song aus dem Album „ABBA“ von ABBA (Benny Andersson, Björn Ulv æ us, Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad). Polar, Polydor, Epic, RCA, Vogue/Baboo 1975.

 

„Can You Feel the Love Tonight?” – Song aus dem Film “The Lion King” (Disney, 1994). Geschrieben von Elton John und Tim Rice.

 

„All I Want for Christmas Is You” – Song aus dem Album “Merry Christmas” von Mariah Carey. Geschrieben von Mariah Carey und Walter Afanasieff. Columbia Records, 1994.

 

“Whatever Will Be, Will Be (Que Sera, Sera)” – Song aus dem Film “The Man Who Knew Too Much” (Alfred Hitchcock, 1956). Geschrieben von Ray Evans und Jay Livingston, gesungen von Doris Day.

 

„Viva La Vida“ – Song aus dem Album „Viva La Vida or Death and All His Friends” von Coldplay (Guy Berryman, Jonny Buckland, Will Champion, Chris Martin, Phil Harvey). Parlophone Records, 2008.

 

“Wonderful Tonight” – Song aus dem Album “Slowhand” von Eric Clapton. RSO Records, 1977.

 

„The Phantom of the Opera“ – Song aus dem Musical “The Phantom of the Opera” von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

“Strangers in the Night” – Song aus dem Album “Strangers in the Night“ von Frank Sinatra. Geschrieben von Bert Kaempfert, Charles Singleton und Eddie Snyder. Reprise Records, 1966.

 

„Perfect“ – Song aus dem Album „Divide“ von Ed Sheeran. Asylum Records, 2017 – und damit in dieser Geschichte eigentlich völlig fehl am Platz, denn die in diesem Kapitel geschilderte Ballnacht spielt am 23.12.2015, und damit zu früh für dieses Lied. Aber ich konnte nicht anders. Von dem Moment an, da ich das Lied in meiner Tanzschule zum ersten Mal gehört habe, hatte ich diese Szene im Kopf, und ich MUSSTE sie einfach schreiben und Ed Sheerans Meisterleistung mithin ein wenig vorziehen. Ich hoffe, ihr könnt mir vergeben ;)

 

„Last Christmas“ – Song aus dem Album “Music from the Edge of Heaven” von Wham! (George Michael, Andrew Ridgeley). Columbia Records, 1986.

 

Das gesamte Kapitel, inklusive des Zitats „This is the best night of my life“ ist inspiriert und frei adaptiert von der amerikanischen Version der TV-Serie „Queer as Folk“, Season 1, Episode 22, „Full Circle“. Drehbuch von Ron Cowen, Daniel Lipman und Russell T. Davies, Regie von Alex Chapple. – Die letzte Szene dieser Episode ist eine der schönsten, die ich überhaupt je gesehen habe, und verleiht mir immer noch bei jedem Anschauen eine Gänsehaut. Sie, und der Yule Ball in HP, haben entschieden, dass ein Ball in diese Geschichte muss, und eine Szene, die „ridiculously romantic“ ist. Ich wollte die Stimmung einfangen, die Kraft, den Zauber. Und ich wollte die Szene … einmal ungetrübt haben. Einmal ohne Nachspiel. Ohne die allerletzte Szene. Ohne das Ganze … well. If you know, you know.

 

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Vor zwei Kapiteln habe ich euch an dieser Stelle meine Lieblingsszene angepriesen, heute kann ich sagen, dass das hier insgesamt mein Lieblingskapitel ist. Jedes Mal, wenn ich es lese und überarbeite, geht in meinem Kopf die Musik an. Zu jedem im Kapitel angesprochenen Song kann man den erwähnten Tanz tatsächlich tanzen (wenn auch manchmal nur in speziellen Tanzversionen, in denen dann strikter dem Rhythmus gefolgt wird). Solltet ihr das Ganze mal ausprobieren oder eine Playlist für den nächsten Schul-, Wohnheims- oder Sonstwas-Ball zusammenstellen wollen, lasst euch gerne inspirieren ;)

Chapter 37: A Kind of Magic - D

Chapter Text

  1. Kapitel: A Kind of Magic

 

„Das ist nicht dein Ernst!“ Mit offenem Mund starrte ich Ramin an. Ich stand in der Schlafzimmertür, er am Fußende des Bettes neben dem zurückgezogenen Vorhang, der normalerweise seinen Kleiderschrank verdeckte. Er hatte in einem der unzähligen Fächer gewühlt, und jetzt hielt er mir mit hochgezogenen Augenbrauen hin, was er zutage gefördert hatte.

„Was denn? Ich hab dir doch gesagt, ich lass mir was einfallen. So erkennt dich keiner, versprochen.“

„Aber …” Mein Blick wechselte zwischen Ramins Händen hin und her. In der rechten hielt er eine Brille mit braungoldenem Rand und rechteckigen Gläsern. Von der linken baumelte eine Perücke mit kurzem, blondem Haar.

Ich schluckte. „Du … du willst wirklich, dass ich so hingehe? Ich meine …“

Ich wusste selbst nicht, was mich so störte. Ich hatte keine genaue Vorstellung davon gehabt, wie Ramin es schaffen würde, sein Versprechen zu halten. Und die Lösung, die er mir da hinhielt, war vermutlich ziemlich gut. Eine Gruppe Menschen, die überhaupt keine Verbindung zu Hamburg oder zu Fußball hatte, mein Status als immer noch höchstens mittelmäßig bekanntes Talent, und dann noch mit Brille und anderer Haarfarbe … Wenn ich mich mit Ramin als Paar in der Öffentlichkeit zeigen wollte, ging es wohl kaum sicherer. Eigentlich müsste ich ihm jubelnd um den Hals fallen. Stattdessen zog sich mein Magen zusammen. Wollte ich wirklich so auf diesen Ball gehen? Mit Brille und blondem Haar? So … unecht? Fast gelogen?

Ramin stöhnte. „Natürlich will ich nicht, dass du so hingehst! Du bist derjenige, der verdammt noch mal zu viel Angst hat, um ohne hinzugehen, oder nicht?“

Ein Stich fuhr durch meinen verknoteten Magen. Ich presste die Lippen aufeinander.

Ramin sah mir einen Moment in die Augen und seufzte. „Tut mir leid. Ach – vergiss es einfach, okay?“ Er kam einen Schritt auf mich zu und nahm die Brille in die linke Hand, sodass er mir die rechte auf den Arm legen konnte. „Schau. Martin. Du wolltest auf den Ball gehen, ohne dass dich jemand erkennt. Und das kannst du jetzt. So bist du sicher. Meinst du nicht?“

Er hob die linke Hand samt Requisiten auf meine Augenhöhe. Mein Blick flackerte hinüber. Ramins Hand auf meinem Oberarm war schwer und warm. Ich schluckte und nickte.

„Gut.” Er grinste. Tief unten in seinen Augen begann es zu funkeln. „Dann los! Machen wir uns fertig.“

Mit zwei Schritten war er an mir vorbei im Wohnzimmer. Ich blieb in der Tür stehen, die Hand um den Rahmen geklammert. Meine Augen klebten an seiner Hand, an der Brille und der Perücke. Dem Versteckspiel. Der Lüge.

Als Ramin merkte, dass ich ihm nicht folgte, blieb er stehen und wandte sich um. Seine Augen fanden meine, rissen sie los von seiner Hand. Er zögerte. Sein Blick huschte zur Decke, während er sich mit der freien Hand durchs Haar fuhr. „Martin – schau her. Es –“ Seine Zunge glitt über seine Oberlippe. „Es ist mir egal, wie du heute Abend aussiehst, okay? Ich meine, ob deine Haare rot oder blond sind. Ob du eine Brille trägst oder nicht.“

Seine linke Hand zuckte. Die Brille tat einen Hüpfer. Die Perücke schwankte hin und her.

„Ich – will einfach, dass du da bist, okay? Es bist doch – keine Ahnung. Es bist ja trotzdem du. Und ich – ich meine, wenn du nicht mitkommst, wofür haben wir dann so viel Tanzen geübt, hm?“

Er grinste ein wenig wacklig. Ein paar Sekunden war es still. Ich stand in der Tür, die Hand noch immer am Rahmen. Er will, dass du mitkommst. Er will mit dir auf diesen Ball gehen. Als Paar. Er will es unbedingt.

Ich holte Luft. Meine Finger gaben den Rahmen frei. Mit einem großen Schritt war ich über der Schwelle. „Dann gib schon her!“ Mit einem schnellen Griff klaute ich Ramin Brille und Perücke, grinste und ging voraus ins Bad.

 

*

 

Zweieinhalb Stunden später ging ich neben Ramin über den Asphalt in Richtung der Halle, in der der Ball stattfinden würde – ein riesiger, moderner Komplex ein gutes Stück außerhalb der Stadt. Es war noch nicht einmal halb acht, aber es war der Abend vor Weihnachten, und natürlich war die Sonne längst weg. Der Parkplatz war trotzdem gut erhellt, von Laternen und Autoscheinwerfern, die überall um uns herum leuchteten, beim Rangieren nach links und rechts schwankten und dann ausgingen.

Ich hielt das Gesicht stur auf die doppelflügeligen Eingangstüren gerichtet, aber meine Augen zuckten immer wieder in alle Richtungen. Von links, von rechts, von hinten und von vorne um die Halle herum – überall strömten Menschen auf die Türen zu. Männer in Anzügen, Frauen in Kleidern, auch ein paar Frauen in Anzügen, allein, zu zweit oder in Gruppen, viele mit Schuhtaschen in der Hand oder wie Ramin über der Schulter. Lachend, redend, strahlend. Und alle wollten sie dahin, wo wir auch hinwollten.

Ich schluckte. Trotz des Anzugs kroch die Kälte in jeden Muskel. Meine rechte Hand klammerte sich noch etwas fester um Ramins Unterarm. Jetzt waren wir hier, zu zweit, meine Hand war an seinem Arm, wir gingen zu einem Tanzball. Und alle konnten es sehen.

Ich presste die Lippen aufeinander. Keine Angst. Du brauchst keine Angst zu haben. Hier interessiert sich niemand für den deutschen Fußball, und du bist … nicht du.

Das immerhin stimmte. Als ich vorhin in Ramins Badezimmer in den Spiegel geschaut hatte, hatte ich mich selbst kaum noch erkannt.

Die Brille war leicht und saß ziemlich gut, nachdem Ramin die Bügel noch ein Stück enger gebogen hatte. Trotzdem war das Gefühl auf der Nase und hinter den Ohren ungewohnt, und wenn ich nach außen schielte, hatte ich das Gestell im Sichtfeld. Natürlich hatte ich schon mal eine Sonnenbrille getragen, aber das war irgendwie … normaler gewesen. Ich hätte es vorher nie gedacht, aber die Perücke spürte ich im Vergleich fast weniger. Meine echten Haare waren unter einer hauchdünnen Nylonhaube eingefangen, und Ramin hatte die Perücke auf die richtige Größe eingestellt und mit Haarspray auf der Haube fixiert. Sie konnte jetzt nicht mehr verrutschen, hatte er mir wieder und wieder versichert, außer jemand riss sie mir vom Kopf. Trotzdem hatte auf der fast einstündigen Autofahrt eine Horrorvision die nächste gejagt: Ich würde vergessen, dass das da oben nicht meine echten Haare waren, mir mit der Hand hindurchfahren und das Ding abziehen, ich würde mich beim Cha-Cha oder bei der Rumba unter Ramins Arm hindurchdrehen und daran hängenbleiben, der Schwung der halben Drehung beim Wiener Walzer würde mir die Perücke vom Kopf reißen und sie durch den halben Saal segeln lassen …

Der Daumennagel meiner freien Hand bohrte sich in meinen Zeigefinger. Ich atmete ein, und statt auf die anderen Leute oder die Albträume vor meinem inneren Auge schaute ich lieber zu Ramin. Wie ich trug er einen schwarzen Anzug, aber während mein Hemd weiß und meine Krawatte rot war, trug er beides in blau. Aufrecht ging er neben mir, ein dunkler Fixpunkt im fahlen Parkplatzlicht. Wie aus der Herrenmodewerbung geschnitten. Und ich ging neben ihm her. Ich hielt seinen Arm. Ich war sein Partner heute Abend. Sein Partner.

Er sah mich an und grinste. In meinem Bauch gab es ein Ziehen. Sein Blick, sein Grinsen … Irgendwas daran war anders. Irgendetwas lag darin. Etwas Neues. Etwas, das … Ich schluckte. Was würde passieren zwischen uns, heute Nacht, in diesem Ballsaal?

Ramin grinste noch immer. Er stupste mich mit der Schulter an. „Und? Aufgeregt?“

Ich schaffte ein schiefes Lächeln. „Kalt.“

Er lachte. „Nicht mehr lange.“

Wir schlossen uns dem Pulk vor den Türen an, der sich schleppend vorwärtsbewegte. Als wir vorne angekommen waren, zeigte Ramin unsere Karten vor. Der Türsteher begutachtete uns. Mein Körper fing von oben bis unten an zu kribbeln. Die Hand an Ramins Unterarm brannte. Ich hätte gerne weggeschaut, aber mein Blick war festgenagelt.

Ohne jede sonstige Regung nickte der Türsteher, riss unsere Karten ein und gab sie Ramin zurück. „Viel Spaß.“

„Danke, werden wir haben.” Ramin setzte sich wieder in Bewegung und zog meine tauben Füße mit. Mit halbem Ohr bekam ich noch mit, wie der Türsteher das nächste Paar mit genau demselben Satz in genau demselben Tonfall hereinließ, dann empfingen uns die warme Luft und die glitzernden Lichter des Gebäudes.

Schon das Foyer war riesig. Erhellt wurde es durch mehrere kristallene Kronleuchter, die den Marmorboden in einem glänzenden Licht erstrahlen ließen. Über die komplette Wand gegenüber dem Eingang erstreckte sich eine Garderobe, wo gleich fünf oder sechs Angestellte gleichzeitig Mäntel entgegennahmen und Marken aushändigten. Links von den Eingangstüren ging es zu den Toiletten, und rechts hinter uns stand in einer Nische ein Gigant von einem Weihnachtsbaum, mit Kugeln und Lametta und Lichterketten und einem silbernen Stern oben auf der Spitze. In der Wand daneben gab es zwei ziemlich weit auseinanderliegende Doppeltüren. Durch die linke strömte Licht, die rechte war zwar auch offen, aber dahinter war es dunkel. Wahrscheinlich führten sie in verschiedene Säle. Die Türen waren nicht so gewaltig wie der Eingang, aber breit genug, um drei oder vier Paare gleichzeitig hindurchzulassen. Und das war auch gut so, denn Menschen waren einfach – überall. Sie standen in kurzen, sich rasch vorwärtsbewegenden Schlangen an der Garderobe oder in kleinen Gruppen im Foyer, unterhielten sich, bewunderten den Weihnachtsbaum oder reckten die Hälse, um im Pulk vor dem Eingang vertraute Gesichter zu erhaschen, und sie strömten durch die Türen. Durch die rechte steckten die meisten nur kurz den Kopf, aber die linke verschluckte einen stetigen Strom von lachenden Menschen in maßgeschneiderten Anzügen und Kleidern in allen möglichen Farben und Schnitten, und nur selten spuckte sie vereinzelte Leute wieder aus.

Diese Tür war es, auf die Ramin zusteuerte. Stumm ließ ich mich von ihm führen. Ein dumpfes Summen lag auf meinen Ohren. Meine Augen flogen von Menschen zu Baum zu Menschen zu Garderobe zu Menschen zu Kronleuchtern zu Menschen zu Tür zu Menschen. Dann erreichten wir den Durchgang, und der Strom der Gäste spülte uns mit.

„Wow.“

Ich spürte, wie meine Lippen sich bewegten, aber bei meinen Ohren kam meine Stimme nicht an. Ich wusste nicht, ob das am Gewirr aus Reden und Lachen um uns herum lag oder daran, dass ich einfach keinen Ton zustande gebracht hatte. Hinter uns teilte sich der Menschenstrom und floss vor uns wieder zusammen.

Der Tanzsaal war … nicht riesig. Riesig reichte nicht. Er war riesiger als riesig. Der Gang vor uns war genauso breit wie die Doppeltür, und links und rechts davon standen Tische. Hölzern und rechteckig, mit Platz für vier Personen auf jeder der langen Seiten. Auf beiden Seiten erstreckten sie sich bis zur Wand, und während links nur für vier Reihen Platz war, folgte auf der rechten Seite Tisch an Tisch an Tisch, so weitläufig war der Saal. Kleine Gänge zwischen den Tischreihen gaben Platz zum Durchlaufen, und fast alle Tische waren schon mindestens zur Hälfte besetzt. Menschen saßen, standen, lachten, winkten einander zu, umarmten sich und stießen mit Sektgläsern an. Von der Decke hingen dutzende Kronleuchter, die noch größer und mit noch mehr Kristallleuchten behangen waren als die im Foyer, und ihr Licht spiegelte sich in den Gläsern, dem Marmorboden und den Gesichtern der Menschen. Wo ich auch hinsah, glänzte, glitzerte und glühte es.

„Na? Ist schon nicht schlecht, oder?“

Ich blinzelte, wollte schlucken und merkte, dass mein Mund trocken war. Ich schloss die Lippen, sog zittrig die Luft durch die Nase ein – es roch nach Holz und Tannenzweigen und Zimt – und drehte den Kopf nach rechts. Ramins Augen waren auf nichts gerichtet als nur auf mich. Das Funkeln darin war heller als das der Kronleuchter.

„Es ist … es ist …“

Ich hätte gerne richtig geantwortet, hätte gerne gesagt, was ich fühlte, was ich sah in all den Lichtern und dem Lachen und dem Leuchten und dem Lärm, hätte gerne erzählt von der Welt, dieser ganz anderen Welt, in der er mich geführt hatte. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nur stehen und atmen und starren.

Ramins Strahlen holte die Sonne in den Saal. Er lachte, kehlig und rau, und in seinen Augen loderte das Feuer. „Komm! Unser Tisch ist ganz vorne.“

Er setzte unseren Weg fort. Der Gang führte von den Türen schnurstracks geradeaus, und ungefähr in der Mitte der Halle, wo die Tische zu beiden Seiten wegfielen, öffnete er sich zur Tanzfläche. Als wir vorne angekommen waren und Ramin die Tische links von uns mit den Augen absuchte, blieb mir schon wieder die Luft weg.

Die freie Fläche vor uns erstreckte sich von ganz links bis ganz rechts, und sie war mindestens so groß wie ein ganzes halbes Fußballfeld. Der Boden war hier nicht mehr aus Marmor, sondern aus irgendetwas, das aussah wie Holz und vermutlich zum Tanzen besser geeignet war. Zur gegenüberliegenden Seite wurde die Fläche begrenzt durch ein erhöhtes Podest, das sich wiederum über die komplette Breite des Saals erstreckte und auf dem Instrumente, Mikrofone und Verstärker bereitstanden – die Bühne. Noch war sie leer.

Ich starrte auf die riesige Tanzfläche, auf die gewaltigen Verstärker links und rechts auf der Bühne. In meinen Zehen begann es zu kribbeln. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Gleich viertel vor acht. Um acht sollte es losgehen. Nur eine Viertelstunde noch.

Ramin schien derweil unsere Plätze entdeckt zu haben, denn es gab ein Ziehen an meiner rechten Hand. „Komm! Wir sind an dem Tisch da drüben!“

Wir passierten den Tisch gleich neben dem Gang und den dahinter, aber am nächsten machten wir halt. Die Tische waren mit der Stirnseite zur Bühne hin ausgerichtet, und die drei Plätze, die der Tanzfläche am nächsten waren, waren schon besetzt. Das Kribbeln strömte von den Zehen meine Beine hinauf in den Bauch. Ich versuchte, die Leute nicht anzusehen, mich nur auf das samtene Gefühl von Ramins Jackett an meinen Fingern zu konzentrieren, und meine Augen flohen zu seinem Gesicht.

Mit einem unverbindlichen Lächeln nickte Ramin den Leuten zu und führte mich ohne stehenzubleiben ans hintere Ende des Tisches. Dort angekommen, grinste er und zog mir den Stuhl mit dem Rücken zur Wand zurück. Mein Blick zuckte für den Bruchteil einer Sekunde über die Schulter nach hinten. Die drei am anderen Tischende unterhielten sich lebhaft und schenkten uns überhaupt keine Beachtung. Ich stieß den zu lang angehaltenen Atem aus, ließ Ramins Arm los und sank auf den Stuhl nieder. Meine Beine und mein Bauch kribbelten immer noch.

Ramin setzte sich auf den Stuhl neben mich, ließ die Tasche von seiner rechten Schulter gleiten und öffnete den Reißverschluss. Nacheinander förderte er zwei Paar glänzende schwarze Schuhe zutage und hielt mir das kleinere hin. „Bitteschön!“

„Danke.“ Ich nahm die Schuhe, zog meine eigenen aus und schlüpfte in die neuen hinein. Ich hatte sie in Ramins Wohnung schon anprobiert – er hatte mehrere Größen zur Auswahl mitgebracht –, aber trotzdem bewegte ich die Zehen auf und ab. Die Schuhe fühlten sich nicht viel anders an als meine Anzugschuhe, aber als ich Ramin gefragt hatte, ob ich nicht einfach in meinen eigenen Schuhen tanzen konnte, hatte er mich angestarrt wie einen Außerirdischen und gesagt „Auf keinen Fall!“. Der Unterschied, hatte er mir erklärt, lag in der Sohle, die bei Tanzschuhen aus Rauleder war und genau die richtige Menge Halt bot: In diesen Schuhen würde ich weder ausrutschen noch am Boden kleben bleiben, sodass ich auch schnelle Drehungen problemlos hinkriegen würde. Theoretisch.

Während Ramin mit routinierten Handgriffen seine eigenen Schuhe wechselte, zog ich meine Füße probehalber ein Stückchen über den Boden. Ich spürte keinen Unterschied zu vorher. Aber der Boden war ja auch noch nicht der Tanzboden. Ich starrte auf meine Füße hinunter, und etwas in meinem Bauch flatterte. Tja. Wenn jetzt bei einer Drehung etwas schiefging, würde es zumindest nicht an den Schuhen liegen.

„Los, gib mir deine Schuhe, ich pack sie weg!“

Wortlos nahm ich sie vom Boden und übergab sie Ramins auffordernd ausgestreckter Hand. Zusammen mit seinen eigenen packte er sie in die Tasche und sprang auf. „Ich bring das nur schnell zurück zur –“

Er brach ab. Seine Augen waren fixiert auf etwas hinter meinem Kopf, und sein ganzes Gesicht strahlte. Ich wandte mich um und reckte den Hals, um über die Menschen und Tische hinweg erspähen zu können, was Ramin da erblickt hatte. Und im nächsten Moment musste ich mich nicht mehr strecken, denn meine Beine hatten mich aus dem Stuhl erhoben, ohne, dass ich ihnen einen bewussten Befehl dazu gegeben hätte.

Sierra sah unglaublich aus. Sie trug ein schulterfreies rotes Kleid, dessen Farbton deutlich kräftiger war als das Rot ihrer Haare, sich aber nicht mit ihnen biss. Ihr Haar fiel elegant und einfach über ihre Schultern, goldene Ohrringe blitzten im Kronleuchterlicht, eine passende Kette lag um ihren Hals. Aber das, was am meisten leuchtete, war ihr Lachen. Es war nicht nur ihr Mund, der lachte, sondern ihr ganzes Gesicht, und es strahlte so hell, dass ich die Wärme schon spürte, als sie noch drei Tische von uns entfernt war.

Seite an Seite standen wir, schweigend, während sie wie auf unsichtbaren Flügeln auf uns zuglitt. Ich wusste nicht, wie es Ramin ging, er sah sie ja schließlich nicht zum ersten Mal … so. Aber mir hatte es gründlich die Sprache verschlagen.

Als sie bei uns angekommen war, war ich trotzdem der Erste, an den sie sich wandte. „Oh Martin, es ist so schön, dich hier zu sehen!“ Zack, bekam ich einen Kuss auf die Wange. Ihre Hände lagen auf meinen Oberarmen, und ihre Augen flogen über mich hinweg. „Du siehst fabelhaft aus! Das ist dein erster Ball, oder? Gefällt es dir?“

„Äh…” Mein Kopf drehte sich, und meine Zunge war festgefroren.

Sierras Lachen wurde noch breiter. Sie gab mir einen sanften Klaps auf die ohnehin schon brennende Wange. „Ach, egal! Es wird dir gefallen, wenn das Tanzen losgeht, versprochen!“

Dann glitten ihre Augen nach rechts. „Na, Ramin?“ Sowohl ihr Lächeln als auch ihr Tonfall hatten sich verändert. Sie waren jetzt leicht, spielerisch. Ein wenig herausfordernd. So, als würde sie ihm gleich ein verzwicktes Rätsel präsentieren und wäre gespannt, ob er clever genug war, es zu lösen. „Do I look all right?

Ich schaute nach links. Ramins Strahlen war noch breiter geworden, und seine Augen funkelten. „Sierra –“ Er hielt inne, musterte sie von oben bis unten und stieß die Luft aus in einem Lachen, das brodelte und zischte – „you look wonderful tonight.

Einen Moment sahen sie sich an. Dann legte Sierra den Kopf in den Nacken und lachte. Auch Ramin erhielt einen Begrüßungskuss, und kurz verharrte Sierra auf den Zehenspitzen, eine Hand an seinem Oberarm, die andere auf seiner Brust. „Ich komme zu dir, wenn sie es spielen.“

„Mach das.“

Ich hörte es nur, weil ich so dicht neben ihnen stand. Sie tauschten noch ein Lächeln, einen Blick, dann glitt Sierra einen Schritt zurück, und ich spürte Ramins Hand an meinem Rücken.

„Tschüss, ihr zwei! Bis später! Viel Spaß!“ Sie wirbelte herum und verschwand in den Wogen der Menge.

Ich blinzelte. Einmal, dann mehrmals hintereinander. Ich schüttelte den Kopf, während die Starre langsam aus meinem Körper floss. Ich schaute zu Ramin und fand seinen Blick, warm und sicher, und ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen.

„Weißt du, sie … sie ist, ähm …“

Er lachte leise. „Ja. Ich weiß. Sie gehört hierher, weißt du? Sie … erstrahlt.“

Wärme durchströmte mich bis in die Finger- und Zehenspitzen. Ganz von selbst wanderte mein linker Arm nach oben und legte sich um Ramins Rücken. „Worum ging es da grade? Bei dieser Sache, über die ihr geredet habt, meine ich. Sie kommt zu dir, wenn sie es spielen? Wenn sie … was spielen?“

Er hob die Augenbrauen. „Das weißt du nicht?“

Ich schüttelte den Kopf.

Er grinste. „Oh Mann, und ich dachte, deine musikalische Bildung ist gut!“

„Was meinst du?”

Er lachte und schüttelte den Kopf. „Ne, ne. Keine Erklärungen. Du wirst es später erfahren, versprochen. Dieses Lied spielen sie garantiert, ich glaube, ich war noch nie auf einem Ball, wo es nicht irgendwann kam.“ Seine Hand strich über meinen Rücken. „Na ja, ich bring jedenfalls nur schnell unsere Schuhe zurück zur Garderobe. Bin gleich wieder da!“

Bevor ich irgendetwas sagen konnte, war er verschwunden, verschluckt von der Menge an breiten Rücken in schwarzen Jacketts. Einen Moment starrte ich ihm hinterher. Von der Stelle, an der eben noch seine Hand gelegen hatte, breitete sich eine Kälte aus, die nichts mit den Temperaturen im Saal zu tun hatte.

Meine Zähne suchten Halt in meiner Unterlippe. Ich senkte den Kopf, starrte auf das Stück Marmorboden unter meinen Füßen in den fremden Schuhen und ließ mich in Zeitlupe zurück auf den Stuhl sinken. Es ist nicht weit zur Garderobe. Er ist schon gleich wieder da. Du bist nicht allein. Und momentan sieht es dir ja keiner an. Keiner, der dich jetzt hier sitzen sieht, wird wissen, dass …

Ich holte Luft. Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger. Nein, keiner im Saal, der jetzt gerade zufällig zu mir herüberschaute, würde mir ansehen, dass ich mit einem Mann hier war. Außer natürlich, sie hatten uns zusammen durch die Halle gehen sehen und genau genug hingeschaut, um sich mein Gesicht zu merken. So wie zum Beispiel die drei am anderen Ende vom Tisch. Denen war es garantiert aufgefallen.

Mein Herz hämmerte so heftig gegen meinen Brustkorb, dass es sich anfühlte, als würde er gleich zerspringen. Auf meinen Knien verkrampften sich beide Hände zu Fäusten. Ich atmete, einmal, zweimal, zwang meinen Kopf nach oben und drehte ihn nach links.

Ich sah – nichts. Keinen Spott, keine Geringschätzung, keine Verachtung. Keine verkniffenen Lippen und sich hastig abwendende Blicke. Die drei – ein Mann und eine Frau um die fünfzig und ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen – saßen beieinander, leicht über den Tisch nach vorne geneigt, um sich über den Geräuschpegel unterhalten zu können. Die Frau deutete in Richtung Bühne und sagte etwas, und das Mädchen nickte strahlend. Eltern mit Tochter, zusammen auf einem Ball, voller Vorfreude auf einen wunderbaren Abend. Und selbst jetzt, während ich sie anstarrte, vollkommen uninteressiert an dem rothaarigen – nein, blonden, blonden – Mann am anderen Tischende.

Zittrig atmete ich aus. Der Presslufthammer in meiner Brust ließ ein wenig nach. Ramin war noch nicht zurück, aber trotzdem hörte ich ein Echo seiner Stimme in meinem Kopf. Du weißt NICHTS über diese Frau! Du weißt nichts über sie, aber du gehst einfach davon AUS, dass sie dich hassen würde, wenn sie wüsste, dass du schwul bist.

Meine Wangen wurden warm. Hastig wandte ich den Kopf von der Familie ab. Mein Herzschlag beruhigte sich immer mehr, aber mein Rücken prickelte noch immer, und die Hitze in meinen Wangen konnte ich auch nicht zurückdrängen.

Ich kannte es einfach nicht. Ich wusste nicht, wie es war, sich als offensichtlich homosexuelles Paar in der Öffentlichkeit zu zeigen, weil ich es noch nie zuvor getan hatte. Mit Ramin nicht, und auch mit Thomas nicht, obwohl ich damals erst sechzehn gewesen war und noch in der Jugend gespielt hatte. Aber auch da hatte ich schon unbedingt Profi werden wollen, und für diesen Traum hatte ich alles getan. Auf dem Platz und daneben. Ich war zwar mit Thomas in Hamburg unterwegs gewesen, so wie mit Ramin ja auch, aber nach außen eben immer – als Freunde. Wenn wir an der Alster spazieren gegangen waren, waren wir wie Kumpels nebeneinander her geschlendert, und ich hatte immer höllisch aufgepasst, jede noch so kleine Berührung zu vermeiden. Und den händchenhaltenden Pärchen links und rechts hatte ich verstohlen neidische Blicke zugeworfen.

Aber jetzt – jetzt war ich hier. Mit Ramin. Zu zweit. Als Paar. Auf einem Tanzball. Heute ging es, weil Ramin dafür gesorgt hatte, dass ich heute, für diesen einen Abend, jemand anders sein durfte. Dieser blonde, bebrillte junge Mann durfte gesehen werden. Und er durfte auch selbst sehen.

Ich hob den Blick und ließ die Augen langsam, Stück für Stück, über die umliegenden Tische schweifen. Viele waren mittlerweile komplett besetzt, aber einige Leute standen auch immer noch in kleinen Gruppen zusammen oder bewegten sich hierhin und dorthin. Sie unterhielten sich, stießen miteinander an, lachten und ließen ihre Blicke bewundernd durch den Saal schweifen. Kein Einziger sah zu mir hinüber. Keine einzige Gruppe sah so aus, als hätte sie Ramin und mich beim Hereinkommen beobachtet und ihre Zeit seitdem damit verbracht, über das schwule Paar am Tisch vorne links zu lästern. Im Gegenteil. Zwei Tische weiter weg von der Tanzfläche saßen zwei Männer in schwarzen Sakkos nebeneinander, Arm in Arm, genau so, wie Ramin und ich gerade dagestanden hatten. Und auf der anderen Seite des Mittelgangs standen drei Frauen und ein Mann vorne neben der Tanzfläche und unterhielten sich lebhaft. Eine der Frauen war unübersehbar schwanger. Während ich hinsah, strich die Frau links von ihr liebevoll mit der Hand über ihren gewölbten Bauch, beugte sich zu ihr herüber und küsste sie auf die Wange. Der Mann legte der dritten Frau in der Gruppe den Arm um den Rücken und schien irgendetwas Lustiges zu sagen, denn einen Moment später brachen alle in Gelächter aus. Die schwangere Frau stieß den Mann spielerisch-empört in die Seite.

Gefesselt starrte ich zu ihnen hinüber. Meine Lippen hatten sich leicht geöffnet. Ich schaute und schaute und schaute, ertrank in dem Bild. Es ist egal. Es ist ihnen egal, mit wem du hier bist, es ist ihnen egal, mit wem du ins Bett gehst. Dem Türsteher war es egal, den Leuten an deinem Tisch ist es egal, ALLEN ist es egal. Egal, egal, egal.

Das Prickeln an meinem Rücken verschwand, und die Wärme aus meinen Wangen breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Ich saß und schaute und atmete, und mit jeder Sekunde wurde meine Brust ein bisschen weiter, mein Kopf ein bisschen leichter. Wieder warf ich einen Blick auf die Uhr. Vier Minuten vor acht. Wo blieb Ramin? Ich wollte Musik. Ich wollte tanzen. Und ich wollte ihn.

Die nächsten Minuten reckte ich den Hals in Richtung Saaltür und warf dazwischen immer wieder Blicke zur Bühne, aber da tat sich noch nichts. Dafür leerten sich die Gänge immer mehr, und auch die letzten freien Stühle füllten sich. Die übrigen Plätze an unserem Tisch wurden von drei Frauen eingenommen, die vielleicht zwei oder drei Jahre älter waren als ich und sich in atemberaubendem Tempo auf Französisch unterhielten. Ihre einzige Begrüßung bestand in einem flüchtigen Grinsen. Ich erwiderte es. Unter dem Tisch wippten meine Füße unentwegt hin und her.

Um eine Minute vor acht sah ich Ramin endlich durch die Doppeltür hasten. Er bog gleich nach links ab, schlängelte sich an der Wand entlang an den Tischen vorbei und ließ sich mit einem Grinsen und einem Schnaufen in seinen Stuhl fallen. „Sorry. Hab ein paar Leute getroffen und bin aufgehalten worden.“ Er legte den Kopf in den Nacken, lachte atemlos und sprang wieder auf die Füße. „Gott, ist das heiß hier drin! Und wir haben noch nicht mal angefangen.“

Er öffnete den Knopf seines Jacketts, streifte es ab, hängte es über seine Stuhllehne, setzte sich wieder und drehte sich endlich richtig zu mir. Seine Wangen waren gerötet, und in seinen Augen lag ein seltsamer Glanz. Übermut, und Vorfreude, und – war da noch etwas anderes? Aber er blinzelte, und was immer es gewesen war, verschwand. „Und? Bereit zum Tanzen?“

„Mehr als bereit.“ Mein Strahlen war genauso breit wie seins. „Ich kanns nicht erwarten!“

Er lachte, legte den Arm um die Rückenlehne meines Stuhls, und im selben Moment brandete Applaus auf.

Zusammen mit allen anderen Gästen schauten wir zur Bühne, die die Band, ebenfalls in Abendkleidung, gerade betreten hatte. Die Musiker lächelten und hoben grüßend die Hände, bevor sie ihre Plätze an ihren Instrumenten einnahmen. Eine große, schlanke Frau mit kunstvoll hochgesteckten dunkelbraunen Haaren und einem nachtblauen Kleid trat ans Mikrofon, löste es aus der Halterung und wartete strahlend, bis das Klatschen verebbte. „Meine Damen und Herren, herzlich willkommen! Wir freuen uns sehr, dass Sie alle heute hier sind, und wir hoffen, dass Sie alle einen wunderbaren Abend haben werden mit tollen Liedern und tollen Tänzen.“

Ihre Stimme war kehlig, voll und ziemlich tief für eine Frau. Sie sprach mit dem Hauch eines Akzents, irgendwie südländisch, vielleicht Spanisch oder Italienisch. Ich schaute zu ihr hinauf, zu den anderen Musikern mit ihren Instrumenten, spürte Ramins Finger über meine rechte Schulter streichen, und irgendetwas in mir explodierte. Als hätte jemand in meinem Bauch eine Champagnerflasche geöffnet. Ein Lachen kochte meine Kehle hoch, und ich presste die Lippen zusammen. Meine Augen jagten über die Tische, die Menschen, die Tanzfläche. Ich war hier. Ich war wirklich hier.

„Also, wir hoffen, Sie alle werden ganz, ganz viel Spaß haben, und wir freuen uns sehr, diesen Ball jetzt zu eröffnen! Viel Freude!“ Die Sängerin lachte, und der Saal klatsche und lachte auch. Überall erhoben sich die Leute von ihren Plätzen, und auf jedem einzelnen Gesicht lag ein Strahlen.

„Na, Martin?“ Ramin stand auch, von Ohr zu Ohr grinsend, und hielt mir die rechte Hand hin. „Würdest du mir die Ehre dieses Tanzes erweisen?“

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ihn nur an. Ramin, in azurblauem Hemd und Krawatte, schwarzer Anzughose und schwarzen Tanzschuhen, Augen und Grinsen um die Wette strahlend, die Hand ausgestreckt – für mich.

Das Lachen brach aus mir heraus, und mit der Musik auf der Bühne begann auch in mir alles zu vibrieren und zu singen. Hier war ich. Hier war Ramin. Und jetzt würden wir tanzen.

Ich ergriff seine Finger und stand auf. „Mit dem größten Vergnügen.“

Der erste Tanz war ein Cha-Cha. Das Lied kannte ich nicht, aber der Rhythmus war gut und regelmäßig, und die Sängerin sang fantastisch. Auf die ersten Schritte musste ich mich ziemlich konzentrieren, und ich passte wie verrückt auf, um ja die Einstiege in die Figuren nicht zu verpassen. Aber Ramin führte ruhig und klar, und nach jeder Figur tanzte er zwei, dreimal den Grundschritt, bevor es an die nächste ging. Als das Lied vorbei war, applaudierten wieder alle, und er sah mich an und grinste. „Und? Gefällts dir?“

„Ne.“ Mein Ellbogen stupste seinen an. „Ich liebe es!“

Er lachte. Die Band spielte das nächste Lied an, und zack, war gefühlt kein Tisch mehr besetzt. Schon für den Cha-Cha war die Tanzfläche gut bevölkert gewesen, aber diesen Discofox auf „Mamma Mia“ tanzte einfach jeder. Mit Geschick und vermutlich einiger Erfahrung verschaffte Ramin uns Platz und wirbelte mich durch die Gegend. Diesmal war der Ablauf schneller, Ramin reihte Figur an Figur, und meine Füße flogen. Der Discofox war ein toller Führtanz. Weil der Schritt-Schritt-Tap-Rhythmus sich nie änderte, konnte Ramin Figuren führen, die er mir nie oder nur kurz gezeigt hatte, und ich drehte mich ein und zurück, an seine Seite und wieder weg, nahm die Hände, die er mir bot, hielt die Spannung in den Armen und den Rhythmus in den Füßen und lachte und lachte und lachte. Die Schuhe saßen wie eine zweite Haut.

Das nächste Lied war langsamer, schwerer. Ein ganz anderer Rhythmus. Ramin zog mich zu sich, ich legte die linke Hand auf seinen Oberarm, lehnte den Oberkörper leicht zurück und drehte den Kopf nach links, und wir begannen den Langsamen Walzer.

 

There’s a calm surrender to the rush of day

When the heat of a rolling wind can be turned away

An enchanted moment and it sees me through

It’s enough for this restless warrior just to be with you

 

“Can You Feel the Love Tonight”, aus “The Lion King”. Ich schloss die Augen, sah ein gelbes Zelt mit einem großen Löwenkopf darüber jenseits der dunklen Wogen der Elbe aufblitzen, und atmete tief ein. Ramins Hände waren fest und warm an meinem Rücken, und fest und warm an meiner rechten Hand.

Dann kam das erste Weihnachtslied. Ramin stöhnte, als die ersten Töne erklangen, während um uns herum schon wieder alle Welt auf die Tanzfläche strömte. „Im Ernst, das spielen sie jedes einzelne Jahr! Ich meine, es ist ja nicht so, als obs nicht auch noch ein paar andere Jives auf der Welt gäbe!“

Aber er lachte, und natürlich tanzten wir trotzdem. Ich wusste überhaupt nicht, was er hatte. Ich hatte „All I Want for Christmas Is You“ vorher auch schon gemocht, aber jetzt wurde es sofort mein Lieblingsweihnachtslied aller Zeiten.

Das nächste Lied war wieder im Dreivierteltakt, aber schneller und schwungvoller – ein Wiener Walzer. Fast sofort fanden sich alle Paare in einem riesigen Kreis rund um die Tanzfläche ein. Ich wandte mich Ramin zu und wollte Tanzhaltung einnehmen, aber er legte mir die Hand auf den Arm und beugte sich leicht zu mir herunter. „Tut mir leid Martin, das ist „Que Sera Sera“. Das muss ich mit Sierra tanzen.“

„Oh, dann ist das also das Lied, von dem ihr vorhin geredet habt?“

„Was?” Er sah mich mit gerunzelter Stirn an. Dann lachte er. „Nein! Nein, das hier ist was anderes. Wir haben einfach –“

„Ramin, komm schon!” Wie aus dem Boden gestampft stand Sierra plötzlich neben uns, Ramins linke Hand schon in ihrer rechten. „Los, sonst verpassen wirs! Tut mir leid, Martin!“, rief sie über die Schulter zurück, während sie Ramin in eine Lücke im Kreis zog. „Ich bring ihn dir zurück, versprochen!“

„Kein Problem!“

Aber das hörten sie vermutlich nicht mehr. Ich blieb am Rand der Tanzfläche stehen und reckte den Hals, um Ramin und Sierra im Blick behalten zu können. Auf der Bühne begann die Sängerin zu singen.

 

When I was just a little girl

I asked my mother: what will I be?

Will I be pretty? Will I be rich?

Here’s what she said to me:

 

Que sera, sera!

Whatever will be, will be

The future’s not ours to see

Que sera, sera!

 

Es war ein wunderschönes Lied. Schwungvoll und dynamisch, warm vorgetragen in der tiefen, vollen Stimme der Sängerin. Selbst am Rand der Tanzfläche schaukelte mein Kopf hin und her. Aber meine Augen nahm ich keine Sekunde von Ramin und Sierra.

Sie – flogen. Sie glitten und schwebten, leicht und elegant und schwerelos, immer rundherum, im großen Kreis um die Tanzfläche und im kleinen um die eigene Achse. Sierras Kleid wirbelte durch die Luft wie ein roter Komet, ihre Schuhe waren ein verschwommener goldener Streif, und ihr Haar wirbelte auch. Ramin war ein Fels, ruhig, sicher, unumstößlich, aufrecht und gewandt. Unaufhaltsam und so mühelos, so selbstverständlich zogen sie ihre Kreise über die Tanzfläche, als wären sie an unsichtbaren Fäden verbunden. Nur einmal musste Ramin scharf abbremsen, weil das Paar vor ihnen aus dem Tritt gekommen war. Er konnte Sierra gerade noch daran hindern, mit dem Rücken in sie hineinzukrachen. Offensichtlich erleichtert stieß er die Luft aus, und mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Grinsen sagte er irgendetwas. Sierra warf einen kurzen Blick über die Schulter, lächelte dem anderen Paar zu, erwiderte etwas zu Ramin, und beide lachten. Sie pendelten ein paarmal und setzten wieder zum Fliegen an.

Als die letzten Takte verklungen waren, war der Applaus so laut und lang wie bisher noch nicht. Auch Ramin und Sierra klatschen, von ihrem Platz auf halbem Weg zwischen Tischen und Bühne, wo sie am Ende des Liedes aufgehört hatten zu drehen. Dann wandten sie sich um und kamen nebeneinander auf mich zu.

„Es tut mir so leid!“ Sierra lachte und rieb mir mit der Hand über den Oberarm. „Ich wollte ihn dir nicht klauen, das hier ist nur das erste Lied, auf das wir je zusammen getanzt haben! Und jedes Mal, wenn es auf einem Ball gespielt wird, ist es irgendwie Tradition, dass wir –“

„Es ist wirklich, wirklich kein Problem.“ Ich lachte und schüttelte den Kopf. „Es war … unglaublich. Wirklich. Ihr tanzt … wunderschön zusammen.“

Sierra lachte. „Du bist ein Schatz, Martin! Jetzt gehört er jedenfalls wieder ganz dir. Bis später!“ Und wieder verschwand sie in der Menge.

Einen Moment standen Ramin und ich wortlos nebeneinander. Durch den Saal hallte „Viva La Vida“. Ich löste meinen Blick von der Tanzfläche und hatte schon halb den Mund offen, um Ramin zu fragen, was das für ein Tanz war, als ich stockte. Ramins Augen brannten sich in meine. Da war es wieder, dieses Etwas, das ich beim Reingehen schon gesehen hatte. Und es war deutlicher als zuvor.

„Was?“

Er blinzelte. Das Brennen ließ ein wenig nach. „Nichts.“ Einen Moment schwieg er. Dann lächelte er und bot mir seine Hand. „Na? Ich hab dir den Tango vorgestern gezeigt. Wollen wirs versuchen?“

Ich nickte, ergriff seine Hand, und er führte mich zurück auf die Tanzfläche.

 

*

 

Wir tanzten die ganze Nacht. Discofox und Jive, Quickstep und Cha-Cha, Rumba und die beiden Walzer. Weil ich nicht viele Figuren konnte, wiederholte sich alles ziemlich schnell, und bei Tango und Samba, die Ramin mir erst in den letzten Tagen beigebracht hatte, konnte ich kaum mehr als den Grundschritt. Trotzdem tanzten wir ein Lied nach dem anderen. Ab und zu nickte Ramin anderen Leuten zu und wechselte manchmal ein paar Worte zwischen Tänzen mit ihnen, aber nur beiläufig. Richtig reden tat er nur mit mir. Er lachte mit mir, er tanzte mit mir, und wenn wir uns ansahen, wurde mir jedes Mal heiß, noch heißer als vom Tanzen und der feuchtwarmen Luft im Saal. Die Musik war laut und klar, die Lichter funkelten, und Ramins Arme waren der einzige Ort auf der Welt.

Sierra war die einzige andere Person, mit der Ramin hin und wieder auch ein Lied tanzte. Mir machte es nichts aus. Den beiden zuzusehen war zwar nicht ganz so schön, wie selbst in Ramins Armen zu liegen, aber fast. Als die Sängerin der Band die ersten Zeilen von Eric Claptons „Wonderful Tonight“ sang, wusste ich sofort, worauf Sierra am Anfang des Balls angespielt hatte, und die beiden tanzten eine wunderschöne Rumba darauf. Grundschritt machten sie überhaupt nicht, sie reihten Figur an Figur an Figur, und ihre Lippen bewegten sich zu den Lyrics. Als die Band zu einem Tango auf „Phantom of the Opera“ ansetzte, war ich es selbst, der Ramin in Sierras Richtung schob, und schade war nur, dass die beiden nicht während des Tanzens auch noch selbst singen konnten. Die Sängerin sang auch dieses Lied gut, aber zu Ramin und Sierra war es kein Vergleich.

Und dann waren da die Tänze, die Ramin mir noch nicht beigebracht hatte. Beim Slowfox holten wir das am Rand der Tanzfläche nach, und auf „Strangers in the Night“ tanzten wir ganz langsam den Grundschritt. Auch das trieb mir schon den Schweiß auf die Stirn, aber es ging, weil wir die ganze Zeit in geschlossener Tanzhaltung waren und Ramin meine Schritte eng führen konnte. Das war beim Paso Doble anders. Genauso wie Rumba und Cha-Cha war es ein Lateintanz, die Haltung war viel offener, und ich musste wissen, wo ich meine Füße zu setzen hatte und wo nicht. Wieder winkte ich Ramin zu Sierra, und während ich meinen Füßen eine dringend benötigte Pause gönnte, beobachtete ich, wie sie die Tanzfläche im Sturm eroberten. Die Rumba, hatte Ramin mir erklärt, war ein Flirttanz: Die beiden Partner glitten umeinander herum, näherten sich an, umgarnten sich, kehrten einander abrupt den Rücken und ließen sich dann doch wieder anlocken, und genau so hatte es vorhin bei Ramin und Sierra auch ausgesehen. Der Paso dagegen war zackiger, ruckartiger, fast aggressiv. Ramin wirbelte Sierra durch die Gegend, nach vorne, nach hinten, zur Seite, zur Drehung und zurück in seinen Griff, und es sah aus wie ein Kampf.

Irgendwann machten wir Pause. Wir gingen ins Foyer zurück und durch die andere Doppeltür in einen deutlich kleineren Saal, der mittlerweile ebenfalls hell erleuchtet war. Dort waren mehrere lange Tische und ein Buffet aufgebaut. Wir aßen, gaben unseren Beinen die Chance, sich zu erholen, und dann tanzten wir weiter. Wir tanzten und tanzten, und je später es wurde, desto schwerer wurden meine Muskeln, desto lauter vibrierte die Musik in meinen Adern. Es wurde zehn, es wurde elf, und müde war ich nicht. Diese Nacht sollte niemals enden.

Es ging gegen Mitternacht, als Ramin mich mal wieder in einem Wiener Walzer über die Tanzfläche drehte. Das Lied erkannte ich, es war in letzter Zeit öfter im Radio gelaufen. Aber entweder hatte ich nie richtig hingehört, oder ich hatte einfach nie realisiert, wie wunderschön es war.

 

Baby, I’m dancing in the dark

With you between my arms

Barefoot on the grass

Listening to our favourite song

When you said you looked a mess

I whispered underneath my breath

But you heard it

Darling, you look perfect tonight

 

Der Saal zog in verschwommenen Farben und Lichtern vorbei. Einen fixen Punkt in den Blick nehmen, damit mir nicht schwindelig wurde, hatte Ramin mich angewiesen, aber ich tat es nicht. I don’t derseve this, you look perfect tonight, formte ich mit den Lippen, schloss die Augen, spürte Ramins Hand in meiner und seine Beine an meinen Beinen und meine Hand an seinem Oberarm, und der Schwindel, der in mir aufstieg, hatte nichts mit dem Drehen zu tun. Ich sog die Luft ein, während wir drehten und drehten, und ich strahlte und strahlte und fühlte mich, als schwebte ich.

Als das Lied vorbei war, blieben wir stehen. Einen Moment ließ ich die Augen noch geschlossen. Der Nachhall des Liedes klang in mir. Ich schmeckte den Augenblick wie flüssige Schokolade auf der Zunge. Dann atmete ich aus, öffnete die Augen und wollte Tanzhaltung für das nächste Lied einnehmen. Aber ich sah Ramins Gesicht und vergaß alles andere.

Seine Lippen waren leicht geöffnet, seine Wangen gerötet, sein Haar ein wenig zerzaust. Und seinen Augen …

Sie brannten nicht, nicht so wie vorhin. Es war kein Platz mehr dafür. Das Etwas, das ich in einem Hauch vorher schon gesehen hatte, war allumfassend. Ich schaute hinauf, in dieses Etwas. Meine Kehle wurde trocken, und meine Knie fingen an zu zittern. Noch nie zuvor hatte Ramin mich so angeschaut.

Er sprach kein Wort. Meine rechte Hand lag immer noch in seiner, und er führte mich daran von der Tanzfläche. Ich stolperte ihm mehr hinterher, als dass ich ging. Ich spürte meine Beine nicht.

Als wir niemandem mehr im Weg waren, blieb er stehen und wandte sich um. Durch den Saal schallte „Last Christmas“. Ramin ließ meine Hand nicht los. Er studierte mein Gesicht, als müsse er sich jedes Detail einprägen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. So leise, dass ich es nur hören könnte, weil wir so nah voreinander standen, murmelte er: „Ich weiß nicht, ob ich es verdient habe oder nicht, aber … du siehst heute Nacht wirklich perfekt aus.“

Ich starrte ihn an. Ich konnte nicht schlucken. Ich konnte nicht atmen. Ich konnte keinen Muskel rühren.

Dann blinzelte ich, und plötzlich konnte ich Ramin nicht mehr anschauen. Stattdessen starrte ich nach unten, auf meine Füße in den Tanzschuhen, auf seine Schuhe, die fast haargenau so aussahen wie meine, auf den glänzenden Marmorboden.

„Ich seh nicht mal aus wie ich.“ Meine Stimme war brüchig und so leise, dass selbst ich sie kaum richtig gehört hatte.

„Doch, siehst du.“

Mein Kopf glitt nach oben. Ramins Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Er sprach leise und sanft und so … selbstverständlich.

„Siehst du. Du siehst heute Nacht mehr wie du aus als je zuvor.“

Ich versuchte, Luft zu holen, einmal, zweimal. Schließlich schaffte ich es. „Aber … du weißt schon, all das …“ Meine Stimme war nur ein Krächzen. Fahrig hob ich die Hand in Richtung blondes Haar und Brille.

Ramin lachte. „Glaubst du, das interessiert mich? Glaubst du, das zählt? Glaubst du, das spielt irgendeine Rolle für mich?“ Er schüttelte den Kopf. Seine Augen funkelten. „Was zählt, ist, dass du heute Nacht hier bist. Du bist hier. In einem Saal voller Leute. Und du hast keine Angst.“ Das Funkeln wurde heller. Es durchflutete mich vom Kopf bis in die Zehenspitzen, füllte mich mit gleißendem Licht. „Heute Nacht bist du wirklich du. Du bist einfach du. Und das ist einfach … perfekt.“

Er sah mich an. Er lächelte. Seine Finger hielten meine rechte Hand.

Ein paar Sekunden war es still. Und dann küsste ich ihn. Mitten im Tanzsaal und mitten auf den Mund. Ich schloss die Augen und vergrub meine Hand in seinem Haar, und er legte die rechte Hand in meinen Nacken, da, wo ich sie noch spüren konnte.

Irgendwann löste ich meine Lippen von seinen. Wir sahen uns an. Ich brach in ein Strahlen aus, das sich anfühlte, als hätte ich noch nie zuvor in meinem Leben gelacht. „Komm. Lass uns tanzen.“ Ich zog ihn zurück auf die Tanzfläche.

 

*

 

Um kurz nach zwei brachen wir auf. Wir holten unsere Schuhe aus der Garderobe, wechselten sie und traten hinaus in die eiskalte Dezembernacht. Der Himmel war klar und wolkenlos. Die Sterne leuchteten. Wir standen auf dem Parkplatzasphalt, die Köpfe in den Nacken gelegt, unser Atem in kleinen Dampfwolken vor uns aufsteigend. Ramins Arme umschlangen mich fest von hinten.

„Weißt du.“ Er murmelte so leise, dass ich seine Worte mehr spürte als hörte. Sein Mund war ganz nah an meinem Ohr. „Ich bin echt froh, dass du heute mitgekommen bist.“

„Ja.“ Ich starrte in den Sternenhimmel. Es musste an die null Grad sein, und ich trug keinen Mantel. Mir war nicht ein winziges bisschen kalt. „Das ist die schönste Nacht meines Lebens.”

Er löste den Griff seiner Arme um meine Brust und drehte mich um. Wir sahen uns an, dunkelbraun in graublau. Ich schloss die Augen. Seine Lippen schmeckten nach Musik und Tanz und Weihnachten.

„Komm. Lass uns nach Hause fahren.“

 

*

 

Diese Nacht war der Sex anders. Bisher hatten wir uns immer nacheinander verzehrt, uns gegenseitig die Kleider vom Leib gerissen und es hatte nicht schnell genug gehen können. Heute ließen wir uns Zeit. Langsam, ein Kleidungsstück nach dem anderen, fanden wir zueinander.

Bisher hatten wir immer Sex gehabt. Heute Nacht liebten wir uns.

 

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Referenzen:

 

„A Kind of Magic“ – Song aus dem Album “A Kind of Magic” von Queen (Freddie Mercury, Brian May, John Deacon, Roger Taylor). EMI / Parlophone Records; Capitol, Hollywood Records 1986.

 

“Mamma Mia” – Song aus dem Album „ABBA“ von ABBA (Benny Andersson, Björn Ulv æ us, Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad). Polar, Polydor, Epic, RCA, Vogue/Baboo 1975.

 

„Can You Feel the Love Tonight?” – Song aus dem Film “The Lion King” (Disney, 1994). Geschrieben von Elton John und Tim Rice.

 

„All I Want for Christmas Is You” – Song aus dem Album “Merry Christmas” von Mariah Carey. Geschrieben von Mariah Carey und Walter Afanasieff. Columbia Records, 1994.

 

“Whatever Will Be, Will Be (Que Sera, Sera)” – Song aus dem Film “The Man Who Knew Too Much” (Alfred Hitchcock, 1956). Geschrieben von Ray Evans und Jay Livingston, gesungen von Doris Day.

 

„Viva La Vida“ – Song aus dem Album „Viva La Vida or Death and All His Friends” von Coldplay (Guy Berryman, Jonny Buckland, Will Champion, Chris Martin, Phil Harvey). Parlophone Records, 2008.

 

“Wonderful Tonight” – Song aus dem Album “Slowhand” von Eric Clapton. RSO Records, 1977.

 

„The Phantom of the Opera“ – Song aus dem Musical “The Phantom of the Opera” von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

“Strangers in the Night” – Song aus dem Album “Strangers in the Night“ von Frank Sinatra. Geschrieben von Bert Kaempfert, Charles Singleton und Eddie Snyder. Reprise Records, 1966.

 

„Perfect“ – Song aus dem Album „Divide“ von Ed Sheeran. Asylum Records, 2017 – und damit in dieser Geschichte eigentlich völlig fehl am Platz, denn die in diesem Kapitel geschilderte Ballnacht spielt am 23.12.2015, und damit zu früh für dieses Lied. Aber ich konnte nicht anders. Von dem Moment an, da ich das Lied in meiner Tanzschule zum ersten Mal gehört habe, hatte ich diese Szene im Kopf, und ich MUSSTE sie einfach schreiben und Ed Sheerans Meisterleistung mithin ein wenig vorziehen. Ich hoffe, ihr könnt mir vergeben ;)

 

„Last Christmas“ – Song aus dem Album “Music from the Edge of Heaven” von Wham! (George Michael, Andrew Ridgeley). Columbia Records, 1986.

 

Das gesamte Kapitel, inklusive des Zitats „Das ist die schönste Nacht meines Lebens“ ist inspiriert und frei adaptiert von der amerikanischen Version der TV-Serie „Queer as Folk“, Season 1, Episode 22, „Full Circle“. Drehbuch von Ron Cowen, Daniel Lipman und Russell T. Davies, Regie von Alex Chapple. Originalversion „This is the best night of my life“, in der Serie übersetzt mit „Es war die beste Nacht meines Lebens“. – Die letzte Szene dieser Episode ist eine der schönsten, die ich überhaupt je gesehen habe, und verleiht mir immer noch bei jedem Anschauen eine Gänsehaut. Sie, und der Yule Ball in HP, haben entschieden, dass ein Ball in diese Geschichte muss, und eine Szene, die „lächerlich romantisch“ ist. Ich wollte die Stimmung einfangen, die Kraft, den Zauber. Und ich wollte die Szene … einmal ungetrübt haben. Einmal ohne Nachspiel. Ohne die allerletzte Szene. Ohne das Ganze … na ja. Sofern ihr die Serie kennt, wisst ihrs schon.

 

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Vor zwei Kapiteln habe ich euch an dieser Stelle meine Lieblingsszene angepriesen, heute kann ich sagen, dass das hier insgesamt mein Lieblingskapitel ist. Jedes Mal, wenn ich es lese und überarbeite, geht in meinem Kopf die Musik an. Zu jedem im Kapitel angesprochenen Song kann man den erwähnten Tanz tatsächlich tanzen (wenn auch manchmal nur in speziellen Tanzversionen, in denen dann strikter dem Rhythmus gefolgt wird). Solltet ihr das Ganze mal ausprobieren oder eine Playlist für den nächsten Schul-, Wohnheims- oder Sonstwas-Ball zusammenstellen wollen, lasst euch gerne inspirieren ;)

Chapter 38: Love Yourself

Chapter Text

  1. Kapitel: Love Yourself

 

‘Cause if you like the way you look that much

Oh, baby, you should go and love yourself

And if you think that I’m still holding on to something

You should go and love yourself

 

Ich summte mit dem Radio mit, lockerte das Rührei in der Pfanne und wippte mit den Knien im Takt. Es war Mitte Januar, und wir waren gestern aus dem Trainingslager im türkischen Belek zurückgekommen. Draußen vor dem Küchenfenster pfiff der Wind, der Himmel hing voll grauer Wolken, und es fiel eine Mischung aus matschigem Schnee und eisigem Regen. Aber hier drinnen war es hell und kuschelig warm.

Ich nahm einen Schluck Tee, schnupperte am Ei, zog die Kühlschranktür auf und förderte eine Packung Toast zutage. Immer noch summend schob ich zwei Scheiben in den Toaster, drückte den Hebel herunter und verfrachtete die Packung wieder in den Kühlschrank. Finn würde später sicher auch Toast wollen, aber den konnte er sich machen, wenn er aufgewacht war. Das halbe Rührei würde ich ihm übriglassen. Es war kein Wunder, dass er heute länger schlief als ich. Immerhin war es sein erstes Trainingslager mit den Profis gewesen.

Über beide Ohren grinsend wendete ich das Ei noch mal. Die letzten drei Wochen waren die besten meines Lebens gewesen. Erst Weihnachten und damit knapp zwei Wochen Urlaub, dann Trainingsauftakt und das Wiedersehen mit den Jungs, unsere gute Ausgangslage für die Rückrunde mit Platz zehn und nur vier Punkten Rückstand auf die internationalen Plätze, mein zwanzigster Geburtstag am sechsten Januar, und dann hatte Finn auch noch ins Trainingslager mitfahren dürfen. Da hatten wir zwar beide Spiele gegen unterklassige Gegner verloren, aber das hieß nichts. Das waren nur Testspiele. Das konnte man mit dem Ligabetrieb nicht vergleichen. Wenn es am Freitag gegen Bayern ernst wurde, würden wir da sein. Die konnten sich auf was gefasst machen. Das war unser Stadion, unsere Stadt, und das würde unsere Rückrunde werden. Wir würden sie fertig machen. Alle. Jede Woche würden wir auf dem Platz zur Hochform auflaufen. Und auf der Tribüne …

Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und lachte. Gegen Stuttgart hatte Ramin zugeschaut, und wir hatten gewonnen. Gegen Dortmund hatte er zugeschaut, und wir hatten wieder gewonnen. Natürlich würde er jetzt in der Rückrunde nicht zu jedem Spiel da sein können, er musste ja immer noch arbeiten. Aber bestimmt würde er öfter kommen als zweimal. Bestimmt würde er mehr sehen wollen, mehr Spiele – und mehr mich. Jetzt, wo wir richtig zusammen waren.

Wieder tauchten Bilder vor meinem inneren Auge auf. Lieder, Tänze, Gerüche. Ramin und ich beim Discofox, meine Hände fest in seinen. Beim Jive auf „All I Want for Christmas Is You”. Sierra, die strahlend durch den Saal auf uns zugeschwebt kam, sie und Ramin zusammen beim Wiener Walzer, beim Tango, bei der Rumba auf „Wonderful Tonight“. Die Lichter, die Luft, feuchtwarm und schwer, das Lachen auf jedem Gesicht. „Perfect“. Ramins Blick, Ramins Worte. Die Sterne draußen am Himmel, Ramins Arme um meine Brust, seine Lippen auf meinen.

Ein Schauer durchströmte mich, so heftig, dass es mich richtig schüttelte. Ich lachte, wirbelte den Kopf hin und her, und wenn Finn nicht noch geschlafen hätte, hätte ich das Radio komplett aufgedreht und aus voller Kehle mitgesungen, obwohl ich höchstens die Hälfte des Textes konnte. Das war doch egal. Die Texte von Liebesliedern waren am Ende doch eh alle gleich. Obwohl, ein richtiges Liebeslied war das eigentlich gar nicht. Aber das war mir auch egal. In den letzten drei Wochen war für mich jedes Lied ein Liebeslied gewesen.

Die Türklingel schellte. Ich drehte die Platte aus, zog die Pfanne vom Herd und ging stirnrunzelnd zur Sprechanlage. Wer konnte das sein, um halb elf am Sonntagmorgen?

Ich hob den Hörer ab und sprach leise. Wenn Finn noch schlief, wollte ich ihn nicht wecken, und sein Zimmer war gleich nebenan. „Hallo?“

„It’s me. Let me in.”

“Ramin!” Ich ließ beinahe den Hörer fallen. Gerade noch rechtzeitig bekam ich die obere Kante wieder zu packen und rammte den Finger auf den Knopf. Selbst aus dem dritten Stock konnte ich das Summen und Aufschnappen der Haustür hören. Ich riss die Wohnungstür auf. Seine Stimme war blechern gewesen, wie jede Stimme aus einer Sprechanlage, und irgendwie hart, aber unverkennbar. Trotzdem konnte ich es nicht glauben. Er, hier? Einfach so, ohne Ankündigung, wie ein verspätetes Geschenk?

Im Treppenhaus wurden die Schritte lauter. Ich starrte nach rechts, auf die Stufen, auf denen er gleich auftauchen würde, und brach in ein fettes Grinsen aus. Er musste mich genauso vermisst haben wie ich ihn. Wir hatten praktisch keinen Kontakt gehabt seit dem Ball, ich hatte ihm ein-, zweimal geschrieben, aber er hatte in den ersten Tagen nur kurz und dann gar nicht mehr geantwortet, und dann hatte ich es gelassen. Er war sowieso nicht der große WhatsApp-Kommunikator, und jetzt hatte er sicher auch total viel um die Ohren gehabt. Außerdem war da ja die Zeitverschiebung nach Kanada gewesen, auch schon, als ich noch in Hamburg gewesen war, und bis nach Belek natürlich erst recht. Aber dass ich heute wieder zurück war, wusste er, weil ich es ihm am Weihnachtsmorgen noch gesagt hatte, bevor wir zusammen nach Heathrow gefahren und in unterschiedliche Flieger gestiegen waren. Offensichtlich hatte er es sich gemerkt. Und Pläne gemacht, mich zu überraschen.

Nach und nach tauchte er auf. Erst Haare, schwarz, zerzaust und feucht, dann Gesicht mit geröteten Wangen und schmalen Augen und Lippen, dicke schwarze Winterjacke, in deren Taschen seine Hände vergraben waren, und schließlich schwarze Jeans und schwarze Stiefel.

Ich strahlte ihn an. Ich hatte ihn in jeder freien Sekunde vor mir gesehen seit dem Ball, seinen Anzug und seine Krawatte, sein Lachen und seine funkelnden Augen. Aber selbst die schönste Erinnerung kam an die Realität nicht heran.

„Ramin! I don’t believe it! Come on in!” Ich hielt die Tür auf, er trat schweigend hindurch. Seine Augen ließ meine nicht los. Seine Lippen waren zusammengepresst, und sein Blick war hart. Ich biss mir auf die Unterlippe und unterdrückte noch ein Schaudern. Hart. Oh ja. Hart war gut.

„It’s so great that you’re here! Why didn’t you tell me? Come on, take off your shoes, gimme your jacket! Are you hungry? Do you want some breakfast? It’s only half past nine in England, you must have gotten up before dawn! How long are you staying? Can you stay until Friday? That’s when we have our first match! Come on, gimme your luggage, I’ll take it to my room! Or do you wanna come straight with me?”

Ich strahlte. Ramin starrte nur. Seine Lippen und Augen waren weiter verengt. Er machte keine Anstalten, die Jacke ausziehen. Seine Hände waren noch immer in den Taschen vergraben.

Hände. Vergraben. In den Taschen.

Langsam rutschte mir das Lächeln vom Gesicht. Meine Augen glitten zu Ramins Schultern. Keine Träger. Kein Rucksack, keine Tasche, kein Koffer, nichts. Ramin hatte überhaupt kein Gepäck dabei.

„What … what is it? What’s wrong?”

Schweigen. Es presste sich gegen den Flur, und unter meinen Füßen fing der Boden an zu zittern. Ramins Augen bohrten sich in meine. Sie funkelten. Aber nicht so wie sonst. Auf meiner Haut breitete sich ein eisiges Prickeln aus.

Ramin löste seine zusammengepressten Lippen voneinander. „I’m going to New York. They’re restarting “West Side Story”. They wanted me, and I said yes. Performances start in March, we start rehearsing on Wednesday. I’m flying over tomorrow.”

Stille. New York. I’m going to New York.

Jetzt zitterte der Boden nicht nur, er schwankte. New York. Zwischen Hamburg und New York lag der ganze Atlantik. Zwischen Hamburg und London lag nur die Nordsee. Man könnte sogar am Morgen hin- und am Abend zurückfliegen. Das ging nach New York nicht. New York war auch nicht in der EU. Ich müsste jedes Mal ein Visum beantragen. Und er vermutlich auch. Das … das …

„But … no.“ Meine Stimme schwankte auch. Das konnte nicht sein. Es war ein Albtraum. Das konnte einfach nicht wahr sein. „No, you … you can‘t.“

Er lachte. „Says who? You?“ Das you betonte er. Auf eine grässliche, grässliche Art.

Ich starrte ihn an. Irgendwo in seinen Augen musste es doch ein Anzeichen von Wärme geben, ein Lodern, irgendwas, das beim Ball dort gewesen war, das dort bisher immer gewesen war, das ich wiedererkannte. Ich suchte und suchte und fand – nichts. Nur Kälte.

Ich schluckte und zwang meine Zunge, sich zu bewegen. „Well … yes. I mean … what about your flat? What about all your stuff? You can’t just …”

“Of course I can.” Jetzt grinste er. Es war eine schauerliche Grimasse. „It’s called moving out. Ever heard of it? Yeah?” Wieder dieses Lachen. Kalt und leer. Das Lachen eines Fremden. „I packed my stuff, I sublet the flat, I got a new one in New York. That’s what people do when they’re offered a better job with more opportunities in a better city.”

“But …” Ramins Wohnung. Das Bett, in dem wir zum ersten Mal Sex gehabt hatten. Das Wohnzimmer, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben getanzt hatte. Das Regal mit seinen CDs, Brett an Brett an Brett. Der Esstisch, an dem ich zuerst Ramin und dann Sierra gesagt hatte, wer ich war. Und jetzt? Tisch weg, Regal weg, Bett weg? Alles weg?

Ramins Augen funkelten noch immer. Unter meinen Füßen ließ das Schwanken ein wenig nach. Das durfte er nicht. Er hatte kein Recht, das alles wegzuwerfen. „But what about your job? Huh? You can’t just quit, people are relying on you! And what about Sierra, how are you gonna explain to her –“

“ARGH!” Er riss die Hände aus den Taschen und schoss so abrupt nach vorne, dass ich zurückstolperte und fast gefallen wäre. Zentimeter von mir entfernt hielt er inne. Seine Augen sprühten Eispfeile. „She says, ‘what about you,’ you say, ‘what about her,’ you know what – FUCK both of you! I don’t need her, I don’t need you, I don’t FUCKING need anyone! What I do with my life is not her business, or yours, but mine, okay, MINE! No one FUCKING else’s!”

Er hieb sich mit der geballten Faust gegen die Brust. Sein schwerer Atem schlug mir ins Gesicht.

Einen Moment starrte ich ihn sprachlos an. Dann richtete ich mich auf. Jetzt standen wir fast Stirn an Stirn. „I see. So you’re just gonna throw it all away, are you? You’re just gonna throw away everything we have?”

“What do we have, Martin? Huh? I’ll tell you: NOTHING, okay? We had sex, we fucked, a couple of times, that’s it. Do you know how many guys I’ve fucked over the years? How many guys I’ve fucked just like you, how many have sucked my dick just like you? Why should you be anyone special? You weren’t that spectacular, I’d really hate you to come away with the wrong idea about that!”

“That’s not true!” Ich hasste es, wie schrill meine Stimme klang, hasste es, dass meine Augen brannten, aber ich ignorierte es, genauso wie das Reißen in der Brust. „We have more than just sex, we ARE more than just sex! You kept coming over here –“

“Well, how often do you have the opportunity to get prime seats in a football stadium for free? I would’ve been stupid not to take advantage of that!”

“You taught me how to dance –“

“Only to see if there was room for something other than football in your brain or if you were really that pathetic!”

“You made me tell Sierra who I was –“

“It was really funny to see how far I could push you, I must admit!”

“You took me to the ball –“

“As I said, it was REALLY funny to see just how far you’d go to do whatever I wanted you to. Funny enough, actually, to make it worth sacrificing a night of real dancing for six hours of shuffling around to basic steps and the most rudimentary beginner’s moves. Man, you would not believe how BORING that was!”

“YOU LOVE ME!” Meine Fingernägel schnitten in meine Handflächen. Auf meinen Wangen spürte ich warme Feuchtigkeit. Ich blinzelte, sog die Luft ein und schrie ihm die nächsten Worte wieder ins Gesicht. „YOU LOVE ME! And I don’t know what happened, I don’t know what I’m supposed to have done, but you can’t just go now. You CAN‘T! I – We –“

Mein Atem klang wie ein Schluchzen. Ich wischte mir mit dem Unterarm über die Augen und presste die Lippen aufeinander. Sie zitterten.

Ramin trat einen Schritt zurück. Von oben herab sah er mich an, und er schüttelte den Kopf, mit einem Lächeln, das den Flur zu Eis gefrieren ließ. „Oh, Christ. Oh, fuck. You know – you’re even more pathetic than I thought.” Er verschränkte die Arme und stieß wieder dieses hohle Lachen aus. „You think I love you? You? Honestly? Christ, I must be an even better actor than I thought I was.”

Mit einem Schritt schloss er die Distanz zwischen uns wieder, lehnte sich nach vorne und lächelte. „Listen here, Martin. Are you listening? Good. Get this: I do not love you. I am not your boyfriend. I fucked you because you have a tight ass and an okay body, but it was never ever anything more than sex. I mean, Christ, you don’t think you’re the only one I was fucking during the past few months, do you? I was fucking guys every single night, and I didn’t miss you once when you were not there. And now, I have the opportunity to go to Broadway and live in New York, and you bet your ass I’m taking it, so I’m going, and this is it. But I would’ve stopped it anyway, you know? Even a tight ass gets boring when you fuck it too often. But you wouldn’t know that, would you? Because you never fuck. You’re not even out. You’re shit scared of what people would think of you if they knew you’re gay. Well, you wanna know what that is? That’s weak. That’s pathetic. And I’m sure as hell never, ever going to love a scared little faggot like you!”

Stille. Ein paar Sekunden starrten wir uns nur an. Dann hob ich das Kinn. Aus seinen Augen flogen immer noch Pfeile, aber sie trafen mich nicht mehr. „Get out. Get out, you … fucking ASSHOLE! I never, EVER want to see you again, do you understand?”

Er richtete sich auf. “At least that’s one thing we agree on.” Er drehte sich um, zog die Wohnungstür auf und verschwand. Seine schnellen Schritte hallten durchs Treppenhaus. Dann schlug die Wohnungstür zu.

Links von mir gab es ein Geräusch. Eine Art ersticktes Keuchen. Ich wandte den Kopf. Finn stand in seiner Zimmertür, barfuß und in T-Shirt und Boxershorts, mit offenem Mund und riesigen Augen. Seine blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Wie lange er da schon stand, wusste ich nicht. Ich hatte seine Tür nicht aufgehen hören. Aber wenn er bei den ersten geschrienen Worten aufgewacht war, hatte er vermutlich alles Wesentliche mitbekommen.

„Was glotzt du so?!“

Er stolperte genauso zurück wie ich eben. Einen Moment genoss ich die Angst in seinem Blick. Dann drehte ich mich um und stiefelte den Flur hinunter in mein Zimmer. Die Tür schlug krachend hinter mir zu.

 

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Referenzen:

 

„Love Yourself“ – Song aus dem Album “Purpose” von Justin Bieber. Geschrieben von Ed Sheeran, Benny Blanco und Justin Bieber. Def Jam Recordings, 2015.

 

„West Side Story“ – Musical von Leonard Bernstein. Musik von Leonard Bernstein, Lyrics von Stephen Sondheim, Buch von Arthur Laurents. Basierend auf dem Schauspiel „Romeo and Juliet“ von William Shakespeare. Uraufführung 1957.

Chapter 39: Love Yourself - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Love Yourself

 

‘Cause if you like the way you look that much

Oh, baby, you should go and love yourself

And if you think that I’m still holding on to something

You should go and love yourself

 

Ich summte mit dem Radio mit, lockerte das Rührei in der Pfanne und wippte mit den Knien im Takt. Es war Mitte Januar, und wir waren gestern aus dem Trainingslager im türkischen Belek zurückgekommen. Draußen vor dem Küchenfenster pfiff der Wind, der Himmel hing voll grauer Wolken, und es fiel eine Mischung aus matschigem Schnee und eisigem Regen. Aber hier drinnen war es hell und kuschelig warm.

Ich nahm einen Schluck Tee, schnupperte am Ei, zog die Kühlschranktür auf und förderte eine Packung Toast zutage. Immer noch summend schob ich zwei Scheiben in den Toaster, drückte den Hebel herunter und verfrachtete die Packung wieder in den Kühlschrank. Finn würde später sicher auch Toast wollen, aber den konnte er sich machen, wenn er aufgewacht war. Das halbe Rührei würde ich ihm übriglassen. Es war kein Wunder, dass er heute länger schlief als ich. Immerhin war es sein erstes Trainingslager mit den Profis gewesen.

Über beide Ohren grinsend wendete ich das Ei noch mal. Die letzten drei Wochen waren die besten meines Lebens gewesen. Erst Weihnachten und damit knapp zwei Wochen Urlaub, dann Trainingsauftakt und das Wiedersehen mit den Jungs, unsere gute Ausgangslage für die Rückrunde mit Platz zehn und nur vier Punkten Rückstand auf die internationalen Plätze, mein zwanzigster Geburtstag am sechsten Januar, und dann hatte Finn auch noch ins Trainingslager mitfahren dürfen. Da hatten wir zwar beide Spiele gegen unterklassige Gegner verloren, aber das hieß nichts. Das waren nur Testspiele. Das konnte man mit dem Ligabetrieb nicht vergleichen. Wenn es am Freitag gegen Bayern ernst wurde, würden wir da sein. Die konnten sich auf was gefasst machen. Das war unser Stadion, unsere Stadt, und das würde unsere Rückrunde werden. Wir würden sie fertig machen. Alle. Jede Woche würden wir auf dem Platz zur Hochform auflaufen. Und auf der Tribüne …

Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und lachte. Gegen Stuttgart hatte Ramin zugeschaut, und wir hatten gewonnen. Gegen Dortmund hatte er zugeschaut, und wir hatten wieder gewonnen. Natürlich würde er jetzt in der Rückrunde nicht zu jedem Spiel da sein können, er musste ja immer noch arbeiten. Aber bestimmt würde er öfter kommen als zweimal. Bestimmt würde er mehr sehen wollen, mehr Spiele – und mehr mich. Jetzt, wo wir richtig zusammen waren.

Wieder tauchten Bilder vor meinem inneren Auge auf. Lieder, Tänze, Gerüche. Ramin und ich beim Discofox, meine Hände fest in seinen. Beim Jive auf „All I Want for Christmas Is You”. Sierra, die strahlend durch den Saal auf uns zugeschwebt kam, sie und Ramin zusammen beim Wiener Walzer, beim Tango, bei der Rumba auf „Wonderful Tonight“. Die Lichter, die Luft, feuchtwarm und schwer, das Lachen auf jedem Gesicht. „Perfect“. Ramins Blick, Ramins Worte. Die Sterne draußen am Himmel, Ramins Arme um meine Brust, seine Lippen auf meinen.

Ein Schauer durchströmte mich, so heftig, dass es mich richtig schüttelte. Ich lachte, wirbelte den Kopf hin und her, und wenn Finn nicht noch geschlafen hätte, hätte ich das Radio komplett aufgedreht und aus voller Kehle mitgesungen, obwohl ich höchstens die Hälfte des Textes konnte. Das war doch egal. Die Texte von Liebesliedern waren am Ende doch eh alle gleich. Obwohl, ein richtiges Liebeslied war das eigentlich gar nicht. Aber das war mir auch egal. In den letzten drei Wochen war für mich jedes Lied ein Liebeslied gewesen.

Die Türklingel schellte. Ich drehte die Platte aus, zog die Pfanne vom Herd und ging stirnrunzelnd zur Sprechanlage. Wer konnte das sein, um halb elf am Sonntagmorgen?

Ich hob den Hörer ab und sprach leise. Wenn Finn noch schlief, wollte ich ihn nicht wecken, und sein Zimmer war gleich nebenan. „Hallo?“

„Ich bins. Lass mich rein.”

„Ramin!” Ich ließ beinahe den Hörer fallen. Gerade noch rechtzeitig bekam ich die obere Kante wieder zu packen und rammte den Finger auf den Knopf. Selbst aus dem dritten Stock konnte ich das Summen und Aufschnappen der Haustür hören. Ich riss die Wohnungstür auf. Seine Stimme war blechern gewesen, wie jede Stimme aus einer Sprechanlage, und irgendwie hart, aber unverkennbar. Trotzdem konnte ich es nicht glauben. Er, hier? Einfach so, ohne Ankündigung, wie ein verspätetes Geschenk?

Im Treppenhaus wurden die Schritte lauter. Ich starrte nach rechts, auf die Stufen, auf denen er gleich auftauchen würde, und brach in ein fettes Grinsen aus. Er musste mich genauso vermisst haben wie ich ihn. Wir hatten praktisch keinen Kontakt gehabt seit dem Ball, ich hatte ihm ein-, zweimal geschrieben, aber er hatte in den ersten Tagen nur kurz und dann gar nicht mehr geantwortet, und dann hatte ich es gelassen. Er war sowieso nicht der große WhatsApp-Kommunikator, und jetzt hatte er sicher auch total viel um die Ohren gehabt. Außerdem war da ja die Zeitverschiebung nach Kanada gewesen, auch schon, als ich noch in Hamburg gewesen war, und bis nach Belek natürlich erst recht. Aber dass ich heute wieder zurück war, wusste er, weil ich es ihm am Weihnachtsmorgen noch gesagt hatte, bevor wir zusammen nach Heathrow gefahren und in unterschiedliche Flieger gestiegen waren. Offensichtlich hatte er es sich gemerkt. Und Pläne gemacht, mich zu überraschen.

Nach und nach tauchte er auf. Erst Haare, schwarz, zerzaust und feucht, dann Gesicht mit geröteten Wangen und schmalen Augen und Lippen, dicke schwarze Winterjacke, in deren Taschen seine Hände vergraben waren, und schließlich schwarze Jeans und schwarze Stiefel.

Ich strahlte ihn an. Ich hatte ihn in jeder freien Sekunde vor mir gesehen seit dem Ball, seinen Anzug und seine Krawatte, sein Lachen und seine funkelnden Augen. Aber selbst die schönste Erinnerung kam an die Realität nicht heran.

„Ramin! Ich fass es nicht! Komm rein!” Ich hielt die Tür auf, er trat schweigend hindurch. Seine Augen ließ meine nicht los. Seine Lippen waren zusammengepresst, und sein Blick war hart. Ich biss mir auf die Unterlippe und unterdrückte noch ein Schaudern. Hart. Oh ja. Hart war gut.

„Es ist so cool, dass du hier bist! Warum hast du mir nichts gesagt? Komm schon, zieh deine Schuhe aus, gib mir deine Jacke! Hast du Hunger? Willst du Frühstück? In England ist es erst halb zehn, du musst ja vor Sonnenaufgang aufgestanden sein! Wie lange bleibst du? Kannst du bis Freitag bleiben? Da haben wir unser erstes Spiel! Los, gib mir dein Gepäck, ich brings in mein Zimmer! Oder willst du gleich mitkommen?“

Ich strahlte. Ramin starrte nur. Seine Lippen und Augen waren weiter verengt. Er machte keine Anstalten, die Jacke ausziehen. Seine Hände waren noch immer in den Taschen vergraben.

Hände. Vergraben. In den Taschen.

Langsam rutschte mir das Lächeln vom Gesicht. Meine Augen glitten zu Ramins Schultern. Keine Träger. Kein Rucksack, keine Tasche, kein Koffer, nichts. Ramin hatte überhaupt kein Gepäck dabei.

„Was … was ist denn? Stimmt was nicht?“

Schweigen. Es presste sich gegen den Flur, und unter meinen Füßen fing der Boden an zu zittern. Ramins Augen bohrten sich in meine. Sie funkelten. Aber nicht so wie sonst. Auf meiner Haut breitete sich ein eisiges Prickeln aus.

Ramin löste seine zusammengepressten Lippen voneinander. „Ich gehe nach New York. “West Side Story“ läuft wieder an. Sie wollten mich, und ich hab zugesagt. Die Vorstellungen starten im März, wir fangen am Mittwoch mit den Proben an. Ich fliege morgen rüber.“

Stille. New York. Ich gehe nach New York.

Jetzt zitterte der Boden nicht nur, er schwankte. New York. Zwischen Hamburg und New York lag der ganze Atlantik. Zwischen Hamburg und London lag nur die Nordsee. Man könnte sogar am Morgen hin- und am Abend zurückfliegen. Das ging nach New York nicht. New York war auch nicht in der EU. Ich müsste jedes Mal ein Visum beantragen. Und er vermutlich auch. Das … das …

„Aber … nein.“ Meine Stimme schwankte auch. Das konnte nicht sein. Es war ein Albtraum. Das konnte einfach nicht wahr sein. „Nein, das … das kannst du nicht machen.“

Er lachte. „Sagt wer? Du?“ Das Du betonte er. Auf eine grässliche, grässliche Art.

Ich starrte ihn an. Irgendwo in seinen Augen musste es doch ein Anzeichen von Wärme geben, ein Lodern, irgendwas, das beim Ball dort gewesen war, das dort bisher immer gewesen war, das ich wiedererkannte. Ich suchte und suchte und fand – nichts. Nur Kälte.

Ich schluckte und zwang meine Zunge, sich zu bewegen. „Na ja … ja. Ich meine … was ist mit deiner Wohnung? Was ist mit deinem ganzen Zeug? Du kannst nicht einfach …“

„Klar kann ich.” Jetzt grinste er. Es war eine schauerliche Grimasse. „Das nennt man ausziehen. Schon mal gehört? Ja?“ Wieder dieses Lachen. Kalt und leer. Das Lachen eines Fremden. „Ich hab mein Zeug gepackt, ich hab die Wohnung untervermietet, ich hab in New York eine neue gefunden. So macht man das, wenn man einen besseren Job mit mehr Aufstiegsmöglichkeiten in einer besseren Stadt angeboten bekommt.“

„Aber …” Ramins Wohnung. Das Bett, in dem wir zum ersten Mal Sex gehabt hatten. Das Wohnzimmer, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben getanzt hatte. Das Regal mit seinen CDs, Brett an Brett an Brett. Der Esstisch, an dem ich zuerst Ramin und dann Sierra gesagt hatte, wer ich war. Und jetzt? Tisch weg, Regal weg, Bett weg? Alles weg?

Ramins Augen funkelten noch immer. Unter meinen Füßen ließ das Schwanken ein wenig nach. Das durfte er nicht. Er hatte kein Recht, das alles wegzuwerfen. „Aber was ist mit deinem Job? Hm? Du kannst nicht einfach hinschmeißen, die anderen verlassen sich doch auf dich! Und was ist mit Sierra, wie willst du ihr erklären –“

„AHHH!” Er riss die Hände aus den Taschen und schoss so abrupt nach vorne, dass ich zurückstolperte und fast gefallen wäre. Zentimeter von mir entfernt hielt er inne. Seine Augen sprühten Eispfeile. „Sie sagt, ‚was ist mit dir‘, du sagst, ‚was ist mit ihr‘, weißt du was – FICKT euch doch alle beide! Ich brauche sie nicht, ich brauche dich nicht, ich brauche VERDAMMT NOCH MAL niemanden! Was ich mit meinem Leben anfange, ist nicht ihre Angelegenheit, oder deine, sondern meine, okay, MEINE! Und von VERDAMMT NOCH MAL niemand anderem!“

Er hieb sich mit der geballten Faust gegen die Brust. Sein schwerer Atem schlug mir ins Gesicht.

Einen Moment starrte ich ihn sprachlos an. Dann richtete ich mich auf. Jetzt standen wir fast Stirn an Stirn. „Aha. Also willst du alles einfach wegwerfen, ja? Du willst alles, was wir haben, einfach wegwerfen?“

„Was haben wir denn, Martin? Hm? Ich sags dir: NICHTS, okay? Wir hatten Sex, wir haben gefickt, ein paarmal, das wars. Weißt du, wie viele Typen ich mittlerweile schon gefickt habe? Wie viele Typen ich genau wie dich gefickt habe, wie viele genau wie du meinen Schwanz gelutscht haben? Warum solltest du irgendwas Besonderes sein? So spektakulär warst du jetzt auch nicht, ich will wirklich nicht, dass du dich da irgendwelchen Illusionen hingibst!“

„Das stimmt nicht!” Ich hasste es, wie schrill meine Stimme klang, hasste es, dass meine Augen brannten, aber ich ignorierte es, genauso wie das Reißen in der Brust. „Wir haben mehr als nur Sex, wir SIND mehr als nur Sex! Du bist immer wieder hergekommen –“

„Na, wie oft hat man schon die Gelegenheit, gratis einen der besten Plätze in einem Fußballstadion zu kriegen? Ich wäre ja bescheuert gewesen, wenn ich das nicht ausgenutzt hätte!“

„Du hast mir das Tanzen beigebracht –“

„Nur, um zu sehen, ob noch für was anderes als Fußball in deinem Hirn Platz ist oder ob du wirklich so erbärmlich bist!“

„Du hast mich dazu gebracht, Sierra zu sagen, wer ich bin –“

„Es war echt witzig, zu schauen, wie weit ich dich kriege, das muss ich zugeben!“

„Du hast mich auf den Ball mitgenommen –“

„Wie gesagt, es war ECHT witzig, zu schauen, wie weit du gehst, um zu tun, was immer ich von dir wollte. Sogar witzig genug, dass es das wert war, eine Nacht echtes Tanzen für sechs Stunden Rumschlurfen zu Grundschritten und den einfachsten Anfängerfiguren zu opfern. Mann, du glaubst ja nicht, wie LANGWEILIG das war!“

„DU LIEBST MICH!“ Meine Fingernägel schnitten in meine Handflächen. Auf meinen Wangen spürte ich warme Feuchtigkeit. Ich blinzelte, sog die Luft ein und schrie ihm die nächsten Worte wieder ins Gesicht. „DU LIEBST MICH! Und ich weiß nicht, was passiert ist, ich weiß nicht, was ich deiner Meinung nach falsch gemacht habe, aber du kannst jetzt nicht einfach gehen. Du KANNST nicht! Ich – Wir –“

Mein Atem klang wie ein Schluchzen. Ich wischte mir mit dem Unterarm über die Augen und presste die Lippen aufeinander. Sie zitterten.

Ramin trat einen Schritt zurück. Von oben herab sah er mich an, und er schüttelte den Kopf, mit einem Lächeln, das den Flur zu Eis gefrieren ließ. „Oh Gott. Oh, fuck. Weißt du – du bist sogar noch erbärmlicher, als ich dachte.“ Er verschränkte die Arme und stieß wieder dieses hohle Lachen aus. „Du glaubst, dass ich dich liebe? Dich? Ernsthaft? Gott, ich muss ein noch besserer Schauspieler sein, als ich dachte.“

Mit einem Schritt schloss er die Distanz zwischen uns wieder, lehnte sich nach vorne und lächelte. „Hör zu, Martin. Hörst du zu? Gut. Krieg das hier in deinen Kopf: Ich liebe dich nicht. Ich bin nicht dein Freund. Ich hab dich gefickt, weil du einen engen Arsch und einen okayen Körper hast, aber es war niemals, zu keinem Zeitpunkt auch nur ein winziges bisschen mehr als Sex. Ich meine, Gott, du glaubst doch nicht, dass du der Einzige bist, den ich in den letzten Monaten gefickt habe, oder? Ich hab in jeder einzelnen Nacht Typen gefickt, und ich hab dich nicht ein einziges Mal vermisst, wenn du nicht da warst. Und jetzt hab ich die Chance, an den Broadway zu gehen und in New York zu wohnen, und du kannst deinen Arsch drauf verwetten, dass ich die nutze, also gehe ich, und das wars. Aber ich hätte es auch so beendet, weißt du? Sogar ein enger Arsch wird langweilig, wenn man ihn zu oft fickt. Aber das weißt du natürlich nicht, oder? Weil du nie fickst. Du bist nicht mal geoutet. Du hast eine Höllenangst davor, was die Leute von dir denken würden, wenn sie wüssten, dass du schwul bist. Willst du wissen, was das ist? Das ist schwach. Das ist erbärmlich. Und ich werde ganz sicher nie, niemals einen feigen kleinen Wichser wie dich lieben!“

Stille. Ein paar Sekunden starrten wir uns nur an. Dann hob ich das Kinn. Aus seinen Augen flogen immer noch Pfeile, aber sie trafen mich nicht mehr. „Raus. Raus, du … verdammtes ARSCHLOCH! Ich will dich nie, NIEMALS wiedersehen, kapiert?“

Er richtete sich auf. „Wenigstens in dem Punkt sind wir uns einig.“ Er drehte sich um, zog die Wohnungstür auf und verschwand. Seine schnellen Schritte hallten durchs Treppenhaus. Dann schlug die Wohnungstür zu.

Links von mir gab es ein Geräusch. Eine Art ersticktes Keuchen. Ich wandte den Kopf. Finn stand in seiner Zimmertür, barfuß und in T-Shirt und Boxershorts, mit offenem Mund und riesigen Augen. Seine blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Wie lange er da schon stand, wusste ich nicht. Ich hatte seine Tür nicht aufgehen hören. Aber wenn er bei den ersten geschrienen Worten aufgewacht war, hatte er vermutlich alles Wesentliche mitbekommen.

„Was glotzt du so?!“

Er stolperte genauso zurück wie ich eben. Einen Moment genoss ich die Angst in seinem Blick. Dann drehte ich mich um und stiefelte den Flur hinunter in mein Zimmer. Die Tür schlug krachend hinter mir zu.

 

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Referenzen:

 

„Love Yourself“ – Song aus dem Album “Purpose” von Justin Bieber. Geschrieben von Ed Sheeran, Benny Blanco und Justin Bieber. Def Jam Recordings, 2015.

 

„West Side Story“ – Musical von Leonard Bernstein. Musik von Leonard Bernstein, Lyrics von Stephen Sondheim, Buch von Arthur Laurents. Basierend auf dem Schauspiel „Romeo and Juliet“ von William Shakespeare. Uraufführung 1957.

Chapter 40: Paying the Price

Chapter Text

  1. Kapitel: Paying the Price

 

„AHH!“ Ivo ging mit einem Schrei zu Boden, sprang wieder auf und baute sich vor mir auf. „Bist du bescheuert? Was ist bei dir kaputt, dass du im Training so ‘ne Blutgrätsche auspackst?“

Mit beiden Händen stieß ich ihn von mir weg. „Kannst ein bisschen gesunde Härte nicht vertragen, was?“

Ivo schnappte nach Luft. „Gesunde Härte?!? Im Spiel wäre das Rot gewesen!“

„Schwachsinn! Das war Kampf um den Ball, ich hab dich kaum –“

„Halt den Mund!“ Johan drängte sich zwischen Ivo und mich, packte mich an beiden Oberarmen und schleuderte mich weg. Ich stolperte nach hinten, fing mich wieder und machte einen Schritt auf Johan zu.

„Halt du doch den Mund, du –“

„BERUHIG DICH!“ Johan donnerte so laut, dass sogar der Rest des Teams, der sich in einem unförmigen Kreis um uns eingefunden hatte, zusammenzuckte. Ich starrte in seine dunklen, vor Wut blitzenden Augen. Eine Sekunde zu lang. In meinem Kopf hörte ich hallende Schritte im Treppenhaus, eine Tür, die zuschlug. Ich schluckte, würgte herunter, was mir auf der Zunge brannte, und senkte den Kopf.

Einen Moment war es still. Dann sprach Johan wieder, ruhiger, aber immer noch mit unterdrücktem Zorn. „Ivo, bist du verletzt?“

„Nein.“ Seine Stimme klang hasserfüllt. Ich schaute hoch. An Johan vorbei traktierte Ivo mich mit einem Blick, der besagte, dass er diesen Umstand allem außer mir zu verdanken hatte.

Ich starrte ihm in die Augen. Los, mach doch. Beschwer dich über mich. Über den rüden Sechser, der deine zarten Flügelflitzerbeinchen malträtiert. Dann werden wir ja sehen, wer hier schwach ist. Wer hier erbärmlich ist.

Ich presste die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat. Weak. Weak and pathetic.

„Gut.“ Johan vollführte eine Geste mit dem Kopf, die ein halbes Nicken und ein halbes Wegscheuchen war. Ivo bedachte mich noch eine Sekunde mit seinem Mörderblick, wandte sich mit einem Schnauben ab und stiefelte in den Mannschaftskreis. Neben Dennis kam er zum Stehen. Der legte ihm den Arm um die Schultern und steckte mit ihm die Köpfe zusammen. An der Richtung ihrer giftigen Blicke konnte ich unschwer erkennen, was das Thema ihrer geflüsterten Gehässigkeiten war. Na wartet. Wenn ihr Streit wollt, den könnt ihr haben.

Ich hatte schon den ersten Schritt in ihre Richtung gemacht, als Johan zu mir herumfuhr. Es gab einen Ruck vorne an meinem Trainingsshirt, und mein Gesichtsfeld war zur Gänze von seinem über eins neunzig hohen, kurz rasierten und auf einmal ziemlich imposanten Kopf ausgefüllt. „Und du reißt dich jetzt endlich mal zusammen! Seit zwei Wochen rennst du hier total aggro rum, pampst alle an, spielst keinen vernünftigen Ball mehr, und jetzt grätscht du uns auch noch von hinten in die Beine! Ivo hätte sich den Knöchel brechen oder die Achillessehne reißen können oder sonst was, und das nach einem Foul im Trainingsspiel! Es reicht mir langsam mit dir, werd jetzt endlich wieder vernünftig! Klar?!“

Mir blieb die Luft weg. Das war doch wohl so was von unfair! Johan war unser Kapitän, wenn es Streit in der Mannschaft gab, sollte er schlichten und sich nicht blind und völlig zu Unrecht auf eine Seite stellen! Außerdem war er Innenverteidiger und langte selber gerne mal hin, wie konnte er ein ganz normales Foul im Kampf um den Ball wie eben als gesundheitsgefährdend bezeichnen?

„Ich hab nicht –“

„Doch, du hast!“ Johan schüttelte die Faust, die er um mein Shirt gekrallt hatte. Ich biss die Zähne zusammen und bemühte mich, das Gleichgewicht zu halten. „Und nicht nur mir, du hängst ALLEN zum Hals raus, ALLEN!“

Mit der freien Hand vollführte er eine Geste in Richtung Zuschauerkreis. Ich wollte nicht, aber meine Augen folgten seinem Blick. Einzeln oder zu zweit stand der Rest der Mannschaft um uns herum, viele mit verschränkten Armen, zusammengekniffenen Lippen oder verengten Augen. Die Einzigen, die nicht feindselig aussahen, waren Gidi und Michi. Sie standen nebeneinander, direkt links von mir. In Michis großen, wasserblauen Augen las ich Schreck und Ratlosigkeit, Gidi hatte den Kopf schiefgelegt und sah nachdenklich aus. Finn konnte ich nicht sehen, denn der stand hinter mir. Seinen Blick spürte ich wie Feuer. Kein Einziger meiner Teamkollegen sah aus, als wolle er Johans Behauptung widersprechen.

Ich senkte den Blick wieder und zerbiss mir die Unterlippe. Ihr habt doch alle keine Ahnung. Keine.

„Und ich sage dir, wenn du dich nicht sofort beruhigst und bei Ivo entschuldigst, dann gehe ich zum Trainer und sorge dafür, dass du nach Stuttgart nicht mitfährst!“ Johan war noch nicht fertig. „Ich bin der Kapitän, der Mannschaftsrat wird das unterstützen, und der Trainer wird auf uns hören! Also? Entscheide dich!“ Er ließ mein Shirt los und stieß mich von sich, als könne er es nicht ertragen, noch länger so nah bei mir zu stehen.

Ich starrte ihn an, in seine kalten, wütenden Augen. Mir brannte auf der Zunge, ihm zu sagen, dass Bruno mich niemals aus dem Kader streichen würde, nur weil ein paar Weicheier, die mit ein bisschen richtigem Einsatz im Training nicht zurechtkamen, das verlangten. Oder dass es mir sowieso egal war, ob ich in Stuttgart dabei war oder nicht. Aber dann dachte ich an Brunos Predigten zur mannschaftlichen Geschlossenheit. Wenn der Kapitän zu ihm kam und berichtete, der gesamte Mannschaftsrat sei der Meinung, ich solle nicht mitfahren, würde er das berücksichtigen. Ich schluckte. Die stillen Räume zu Hause schossen mir durch den Kopf. Der Flur, das Bad, die Küche, das Wohnzimmer, mein Zimmer, die mir in jeder Sekunde Bilder und Erinnerungen entgegenschleuderten. Meine Kehle schnürte sich zu. Bruno durfte mich nicht aus dem Kader streichen. Nicht … jetzt. Nicht auch noch den Fußball …

Ich schluckte. Es war harte Arbeit. Aber ich wusste, was ich tun musste. Langsam, ohne irgendwas als meine Fußballschuhe anzusehen, ging ich an Johan vorbei auf Ivo zu. Meine Beine fühlten sich an wie Blei. Als ich die gelben Schuhe im Blickfeld hatte, blieb ich stehen und zwang den Kopf nach oben. Ivo starrte mich an. Die Feindseligkeit in seinem Blick hatte kaum abgenommen.

„Es … tut mir leid.“ Ich würgte es hervor. Jedes Wort fühlte sich an, als besudle es meine Zunge. „Es war ein zu hartes Foul fürs Training. Ich … bin froh, dass du dich nicht verletzt hast.“

Ivos Lippen waren ein Strich. Aber seine Augen fokussierten sich auf irgendetwas hinter meiner Schulter, und ich ahnte, dass Johan seinem Schlichtungsauftrag nun zumindest ein wenig gerecht wurde. Super. Toller Job, Herr Kapitän. Ich biss mir auf die Zunge und hinderte meine Finger mit einer bewussten Anstrengung daran, sich zu Fäusten zu ballen.

Ivos Blick kehrte zu mir zurück. Er sah genauso bitterlich beleidigt aus, wie ich mich fühlte. „Ja. Ich schätze … ist in Ordnung.“

Wir schauten uns an, hoben mechanisch die Hand, schlugen ein und ließen so schnell wieder los, dass jemand, der im falschen Moment geblinzelt hatte, den Handschlag wahrscheinlich verpasst hatte.

Johan hatte offenbar nicht geblinzelt. „Gut. Dann wäre das geklärt.“ Er atmete aus und streifte mich mit einem Blick, der unmissverständlich sagte, dass er trotzdem nichts dagegen hätte, wenn Bruno mich nach Stuttgart nicht mitnahm. Er lief ein paar Meter über den Rasen zum Ball, der nach meinem Foul kurz neben der Seitenauslinie liegen geblieben war, und spielte ihn zu Ivos Mannschaft, damit sie den Freistoß ausführen konnte. Aber dazu kam es nicht mehr. Von der anderen Seite des Spielfelds ertönte ein Pfiff, und unser Co-Trainer Eddy machte eine eindeutige Handbewegung: Training vorbei.

Es war, als würde das letzte bisschen Luft aus einem ohnehin schon nur noch schwach aufgepumpten Ballon entweichen. Der Ball rollte unbeachtet auf dem Rasen aus. Die meisten Spieler wandten sich sofort ab und stampften mit grimmigen Gesichtern Richtung Kabine. Ein paar fanden sich zu zweit oder zu dritt zusammen. Was genau sie sich zuzischten, konnte ich nicht verstehen, und ich schaute niemanden an. Aber ich spürte die Blicke. Jetzt ballten sich meine Hände doch zu Fäusten, während ich mich aufmachte, die verstreuten Bälle einzusammeln und sie wieder in den Ballsäcken zu verstauen, wie es für die jungen Spieler üblich war. Ja, labert doch, lästert doch alle, schiebt nur alles auf mich. ICH bin nicht derjenige, der hier vor jedem Zweikampf zurückzieht, weil ich Angst habe, meine Fußnägelchen könnten brechen. ICH wehr mich wenigstens ordentlich, ICH spiel mit vollem Einsatz. Einer muss es ja machen. An der Niederlage gegen Bayern war ich jedenfalls nicht schuld.

Ich hatte den Ball erreicht, der von Johans Fuß weggerollt war, drehte mich um und wollte ihn mit einem kräftigen Tritt in Richtung Ballsäcke befördern, als schon wieder jemand direkt vor mir stand – diesmal kein Schrank wie Johan, sondern ein schmaler Körper, um dessen Brust das Trainingsshirt flatterte, mit einem blassen Gesicht, dessen Zähne seine Unterlippe bearbeiteten. Mir schoss das Blut ins Gesicht.

„Martin –“

„Lass mich.“

Mit einem Schritt war ich an ihm vorbei, wich seiner Hand aus, die er halbherzig ausgestreckt hatte, und dribbelte den Ball in Richtung Ballsäcke, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich lief schnell, damit ich ja von Finn wegkam, aber nicht zu schnell. Ich wollte nicht zu bald bei den Materialen ankommen, wo die Trainer standen und die anderen jungen Spieler sich auch einfinden würden. Während ich den Ball über den Rasen trieb, versuchte ich, die Hitze aus meinen Wangen zurückzudrängen und der Welle gleißender Wut, die bei Finns Blick über mich hereingebrochen war, irgendwie Herr zu werden.

Warum musste Bruno ihn ausgerechnet jetzt ständig berücksichtigen? Die ganze Hinrunde war er schön aus den Augen und aus dem Sinn in der U19 verpackt gewesen; warum musste er ausgerechnet jetzt ständig in der Bundesligamannschaft dabei sein? Reichte es nicht, dass ich ihn zu Hause ständig an der Backe hatte? Nein, natürlich musste er seit dem Trainingslager ein festes Mitglied des Profitrainings sein, und bei der Eins-zu-zwei-Niederlage gegen Bayern am Wochenende war er sogar im Kader gewesen. Hatte Bruno denn keine anderen Spieler, die ihm die Bank warmhalten konnten?

Mein Fuß traf den Ball heftiger, als ich beabsichtigt hatte, und ich musste ihm ein paar Meter hinterherlaufen. Super. Alles Finns Schuld. Ständig diese Blicke, diese aufgerissenen, kotzhimmelblauen Augen. Und diese heuchlerischen Sätze. Brauchst du irgendwas, soll ich dir Tee machen, soll ich was kochen, willst du drüber reden, blablabla.

Finn konnte sich das alles sparen. Ich wusste genau, was er wirklich dachte. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, jedes Mal, wenn ich nicht aufpasste und meine Augen auf seine trafen, konnte ich darin lesen wie auf einem Neonschild: ICH HABS DIR JA GESAGT. ICH HABS DIR JA GESAGT, ABER DU WOLLTEST JA NICHT HÖREN.

Ich presste die Zähne so fest aufeinander, dass mein Kiefer verkrampfte, packte einen fast vollen Ballsack und lupfte meinen Ball hinein. Ich rammte den Verschluss zu und wollte mit dem Sack über der Schulter Richtung Kabine verschwinden, bevor Michi und Gidi aufkreuzen und sich auch noch mit diesen ätzenden Sorgengesichtern nach meinem Wohlergehen erkundigen konnten. Aber ich hatte den Sack noch nicht mal vom Boden aufgehoben, als von rechts eine leise Stimme die Stille durchschnitt. „Martin, komm zu mir, bitte.“

Ich stieß die Luft aus. Einen Herzschlag stand ich nur da, die Hand immer noch um den Tragegurt des Ballsacks geklammert. Würde Bruno mir jetzt sagen, dass ich auch ohne Johans Zutun aus dem Kader für Stuttgart gestrichen war? Na warte, wenn das so war, konnte er was erleben.

Mit einiger Mühe löste ich meinen Griff um den Gurt und trat vor meinen Trainer. „Ja?“

Bruno sah mich an, leicht von unten herauf, weil er nun mal ein Stück kleiner war als ich. Trotzdem fühlte ich mich, als würde ich unter seinem bedächtigen Blick ein Stück schrumpfen. Ich biss mir auf die Zunge und schaute lieber schnell auf meine Schuhe. Das half aber auch nicht wirklich weiter. Die Stille dehnte sich aus. Als ich haarscharf davor war, selber wieder den Mund aufzumachen, sprach er endlich. „Ich möchte, dass du mir jetzt sagst, was mit dir los ist.“

Ruhig, ohne Schärfe. Aber trotzdem ein Befehl. Ein neuer Stich fuhr durch mich hindurch, und ich riss den Kopf hoch. „Es ist nichts!“

Ich starrte in Brunos Augen. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Nothing. We had nothing.

Ich holte zittrig Luft und würgte den heißen Knoten in meiner Kehle herunter. „Es … tut mir leid.“ Das murmelte ich wieder in Richtung meiner Schuhspitzen. „Es ist nur … wirklich nichts los, Trainer. Alles in Ordnung, ehrlich. Und ich spiele doch nicht schlecht, oder?“ Jetzt sah ich Bruno wieder an. Meine Zähne bearbeiteten meine Oberlippe.

Wieder schwieg Bruno. Er begutachtete mich, und es war, als würde er mich durchleuchten. „Nein, du spielst nicht schlecht.“

Ich stieß die Luft aus. Meine Schultern sackten herab.

„Gegen die Bayern hast du ordentlich gespielt. Mit guter Grundaggressivität, ein, zwei Fouls zu viel vielleicht. Am Ende warst du gelb-rot-gefährdet, deswegen habe ich dich auch runtergenommen.“

Wieder flackerte es in meinem Bauch. So ein Schwachsinn. Ich hatte ja gewusst, dass ich schon Gelb hatte, ich wäre niemals vom Platz geflogen, auch, wenn Bruno mich die letzten zehn Minuten noch hätte weiterspielen lassen. Gerade noch rechtzeitig biss ich mir auf die Zunge.

„Aber du zeigst viel Einsatz, das brauchen wir. Auch in Stuttgart. Aber was wir auch brauchen, Martin, ist Teamgeist. Ruhe. Ein kluges Spiel, mit dem Kopf.“

Er hatte sich ein wenig aufgerichtet. Nur einen Hauch. Trotzdem fiel es mir plötzlich schwerer, ihm in die Augen zu schauen. Ich presste die Lippen aufeinander und hinderte mich mit Mühe daran, zu blinzeln.

„Was du in der letzten Woche im Training gezeigt hast, hatte mit Teamgeist nichts zu tun. Du sollst deine Mitspieler motivieren, es ist gut, wenn du den Mund aufmachst. Aber runtermachen sollst du sie nicht. Wenn ein Pass von dir nicht ankommt, solltest du den Fehler zumindest auch bei dir suchen. Und wenn ich noch einmal eine Aktion wie eben gegen Ivo im Training von dir sehe, fliegst du sofort raus. Ist das klar?“

Er hatte die Stimme nicht erhoben. Er sprach ruhig, entschieden, und er sah mich ohne Regung an. Ich schluckte. Vor meinem inneren Auge sah ich die Szene noch mal. Ivo, der sich den Ball die Linie entlang vorlegte und zum Sprint ansetzte. Ich, schräg von hinten. Ungebremst über den Rasen rutschend, mit ausgestrecktem Bein und offener Sohle. Der Ball war meterweit weg gewesen. Ich hatte keine Chance gehabt, ihn zu spielen. Und ich hatte das genau gewusst.

Ich blinzelte und senkte den Kopf. Erst jetzt spürte ich den dumpfen Schock, die taube Erleichterung, dass Ivo sich wie durch ein Wunder bei dieser Aktion nicht verletzt hatte. Bei diesem brutalen Foul. Für das es im Spiel natürlich sofort glatt Rot gegeben hätte.

„Ja.“ Meine Stimme war belegt. Ich räusperte mich. „Ganz klar. Es … tut mir wirklich leid.“

„Gut.“

Ich hob den Kopf. Brunos Gesicht zeigte noch immer keine Regung.

„Und das ruhige Spiel, das Spiel mit Kopf, das hast du auch verloren seit dem Trainingslager. Du zeigst viel Einsatz und viel Laufbereitschaft, aber du gehst unnötige Wege. Du stehst häufiger falsch, und deine Pässe sind ungenauer, weil du dir keine Zeit nimmst. Darunter leidet dein Spiel, Martin, und unser Spiel auch. Die Ruhe am Ball ist eine deiner größten Stärken. Wir brauchen das auf dem Platz. Wenn du das nicht zeigen kannst, bist du für die Mannschaft weniger wertvoll.“

Brunos Augen ruhten auf meinen. Ich schluckte.

„In Stuttgart spielst du in der Startelf. Aber ich will den echten Martin sehen. Den, der mit Kopf spielt und Teamgeist zeigt. Dann bist du unverzichtbar für uns, Martin. Aber nur dann. Wenn du das nicht auf den Platz bringst, wirst du gegen Köln nicht wieder von Anfang an spielen.“

Stille. Ich holte tief Luft. „Klar, Trainer. Ich … Du hast Recht. Ich … werde dich nicht enttäuschen.“

Bruno nickte. Ich drehte mich um, nahm den Ballsack und ging über den jetzt leeren Trainingsplatz Richtung Kabine. Es standen keine Fans am Rand. Das Training war das letzte vor dem Spiel gegen Stuttgart und nicht öffentlich gewesen.

Mit Kopf und Teamgeist. Dann bist du unverzichtbar.

Mein Unterkiefer versteifte sich. Unverzichtbar. Genau. Unverzichtbar! Hörst du?

Ich blinzelte und atmete durch. In Stuttgart würde ich allen zeigen, dass ich unverzichtbar war.

 

*

 

Es ging nicht. Ich versuchte alles, und es ging nichts. Ich spielte neben Lewis auf der Doppelsechs, ich rannte und passte und grätschte und forderte Bälle, und mit jeder Aktion versuchte ich, das Spiel zu lenken, es in die Hand zu nehmen, die freien Räume zu sehen, die entscheidenden Passwege zuzulaufen, so wie ein Sechser es tun musste, so wie ich es konnte, verdammt. Die einfachen Sachen klappten am Anfang auch noch, Rückpässe, Querpässe, aber das war nicht, was ich tun wollte, was ich mir vorgenommen hatte. So machte ich mich nicht unverzichtbar.

Je länger das Spiel dauerte und je mehr Stuttgart uns in der eigenen Hälfte einschnürte, desto weniger Bälle spielte ich nach hinten. Stattdessen suchte ich die Schnittstellen, die tiefen Laufwege. Wir waren selten genug in Ballbesitz, wenn wir die Kugel mal hatten, durften wir doch nicht auch noch immer hinten rum spielen! Also schrie ich, wieder und wieder, nach dem Ball, und wenn ich ihn hatte, nahm ich den Kopf hoch, nach links außen, nach rechts außen, steil in die Mitte, und ich spielte, hoch, flach, Hauptsache tief. Ivo war doch schnell, und Nico auch, wenn sie mal durchkamen, wenn ich sie an die Grundlinie schicken konnte …

Es klappte nie. Die flachen Pässe fingen die Stuttgarter Verteidiger ab, die hohen Bälle gerieten zu lang oder zu zentral, prallten einmal auf und wurden auf dem nassen Rasen unerreichbar, oder sie flogen direkt ins Aus. Ich stand jedes Mal da und konnte es nicht glauben. Das Passspiel, punktgenau, mit dem richtigen Timing, das war doch meine Stärke, das konnte ich doch, verdammt!

Mit Kopf. Spiel mit Kopf.

Ich sog die Luft ein, wischte mir die regennassen Haare aus der Stirn und versuchte es wieder. Und wieder. Und wieder. Aber entweder mein Kopf funktionierte nicht, oder mein Fuß verweigerte ihm mit einem Mal den Dienst. Meine Passquote musste unterirdisch sein.

Wenn es wenigstens defensiv geklappt hätte. Wie im Hinspiel kriegte ich es mit Didavi zu tun, und ich klebte an ihm, versuchte, auf seinen Füßen zu stehen, ihm keinen Platz zu lassen – vergeblich. Didavi drehte sich um mich herum, machte Übersteiger, Körpertäuschungen, spielte Pässe an meinen verzweifelt ausgefahrenen Beinen vorbei. Er legte Chancen auf für Gentner, für Kostic, für Werner, er suchte selbst den Abschluss. Dass Stuttgart zur Pause nicht führte, war einzig und allein ihrer unterirdischen Chancenverwertung zu verdanken.

Nach der Pause versuchte ich es weiter. Es war kalt, es schüttete, das Flutlicht blendete, und ich forderte weiter jeden Ball, hetzte jedem Stuttgarter Pass hinterher. Jetzt aber, dachte ich jedes Mal, nach jedem neuen Fehlpass, nach jeder missglückten Aktion. Jetzt aber. Jetzt aber!

Ich versuchte, mir mehr Zeit zu nehmen, erst mal den Kopf zu heben, nach dem freien Mann zu schauen. Zwei Minuten nach Wiederanpfiff hielt ich so den Ball Mitte der eigenen Hälfte, zögerte, weil vorne alles zu war, und spürte in meinem Rücken den heransprintenden Werner nicht. Ein Körperkontakt, ein leichter Rempler mit angelegtem Arm, ein angelndes Bein, und der Ball war weg. Bevor ich kapiert hatte, was passiert war, war Werner mit seinem Wahnsinnsantritt vier Meter von mir weg. Er schaute, spielte einen Doppelpass mit Rupp und stand frei vor René. Mit einer Monsterparade verhinderte unser Keeper das Gegentor.

Wieder zwei Minuten später legte sich Kostic an der Außenlinie den Ball an mir vorbei, schüttelte meine Hand, die ich in sein Trikot zu krallen versuchte, spielend leicht ab und flankte in die Mitte. Es folgten ein paar Sekunden munteres Scheibenschießen, in denen jeder Stuttgarter mal abziehen durfte und sich immer ein neuer matschschwarzer Hamburger dazwischenwarf, bevor René gegen Rupp die nächste Wahnsinnsparade rausholte und per Fußabwehr zu Ecke klärte.

Nach einer Stunde wechselte Bruno. Ich wagte kaum, auf die Tafel zu schauen. Ich wollte nicht runter. Ich wollte doch das Spiel machen, es prägen, es entscheiden, verdammt! Ich war doch unverzichtbar!

Aber es war nicht meine Nummer 6, die in Rot aufleuchtete. Stattdessen brachte Bruno Michi für Nico. Frischen Schwung für die Offensive. Ich atmete durch und schüttelte mir die Haare aus den Augen. Jetzt aber. Jetzt aber wirklich.

Als Didavi sich das nächste Mal um mich herumdrehen wollte, ließ ich das Bein stehen. Wir waren direkt rechts an der Strafraumkante, eigentlich keine gute Position, um einen Freistoß gegen sich zu haben, aber das war mir egal. Ich würde mich nicht mehr wie eine Slalomstange überlaufen lassen. Nein, Mann. Nicht mit mir. Wer an mir vorbei wollte, musste damit leben, dass es wehtat. So richtig.

Didavi schoss den Freistoß selbst. Zusammen mit den anderen in der Mauer sprang ich hoch, aber der Ball segelte über meinen Scheitel hinweg. René hechtete und parierte. Es gab Ecke von rechts. Ich baute mich auf der Torlinie neben dem zweiten Pfosten auf. Die Fingerknöchel meiner rechten Hand streiften das kalte Aluminium. Im Kopfballgetümmel in der Mitte konnte ich nicht viel ausrichten, aber wenn ein Stuttgarter sich dort durchsetzte und den Ball aufs Tor brachte, konnte ich den Bereich abdecken, an den René nicht hinkam.

Kostic trat die Ecke. Der Ball flog mit viel Schnitt in den Strafraum und kam am Elfmeterpunkt runter. Cleber und Aaron sprangen hoch, aber es war ein Weißer, der an den Ball kam. Didavi. Von seiner Stirn flog der Ball aufs Tor zu. Genau auf mich.

Ich holte aus. Den hatte ich. Locker. Und wenn ich ihn nicht blind aus dem Strafraum drosch, sondern Ivo finden konnte, der vorne geblieben war … Ganz Stuttgart war aufgerückt. Und unsere größte Chance in diesem Spiel, das Stuttgart vollkommen kontrollierte, lag in Standards – und Kontern.

Ich brachte den rechten Fuß nach vorne. Mit Schwung, mit Kraft, und ein bisschen nach rechts, damit Ivo den Schlag erlaufen und sofort Richtung Strafraum gehen konnte. Ich traf den Ball. Aber nicht mit dem Vollspann. Ich hatte die Flugbahn völlig falsch eingeschätzt. Mit dem rechten Außenrist wischte mein Fuß am Ball entlang, und statt mit voller Wucht aus dem Strafraum beförderte ich ihn mit nur einem ganz leichten neuen Impuls schräg zur Seite. Von meinem Fuß sprang der Ball an den rechten Innenpfosten des Tores, und von dort aus noch ein kleines Stück nach hinten.

Als ich das Gleichgewicht wiedererlangt, noch mal ausgeholt und den Ball mit einem verzweifelten Tritt diesmal wirklich aus dem Strafraum befördert hatte, war es zu spät. Günter Perls Pfiff hallte schon durchs Stadion, und mit einer unmissverständlichen Geste deutete er auf die Uhr an seinem linken Handgelenk und danach auf den Mittelkreis. Tor. Eins zu null für Stuttgart.

„JAAA!“ Didavi drehte jubelnd ab. Seine Mitspieler umringten ihn und klopften ihm lachend auf den Schädel. Ich starrte ihnen hinterher. Sie feierten den Falschen. Nicht er war es gewesen, der dem Ball den entscheidenden Impuls gegeben hatte. Nicht er war es, der als Torschütze auf der Leinwand stehen würde. Als Eigentorschütze.

Auf der Torlinie sank ich in die Knie. Es war, als würde der eisige Regen nicht mehr nur meine Haare und mein Trikot durchweichen, sondern meine Haut durchschlagen. Das Spiel prägen. Das Spiel entscheiden. Unverzichtbar sein.

Ich zog den Kopf an die Brust, krallte die linke Hand ins Haar, die andere um den Pfosten. Den verdammten, verfluchten Pfosten. Hätte er nicht nur ein bisschen anders gerundet sein können? Ein klitzekleines Stückchen weiter hinten stehen?

Regentropfen rannen mir aus den Haaren in die Augen. Ich blinzelte. Der Rasen unter meinen Füßen war grünbraun und schlammig. Nein, der Pfosten war nicht schuld. Der stand, wo er immer stand. Der war verlässlich. Machte seinen Job. Der wurde nicht von einem Tag auf den anderen ein Sicherheitsrisiko für die eigene Mannschaft. Ein Versager. Ein Nichts. That’s weak. That’s pathetic. We had nothing. You’re a scared little faggot. SCARED LITTLE FAGGOT!

“Komm schon, Martin, weiter! Nichts passiert! Genug Zeit! Auf geht’s!“ Ein Ruck unter meinen Armen. Michi hatte mich auf die Füße gewuchtet, klopfte mir ein paarmal auf den Rücken und klatschte in die Hände. „Komm schon, weiter jetzt!“

Energisch strich er sich das Haar aus der Stirn, ruckte den Kopf in Richtung Anstoßpunkt und lief voraus, um seine Position wieder einzunehmen. Ich schlich hinterher. Immer noch sah ich nichts an als nur den Rasen unter meinen Füßen.

Beim schrillen Wiederanpfiff zwang ich den Kopf wieder hoch. Ich musste ja sehen, was passierte. Aber ich bewegte mich kaum noch von der Stelle. Meine Arme und Beine waren so schwer, dass ich sie kaum noch heben konnte, und wenn ich den Mund aufgemacht hätte, um den Ball zu fordern, wusste ich nicht, was dabei herausgekommen wäre. In meiner Kehle steckte etwas, das heiß und unförmig und schleimig war und von Sekunde zu Sekunde größer wurde.

Es machte nichts, dass ich nicht mehr am Spiel teilnahm. In den paar Minuten, die Bruno brauchte, um den Wechsel vorzubereiten, spielten die anderen mir keinen einzigen Ball mehr zu. Wahrscheinlich wussten sie, dass sie ihn dann auch gleich zum Gegner schießen könnten. Als der Ball schließlich im Aus war, blitzte auf der Tafel die grüne 16 und die rote 6 durchs Stadion. Den Weg nach draußen legte ich noch mal im Trab zurück. Ich klatschte mit Artjoms ab, ohne ihn anzusehen, und ging sofort zur Bank. Ich spürte Brunos Blick vom Rand der Coaching-Zone, und die der Co-Trainer vom anderen Ende der Auswechselbank. Ich hätte hingehen müssen, abklatschen. Worte hören, Motivation, Aufmunterung.

Es gab ein Reißen an meiner Kehle, als hätte jemand einen Strick darumgelegt und zugezogen. Den echten Martin, hallte es durch meinen Kopf. Ich will den echten Martin sehen. Und meine Worte. Ich werde dich nicht enttäuschen.

Mein Magen hob sich. Ich presste die Lippen zusammen. Nur mit größter Mühe konnte ich das Würgen zurückdrängen.

Die Spielerseite der Bank war fast komplett leer. Nur Nico saß, in eine dicke Winterjacke gehüllt, an einem Ende und sah dem Spiel zu. Alle Auswechselspieler waren hinter unserem Tor zum Aufwärmen. Gidi war dabei, aber Finn nicht. Der war nicht im Kader. Wenigstens diese winzige Gnade hatte Bruno mir gewährt.

Ich wandte Nico den Rücken zu und ging zur anderen Seite der Bank. Die Winterjacken lagen in einem Stapel übereinander. Ich nahm die oberste und schlüpfte hinein. Sie war warm, und trocken, und herrlich groß. Ich zog den Reißverschluss bis zum Anschlag nach oben, die Kapuze über meinen Kopf, vergrub die Hände in den Taschen und das Kinn im Kragen, ließ mich in die Lehne zurücksinken und verfolgte schweigend den Rest des Spiels.

Zwei Minuten nach seiner Einwechslung erzielte Artjoms auf Vorlage von Matze den Ausgleich. Alles jubelte, die Jungs auf dem Platz, die Auswechselspieler hinter dem Tor, die Fans im Gästeblock dahinter. Nico sprang auf und klatschte in die Hände. Bruno ballte beide Fäuste, schrie seine Emotionen heraus und gestikulierte wild in Richtung Spielfeld. In meiner Brust glomm etwas auf, ganz schwach und ganz kurz, wie ein Streichholz im Sturm. Und genauso wie das erlosch es sofort wieder. Ich sprang nicht auf, ich jubelte nicht, ich ballte keine Hand zur Faust. Ich blieb einfach sitzen, begraben im dicken Wintermantel, und wartete auf das, was kommen würde.

Was kam, waren in der 79. und 83. Minute zwei riesige Chancen für uns zur Führung. Ivo vergab kläglich, Lasso unglücklich. In der 88. Minute schlug der gerade für Didavi eingewechselte Alexandru Maxim eine Flanke von rechts auf den Kopf des ebenfalls eingewechselten Artem Kravets, der sich gegen Johan durchsetzte und den Ball ins linke obere Toreck köpfte. René war machtlos. In der Nachspielzeit hatten wir noch einmal eine Chance durch Cleber, aber ein Tor fiel nicht mehr. Kravets‘ Treffer war der Lucky Punch zum Zwei-zu-eins-Sieg für Stuttgart.

Als der Abpfiff ertönte, ging ich sofort in die Kabine. Natürlich hätte ich draußen bleiben müssen, für den Mannschaftskreis, Brunos erste Ansprache, den Gang zu den Fans. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht.

Die Kabine war menschenleer. Es war hell und warm hier drin. Ich zog die Jacke aus, schälte mir die nassen Sachen vom Leib und ging duschen. Das Wasser war so warm, dass es dampfte. Ich blieb nur so lange darunter, wie ich brauchte, um mir Haare und Körper einzuseifen und wieder abzuspülen. Und auch das tat ich nur, weil ich musste. Weil wir eine stundenlange Reise vor uns hatten. Also spülte ich Matsch und Gras und Regen von meiner Haut, aber sonst tat das Wasser nichts. Mein Bauch blieb steinhart, der schleimige Batzen saß in meiner Kehle, und von der Wärme von Wasser und Kabine drang nichts zu mir durch.

Ich kam aus der Dusche, bevor irgendein anderer zurück in der Kabine war, griff meine Klamotten aus dem Spind und zog sie mit abgehackten Handgriffen über. Kein einziges Kleidungsstück spürte ich wirklich. Meine Haut war kalt und taub. Als ich fertig war, zog ich die Kapuze über den Kopf, schlang die Sporttasche über die Schulter und verließ die Kabine. Mit hochgezogenen Schultern passierte ich die Journalisten links und rechts hinter den Absperrbändern, die mir Mikrofone und Handys entgegenstreckten. Ich ging genau in der Mitte des Ganges und schaute nur geradeaus. Die Fragen von beiden Seiten hörte ich kaum. Ein schwaches Summen lag auf meinen Ohren.

Als ich am Mannschaftsbus ankam, war er noch zu. Wahrscheinlich war Miro noch damit beschäftigt, Bälle, Leibchen und Hütchen zusammenzupacken. Die Bushalle war dunkel, die Einfahrtstore geöffnet. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen den Bus und schloss die Augen. Kühle Nachtluft strömte durch meine Lunge. Letzte Woche war es auch so kalt gewesen, nach dem Spiel gegen Bayern. Und beim letzten Abendspiel davor, gegen den BVB. Im November. Saukalt. Und noch später. Fast Mitternacht, als es vorbei war. Und danach … danach …

Ich schluckte. Meine Augenlider pressten sich aufeinander. We had sex, we fucked, a couple of times, that’s it. Why should you be anyone special? I didn’t miss you once when you were not there. You’re weak. You’re pathetic. You’re just a scared little fa-

RUMMS. Ich fuhr zusammen. Miro stand vor mir. Neben ihm auf dem Boden lagen ein Ballsack und eine Materialkiste. Er musterte mich, die Lider ein wenig gesenkt, wie immer. „Martin.“

Ich senkte den Kopf. Das Etwas in meiner Kehle pochte und brannte.

Nach ein paar Sekunden seufzte Miro. „Na ja. Ist ja nicht meine Verantwortung. Komm mal rein, Junge. Komm ins Warme.“

Es gab ein Zischen. Links von mir öffnete sich die Tür. Ich glitt herum und erklomm die Stufen in den Bus, ohne Miro anzusehen.

Drinnen rutschte ich in meine Bank, ließ die Sporttasche auf den Sitz neben mir fallen und presste den Kopf gegen die Scheibe. Es war stockfinster draußen. Gut so. Konnten wir nicht einfach hier stehen bleiben? Konnte Miro nicht die Tür zu machen, von außen, die anderen irgendwie anders nach Hause bringen und mich vergessen? Hier, im Dunkeln, im Abgrund, wo mich keiner sah, wo keiner kam und Sachen sagte, die … I do not love you … I am not your boyfriend … I fucked you because you have a tight ass and an okay body, but it was never ever anything more than sex … Even a tight ass gets boring when you fuck it too often …

Etwas kam aus meiner Kehle. Schaffte es irgendwie, sich einen Weg zu bahnen durch den Batzen und den Strick und die zusammengepressten Lippen. Erstickt. Wimmernd. Weak. Pathetic. Ich kniff die Augen zusammen. Meine Zähne bohrten sich so fest in meine Unterlippe, dass ich Blut schmeckte.

Geräusche. Ich wandte den Kopf. Dunkle Schatten bewegten sich vor den Fenstern. Meine rechte Hand fand den Reißverschluss meiner Tasche. Ich riss ihn so hastig auf, dass er blockierte. Als das Fach nach einem zweiten Anlauf endlich offen war, wühlte ich darin herum, fiebrig, und es war mir egal, was ich alles durcheinanderwarf. Komm schon. Komm schon. Schnell, schnell, bitte …

Endlich stießen meine Finger an etwas Hartes, Rechteckiges. Ich riss das Handy heraus. Die Kopfhörer fand ich in der Vordertasche. Aufklappen, rausholen. Ohne die Kapuze abzusetzen schob ich mir die Stöpsel ins Ohr. Das Handy mit der linken Hand umklammert, machte ich mit der rechten die Tasche wieder zu und drehte den Kopf ruckartig zurück zum Fenster. Keine Sekunde zu früh. Die dumpfen Geräusche wurden zu leisen Worten, als die ersten meiner Mannschaftskollegen den Bus betraten.

Ich starrte nach draußen. Ein Summen füllte meine verstöpselten Ohren. Nur die Geräuschdämpfung. Sonst nichts. Wie auch? Ich hatte ja nichts angemacht. Mein Handy lag schwarz und still in meiner verkrampften Hand.

Schritte im Gang. Schritte und leise Worte. Verwischt. Bedeutungslos. Nur Geräusche. Als sie näherkamen, wurden sie leiser, verstummten. Ich zwang mich, einzuatmen. Meine Fingernägel schnitten in meine Handfläche.

„Martin …“

Michi. Das war Michi. Ich drehte mich nicht um, und trotzdem konnte ich ihn sehen, lang und schlaksig im dunklen Gang, die braunen Haare feucht in der Stirn, über den Sitz nach vorne gebeugt. Ich schloss die Augen. Meine Kehle arbeitete.

„Lass mal, Michi. Komm. Lass ihn.“ Tiefer. So leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte. Gidi.

Ein kurzes, heftiges Lufteinziehen. Lippen fest, fest aufeinander.

Stille. Schritte. Und dann – klack, machte es über mir. Im Gepäckfach. Gleich darauf ein leichtes Erzittern der Bank, eine Präsenz neben meinem rechten Bein, meinem Arm.

Mein Kopf drehte sich. Da, im Sitz neben meinem, saß Gidi. Er hatte meine Tasche und seine über uns ins Gepäckfach verfrachtet, hielt seine Kopfhörer und sein Handy in der Hand und streckte die langen Beine unter dem Vordersitz aus. Auf der anderen Seite des Ganges war Michi in seine übliche Sitzbank gerutscht.

Ein paar Sekunden starrte ich Gidi an. Der schien es gar nicht zu bemerken. In aller Seelenruhe scrollte er durch sein Handy, den Kopf zurückgelehnt und ebenfalls mit der Kapuze bedeckt.

Ich blinzelte. Einmal, zweimal. Holte Luft. Erst, als ich sicher war, dass ich die Geräusche aus meiner Kehle würde kontrollieren können, machte ich den Mund auf. „Geh weg, Gidi.“

Gidi wandte ganz leicht den Kopf. Seine Augenbrauen verschwanden unter dem Schatten der Kapuze. „Bitte, wenn’s dir lieber ist, dass jeder hier stehenbleibt und Frust ablässt.“

Ich blinzelte. Gidi erwiderte meinen Blick. Gegen meinen Willen zuckten meine Augen hoch. Einer nach dem anderen betrat der Rest den Bus. Einige glitten in die vorderen Bänke, andere gingen nach hinten durch. Bevor sie sich setzten, suchten die meisten mit den Augen den Bus ab. Sobald sie sich auf mich fixierten, wurden Lippen schmal, Gesichtszüge hart. Ein paar schüttelten den Kopf. Diejenigen, die an mir vorbei zu den hinteren Plätzen gingen, ließen ihren stechenden Blick im Vorbeigehen ein paar Sekunden an mir hängen. Dennis und Ivo sahen aus, als hätten sie gerne den Mund aufgemacht. Aber ihre Augen glitten zu Gidi, zu der großen, dunklen Gestalt im Sitz am Gang, über die hinweg sie ihre Tirade hätten loslassen müssen, und sie wandten sich schnaubend ab. Blicke gab es von fast jedem. Aber keiner, kein Einziger, blieb stehen.

Gidi hatte sich nicht gerührt. Er saß einfach da, neben mir, entspannt, ruhig. Kein Vorwurf. Nichts.

Es gab ein Reißen am Strick um meine Kehle. Es fühlte sich an, als hätte ich Feuer verschluckt. In meinen Augen brannte es. Ich versuchte, Luft zu holen, die Lippen auseinanderzukriegen, um etwas sagen zu können, irgendwas, damit er nicht doch noch auf die Idee kam, zu gehen. Aber es ging nicht. Flüssiges Feuer verzehrte meinen Hals. Wenn ich jetzt den Mund aufmachte, würde es nichts geben, das ich noch tun konnte.

Also drehte ich nur den Kopf weg. Presste ihn gegen die Scheibe und flehte, dass Gidi auch so verstehen würde, dass ich meine Meinung geändert hatte. Und das tat er wohl. Während die letzten Spieler in den Bus stiegen und Miro den Motor ruckelnd und brummend zum Leben erweckte, blieb er sitzen, setzte sich die Kopfhörer ein, faltete die Hände vor dem Bauch und schloss die Augen. Mich sah er dabei die ganze Zeit nicht mehr an.

Ich schaute durchs Fenster auf die dunklen Straßen. Der Regen prasselte gegen die Scheibe. In langen Schlieren lief er daran hinunter und verwischte die Straßenlaternen und Autoscheinwerfer zu unscharf pulsierenden Punkten. Blicklos starrte ich nach draußen. Die vereinzelten Fans, an denen wir vorbeifuhren, trugen das Rot und Weiß des VfB. Sie lachten und umarmten sich, schienen weder Kälte noch Nässe zu spüren. Klar, nach so einem Sieg. Last Minute, das war immer am besten, am emotionalsten. Im Hinspiel hatten wir das schließlich selbst erlebt. So lange hatten wir zurückgelegen damals, und dann hatte Lasso den Ausgleich gemacht, und in der 89. Minute Johan das Drei-zwei. Wie wir gefeiert hatten. Wie das Stadion explodiert war. Wir hatten alle gestrahlt, es hatte nichts Schöneres gegeben, und dann … Nach dem Spiel, als ich … als wir … Er, oben, im VIP-Bereich … auf mich wartend … VIP … Very Important Person … Do you know how many guys I’ve fucked over the years? How many guys I’ve fucked just like you, how many have sucked my dick just like you? Why should you be anyone special? You’re even more pathetic than I thought. You think I love you? YOU?

Ich presste die Hand vor den Mund. Die Straßenlichter drangen durch meine zusammengekniffenen Lider, oder vielleicht waren es auch andere Lichter, die da vor meinen Augen tanzten, von denen mir schlecht wurde. Kronleuchter. Gläser, Marmor, Glitzern und Funkeln. Das Brennen in seinen Augen. Sterne, leuchtend in der eiskalten klaren Nacht. I don’t know if I deserve it or not, but … you do look perfect tonight.

Ein Wimmern. Kurz, erstickt, gedämpft durch Lippen und Hand. Ich zwängte den Zeigefinger zwischen die Zähne und biss darauf. Aus meiner Kehle gab es eine Stichflamme. Etwas in meiner Brust krampfte sich zusammen.

Und dann ging es nicht mehr. Ich sog die Luft durch die Nase ein, ließ den Zeigefinger, wo er war, und versuchte verzweifelt, jedes Geräusch zu ersticken. Die Tränen quollen unter meinen Lidern hervor. Sie strömten über meine Wangen, flossen über Nase, Lippen, Kinn, und ich tat nichts, um sie zurückzuhalten. Ich konnte nicht mehr. Jetzt konnte ich einfach nicht mehr.

 

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Referenzen:

 

„Paying the price“ – ist zwar kein direktes Zitat aus dem Song, ist aber trotzdem Titel dieses Kapitels, weil es in ABBAs (Benny Andersson, Björn Ulvæus, Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad) „Angeleyes“ heißt „He took my heart and now I pay the price“. Song aus dem Album „Voulez-Vous“, Epic Records 1979.

Chapter 41: Paying the Price - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Paying the Price

 

„AHH!“ Ivo ging mit einem Schrei zu Boden, sprang wieder auf und baute sich vor mir auf. „Bist du bescheuert? Was ist bei dir kaputt, dass du im Training so ‘ne Blutgrätsche auspackst?“

Mit beiden Händen stieß ich ihn von mir weg. „Kannst ein bisschen gesunde Härte nicht vertragen, was?“

Ivo schnappte nach Luft. „Gesunde Härte?!? Im Spiel wäre das Rot gewesen!“

„Schwachsinn! Das war Kampf um den Ball, ich hab dich kaum –“

„Halt den Mund!“ Johan drängte sich zwischen Ivo und mich, packte mich an beiden Oberarmen und schleuderte mich weg. Ich stolperte nach hinten, fing mich wieder und machte einen Schritt auf Johan zu.

„Halt du doch den Mund, du –“

„BERUHIG DICH!“ Johan donnerte so laut, dass sogar der Rest des Teams, der sich in einem unförmigen Kreis um uns eingefunden hatte, zusammenzuckte. Ich starrte in seine dunklen, vor Wut blitzenden Augen. Eine Sekunde zu lang. In meinem Kopf hörte ich hallende Schritte im Treppenhaus, eine Tür, die zuschlug. Ich schluckte, würgte herunter, was mir auf der Zunge brannte, und senkte den Kopf.

Einen Moment war es still. Dann sprach Johan wieder, ruhiger, aber immer noch mit unterdrücktem Zorn. „Ivo, bist du verletzt?“

„Nein.“ Seine Stimme klang hasserfüllt. Ich schaute hoch. An Johan vorbei traktierte Ivo mich mit einem Blick, der besagte, dass er diesen Umstand allem außer mir zu verdanken hatte.

Ich starrte ihm in die Augen. Los, mach doch. Beschwer dich über mich. Über den rüden Sechser, der deine zarten Flügelflitzerbeinchen malträtiert. Dann werden wir ja sehen, wer hier schwach ist. Wer hier erbärmlich ist.

Ich presste die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat. Schwach. Schwach und erbärmlich.

„Gut.“ Johan vollführte eine Geste mit dem Kopf, die ein halbes Nicken und ein halbes Wegscheuchen war. Ivo bedachte mich noch eine Sekunde mit seinem Mörderblick, wandte sich mit einem Schnauben ab und stiefelte in den Mannschaftskreis. Neben Dennis kam er zum Stehen. Der legte ihm den Arm um die Schultern und steckte mit ihm die Köpfe zusammen. An der Richtung ihrer giftigen Blicke konnte ich unschwer erkennen, was das Thema ihrer geflüsterten Gehässigkeiten war. Na wartet. Wenn ihr Streit wollt, den könnt ihr haben.

Ich hatte schon den ersten Schritt in ihre Richtung gemacht, als Johan zu mir herumfuhr. Es gab einen Ruck vorne an meinem Trainingsshirt, und mein Gesichtsfeld war zur Gänze von seinem über eins neunzig hohen, kurz rasierten und auf einmal ziemlich imposanten Kopf ausgefüllt. „Und du reißt dich jetzt endlich mal zusammen! Seit zwei Wochen rennst du hier total aggro rum, pampst alle an, spielst keinen vernünftigen Ball mehr, und jetzt grätscht du uns auch noch von hinten in die Beine! Ivo hätte sich den Knöchel brechen oder die Achillessehne reißen können oder sonst was, und das nach einem Foul im Trainingsspiel! Es reicht mir langsam mit dir, werd jetzt endlich wieder vernünftig! Klar?!“

Mir blieb die Luft weg. Das war doch wohl so was von unfair! Johan war unser Kapitän, wenn es Streit in der Mannschaft gab, sollte er schlichten und sich nicht blind und völlig zu Unrecht auf eine Seite stellen! Außerdem war er Innenverteidiger und langte selber gerne mal hin, wie konnte er ein ganz normales Foul im Kampf um den Ball wie eben als gesundheitsgefährdend bezeichnen?

„Ich hab nicht –“

„Doch, du hast!“ Johan schüttelte die Faust, die er um mein Shirt gekrallt hatte. Ich biss die Zähne zusammen und bemühte mich, das Gleichgewicht zu halten. „Und nicht nur mir, du hängst ALLEN zum Hals raus, ALLEN!“

Mit der freien Hand vollführte er eine Geste in Richtung Zuschauerkreis. Ich wollte nicht, aber meine Augen folgten seinem Blick. Einzeln oder zu zweit stand der Rest der Mannschaft um uns herum, viele mit verschränkten Armen, zusammengekniffenen Lippen oder verengten Augen. Die Einzigen, die nicht feindselig aussahen, waren Gidi und Michi. Sie standen nebeneinander, direkt links von mir. In Michis großen, wasserblauen Augen las ich Schreck und Ratlosigkeit, Gidi hatte den Kopf schiefgelegt und sah nachdenklich aus. Finn konnte ich nicht sehen, denn der stand hinter mir. Seinen Blick spürte ich wie Feuer. Kein Einziger meiner Teamkollegen sah aus, als wolle er Johans Behauptung widersprechen.

Ich senkte den Blick wieder und zerbiss mir die Unterlippe. Ihr habt doch alle keine Ahnung. Keine.

„Und ich sage dir, wenn du dich nicht sofort beruhigst und bei Ivo entschuldigst, dann gehe ich zum Trainer und sorge dafür, dass du nach Stuttgart nicht mitfährst!“ Johan war noch nicht fertig. „Ich bin der Kapitän, der Mannschaftsrat wird das unterstützen, und der Trainer wird auf uns hören! Also? Entscheide dich!“ Er ließ mein Shirt los und stieß mich von sich, als könne er es nicht ertragen, noch länger so nah bei mir zu stehen.

Ich starrte ihn an, in seine kalten, wütenden Augen. Mir brannte auf der Zunge, ihm zu sagen, dass Bruno mich niemals aus dem Kader streichen würde, nur weil ein paar Weicheier, die mit ein bisschen richtigem Einsatz im Training nicht zurechtkamen, das verlangten. Oder dass es mir sowieso egal war, ob ich in Stuttgart dabei war oder nicht. Aber dann dachte ich an Brunos Predigten zur mannschaftlichen Geschlossenheit. Wenn der Kapitän zu ihm kam und berichtete, der gesamte Mannschaftsrat sei der Meinung, ich solle nicht mitfahren, würde er das berücksichtigen. Ich schluckte. Die stillen Räume zu Hause schossen mir durch den Kopf. Der Flur, das Bad, die Küche, das Wohnzimmer, mein Zimmer, die mir in jeder Sekunde Bilder und Erinnerungen entgegenschleuderten. Meine Kehle schnürte sich zu. Bruno durfte mich nicht aus dem Kader streichen. Nicht … jetzt. Nicht auch noch den Fußball …

Ich schluckte. Es war harte Arbeit. Aber ich wusste, was ich tun musste. Langsam, ohne irgendwas als meine Fußballschuhe anzusehen, ging ich an Johan vorbei auf Ivo zu. Meine Beine fühlten sich an wie Blei. Als ich die gelben Schuhe im Blickfeld hatte, blieb ich stehen und zwang den Kopf nach oben. Ivo starrte mich an. Die Feindseligkeit in seinem Blick hatte kaum abgenommen.

„Es … tut mir leid.“ Ich würgte es hervor. Jedes Wort fühlte sich an, als besudle es meine Zunge. „Es war ein zu hartes Foul fürs Training. Ich … bin froh, dass du dich nicht verletzt hast.“

Ivos Lippen waren ein Strich. Aber seine Augen fokussierten sich auf irgendetwas hinter meiner Schulter, und ich ahnte, dass Johan seinem Schlichtungsauftrag nun zumindest ein wenig gerecht wurde. Super. Toller Job, Herr Kapitän. Ich biss mir auf die Zunge und hinderte meine Finger mit einer bewussten Anstrengung daran, sich zu Fäusten zu ballen.

Ivos Blick kehrte zu mir zurück. Er sah genauso bitterlich beleidigt aus, wie ich mich fühlte. „Ja. Ich schätze … ist in Ordnung.“

Wir schauten uns an, hoben mechanisch die Hand, schlugen ein und ließen so schnell wieder los, dass jemand, der im falschen Moment geblinzelt hatte, den Handschlag wahrscheinlich verpasst hatte.

Johan hatte offenbar nicht geblinzelt. „Gut. Dann wäre das geklärt.“ Er atmete aus und streifte mich mit einem Blick, der unmissverständlich sagte, dass er trotzdem nichts dagegen hätte, wenn Bruno mich nach Stuttgart nicht mitnahm. Er lief ein paar Meter über den Rasen zum Ball, der nach meinem Foul kurz neben der Seitenauslinie liegen geblieben war, und spielte ihn zu Ivos Mannschaft, damit sie den Freistoß ausführen konnte. Aber dazu kam es nicht mehr. Von der anderen Seite des Spielfelds ertönte ein Pfiff, und unser Co-Trainer Eddy machte eine eindeutige Handbewegung: Training vorbei.

Es war, als würde das letzte bisschen Luft aus einem ohnehin schon nur noch schwach aufgepumpten Ballon entweichen. Der Ball rollte unbeachtet auf dem Rasen aus. Die meisten Spieler wandten sich sofort ab und stampften mit grimmigen Gesichtern Richtung Kabine. Ein paar fanden sich zu zweit oder zu dritt zusammen. Was genau sie sich zuzischten, konnte ich nicht verstehen, und ich schaute niemanden an. Aber ich spürte die Blicke. Jetzt ballten sich meine Hände doch zu Fäusten, während ich mich aufmachte, die verstreuten Bälle einzusammeln und sie wieder in den Ballsäcken zu verstauen, wie es für die jungen Spieler üblich war. Ja, labert doch, lästert doch alle, schiebt nur alles auf mich. ICH bin nicht derjenige, der hier vor jedem Zweikampf zurückzieht, weil ich Angst habe, meine Fußnägelchen könnten brechen. ICH wehr mich wenigstens ordentlich, ICH spiel mit vollem Einsatz. Einer muss es ja machen. An der Niederlage gegen Bayern war ich jedenfalls nicht schuld.

Ich hatte den Ball erreicht, der von Johans Fuß weggerollt war, drehte mich um und wollte ihn mit einem kräftigen Tritt in Richtung Ballsäcke befördern, als schon wieder jemand direkt vor mir stand – diesmal kein Schrank wie Johan, sondern ein schmaler Körper, um dessen Brust das Trainingsshirt flatterte, mit einem blassen Gesicht, dessen Zähne seine Unterlippe bearbeiteten. Mir schoss das Blut ins Gesicht.

„Martin –“

„Lass mich.“

Mit einem Schritt war ich an ihm vorbei, wich seiner Hand aus, die er halbherzig ausgestreckt hatte, und dribbelte den Ball in Richtung Ballsäcke, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich lief schnell, damit ich ja von Finn wegkam, aber nicht zu schnell. Ich wollte nicht zu bald bei den Materialen ankommen, wo die Trainer standen und die anderen jungen Spieler sich auch einfinden würden. Während ich den Ball über den Rasen trieb, versuchte ich, die Hitze aus meinen Wangen zurückzudrängen und der Welle gleißender Wut, die bei Finns Blick über mich hereingebrochen war, irgendwie Herr zu werden.

Warum musste Bruno ihn ausgerechnet jetzt ständig berücksichtigen? Die ganze Hinrunde war er schön aus den Augen und aus dem Sinn in der U19 verpackt gewesen; warum musste er ausgerechnet jetzt ständig in der Bundesligamannschaft dabei sein? Reichte es nicht, dass ich ihn zu Hause ständig an der Backe hatte? Nein, natürlich musste er seit dem Trainingslager ein festes Mitglied des Profitrainings sein, und bei der Eins-zu-zwei-Niederlage gegen Bayern am Wochenende war er sogar im Kader gewesen. Hatte Bruno denn keine anderen Spieler, die ihm die Bank warmhalten konnten?

Mein Fuß traf den Ball heftiger, als ich beabsichtigt hatte, und ich musste ihm ein paar Meter hinterherlaufen. Super. Alles Finns Schuld. Ständig diese Blicke, diese aufgerissenen, kotzhimmelblauen Augen. Und diese heuchlerischen Sätze. Brauchst du irgendwas, soll ich dir Tee machen, soll ich was kochen, willst du drüber reden, blablabla.

Finn konnte sich das alles sparen. Ich wusste genau, was er wirklich dachte. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, jedes Mal, wenn ich nicht aufpasste und meine Augen auf seine trafen, konnte ich darin lesen wie auf einem Neonschild: ICH HABS DIR JA GESAGT. ICH HABS DIR JA GESAGT, ABER DU WOLLTEST JA NICHT HÖREN.

Ich presste die Zähne so fest aufeinander, dass mein Kiefer verkrampfte, packte einen fast vollen Ballsack und lupfte meinen Ball hinein. Ich rammte den Verschluss zu und wollte mit dem Sack über der Schulter Richtung Kabine verschwinden, bevor Michi und Gidi aufkreuzen und sich auch noch mit diesen ätzenden Sorgengesichtern nach meinem Wohlergehen erkundigen konnten. Aber ich hatte den Sack noch nicht mal vom Boden aufgehoben, als von rechts eine leise Stimme die Stille durchschnitt. „Martin, komm zu mir, bitte.“

Ich stieß die Luft aus. Einen Herzschlag stand ich nur da, die Hand immer noch um den Tragegurt des Ballsacks geklammert. Würde Bruno mir jetzt sagen, dass ich auch ohne Johans Zutun aus dem Kader für Stuttgart gestrichen war? Na warte, wenn das so war, konnte er was erleben.

Mit einiger Mühe löste ich meinen Griff um den Gurt und trat vor meinen Trainer. „Ja?“

Bruno sah mich an, leicht von unten herauf, weil er nun mal ein Stück kleiner war als ich. Trotzdem fühlte ich mich, als würde ich unter seinem bedächtigen Blick ein Stück schrumpfen. Ich biss mir auf die Zunge und schaute lieber schnell auf meine Schuhe. Das half aber auch nicht wirklich weiter. Die Stille dehnte sich aus. Als ich haarscharf davor war, selber wieder den Mund aufzumachen, sprach er endlich. „Ich möchte, dass du mir jetzt sagst, was mit dir los ist.“

Ruhig, ohne Schärfe. Aber trotzdem ein Befehl. Ein neuer Stich fuhr durch mich hindurch, und ich riss den Kopf hoch. „Es ist nichts!“

Ich starrte in Brunos Augen. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Nichts. Wir hatten nichts.

Ich holte zittrig Luft und würgte den heißen Knoten in meiner Kehle herunter. „Es … tut mir leid.“ Das murmelte ich wieder in Richtung meiner Schuhspitzen. „Es ist nur … wirklich nichts los, Trainer. Alles in Ordnung, ehrlich. Und ich spiele doch nicht schlecht, oder?“ Jetzt sah ich Bruno wieder an. Meine Zähne bearbeiteten meine Oberlippe.

Wieder schwieg Bruno. Er begutachtete mich, und es war, als würde er mich durchleuchten. „Nein, du spielst nicht schlecht.“

Ich stieß die Luft aus. Meine Schultern sackten herab.

„Gegen die Bayern hast du ordentlich gespielt. Mit guter Grundaggressivität, ein, zwei Fouls zu viel vielleicht. Am Ende warst du gelb-rot-gefährdet, deswegen habe ich dich auch runtergenommen.“

Wieder flackerte es in meinem Bauch. So ein Schwachsinn. Ich hatte ja gewusst, dass ich schon Gelb hatte, ich wäre niemals vom Platz geflogen, auch, wenn Bruno mich die letzten zehn Minuten noch hätte weiterspielen lassen. Gerade noch rechtzeitig biss ich mir auf die Zunge.

„Aber du zeigst viel Einsatz, das brauchen wir. Auch in Stuttgart. Aber was wir auch brauchen, Martin, ist Teamgeist. Ruhe. Ein kluges Spiel, mit dem Kopf.“

Er hatte sich ein wenig aufgerichtet. Nur einen Hauch. Trotzdem fiel es mir plötzlich schwerer, ihm in die Augen zu schauen. Ich presste die Lippen aufeinander und hinderte mich mit Mühe daran, zu blinzeln.

„Was du in der letzten Woche im Training gezeigt hast, hatte mit Teamgeist nichts zu tun. Du sollst deine Mitspieler motivieren, es ist gut, wenn du den Mund aufmachst. Aber runtermachen sollst du sie nicht. Wenn ein Pass von dir nicht ankommt, solltest du den Fehler zumindest auch bei dir suchen. Und wenn ich noch einmal eine Aktion wie eben gegen Ivo im Training von dir sehe, fliegst du sofort raus. Ist das klar?“

Er hatte die Stimme nicht erhoben. Er sprach ruhig, entschieden, und er sah mich ohne Regung an. Ich schluckte. Vor meinem inneren Auge sah ich die Szene noch mal. Ivo, der sich den Ball die Linie entlang vorlegte und zum Sprint ansetzte. Ich, schräg von hinten. Ungebremst über den Rasen rutschend, mit ausgestrecktem Bein und offener Sohle. Der Ball war meterweit weg gewesen. Ich hatte keine Chance gehabt, ihn zu spielen. Und ich hatte das genau gewusst.

Ich blinzelte und senkte den Kopf. Erst jetzt spürte ich den dumpfen Schock, die taube Erleichterung, dass Ivo sich wie durch ein Wunder bei dieser Aktion nicht verletzt hatte. Bei diesem brutalen Foul. Für das es im Spiel natürlich sofort glatt Rot gegeben hätte.

„Ja.“ Meine Stimme war belegt. Ich räusperte mich. „Ganz klar. Es … tut mir wirklich leid.“

„Gut.“

Ich hob den Kopf. Brunos Gesicht zeigte noch immer keine Regung.

„Und das ruhige Spiel, das Spiel mit Kopf, das hast du auch verloren seit dem Trainingslager. Du zeigst viel Einsatz und viel Laufbereitschaft, aber du gehst unnötige Wege. Du stehst häufiger falsch, und deine Pässe sind ungenauer, weil du dir keine Zeit nimmst. Darunter leidet dein Spiel, Martin, und unser Spiel auch. Die Ruhe am Ball ist eine deiner größten Stärken. Wir brauchen das auf dem Platz. Wenn du das nicht zeigen kannst, bist du für die Mannschaft weniger wertvoll.“

Brunos Augen ruhten auf meinen. Ich schluckte.

„In Stuttgart spielst du in der Startelf. Aber ich will den echten Martin sehen. Den, der mit Kopf spielt und Teamgeist zeigt. Dann bist du unverzichtbar für uns, Martin. Aber nur dann. Wenn du das nicht auf den Platz bringst, wirst du gegen Köln nicht wieder von Anfang an spielen.“

Stille. Ich holte tief Luft. „Klar, Trainer. Ich … Du hast Recht. Ich … werde dich nicht enttäuschen.“

Bruno nickte. Ich drehte mich um, nahm den Ballsack und ging über den jetzt leeren Trainingsplatz Richtung Kabine. Es standen keine Fans am Rand. Das Training war das letzte vor dem Spiel gegen Stuttgart und nicht öffentlich gewesen.

Mit Kopf und Teamgeist. Dann bist du unverzichtbar.

Mein Unterkiefer versteifte sich. Unverzichtbar. Genau. Unverzichtbar! Hörst du?

Ich blinzelte und atmete durch. In Stuttgart würde ich allen zeigen, dass ich unverzichtbar war.

 

*

 

Es ging nicht. Ich versuchte alles, und es ging nichts. Ich spielte neben Lewis auf der Doppelsechs, ich rannte und passte und grätschte und forderte Bälle, und mit jeder Aktion versuchte ich, das Spiel zu lenken, es in die Hand zu nehmen, die freien Räume zu sehen, die entscheidenden Passwege zuzulaufen, so wie ein Sechser es tun musste, so wie ich es konnte, verdammt. Die einfachen Sachen klappten am Anfang auch noch, Rückpässe, Querpässe, aber das war nicht, was ich tun wollte, was ich mir vorgenommen hatte. So machte ich mich nicht unverzichtbar.

Je länger das Spiel dauerte und je mehr Stuttgart uns in der eigenen Hälfte einschnürte, desto weniger Bälle spielte ich nach hinten. Stattdessen suchte ich die Schnittstellen, die tiefen Laufwege. Wir waren selten genug in Ballbesitz, wenn wir die Kugel mal hatten, durften wir doch nicht auch noch immer hinten rum spielen! Also schrie ich, wieder und wieder, nach dem Ball, und wenn ich ihn hatte, nahm ich den Kopf hoch, nach links außen, nach rechts außen, steil in die Mitte, und ich spielte, hoch, flach, Hauptsache tief. Ivo war doch schnell, und Nico auch, wenn sie mal durchkamen, wenn ich sie an die Grundlinie schicken konnte …

Es klappte nie. Die flachen Pässe fingen die Stuttgarter Verteidiger ab, die hohen Bälle gerieten zu lang oder zu zentral, prallten einmal auf und wurden auf dem nassen Rasen unerreichbar, oder sie flogen direkt ins Aus. Ich stand jedes Mal da und konnte es nicht glauben. Das Passspiel, punktgenau, mit dem richtigen Timing, das war doch meine Stärke, das konnte ich doch, verdammt!

Mit Kopf. Spiel mit Kopf.

Ich sog die Luft ein, wischte mir die regennassen Haare aus der Stirn und versuchte es wieder. Und wieder. Und wieder. Aber entweder mein Kopf funktionierte nicht, oder mein Fuß verweigerte ihm mit einem Mal den Dienst. Meine Passquote musste unterirdisch sein.

Wenn es wenigstens defensiv geklappt hätte. Wie im Hinspiel kriegte ich es mit Didavi zu tun, und ich klebte an ihm, versuchte, auf seinen Füßen zu stehen, ihm keinen Platz zu lassen – vergeblich. Didavi drehte sich um mich herum, machte Übersteiger, Körpertäuschungen, spielte Pässe an meinen verzweifelt ausgefahrenen Beinen vorbei. Er legte Chancen auf für Gentner, für Kostic, für Werner, er suchte selbst den Abschluss. Dass Stuttgart zur Pause nicht führte, war einzig und allein ihrer unterirdischen Chancenverwertung zu verdanken.

Nach der Pause versuchte ich es weiter. Es war kalt, es schüttete, das Flutlicht blendete, und ich forderte weiter jeden Ball, hetzte jedem Stuttgarter Pass hinterher. Jetzt aber, dachte ich jedes Mal, nach jedem neuen Fehlpass, nach jeder missglückten Aktion. Jetzt aber. Jetzt aber!

Ich versuchte, mir mehr Zeit zu nehmen, erst mal den Kopf zu heben, nach dem freien Mann zu schauen. Zwei Minuten nach Wiederanpfiff hielt ich so den Ball Mitte der eigenen Hälfte, zögerte, weil vorne alles zu war, und spürte in meinem Rücken den heransprintenden Werner nicht. Ein Körperkontakt, ein leichter Rempler mit angelegtem Arm, ein angelndes Bein, und der Ball war weg. Bevor ich kapiert hatte, was passiert war, war Werner mit seinem Wahnsinnsantritt vier Meter von mir weg. Er schaute, spielte einen Doppelpass mit Rupp und stand frei vor René. Mit einer Monsterparade verhinderte unser Keeper das Gegentor.

Wieder zwei Minuten später legte sich Kostic an der Außenlinie den Ball an mir vorbei, schüttelte meine Hand, die ich in sein Trikot zu krallen versuchte, spielend leicht ab und flankte in die Mitte. Es folgten ein paar Sekunden munteres Scheibenschießen, in denen jeder Stuttgarter mal abziehen durfte und sich immer ein neuer matschschwarzer Hamburger dazwischenwarf, bevor René gegen Rupp die nächste Wahnsinnsparade rausholte und per Fußabwehr zu Ecke klärte.

Nach einer Stunde wechselte Bruno. Ich wagte kaum, auf die Tafel zu schauen. Ich wollte nicht runter. Ich wollte doch das Spiel machen, es prägen, es entscheiden, verdammt! Ich war doch unverzichtbar!

Aber es war nicht meine Nummer 6, die in Rot aufleuchtete. Stattdessen brachte Bruno Michi für Nico. Frischen Schwung für die Offensive. Ich atmete durch und schüttelte mir die Haare aus den Augen. Jetzt aber. Jetzt aber wirklich.

Als Didavi sich das nächste Mal um mich herumdrehen wollte, ließ ich das Bein stehen. Wir waren direkt rechts an der Strafraumkante, eigentlich keine gute Position, um einen Freistoß gegen sich zu haben, aber das war mir egal. Ich würde mich nicht mehr wie eine Slalomstange überlaufen lassen. Nein, Mann. Nicht mit mir. Wer an mir vorbei wollte, musste damit leben, dass es wehtat. So richtig.

Didavi schoss den Freistoß selbst. Zusammen mit den anderen in der Mauer sprang ich hoch, aber der Ball segelte über meinen Scheitel hinweg. René hechtete und parierte. Es gab Ecke von rechts. Ich baute mich auf der Torlinie neben dem zweiten Pfosten auf. Die Fingerknöchel meiner rechten Hand streiften das kalte Aluminium. Im Kopfballgetümmel in der Mitte konnte ich nicht viel ausrichten, aber wenn ein Stuttgarter sich dort durchsetzte und den Ball aufs Tor brachte, konnte ich den Bereich abdecken, an den René nicht hinkam.

Kostic trat die Ecke. Der Ball flog mit viel Schnitt in den Strafraum und kam am Elfmeterpunkt runter. Cleber und Aaron sprangen hoch, aber es war ein Weißer, der an den Ball kam. Didavi. Von seiner Stirn flog der Ball aufs Tor zu. Genau auf mich.

Ich holte aus. Den hatte ich. Locker. Und wenn ich ihn nicht blind aus dem Strafraum drosch, sondern Ivo finden konnte, der vorne geblieben war … Ganz Stuttgart war aufgerückt. Und unsere größte Chance in diesem Spiel, das Stuttgart vollkommen kontrollierte, lag in Standards – und Kontern.

Ich brachte den rechten Fuß nach vorne. Mit Schwung, mit Kraft, und ein bisschen nach rechts, damit Ivo den Schlag erlaufen und sofort Richtung Strafraum gehen konnte. Ich traf den Ball. Aber nicht mit dem Vollspann. Ich hatte die Flugbahn völlig falsch eingeschätzt. Mit dem rechten Außenrist wischte mein Fuß am Ball entlang, und statt mit voller Wucht aus dem Strafraum beförderte ich ihn mit nur einem ganz leichten neuen Impuls schräg zur Seite. Von meinem Fuß sprang der Ball an den rechten Innenpfosten des Tores, und von dort aus noch ein kleines Stück nach hinten.

Als ich das Gleichgewicht wiedererlangt, noch mal ausgeholt und den Ball mit einem verzweifelten Tritt diesmal wirklich aus dem Strafraum befördert hatte, war es zu spät. Günter Perls Pfiff hallte schon durchs Stadion, und mit einer unmissverständlichen Geste deutete er auf die Uhr an seinem linken Handgelenk und danach auf den Mittelkreis. Tor. Eins zu null für Stuttgart.

„JAAA!“ Didavi drehte jubelnd ab. Seine Mitspieler umringten ihn und klopften ihm lachend auf den Schädel. Ich starrte ihnen hinterher. Sie feierten den Falschen. Nicht er war es gewesen, der dem Ball den entscheidenden Impuls gegeben hatte. Nicht er war es, der als Torschütze auf der Leinwand stehen würde. Als Eigentorschütze.

Auf der Torlinie sank ich in die Knie. Es war, als würde der eisige Regen nicht mehr nur meine Haare und mein Trikot durchweichen, sondern meine Haut durchschlagen. Das Spiel prägen. Das Spiel entscheiden. Unverzichtbar sein.

Ich zog den Kopf an die Brust, krallte die linke Hand ins Haar, die andere um den Pfosten. Den verdammten, verfluchten Pfosten. Hätte er nicht nur ein bisschen anders gerundet sein können? Ein klitzekleines Stückchen weiter hinten stehen?

Regentropfen rannen mir aus den Haaren in die Augen. Ich blinzelte. Der Rasen unter meinen Füßen war grünbraun und schlammig. Nein, der Pfosten war nicht schuld. Der stand, wo er immer stand. Der war verlässlich. Machte seinen Job. Der wurde nicht von einem Tag auf den anderen ein Sicherheitsrisiko für die eigene Mannschaft. Ein Versager. Ein Nichts. Das ist schwach. Das ist erbärmlich. Wir hatten nichts. Du bist ein feiger kleiner Wichser. FEIGER KLEINER WICHSER!

“Komm schon, Martin, weiter! Nichts passiert! Genug Zeit! Auf geht’s!“ Ein Ruck unter meinen Armen. Michi hatte mich auf die Füße gewuchtet, klopfte mir ein paarmal auf den Rücken und klatschte in die Hände. „Komm schon, weiter jetzt!“

Energisch strich er sich das Haar aus der Stirn, ruckte den Kopf in Richtung Anstoßpunkt und lief voraus, um seine Position wieder einzunehmen. Ich schlich hinterher. Immer noch sah ich nichts an als nur den Rasen unter meinen Füßen.

Beim schrillen Wiederanpfiff zwang ich den Kopf wieder hoch. Ich musste ja sehen, was passierte. Aber ich bewegte mich kaum noch von der Stelle. Meine Arme und Beine waren so schwer, dass ich sie kaum noch heben konnte, und wenn ich den Mund aufgemacht hätte, um den Ball zu fordern, wusste ich nicht, was dabei herausgekommen wäre. In meiner Kehle steckte etwas, das heiß und unförmig und schleimig war und von Sekunde zu Sekunde größer wurde.

Es machte nichts, dass ich nicht mehr am Spiel teilnahm. In den paar Minuten, die Bruno brauchte, um den Wechsel vorzubereiten, spielten die anderen mir keinen einzigen Ball mehr zu. Wahrscheinlich wussten sie, dass sie ihn dann auch gleich zum Gegner schießen könnten. Als der Ball schließlich im Aus war, blitzte auf der Tafel die grüne 16 und die rote 6 durchs Stadion. Den Weg nach draußen legte ich noch mal im Trab zurück. Ich klatschte mit Artjoms ab, ohne ihn anzusehen, und ging sofort zur Bank. Ich spürte Brunos Blick vom Rand der Coaching-Zone, und die der Co-Trainer vom anderen Ende der Auswechselbank. Ich hätte hingehen müssen, abklatschen. Worte hören, Motivation, Aufmunterung.

Es gab ein Reißen an meiner Kehle, als hätte jemand einen Strick darumgelegt und zugezogen. Den echten Martin, hallte es durch meinen Kopf. Ich will den echten Martin sehen. Und meine Worte. Ich werde dich nicht enttäuschen.

Mein Magen hob sich. Ich presste die Lippen zusammen. Nur mit größter Mühe konnte ich das Würgen zurückdrängen.

Die Spielerseite der Bank war fast komplett leer. Nur Nico saß, in eine dicke Winterjacke gehüllt, an einem Ende und sah dem Spiel zu. Alle Auswechselspieler waren hinter unserem Tor zum Aufwärmen. Gidi war dabei, aber Finn nicht. Der war nicht im Kader. Wenigstens diese winzige Gnade hatte Bruno mir gewährt.

Ich wandte Nico den Rücken zu und ging zur anderen Seite der Bank. Die Winterjacken lagen in einem Stapel übereinander. Ich nahm die oberste und schlüpfte hinein. Sie war warm, und trocken, und herrlich groß. Ich zog den Reißverschluss bis zum Anschlag nach oben, die Kapuze über meinen Kopf, vergrub die Hände in den Taschen und das Kinn im Kragen, ließ mich in die Lehne zurücksinken und verfolgte schweigend den Rest des Spiels.

Zwei Minuten nach seiner Einwechslung erzielte Artjoms auf Vorlage von Matze den Ausgleich. Alles jubelte, die Jungs auf dem Platz, die Auswechselspieler hinter dem Tor, die Fans im Gästeblock dahinter. Nico sprang auf und klatschte in die Hände. Bruno ballte beide Fäuste, schrie seine Emotionen heraus und gestikulierte wild in Richtung Spielfeld. In meiner Brust glomm etwas auf, ganz schwach und ganz kurz, wie ein Streichholz im Sturm. Und genauso wie das erlosch es sofort wieder. Ich sprang nicht auf, ich jubelte nicht, ich ballte keine Hand zur Faust. Ich blieb einfach sitzen, begraben im dicken Wintermantel, und wartete auf das, was kommen würde.

Was kam, waren in der 79. und 83. Minute zwei riesige Chancen für uns zur Führung. Ivo vergab kläglich, Lasso unglücklich. In der 88. Minute schlug der gerade für Didavi eingewechselte Alexandru Maxim eine Flanke von rechts auf den Kopf des ebenfalls eingewechselten Artem Kravets, der sich gegen Johan durchsetzte und den Ball ins linke obere Toreck köpfte. René war machtlos. In der Nachspielzeit hatten wir noch einmal eine Chance durch Cleber, aber ein Tor fiel nicht mehr. Kravets‘ Treffer war der Lucky Punch zum Zwei-zu-eins-Sieg für Stuttgart.

Als der Abpfiff ertönte, ging ich sofort in die Kabine. Natürlich hätte ich draußen bleiben müssen, für den Mannschaftskreis, Brunos erste Ansprache, den Gang zu den Fans. Aber ich konnte nicht. Ich konnte nicht.

Die Kabine war menschenleer. Es war hell und warm hier drin. Ich zog die Jacke aus, schälte mir die nassen Sachen vom Leib und ging duschen. Das Wasser war so warm, dass es dampfte. Ich blieb nur so lange darunter, wie ich brauchte, um mir Haare und Körper einzuseifen und wieder abzuspülen. Und auch das tat ich nur, weil ich musste. Weil wir eine stundenlange Reise vor uns hatten. Also spülte ich Matsch und Gras und Regen von meiner Haut, aber sonst tat das Wasser nichts. Mein Bauch blieb steinhart, der schleimige Batzen saß in meiner Kehle, und von der Wärme von Wasser und Kabine drang nichts zu mir durch.

Ich kam aus der Dusche, bevor irgendein anderer zurück in der Kabine war, griff meine Klamotten aus dem Spind und zog sie mit abgehackten Handgriffen über. Kein einziges Kleidungsstück spürte ich wirklich. Meine Haut war kalt und taub. Als ich fertig war, zog ich die Kapuze über den Kopf, schlang die Sporttasche über die Schulter und verließ die Kabine. Mit hochgezogenen Schultern passierte ich die Journalisten links und rechts hinter den Absperrbändern, die mir Mikrofone und Handys entgegenstreckten. Ich ging genau in der Mitte des Ganges und schaute nur geradeaus. Die Fragen von beiden Seiten hörte ich kaum. Ein schwaches Summen lag auf meinen Ohren.

Als ich am Mannschaftsbus ankam, war er noch zu. Wahrscheinlich war Miro noch damit beschäftigt, Bälle, Leibchen und Hütchen zusammenzupacken. Die Bushalle war dunkel, die Einfahrtstore geöffnet. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen den Bus und schloss die Augen. Kühle Nachtluft strömte durch meine Lunge. Letzte Woche war es auch so kalt gewesen, nach dem Spiel gegen Bayern. Und beim letzten Abendspiel davor, gegen den BVB. Im November. Saukalt. Und noch später. Fast Mitternacht, als es vorbei war. Und danach … danach …

Ich schluckte. Meine Augenlider pressten sich aufeinander. Wir hatten Sex, wir haben gefickt, ein paarmal, das wars. Warum solltest du irgendwas Besonderes sein? Ich hab dich nicht ein einziges Mal vermisst, wenn du nicht da warst. Du bist schwach. Du bist erbärmlich. Du bist nur ein feiger kleiner Wi-

RUMMS. Ich fuhr zusammen. Miro stand vor mir. Neben ihm auf dem Boden lagen ein Ballsack und eine Materialkiste. Er musterte mich, die Lider ein wenig gesenkt, wie immer. „Martin.“

Ich senkte den Kopf. Das Etwas in meiner Kehle pochte und brannte.

Nach ein paar Sekunden seufzte Miro. „Na ja. Ist ja nicht meine Verantwortung. Komm mal rein, Junge. Komm ins Warme.“

Es gab ein Zischen. Links von mir öffnete sich die Tür. Ich glitt herum und erklomm die Stufen in den Bus, ohne Miro anzusehen.

Drinnen rutschte ich in meine Bank, ließ die Sporttasche auf den Sitz neben mir fallen und presste den Kopf gegen die Scheibe. Es war stockfinster draußen. Gut so. Konnten wir nicht einfach hier stehen bleiben? Konnte Miro nicht die Tür zu machen, von außen, die anderen irgendwie anders nach Hause bringen und mich vergessen? Hier, im Dunkeln, im Abgrund, wo mich keiner sah, wo keiner kam und Sachen sagte, die … Ich liebe dich nicht … Ich bin nicht dein Freund … Ich hab dich gefickt, weil du einen engen Arsch und einen okayen Körper hast, aber es war niemals, zu keinem Zeitpunkt auch nur ein winziges bisschen mehr als Sex … Sogar ein enger Arsch wird langweilig, wenn man ihn zu oft fickt …

Etwas kam aus meiner Kehle. Schaffte es irgendwie, sich einen Weg zu bahnen durch den Batzen und den Strick und die zusammengepressten Lippen. Erstickt. Wimmernd. Schwach. Erbärmlich. Ich kniff die Augen zusammen. Meine Zähne bohrten sich so fest in meine Unterlippe, dass ich Blut schmeckte.

Geräusche. Ich wandte den Kopf. Dunkle Schatten bewegten sich vor den Fenstern. Meine rechte Hand fand den Reißverschluss meiner Tasche. Ich riss ihn so hastig auf, dass er blockierte. Als das Fach nach einem zweiten Anlauf endlich offen war, wühlte ich darin herum, fiebrig, und es war mir egal, was ich alles durcheinanderwarf. Komm schon. Komm schon. Schnell, schnell, bitte …

Endlich stießen meine Finger an etwas Hartes, Rechteckiges. Ich riss das Handy heraus. Die Kopfhörer fand ich in der Vordertasche. Aufklappen, rausholen. Ohne die Kapuze abzusetzen schob ich mir die Stöpsel ins Ohr. Das Handy mit der linken Hand umklammert, machte ich mit der rechten die Tasche wieder zu und drehte den Kopf ruckartig zurück zum Fenster. Keine Sekunde zu früh. Die dumpfen Geräusche wurden zu leisen Worten, als die ersten meiner Mannschaftskollegen den Bus betraten.

Ich starrte nach draußen. Ein Summen füllte meine verstöpselten Ohren. Nur die Geräuschdämpfung. Sonst nichts. Wie auch? Ich hatte ja nichts angemacht. Mein Handy lag schwarz und still in meiner verkrampften Hand.

Schritte im Gang. Schritte und leise Worte. Verwischt. Bedeutungslos. Nur Geräusche. Als sie näherkamen, wurden sie leiser, verstummten. Ich zwang mich, einzuatmen. Meine Fingernägel schnitten in meine Handfläche.

„Martin …“

Michi. Das war Michi. Ich drehte mich nicht um, und trotzdem konnte ich ihn sehen, lang und schlaksig im dunklen Gang, die braunen Haare feucht in der Stirn, über den Sitz nach vorne gebeugt. Ich schloss die Augen. Meine Kehle arbeitete.

„Lass mal, Michi. Komm. Lass ihn.“ Tiefer. So leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte. Gidi.

Ein kurzes, heftiges Lufteinziehen. Lippen fest, fest aufeinander.

Stille. Schritte. Und dann – klack, machte es über mir. Im Gepäckfach. Gleich darauf ein leichtes Erzittern der Bank, eine Präsenz neben meinem rechten Bein, meinem Arm.

Mein Kopf drehte sich. Da, im Sitz neben meinem, saß Gidi. Er hatte meine Tasche und seine über uns ins Gepäckfach verfrachtet, hielt seine Kopfhörer und sein Handy in der Hand und streckte die langen Beine unter dem Vordersitz aus. Auf der anderen Seite des Ganges war Michi in seine übliche Sitzbank gerutscht.

Ein paar Sekunden starrte ich Gidi an. Der schien es gar nicht zu bemerken. In aller Seelenruhe scrollte er durch sein Handy, den Kopf zurückgelehnt und ebenfalls mit der Kapuze bedeckt.

Ich blinzelte. Einmal, zweimal. Holte Luft. Erst, als ich sicher war, dass ich die Geräusche aus meiner Kehle würde kontrollieren können, machte ich den Mund auf. „Geh weg, Gidi.“

Gidi wandte ganz leicht den Kopf. Seine Augenbrauen verschwanden unter dem Schatten der Kapuze. „Bitte, wenn’s dir lieber ist, dass jeder hier stehenbleibt und Frust ablässt.“

Ich blinzelte. Gidi erwiderte meinen Blick. Gegen meinen Willen zuckten meine Augen hoch. Einer nach dem anderen betrat der Rest den Bus. Einige glitten in die vorderen Bänke, andere gingen nach hinten durch. Bevor sie sich setzten, suchten die meisten mit den Augen den Bus ab. Sobald sie sich auf mich fixierten, wurden Lippen schmal, Gesichtszüge hart. Ein paar schüttelten den Kopf. Diejenigen, die an mir vorbei zu den hinteren Plätzen gingen, ließen ihren stechenden Blick im Vorbeigehen ein paar Sekunden an mir hängen. Dennis und Ivo sahen aus, als hätten sie gerne den Mund aufgemacht. Aber ihre Augen glitten zu Gidi, zu der großen, dunklen Gestalt im Sitz am Gang, über die hinweg sie ihre Tirade hätten loslassen müssen, und sie wandten sich schnaubend ab. Blicke gab es von fast jedem. Aber keiner, kein Einziger, blieb stehen.

Gidi hatte sich nicht gerührt. Er saß einfach da, neben mir, entspannt, ruhig. Kein Vorwurf. Nichts.

Es gab ein Reißen am Strick um meine Kehle. Es fühlte sich an, als hätte ich Feuer verschluckt. In meinen Augen brannte es. Ich versuchte, Luft zu holen, die Lippen auseinanderzukriegen, um etwas sagen zu können, irgendwas, damit er nicht doch noch auf die Idee kam, zu gehen. Aber es ging nicht. Flüssiges Feuer verzehrte meinen Hals. Wenn ich jetzt den Mund aufmachte, würde es nichts geben, das ich noch tun konnte.

Also drehte ich nur den Kopf weg. Presste ihn gegen die Scheibe und flehte, dass Gidi auch so verstehen würde, dass ich meine Meinung geändert hatte. Und das tat er wohl. Während die letzten Spieler in den Bus stiegen und Miro den Motor ruckelnd und brummend zum Leben erweckte, blieb er sitzen, setzte sich die Kopfhörer ein, faltete die Hände vor dem Bauch und schloss die Augen. Mich sah er dabei die ganze Zeit nicht mehr an.

Ich schaute durchs Fenster auf die dunklen Straßen. Der Regen prasselte gegen die Scheibe. In langen Schlieren lief er daran hinunter und verwischte die Straßenlaternen und Autoscheinwerfer zu unscharf pulsierenden Punkten. Blicklos starrte ich nach draußen. Die vereinzelten Fans, an denen wir vorbeifuhren, trugen das Rot und Weiß des VfB. Sie lachten und umarmten sich, schienen weder Kälte noch Nässe zu spüren. Klar, nach so einem Sieg. Last Minute, das war immer am besten, am emotionalsten. Im Hinspiel hatten wir das schließlich selbst erlebt. So lange hatten wir zurückgelegen damals, und dann hatte Lasso den Ausgleich gemacht, und in der 89. Minute Johan das Drei-zwei. Wie wir gefeiert hatten. Wie das Stadion explodiert war. Wir hatten alle gestrahlt, es hatte nichts Schöneres gegeben, und dann … Nach dem Spiel, als ich … als wir … Er, oben, im VIP-Bereich … auf mich wartend … VIP … Very Important Person … Weißt du, wie viele Typen ich mittlerweile schon gefickt habe? Wie viele Typen ich genau wie dich gefickt habe, wie viele genau wie du meinen Schwanz gelutscht haben? Warum solltest du irgendwas Besonderes sein? Du bist sogar noch erbärmlicher, als ich dachte. Du glaubst, dass ich dich liebe? DICH?

Ich presste die Hand vor den Mund. Die Straßenlichter drangen durch meine zusammengekniffenen Lider, oder vielleicht waren es auch andere Lichter, die da vor meinen Augen tanzten, von denen mir schlecht wurde. Kronleuchter. Gläser, Marmor, Glitzern und Funkeln. Das Brennen in seinen Augen. Sterne, leuchtend in der eiskalten klaren Nacht. Ich weiß nicht, ob ich es verdient habe oder nicht, aber … du siehst heute Nacht wirklich perfekt aus.

Ein Wimmern. Kurz, erstickt, gedämpft durch Lippen und Hand. Ich zwängte den Zeigefinger zwischen die Zähne und biss darauf. Aus meiner Kehle gab es eine Stichflamme. Etwas in meiner Brust krampfte sich zusammen.

Und dann ging es nicht mehr. Ich sog die Luft durch die Nase ein, ließ den Zeigefinger, wo er war, und versuchte verzweifelt, jedes Geräusch zu ersticken. Die Tränen quollen unter meinen Lidern hervor. Sie strömten über meine Wangen, flossen über Nase, Lippen, Kinn, und ich tat nichts, um sie zurückzuhalten. Ich konnte nicht mehr. Jetzt konnte ich einfach nicht mehr.

 

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Referenzen:

 

„Paying the price“ – ist zwar kein direktes Zitat aus dem Song, ist aber trotzdem Titel dieses Kapitels, weil es in ABBAs (Benny Andersson, Björn Ulvæus, Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad) „Angeleyes“ heißt „He took my heart and now I pay the price“. Song aus dem Album „Voulez-Vous“, Epic Records 1979.

Chapter 42: I Know

Chapter Text

  1. Kapitel: I Know

 

„Hey, was hältst du davon, wenn wir was kochen? Hast du Hunger? Ich hab Hunger. Wir könnten –“

„Nein.“

„Komm schon, du hast doch auch trainiert. Du musst doch –“

„Nein.“

„Martin, komm, tu nicht so, ich –“

Die Zimmertür schnitt den Rest des Satzes ab. Ich öffnete den Reißverschluss der Winterjacke und ließ sie von den Schultern gleiten. Schuhe, Trainingshose und Trainingsjacke folgten. Vor der Tür herrschte Stille. Dann –

„Martin, jetzt lass das doch. Komm raus. Bitte.“

Ich hörte seine Verzweiflung. Ich hörte sein Flehen. Aber ich blieb stehen, am Fußende meines Bettes, auf dem das Kissen zerbeult, das Laken verknittert und die Decke halb zurückgeschlagen war. Ich starrte darauf hinab, ohne es zu sehen. Ein paar Sekunden war es still. Dann hörte ich ein ersticktes Geräusch, so leise, dass es nur in einem Hauch durch die Tür drang. Es klang wie ein gequältes Tier. Schritte, die sich entfernten, und kurz darauf eine Tür, die auf und zu ging.

Ich stieß die Luft aus. Hatte ich den Atem angehalten? Komisch. Na ja. Egal.

Ich ging zwei Schritte ums Bettende herum, meine Beine wurden ihre Last los, und ich kroch unter die Decke. Auf der Seite blieb ich liegen, Beine angewinkelt, Arme angewinkelt. Blicklos starrte ich geradeaus auf die blaue Wand unter dem Fenster.

Du hast doch auch trainiert. Der Nachklang des Satzes hallte in meinem Kopf wie ein Echo in einer Höhle. Hatte ich trainiert? Ja? Nein? Keine Ahnung. Wenn, dann jedenfalls nicht richtig. Nicht so wie Finn. Der hatte das Spielersatztraining hinter sich. Aber daran und an den anderen Mannschaftstrainings nahm ich schon seit einer Woche nicht mehr teil.

Offiziell hatte ich muskuläre Probleme. Inoffiziell war ich suspendiert. Bruno hatte mich zurückgehalten, als ich nach der stundenlangen Rückreise aus Stuttgart in die eiskalte Nachtluft der Bushalle des Volksparkstadion hatte treten wollen, und hatte mir den Beschluss des Trainerteams mitgeteilt: Ich war ab sofort vom Mannschaftstraining und den Spielen ausgeschlossen und würde meine Trainingszeit im Kraftraum verbringen. Athletiktrainer Daniel würde mir einen Plan erstellen und dessen Einhaltung überwachen, und ich würde reichlich Gelegenheit bekommen, individuell am gezielten Aufbau der Bein-, Rumpf- und Oberkörpermuskulatur zu arbeiten. So lange, bis ich mich sowohl beim Trainerteam als auch bei der Mannschaft für das inakzeptable Verhalten nach meiner Auswechslung im Stuttgartspiel und in den Trainingswochen davor entschuldigte.

Das alles hatte Bruno mit stählerner Stimme vorgetragen, während ich auf meine Schuhspitzen gestarrt hatte. Als er verstummt war, hatte es eine Pause gegeben. Ich hatte genickt, immer noch in Richtung Fußboden, und schon den ersten Schritt auf die Tür zu gemacht, als Bruno noch einmal gesprochen hatte. „Martin.“

So scharf und eindringlich war seine Stimme gewesen, dass ich mitten in der Bewegung eingefroren und mein Kopf zu ihm herumgeschnellt war. Er hatte mich angesehen, und ich war sicher gewesen, dass ihm nichts entgangen war: die herabhängenden Schultern, das wirre Haar, die fahlen Wangen, die geröteten Augen.

Einen Moment hatte er geschwiegen. Dann hatte er gesagt, in einem ganz anderen Ton: „Wenn du darüber reden willst, was passiert ist, kannst du jederzeit zu mir kommen.“

Ich hatte Luft geholt. Und genickt. Und war endlich geflohen. Zu Hause hatte Finn mich trotz der nachtschlafenden Zeit an der Wohnungstür empfangen. Er hatte das Spiel auf Sky gesehen, die verlorenen Zweikämpfe, die Fehlpässe, das Eigentor, alles. Er hatte mich angesehen, und in seinem Gesicht war irgendetwas zerbrochen. Er war einen Schritt auf mich zukommen, hatte die Hand nach meiner Sporttasche ausgestreckt. „Martin …“

Ich war zurückgezuckt, ausgewichen, wieder geflohen, diesmal in mein Zimmer. Hatte die Tür hinter mir geschlossen, war ins Bett gefallen und dort geblieben. Und so war es seitdem jeden Tag. Manchmal schlief ich, manchmal war ich wach. Manchmal weinte ich, aber mittlerweile kaum noch. Das war mehr die ersten Tage gewesen. Jetzt konnte ich nicht mal mehr das. Zum Training schleppte Finn mich mit. Er packte meine Sporttasche, er wusch, er kochte, er fuhr, und jeden Tag versuchte er, mich dazu zu bringen, mit ihm zu reden. Im Auto erzählte er vom Training, vom echten Training, er erzählte von der Mannschaftsbesprechung vor dem Köln-Spiel, von Michi, der sich bei einem Zweikampf am Sprunggelenk verletzt hatte und ein paar Wochen ausfallen würde, von Gidi, der nach mir fragte. Ich ließ alles über mich hinwegwaschen. Zählte die Sekunden, bis ich wieder hinter meiner Zimmertür verschwinden konnte. Die hielt Finn von mir ab. Vermutlich nicht für immer. Aber immer noch. Immer noch.

Gestern beim Spiel war Finn zu Hause geblieben. Er war wieder nicht im Kader gewesen, aber er war auch nicht zum Zuschauen ins Stadion gegangen. Stattdessen hatte er das Spiel im Wohnzimmer geschaut. Wahrscheinlich hatte er Angst gehabt, was ich tun würde, wenn er mich alleinließ. Er hätte ruhig gehen können. Ich hätte genau das getan, was ich auch mit ihm hier getan hatte. Gar nichts.

Finn hatte das Spiel bei offener Wohnzimmertür geschaut, das hatte ich daran gehört, wie laut die Fernsehgeräusche zu mir durchgedrungen waren. Und er hatte auch selber jede Aktion in Extralautstärke kommentiert. Ich hatte ihn gelassen. Sollte er doch, wenn es ihm Spaß machte. Ich hatte im Bett gelegen und den ganzen Lärm nur als diffuse Geräusche wahrgenommen. War ich wach gewesen oder hatte ich geschlafen? Keine Ahnung. Es war nicht wichtig. Nichts, was ich jetzt noch hatte, war mehr wichtig. Ich war hohl und leer, wie ein Schwarzes Loch, das alles absorbierte, ohne sich je zu füllen. Nichts kam mehr bei mir an. Selbst beim Krafttraining spürte ich das Brennen der Muskeln kaum. Alles fühlte sich gleich an. Nach nichts. Nothing. We had nothing.

Ein leises Geräusch. Die Wand nahm vor meinen Augen Gestalt an. Was … ? Ach ja. Ein Klopfen. An meiner Zimmertür. Finn unternahm wohl einen zweiten Anlauf. Das hatte er bis jetzt nie gemacht. Aber gut. Sollte er ruhig. Ich blieb liegen, das Gesicht von der Tür abgewandt. Vor meinen Augen verschwamm die Wand wieder.

Ein Klick, ein leichtes Schaben. Schritte. Wieder ein Schaben, ein Einrasten. Stille. Ich wartete. Aber er sagte nichts. Also tat ich es schließlich. „Lass mich in Ruhe, Finn.“

„I’m not Finn, Martin.“

Die Wand wurde so urplötzlich scharf, dass ein Stich Schwindel durch mich hindurchzuckte. Ich schoss hoch und fuhr herum, die Decke nur noch über den Beinen. Beide Handflächen pressten sich auf die Matratze. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte ich zur Tür.

Nein. Ich war nicht verrückt. Oder wenn doch, dann zumindest nicht nur meine Ohren. Da, neben der geschlossenen Zimmertür, in Jeans, hellblauem Langarmshirt und mit offenem Haar, stand – Sierra.

Stille. Mein Mund hing immer noch offen. Sierra wandte den Blick nicht von mir ab. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt, ihre Lippen leicht verengt. Ein paar Sekunden schauten wir uns an. Dann blinzelte ich. „What … why … how …?“

Ich krächzte. Vielleicht, weil ich in der letzten Woche so gut wie nichts gesagt hatte, vielleicht, weil meine Stimme sich nicht mehr erinnern konnte, wie es ging, einen anderen Gemütszustand als nichts auszudrücken. Vielleicht, weil das jetzt einfach wirklich zu viel war. Sierra. Hier. In Hamburg. In meinem Zimmer. Warum? Was zur Hölle machte sie hier?

Sierras Blick huschte durch mein Zimmer und fokussierte sich wieder auf mich. Ein seltsames Gefühl packte mich. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass es ein Prickeln war. Ich erinnerte mich, dass der Fokus von Sierras ungeteilter Aufmerksamkeit früher schon dieses Prickeln hervorgerufen hatte. Aber jetzt fühlte es sich völlig anders an. Es erinnerte mich an das Gefühl, durch das man durchmusste, wenn man sich beim Schlafen auf den Arm drehte und die Taubheit nur durch Öffnen und Schließen der Hand wieder vertreiben konnte.

Sierra blinzelte. Irgendwo in ihrem Gesicht zuckte ein Muskel. Aber als sie sprach, war ihre Stimme sanft. „I thought you must be having a pretty rough time of it. I read what happened in your last away match. And then that you didn’t play at all yesterday. So I figured you might want to talk … to somebody who knows what’s going on.”

To somebody who knows what’s going on. Ein Funken glomm in meiner Brust. Ein Funken, den das Loch nicht auslöschen konnte. „Oh, and you know what’s going on, do you?”

„I think Ramin’s given me an account, yes.”

„Oh really?“ Ein Zischen. Ich stemmte mich auf die Matratze, wuchtete mich hoch, setzte mich aufrecht hin. Rasend schnell hatte der Funke um sich gegriffen, und jetzt loderte meine ganze Brust, meine Arme, meine Beine. „And did he tell you that he came here, without a warning, without ANYTHING, and told me he was leaving, he was going to New York, he was moving out and leaving me, and that he would have done that anyway because he’d fucked thousands of guys and why should I be anyone special? That he’d only done everything he did because he wanted to push me, to see how far I’d go, and that he was not my boyfriend, and that he didn’t love me, and that I was weak, and pathetic, and a scared little faggot for not being out, and that we’d never had anything at all, and that I was just – just –“

Meine Kehle und Augen brannten. Ich starrte Sierra an, die da drüben stand, makellos wie immer, die meinte, sie könnte hier einfach herkommen und behaupten, sie wüsste, was passiert war. Ich wollte weiterschreien, sie niederringen, ihr klarmachen, dass sie nichts wusste, GAR nichts, dass sie keine Ahnung hatte. Alles wollte ich ihr hinknallen, alles, was Ramin gesagt hatte, jedes messerscharfe Wort, damit sie sah, wie tief er geschnitten hatte, wie zielsicher, wie grausam, damit sie zugeben musste, dass sie nichts wusste, nichts, NICHTS. Aber ich konnte nicht.

Even a tight ass gets boring when you fuck it too often.

Der Satz hallte durch meinen Kopf, klar und laut, in seiner Stimme, Ramins, der Stimme, mit der alles angefangen hatte, der ich so sehr vertraut hatte, bevor …

Even a tight ass gets boring when you fuck it too often.

Ich blinzelte, schluckte. Meine Fäuste krallten sich noch fester ins Laken. Meine Kehle kämpfte. Aber ich schaute Sierra an, in diese tiefen, grünen Augen, und ich konnte es nicht sagen. Also atmete ich nur aus, und dann war ich es, der mich abwandte, der floh vor ihrem unverwandten Blick. Ich schaute zur Seite, auf die verstreuten Klamotten zwischen Bett und Wand. Meine Worte, in Ramins Stimme, echoten durch meinen Kopf.

„Yes.“ Sierra sprach leise. Trotzdem zuckte ich zusammen, als hätte sie geschrien. „I think he told me everything.”

Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Immer noch saß ich auf dem Bett, meinem zerwühlten, zerknitterten Bett, in dem ich den Großteil der letzten Woche verbracht hatte. Ich schaute nicht auf, aber ich wusste trotzdem, dass Sierras Blick unverändert auf mir lag. Er stach, er brannte. Die Klamotten auf meinem Zimmerboden verschwammen. Ich blinzelte, zwang mich, zu schlucken, versuchte, das, was da aufstieg, irgendwie zurückzudrängen, irgendwie zu kontrollieren. Sag was, flehte ich stumm, irgendwas, das mich ablenkt. Egal was. BITTE.

Aber sie schwieg. Sie schwieg, und schaute, und wartete. Ich konnte es nicht ertragen. Langsam, stockend, den Blick immer noch abgewandt, presste ich Worte hervor. „It’s just … I just … You know, that morning … We’d just come back here, and … I was so happy, and I was thinking about the ball, and … and him and … But … When he just showed up, I thought … I thought … But then …”

Ich wollte weitersprechen. Aber meine Kehle war zu. Ich sah ihn vor mir, im Flur, ohne Gepäck, Hände in den Jackentaschen, gerötete Wangen, Eis in den Augen. I’m going to New York. I’m flying over tomorrow. Die schmalen Lippen, dünn wie eine Peitsche. Das Lachen. Hohl und kalt. Ein Fremder war er gewesen. Ein Fremder. What do we have, Martin? Huh? I’ll tell you: NOTHING, okay? We had sex, we fucked, a couple of times, that’s it.

That’s it …

Ich spürte das Schluchzen. Aber ich kriegte den Mund nicht schnell genug zu. Bevor ich die Hand davor schlagen konnte, brach es aus mir heraus, und dann liefen Tränen über mein Gesicht, und es schüttelte mich, als ob in meiner Brust etwas tobte, das um jeden Preis herauswollte und sich nicht beruhigen ließ. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, presste sie vor die Augen, so fest, dass winzige Punkte in der Dunkelheit pulsierten, und zog die Beine unter der Decke hervor, sodass ich auf der Bettkante saß und ihr den Rücken zudrehte. Geh weg, oh bitte, geh doch weg, geh weg, gehweggehweggehweggehweggehweg.

Sie ging nicht weg. Stattdessen sank nach ein paar Sekunden die Matratze links von mir ein Stückchen ab. Im nächsten Moment spürte ich einen Arm um meinen Rücken, zwei Hände, die meine Schultern fassten, sanft drückten, sich leicht auf und ab bewegten.

„I know.“ Das war so leise, dass ich es über mein Schluchzen kaum hören konnte. „I know. I know. I know.“

Von den Zehen bis zur Stirn versteifte jeder Muskel meines Körpers. Let go, wollte ich sagen, ich wollte abrücken, ausweichen, mich ihr entziehen. Aber ich konnte mich nicht rühren. Der Griff ihrer Hände war fest, aber warm. Sanft. Ganz anders als die Arme der Jungs beim Torjubel oder im Mannschaftskreis vor dem Spiel. Irgendwie … weicher. Wie die Umarmung einer Schwester. Wie die Umarmung einer Mutter. Oh Mama. Oh Gott, Mama. Wenn du doch nur noch hier wärst. Ich brauche dich doch. Ich brauche dich. So sehr. Ich hab doch niemanden sonst … niemanden … Mama …

Es war vorbei. Ich fiel in mich zusammen. Die Hände rutschten vom Gesicht, mein Kopf sackte gegen Sierras Schulter, und ich weinte und weinte und weinte. Sierra lehnte den Kopf gegen meinen und hielt mich. „I know“, murmelte sie, immer und immer wieder. „I know, I know, I know, I know.“

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging. Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt noch so viel weinen konnte. Aber irgendwann war es vorbei. Das Beben in meiner Brust verebbte, der Tränenfluss auf meinen Wangen versiegte, und was sich jetzt seinen Weg durch meine Kehle bahnte, waren abgehackte, langsam ruhiger werdende Atemzüge.

Stille breitete sich aus. Auch Sierra schwieg jetzt. Aber sie hielt mich immer noch mit beiden Händen fest. Die an meiner rechten Schulter bewegte sich immer noch leicht auf und ab.

Ich blinzelte. Meine Augen brannten schlimmer als vorher. Mit dem Handrücken fuhr ich mir übers Gesicht. „Ähh …“ Grässlich laut dröhnte meine Stimme in der Stille. Ich blinzelte wieder, starrte auf das Chaos vor meinem Bett. Meine rechte Hand ballte sich. „Sorry. I …“

„Don’t apologise.“ Immer noch strich ihre Hand über meine Schulter. „Crying can never hurt. And least of all in this case. After everything he said to you. After what he did.”

Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich presste die Lippen aufeinander. Sagen konnte ich nichts. Aber ich schaffte es, zu nicken.

Sierra machte noch immer keine Anstalten, mich loszulassen. Zittrig sog ich die Luft ein. Da war ein Hauch von einem fremden Duft. Orange. So wie damals in Ramins Wohnung. Bevor ich ihr gesagt hatte, wer ich war.

Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder. Atmete noch einmal tief ein. Alles um mich herum schien auf einmal schärfer zu werden. Ich blinzelte und starrte auf das, was ich da zu meinen Füßen sah. Klamotten. Trainingsjacke, Trainingshose, Winterjacke in der Ecke vor dem Schreibtisch. Ein T-Shirt, auf links gedreht. Eine einzelne Socke, schwarz, direkt unter meinen Füßen. Noch eine Socke, eine weiße, unter dem Ablagebrett neben dem Kopfteil.

Wo waren die Gegenstücke dazu? Unter dem Bett? Oder hatte ich blind in die Schublade gegriffen und das zusammen getragen? Wann hatte ich das alles angehabt? Wie lange lag das schon hier? Und wann hatte ich hier zum letzten Mal ein Fenster aufgemacht?

Meine Augen zuckten hoch. In der Scheibe erhaschte ich einen Blick auf mein Gesicht. Es war kein schöner Anblick. Sogar in diesem undeutlichen Spiegelbild waren mein Haar, das mir wild in die Stirn hing, meine schon wieder rotgeheulten Augen und mein unübersehbar seit einer Woche nicht rasiertes Kinn deutlich zu erkennen. Und alles, was ich anhatte, waren Socken, Boxershorts und ein zerknittertes T-Shirt.

Sierras Hände brannten plötzlich. „Ähm …“ Meine Stimme brach. Ich räusperte mich, setzte neu an. „I’m really sorry about … all this.“ Fahrig wischte meine rechte Hand in Richtung Zimmerboden. „And about … you know … everything.“

Sierra lachte. Sanft und warm. Es war so lange her, dass ich das letzte Mal ein echtes Lachen gehört hatte, dass ich das Gefühl hatte, fast vergessen zu haben, wie es klang. „I tell you what, why don’t I go into the kitchen and make us a nice cup of tea? I’m sure Finn can show me where everything is.”

Meine Mundwinkel hoben sich. Es tat fast weh. Als hätten meine Muskeln die Bewegung verlernt. “Right. Yeah. Good idea. I’ll, ahm … be about ten minutes, I guess?”

“Take your time.“ Noch ein leises Lachen, ein letzter Druck auf meiner Schulter. Sie ließ mich los, das Gewicht auf der Matratze an meiner Seite verschwand, und kurz darauf öffnete und schloss sich die Zimmertür.

Einen Moment starrte ich noch auf meine Füße. Ruckartig holte ich Luft, sprang auf, riss das Fenster auf, sammelte alle verstreuten Klamotten in einem Arm, angelte mit dem anderen ein paar saubere aus dem Schrank und marschierte ins Bad.

Chapter 43: I Know - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Ich weiß

 

„Hey, was hältst du davon, wenn wir was kochen? Hast du Hunger? Ich hab Hunger. Wir könnten –“

„Nein.“

„Komm schon, du hast doch auch trainiert. Du musst doch –“

„Nein.“

„Martin, komm, tu nicht so, ich –“

Die Zimmertür schnitt den Rest des Satzes ab. Ich öffnete den Reißverschluss der Winterjacke und ließ sie von den Schultern gleiten. Schuhe, Trainingshose und Trainingsjacke folgten. Vor der Tür herrschte Stille. Dann –

„Martin, jetzt lass das doch. Komm raus. Bitte.“

Ich hörte seine Verzweiflung. Ich hörte sein Flehen. Aber ich blieb stehen, am Fußende meines Bettes, auf dem das Kissen zerbeult, das Laken verknittert und die Decke halb zurückgeschlagen war. Ich starrte darauf hinab, ohne es zu sehen. Ein paar Sekunden war es still. Dann hörte ich ein ersticktes Geräusch, so leise, dass es nur in einem Hauch durch die Tür drang. Es klang wie ein gequältes Tier. Schritte, die sich entfernten, und kurz darauf eine Tür, die auf und zu ging.

Ich stieß die Luft aus. Hatte ich den Atem angehalten? Komisch. Na ja. Egal.

Ich ging zwei Schritte ums Bettende herum, meine Beine wurden ihre Last los, und ich kroch unter die Decke. Auf der Seite blieb ich liegen, Beine angewinkelt, Arme angewinkelt. Blicklos starrte ich geradeaus auf die blaue Wand unter dem Fenster.

Du hast doch auch trainiert. Der Nachklang des Satzes hallte in meinem Kopf wie ein Echo in einer Höhle. Hatte ich trainiert? Ja? Nein? Keine Ahnung. Wenn, dann jedenfalls nicht richtig. Nicht so wie Finn. Der hatte das Spielersatztraining hinter sich. Aber daran und an den anderen Mannschaftstrainings nahm ich schon seit einer Woche nicht mehr teil.

Offiziell hatte ich muskuläre Probleme. Inoffiziell war ich suspendiert. Bruno hatte mich zurückgehalten, als ich nach der stundenlangen Rückreise aus Stuttgart in die eiskalte Nachtluft der Bushalle des Volksparkstadion hatte treten wollen, und hatte mir den Beschluss des Trainerteams mitgeteilt: Ich war ab sofort vom Mannschaftstraining und den Spielen ausgeschlossen und würde meine Trainingszeit im Kraftraum verbringen. Athletiktrainer Daniel würde mir einen Plan erstellen und dessen Einhaltung überwachen, und ich würde reichlich Gelegenheit bekommen, individuell am gezielten Aufbau der Bein-, Rumpf- und Oberkörpermuskulatur zu arbeiten. So lange, bis ich mich sowohl beim Trainerteam als auch bei der Mannschaft für das inakzeptable Verhalten nach meiner Auswechslung im Stuttgartspiel und in den Trainingswochen davor entschuldigte.

Das alles hatte Bruno mit stählerner Stimme vorgetragen, während ich auf meine Schuhspitzen gestarrt hatte. Als er verstummt war, hatte es eine Pause gegeben. Ich hatte genickt, immer noch in Richtung Fußboden, und schon den ersten Schritt auf die Tür zu gemacht, als Bruno noch einmal gesprochen hatte. „Martin.“

So scharf und eindringlich war seine Stimme gewesen, dass ich mitten in der Bewegung eingefroren und mein Kopf zu ihm herumgeschnellt war. Er hatte mich angesehen, und ich war sicher gewesen, dass ihm nichts entgangen war: die herabhängenden Schultern, das wirre Haar, die fahlen Wangen, die geröteten Augen.

Einen Moment hatte er geschwiegen. Dann hatte er gesagt, in einem ganz anderen Ton: „Wenn du darüber reden willst, was passiert ist, kannst du jederzeit zu mir kommen.“

Ich hatte Luft geholt. Und genickt. Und war endlich geflohen. Zu Hause hatte Finn mich trotz der nachtschlafenden Zeit an der Wohnungstür empfangen. Er hatte das Spiel auf Sky gesehen, die verlorenen Zweikämpfe, die Fehlpässe, das Eigentor, alles. Er hatte mich angesehen, und in seinem Gesicht war irgendetwas zerbrochen. Er war einen Schritt auf mich zukommen, hatte die Hand nach meiner Sporttasche ausgestreckt. „Martin …“

Ich war zurückgezuckt, ausgewichen, wieder geflohen, diesmal in mein Zimmer. Hatte die Tür hinter mir geschlossen, war ins Bett gefallen und dort geblieben. Und so war es seitdem jeden Tag. Manchmal schlief ich, manchmal war ich wach. Manchmal weinte ich, aber mittlerweile kaum noch. Das war mehr die ersten Tage gewesen. Jetzt konnte ich nicht mal mehr das. Zum Training schleppte Finn mich mit. Er packte meine Sporttasche, er wusch, er kochte, er fuhr, und jeden Tag versuchte er, mich dazu zu bringen, mit ihm zu reden. Im Auto erzählte er vom Training, vom echten Training, er erzählte von der Mannschaftsbesprechung vor dem Köln-Spiel, von Michi, der sich bei einem Zweikampf am Sprunggelenk verletzt hatte und ein paar Wochen ausfallen würde, von Gidi, der nach mir fragte. Ich ließ alles über mich hinwegwaschen. Zählte die Sekunden, bis ich wieder hinter meiner Zimmertür verschwinden konnte. Die hielt Finn von mir ab. Vermutlich nicht für immer. Aber immer noch. Immer noch.

Gestern beim Spiel war Finn zu Hause geblieben. Er war wieder nicht im Kader gewesen, aber er war auch nicht zum Zuschauen ins Stadion gegangen. Stattdessen hatte er das Spiel im Wohnzimmer geschaut. Wahrscheinlich hatte er Angst gehabt, was ich tun würde, wenn er mich alleinließ. Er hätte ruhig gehen können. Ich hätte genau das getan, was ich auch mit ihm hier getan hatte. Gar nichts.

Finn hatte das Spiel bei offener Wohnzimmertür geschaut, das hatte ich daran gehört, wie laut die Fernsehgeräusche zu mir durchgedrungen waren. Und er hatte auch selber jede Aktion in Extralautstärke kommentiert. Ich hatte ihn gelassen. Sollte er doch, wenn es ihm Spaß machte. Ich hatte im Bett gelegen und den ganzen Lärm nur als diffuse Geräusche wahrgenommen. War ich wach gewesen oder hatte ich geschlafen? Keine Ahnung. Es war nicht wichtig. Nichts, was ich jetzt noch hatte, war mehr wichtig. Ich war hohl und leer, wie ein Schwarzes Loch, das alles absorbierte, ohne sich je zu füllen. Nichts kam mehr bei mir an. Selbst beim Krafttraining spürte ich das Brennen der Muskeln kaum. Alles fühlte sich gleich an. Nach nichts. Nichts. Wir hatten nichts.

Ein leises Geräusch. Die Wand nahm vor meinen Augen Gestalt an. Was … ? Ach ja. Ein Klopfen. An meiner Zimmertür. Finn unternahm wohl einen zweiten Anlauf. Das hatte er bis jetzt nie gemacht. Aber gut. Sollte er ruhig. Ich blieb liegen, das Gesicht von der Tür abgewandt. Vor meinen Augen verschwamm die Wand wieder.

Ein Klick, ein leichtes Schaben. Schritte. Wieder ein Schaben, ein Einrasten. Stille. Ich wartete. Aber er sagte nichts. Also tat ich es schließlich. „Lass mich in Ruhe, Finn.“

„Ich bin nicht Finn, Martin.“

Die Wand wurde so urplötzlich scharf, dass ein Stich Schwindel durch mich hindurchzuckte. Ich schoss hoch und fuhr herum, die Decke nur noch über den Beinen. Beide Handflächen pressten sich auf die Matratze. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte ich zur Tür.

Nein. Ich war nicht verrückt. Oder wenn doch, dann zumindest nicht nur meine Ohren. Da, neben der geschlossenen Zimmertür, in Jeans, hellblauem Langarmshirt und mit offenem Haar, stand – Sierra.

Stille. Mein Mund hing immer noch offen. Sierra wandte den Blick nicht von mir ab. Ihre Arme waren vor der Brust verschränkt, ihre Lippen leicht verengt. Ein paar Sekunden schauten wir uns an. Dann blinzelte ich. „Was … wieso … wie …?“

Ich krächzte. Vielleicht, weil ich in der letzten Woche so gut wie nichts gesagt hatte, vielleicht, weil meine Stimme sich nicht mehr erinnern konnte, wie es ging, einen anderen Gemütszustand als nichts auszudrücken. Vielleicht, weil das jetzt einfach wirklich zu viel war. Sierra. Hier. In Hamburg. In meinem Zimmer. Warum? Was zur Hölle machte sie hier?

Sierras Blick huschte durch mein Zimmer und fokussierte sich wieder auf mich. Ein seltsames Gefühl packte mich. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass es ein Prickeln war. Ich erinnerte mich, dass der Fokus von Sierras ungeteilter Aufmerksamkeit früher schon dieses Prickeln hervorgerufen hatte. Aber jetzt fühlte es sich völlig anders an. Es erinnerte mich an das Gefühl, durch das man durchmusste, wenn man sich beim Schlafen auf den Arm drehte und die Taubheit nur durch Öffnen und Schließen der Hand wieder vertreiben konnte.

Sierra blinzelte. Irgendwo in ihrem Gesicht zuckte ein Muskel. Aber als sie sprach, war ihre Stimme sanft. „Ich dachte mir, dass es dir momentan sicher nicht so gutgeht. Ich hab gesehen, was in eurem letzten Auswärtsspiel passiert ist. Und dann, dass du gestern gar nicht gespielt hast. Also dachte ich, du willst vielleicht darüber reden … mit jemandem, der weiß, was los ist.“

Mit jemandem, der weiß, was los ist. Ein Funken glomm in meiner Brust. Ein Funken, den das Loch nicht auslöschen konnte. „Oh, und du weißt, was los ist, meinst du?”

„Ich glaube, Ramin hat mich ins Bild gesetzt, ja.”

„Ach wirklich?“ Ein Zischen. Ich stemmte mich auf die Matratze, wuchtete mich hoch, setzte mich aufrecht hin. Rasend schnell hatte der Funke um sich gegriffen, und jetzt loderte meine ganze Brust, meine Arme, meine Beine. „Und hat er dir gesagt, dass er hierhergekommen ist, ohne Warnung, ohne IRGENDWAS, und mir gesagt hat, dass er abhaut, dass er nach New York geht, dass er auszieht und mich verlässt, und dass er das sowieso gemacht hätte, weil er tausende Typen gefickt hat und warum sollte ich was Besonderes sein? Dass er alles, was er gemacht hat, nur getan hat, weil er sehen wollte, wie weit er mich kriegt, wie weit ich gehen würde, und dass er nicht mein Freund ist, und dass er mich nicht liebt, und dass ich schwach bin, und erbärmlich, und ein feiger kleiner Wichser, weil ich nicht geoutet bin, und dass wir überhaupt nie irgendwas hatten, und dass ich nur – nur –“

Meine Kehle und Augen brannten. Ich starrte Sierra an, die da drüben stand, makellos wie immer, die meinte, sie könnte hier einfach herkommen und behaupten, sie wüsste, was passiert war. Ich wollte weiterschreien, sie niederringen, ihr klarmachen, dass sie nichts wusste, GAR nichts, dass sie keine Ahnung hatte. Alles wollte ich ihr hinknallen, alles, was Ramin gesagt hatte, jedes messerscharfe Wort, damit sie sah, wie tief er geschnitten hatte, wie zielsicher, wie grausam, damit sie zugeben musste, dass sie nichts wusste, nichts, NICHTS. Aber ich konnte nicht.

Sogar ein enger Arsch wird langweilig, wenn man ihn zu oft fickt.

Der Satz hallte durch meinen Kopf, klar und laut, in seiner Stimme, Ramins, der Stimme, mit der alles angefangen hatte, der ich so sehr vertraut hatte, bevor …

Sogar ein enger Arsch wird langweilig, wenn man ihn zu oft fickt.

Ich blinzelte, schluckte. Meine Fäuste krallten sich noch fester ins Laken. Meine Kehle kämpfte. Aber ich schaute Sierra an, in diese tiefen, grünen Augen, und ich konnte es nicht sagen. Also atmete ich nur aus, und dann war ich es, der mich abwandte, der floh vor ihrem unverwandten Blick. Ich schaute zur Seite, auf die verstreuten Klamotten zwischen Bett und Wand. Meine Worte, in Ramins Stimme, echoten durch meinen Kopf.

„Ja.“ Sierra sprach leise. Trotzdem zuckte ich zusammen, als hätte sie geschrien. „Ich glaube, er hat mir alles erzählt.”

Ich öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Immer noch saß ich auf dem Bett, meinem zerwühlten, zerknitterten Bett, in dem ich den Großteil der letzten Woche verbracht hatte. Ich schaute nicht auf, aber ich wusste trotzdem, dass Sierras Blick unverändert auf mir lag. Er stach, er brannte. Die Klamotten auf meinem Zimmerboden verschwammen. Ich blinzelte, zwang mich, zu schlucken, versuchte, das, was da aufstieg, irgendwie zurückzudrängen, irgendwie zu kontrollieren. Sag was, flehte ich stumm, irgendwas, das mich ablenkt. Egal was. BITTE.

Aber sie schwieg. Sie schwieg, und schaute, und wartete. Ich konnte es nicht ertragen. Langsam, stockend, den Blick immer noch abgewandt, presste ich Worte hervor. „Es ist nur … Ich war nur … Weißt du, an dem Morgen … Wir waren grade hierher zurückgekommen, und … Ich war so glücklich, und ich hab an den Ball gedacht, und … und an ihn und … Aber … Als er einfach aufgetaucht ist, dachte ich … Ich dachte … Aber dann …“

Ich wollte weitersprechen. Aber meine Kehle war zu. Ich sah ihn vor mir, im Flur, ohne Gepäck, Hände in den Jackentaschen, gerötete Wangen, Eis in den Augen. Ich gehe nach New York. Ich fliege morgen rüber. Die schmalen Lippen, dünn wie eine Peitsche. Das Lachen. Hohl und kalt. Ein Fremder war er gewesen. Ein Fremder. Was haben wir denn, Martin? Hm? Ich sags dir: NICHTS, okay? Wir hatten Sex, wir haben gefickt, ein paarmal, das wars.

Das wars …

Ich spürte das Schluchzen. Aber ich kriegte den Mund nicht schnell genug zu. Bevor ich die Hand davor schlagen konnte, brach es aus mir heraus, und dann liefen Tränen über mein Gesicht, und es schüttelte mich, als ob in meiner Brust etwas tobte, das um jeden Preis herauswollte und sich nicht beruhigen ließ. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, presste sie vor die Augen, so fest, dass winzige Punkte in der Dunkelheit pulsierten, und zog die Beine unter der Decke hervor, sodass ich auf der Bettkante saß und ihr den Rücken zudrehte. Geh weg, oh bitte, geh doch weg, geh weg, gehweggehweggehweggehweggehweg.

Sie ging nicht weg. Stattdessen sank nach ein paar Sekunden die Matratze links von mir ein Stückchen ab. Im nächsten Moment spürte ich einen Arm um meinen Rücken, zwei Hände, die meine Schultern fassten, sanft drückten, sich leicht auf und ab bewegten.

„Ich weiß.“ Das war so leise, dass ich es über mein Schluchzen kaum hören konnte. „Ich weiß. Ich weiß. Ich weiß.“

Von den Zehen bis zur Stirn versteifte jeder Muskel meines Körpers. Lass mich los, wollte ich sagen, ich wollte abrücken, ausweichen, mich ihr entziehen. Aber ich konnte mich nicht rühren. Der Griff ihrer Hände war fest, aber warm. Sanft. Ganz anders als die Arme der Jungs beim Torjubel oder im Mannschaftskreis vor dem Spiel. Irgendwie … weicher. Wie die Umarmung einer Schwester. Wie die Umarmung einer Mutter. Oh Mama. Oh Gott, Mama. Wenn du doch nur noch hier wärst. Ich brauche dich doch. Ich brauche dich. So sehr. Ich hab doch niemanden sonst … niemanden … Mama …

Es war vorbei. Ich fiel in mich zusammen. Die Hände rutschten vom Gesicht, mein Kopf sackte gegen Sierras Schulter, und ich weinte und weinte und weinte. Sierra lehnte den Kopf gegen meinen und hielt mich. „Ich weiß“, murmelte sie, immer und immer wieder. „Ich weiß, ich weiß, ich weiß, ich weiß.“

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging. Ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt noch so viel weinen konnte. Aber irgendwann war es vorbei. Das Beben in meiner Brust verebbte, der Tränenfluss auf meinen Wangen versiegte, und was sich jetzt seinen Weg durch meine Kehle bahnte, waren abgehackte, langsam ruhiger werdende Atemzüge.

Stille breitete sich aus. Auch Sierra schwieg jetzt. Aber sie hielt mich immer noch mit beiden Händen fest. Die an meiner rechten Schulter bewegte sich immer noch leicht auf und ab.

Ich blinzelte. Meine Augen brannten schlimmer als vorher. Mit dem Handrücken fuhr ich mir übers Gesicht. „Ähh …“ Grässlich laut dröhnte meine Stimme in der Stille. Ich blinzelte wieder, starrte auf das Chaos vor meinem Bett. Meine rechte Hand ballte sich. „Sorry. Ich …“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Immer noch strich ihre Hand über meine Schulter. „Weinen kann nie schaden. Und schon gar nicht in diesem Fall. Nach allem, was er zu dir gesagt hat. Nach dem, was er getan hat.“

Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich presste die Lippen aufeinander. Sagen konnte ich nichts. Aber ich schaffte es, zu nicken.

Sierra machte noch immer keine Anstalten, mich loszulassen. Zittrig sog ich die Luft ein. Da war ein Hauch von einem fremden Duft. Orange. So wie damals in Ramins Wohnung. Bevor ich ihr gesagt hatte, wer ich war.

Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder. Atmete noch einmal tief ein. Alles um mich herum schien auf einmal schärfer zu werden. Ich blinzelte und starrte auf das, was ich da zu meinen Füßen sah. Klamotten. Trainingsjacke, Trainingshose, Winterjacke in der Ecke vor dem Schreibtisch. Ein T-Shirt, auf links gedreht. Eine einzelne Socke, schwarz, direkt unter meinen Füßen. Noch eine Socke, eine weiße, unter dem Ablagebrett neben dem Kopfteil.

Wo waren die Gegenstücke dazu? Unter dem Bett? Oder hatte ich blind in die Schublade gegriffen und das zusammen getragen? Wann hatte ich das alles angehabt? Wie lange lag das schon hier? Und wann hatte ich hier zum letzten Mal ein Fenster aufgemacht?

Meine Augen zuckten hoch. In der Scheibe erhaschte ich einen Blick auf mein Gesicht. Es war kein schöner Anblick. Sogar in diesem undeutlichen Spiegelbild waren mein Haar, das mir wild in die Stirn hing, meine schon wieder rotgeheulten Augen und mein unübersehbar seit einer Woche nicht rasiertes Kinn deutlich zu erkennen. Und alles, was ich anhatte, waren Socken, Boxershorts und ein zerknittertes T-Shirt.

Sierras Hände brannten plötzlich. „Ähm …“ Meine Stimme brach. Ich räusperte mich, setzte neu an. „Tut mir echt leid wegen … dem Ganzen.“ Fahrig wischte meine rechte Hand in Richtung Zimmerboden. „Und wegen … du weißt schon … allem.“

Sierra lachte. Sanft und warm. Es war so lange her, dass ich das letzte Mal ein echtes Lachen gehört hatte, dass ich das Gefühl hatte, fast vergessen zu haben, wie es klang. „Pass auf, was hältst du davon, wenn ich in die Küche gehe und uns einen schönen Tee mache? Finn kann mir bestimmt zeigen, wo alles ist.“

Meine Mundwinkel hoben sich. Es tat fast weh. Als hätten meine Muskeln die Bewegung verlernt. „Okay. Ja. Gute Idee. Ich, ähm … bin dann in so zehn Minuten da, schätze ich?“

„Lass dir Zeit.“ Noch ein leises Lachen, ein letzter Druck auf meiner Schulter. Sie ließ mich los, das Gewicht auf der Matratze an meiner Seite verschwand, und kurz darauf öffnete und schloss sich die Zimmertür.

Einen Moment starrte ich noch auf meine Füße. Ruckartig holte ich Luft, sprang auf, riss das Fenster auf, sammelte alle verstreuten Klamotten in einem Arm, angelte mit dem anderen ein paar saubere aus dem Schrank und marschierte ins Bad.

Chapter 44: Why?

Chapter Text

  1. Kapitel: Why?

 

Eine knappe Viertelstunde später trat ich durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Mein Gesicht war gewaschen, ich hatte mich rasiert und meine Haare gekämmt, und ich trug Jeans und ein neues T-Shirt. Aus dem Flur hatte ich Stimmen gehört, aber als ich hereinkam, brach das Gespräch ab. Sierra saß auf dem Sofa, vor ihr auf dem Couchtisch zwei dampfende Tassen Tee. Finn hielt seine eigene Tasse in den Händen und saß ihr gegenüber auf dem Sessel. Alle beide schauten sie mich an. Auf Sierras Gesicht lag ein Lächeln. Finn starrte nur. Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wich ich seinem Blick nicht aus.

Er war blass. Finn sah immer ein bisschen blass aus, das machte sein hellblondes Haar, aber jetzt hatte die Farbe etwas Kränkliches. Unter seinen Augen lagen Schatten, und seine Wangenknochen traten deutlicher hervor. Er sah ausgezehrt aus. Ausgemergelt. In seinen weiten, hellblauen Augen standen Erschöpfung und Sorge und Erleichterung. Kein noch so kleiner Hauch von Ich-hab’s-dir-doch-gesagt.

Mein Bauch knotete sich zusammen. Wie lange war es her, dass ich Finn angeschaut hatte, richtig angeschaut? Drei Wochen. Seit diesem Sonntag nach dem Trainingslager. In diesen drei Wochen hatte Finn alles für mich gemacht. Er hatte mich bekocht, mich zum Training gefahren, gewaschen, geputzt, Tee gekocht, mit mir geredet, mir gezeigt, dass er da war, wenn ich ihn wollte. Und ich? Ich hatte nichts davon überhaupt gesehen. Und wenn doch, hatte ich es ihm nur übelgenommen. Jedes Mal, wenn er die Hand ausgestreckt hatte, hatte ich hineingebissen. Ich hatte meine geballte Wut an ihm ausgelassen. Obwohl er nichts für irgendetwas konnte. Und ganz nebenbei hatte er in der Zwischenzeit auch noch sein Kaderdebüt in der Profimannschaft gefeiert. Sein Kaderdebüt. Und ich hatte nichts getan, um das irgendwie zu würdigen, geschweige denn mit ihm zu feiern, so, wie er es damals für mich gemacht hatte.

Ich blinzelte. Wieder konnte ich seinen Blick nicht ertragen. Aber diesmal aus völlig anderen Gründen. Als ich sprach, sprach ich zum Teppich, und meine Stimme klang kratzig und heiser. „Finn, ich … ich … Es tut mir … Ich …“

„Lass mal.“

Mein Kopf ruckte hoch. Finn lächelte. Er lächelte, als sei das rasierte und anständig gekleidete Ich das Schönste, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Als hätte ich ihn niemals auch nur schroff angefahren. Meine Wangen fingen an zu brennen.

Finn stand auf. Er lächelte immer noch. Plötzlich sah er nicht mehr ganz so kränklich aus. „Lass mal, Martin. Alles gut. Ehrlich. Du …“

Sein Blick glitt zum Sofa. Sierra beobachtete uns, obwohl sie doch kein Wort von dem verstehen konnte, was wir sagten. Sie erwiderte Finns Blick und sein Lächeln, das sofort noch ein wenig breiter wurde. Seine Augen kehrten zu mir zurück. „Du brauchst dich echt nicht zu entschuldigen. Ich … lass euch jetzt allein.“ Er wandte noch einmal den Kopf. „If you need anything, just … tell me, okay?”

“Thank you, Finn.”

Er strahlte, nickte, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Ich sank in die freie Sofaecke, nahm meinen Tee vom Tisch und schaute auf die dampfende Tasse hinunter. Auf meinen Lippen spürte ich ein leichtes Grinsen. Tja. Über Sierra würde ich mir von Finn wohl keine Tiraden anhören müssen.

Ich spürte ihren Blick und hob den Kopf. Ein leises Lächeln spielte auf ihren Lippen.

„What?“

„Nothing. It’s nice to see you smile, that’s all.”

Wie auf Knopfdruck hörte ich auf. „Yeah, well. I haven’t exactly done it a lot lately. Haven’t had a lot of reason to, you know.”

Ich starrte auf meine Tasse hinunter. Bilder schossen durch meinen Kopf. Finns Blick, nachdem Ramins Schritte im Treppenhaus verklungen waren. Wie ich ihn angeschnauzt hatte. Das Spiel gegen Bayern, in dem ich am Rande eines Platzverweises gestanden hatte, ohne darauf zu achten. Das Foul an Ivo im Training. Johans Worte, Brunos Worte. Das Eigentor gegen Stuttgart. Die Busfahrt zurück, die Blicke der Jungs. Die Suspendierung. Die einsamen Einheiten im Kraftraum. Das Spiel gegen Köln. Ohne mich.

Meine Hände krampften sich um die Tasse. Die Hitze an den Handflächen spürte ich kaum.

„Why don’t you tell me about it?”

Ich blinzelte und hob den Kopf. Sierras Blick war offen und klar. Ich holte Luft und begann, zu erzählen. Ich fing an dem Moment an, an dem Ramin mir den Rücken zugedreht hatte und aus der Wohnung gestürmt war. Die Wut, den Frust, die Aggressivität, alles redete ich aus mir heraus. Alles, was passiert war, im Training, in den Spielen. Und wie es nach Stuttgart einfach vorbei gewesen war.

„I mean, I was angry before.“ Ich schluckte und starrte auf den Couchtisch. Die völlige Verzweiflung der Rückfahrt traf mich wieder wie ein Faustschlag in den Magen. „But ever since Stuttgart, I’ve just felt … empty. And our coach suspended me, so I’m not a part of team practices anymore. They’re making me work out in the gym, but … I dunno, I just … It just feels like … I dunno. Nothing, really.“

Ich schüttelte den Kopf. Meine Augen fixierten den Tisch, ohne ihn wahrzunehmen. Die nächsten Worte kamen langsam und stockend, und selbst in meinen eigenen Ohren hörten sie sich fremd an, als sei es ein anderer, der sie aussprach. „I just … can’t believe he’ll never call me again. Or visit me. Or … dance with me. Or …“

Ich biss mir auf die Lippe. Ein paar Sekunden war es still. Dann blinzelte ich und riss den Kopf hoch. „Why?! I mean, WHY did he leave me like this? How could he do that? How?! I thought we were doing fine, I thought – I –“

Meine Stimme überschlug sich. Ich holte Luft. Meine Hände umklammerten meine Tasse. „And I mean … I mean, it’s not just me, is it? What about his job, and his flat, and … and what about YOU? Aren’t you his best friend, weren’t you performing together, I mean … how could he just GO, how could you let him, why didn’t you stop him, why didn’t –”

Ein wenig Tee war auf meine Finger geschwappt. Ich biss mir auf die Lippe, versuchte, das Zittern in meinen Händen zu kontrollieren. Mein Atem ging keuchend und stoßweise.

Sierra hatte sich alles ohne Regung angehört. Kerzengerade saß sie da, ihre Augen auf mich gerichtet. Ich sah sie an und schluckte. Irgendwas in ihrem Blick war … anders. Härter. Ich spürte ein eiskaltes Prickeln im Nacken.

„I don’t know.“ Auch ihre Stimme klang anders. Kalt, schneidend. Wie Glassplitter. „I don’t know why he did it. I mean, I can guess, of course. But I’m afraid Ramin doesn’t think much of my guesses.”

Ich starrte sie an. Diese Schärfe, dieser eiskalte Sarkasmus … So hatte ich sie noch nie reden hören. Ich hätte nicht gedacht, dass sie das überhaupt konnte. Das war doch … nicht sie.

Ich schluckte. Dann sah ich sie, genau wie vorhin Finn, zum ersten Mal richtig an. Sie hielt sich immer noch kerzengerade, und ihr Blick war unverändert. Zu gerade eben. Aber zu vor ein paar Wochen, zum Sommer, zum Herbst, zum Ball – kein Vergleich. Da war kein Glanz mehr. Kein Lachen. Kein Schalk. Stattdessen lag ein Schatten auf ihren Wangen, und um ihren Mund war ein harter Zug.

Mein Hals war mit einem Mal trocken. Keine dieser Veränderungen war besonders augenfällig, man konnte es leicht übersehen, aber wenn man genau hinsah … Mir schoss das Wort in den Kopf, das ich vorhin in meinem Zimmer gedacht hatte. Makellos. Wie hatte ich nur so blind sein können? Wie hatte ich nur denken können, ich sei der Einzige, in dessen Leben Ramins Verschwinden ein Loch gerissen hatte?

Ich holte Luft, aber ich brauchte zwei Anläufe, bis ich Worte herausbrachte. „Sierra … what happened?“

Sie sah mich an, mit unverändertem Blick, ohne zu blinzeln. Was jetzt? Würde sie wütend werden? Hätte ich nicht fragen dürfen?

Aber dann seufzte sie. Ihre Haltung fiel in sich zusammen, und ihre Augen irrten durch den Raum, während sie ein paar Schlucke Tee nahm. Dann stellte sie die Tasse zurück auf den Tisch und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Ihr Blick kehrte zu mir zurück. Der Stahl darin war verschwunden. Jetzt sah sie hauptsächlich müde aus. Als sie sprach, war ihre Stimme nüchtern. „Ramin and I … well, we had a row. A huge row.”

Ich starrte sie an. Ein Echo klang durch meinen Kopf, Monate alt. And do you always …? Ein Lachen. Bicker? All the time.

Ich schluckte. Das Bickering hatte ich gesehen. Das, wovon Sierra jetzt sprach, war offensichtlich etwas anderes. „You mean … like … a real one?“

Sierra lachte. Es war ein trockenes, ganz und gar humorloses Lachen, und es machte mir fast so viel Angst wie ihr Blick eben. “Yes. A real, proper, genuine, textbook row.”

Sie schaute an mir vorbei Richtung Sessel. Ein bitteres Lächeln lag auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme war der Sarkasmus zurück. Und da war noch etwas anderes. Verdeckter, aber nicht verdeckt genug. Schmerz.

Meine Lippen öffneten sich. Ich wollte etwas sagen, irgendwas … Richtiges. Aber meine Kehle war schon wieder trocken, und mein Kopf wirbelte. Ich blinzelte, schloss den Mund, fuhr mir mit der Zunge über die Zähne, holte Luft. “I … I don’t understand.”

Sierra lächelte. Müde und angestrengt, aber es lag ein Hauch Wärme darin. “No. Well, I suppose I’d better tell you what happened.” Sie seufzte wieder, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und setzte sich etwas aufrechter hin. Dann erzählte sie mir, was passiert war.

Anscheinend hatte Ramin nach dem Ball wie geplant die Feiertage in Kanada verbracht. Kurz nach Silvester war er nach New York geflogen, um dort noch eine Woche Urlaub zu machen und ein paar Freunde zu treffen. Danach hatte er zurückkehren wollen, um ab dem elften Januar planmäßig wieder bei den Vorstellungen in London dabei zu sein. Stattdessen hatte er wohl während der Tage in New York ein Jobangebot vom Produzenten von „West Side Story“ erhalten, das im Frühjahr wieder anlaufen sollte, und sofort zugesagt. Dann hatte er den Verantwortlichen für die „Love-Never-Dies“-Show im West End angerufen und seine Rolle als Phantom gekündigt.

„And that’s how I learned he’d quit.” Das Lächeln auf Sierras Lippen war jetzt wieder bitter. “After he got off the phone with Ramin, Harry called me and asked what the hell Ramin was playing at. I told him I had no idea what he was talking about. And then he told me what had happened.”

Ich starrte Sierra an. „He … he called the theatre people? Before he called you?“

“He didn’t call me at all.“ Der bittere Zug um ihren Mund vertiefte sich. „After Harry had told me Ramin was leaving, I called him, to ask which of them was the one who’d lost his mind.” Sie lachte. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. „But he didn’t answer. Didn’t call me back, nothing. He just ignored me. It was only when he was back in London that he finally deigned to talk to me.”

Mein Mund hing offen. Aber kein Fitzelchen Luft bahnte sich seinen Weg hindurch. Ich starrte Sierra an. Dass Ramin mich als Stiefelabtreter benutzt hatte, dass er mich von vorne bis hinten angelogen hatte, dass für ihn alles nur ein Spiel gewesen war, war schlimm genug. Aber das … Ich hatte ihn doch gesehen, mit Sierra. Das war kein Spiel gewesen. Er liebte Sierra. Wie konnte er sie dann so behandeln? Wie konnte er?

„That bastard.“ Meine Stimme war heiser und tonlos.

Sierras Lippen waren ein Strich. Mit dem Kopf machte sie eine kurze Bewegung, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. Ihre Augen waren wieder auf einen Punkt an meiner Seite gerichtet.

Ein paar Sekunden war es still. Ich wartete. Als sie das Schweigen nicht brach, tat ich es schließlich. „So, when he came back to London and you finally talked … Was that when you had the row?“

Sierras Blick zuckte zu mir zurück, und sie schüttelte den Kopf. „No. It wasn’t exactly a pleasant meeting, and I was angry that he hadn’t told me himself that he was going. But I could understand why he hadn’t turned down the part. It was a good offer, and Ramin’s never played an important part on Broadway before. It had been nagging at him for a while. It’s just that the timing was … awful.”

“Why?”

Diesmal war ihr Lächeln mitleidig. „Well, because of you, of course, Martin.”

Ich wollte schlucken und konnte nicht. Jeder Muskel in meinem Körper war eingefroren. Ich zwang den Kopf aus seiner Starre und schüttelte ihn leicht. Meine Finger lagen wie ein Schraubstock um die lauwarme Teetasse. „But … he doesn’t care“, brachte ich schließlich heraus. „He doesn’t give a damn. He told me. When he left, he …”

Ich brach ab, floh vor ihrem Blick. Ein paar Sekunden fixierte ich meine Oberschenkel. Dann holte ich Luft und hob den Kopf wieder. „You know what he said. You said he told you. He said it had only been sex. He said we had nothing. He … he said I was only … I was just …“

Ich kämpfte. Aber ich konnte es nicht sagen. Immer noch nicht. „Well, anyway, he doesn’t need me for that, does he? I suppose he’s getting plenty of sex in New York without my help.”

Es war nicht das erste Mal, dass mir der Gedanke kam. Aber das erste Mal, dass ich ihn laut aussprach. Und die dazugehörigen Bilder konnte ich auch nicht aufhalten. Ich blinzelte, starrte Sierra an, und plötzlich hätte ich mich am liebsten übergeben.

Auf Sierras Gesicht lag immer noch dieses Lächeln. „Do you really believe that, Martin? Do you really believe he meant everything he said to you? Do you really believe you’re nothing to him?“

Mein Blick klebte an ihrem. Mein Herz schlug so heftig, dass ich sicher war, dass Sierra es bis zu ihr hören musste. „He said so.“

Durch Sierra hindurch sah ich Ramin, seine zusammengepressten Lippen, seine Augen, aus denen Eispfeile flogen. Hörte seine Stimme, die Dolche, die Messerstiche. I don’t need you. I don’t FUCKING need anyone! We had nothing. Aber ich hörte auch das, was ich ihm entgegengeschrien hatte. We have more than just sex. We ARE more than just sex. YOU LOVE ME!

You love me. Ich hatte es gesagt. Und ich hatte es geglaubt. Nach dem Ball hatte ich es fest geglaubt. Aber dann … „I mean … why would he say all that if he didn’t mean it?“

Noch mehr Sätze knallten durch meinen Kopf. You weren’t that spectacular. I fucked you because you have a tight ass and an okay body, but it was never ever anything more than sex. Even a tight ass gets boring when you fuck it too often. You’re weak. You’re pathetic. You’re just a scared little faggot!

Ich schluckte. Meine Augen brannten, und ich blinzelte. Das Bild von Ramin verschwand. „No, Sierra, he said it. He said we had nothing. He said I was just … just sex to him. That I was one of many. That I wasn’t … anyone special.” Zittrig sog ich die Luft ein. Meine Hände klammerten sich an der Teetasse fest. „And he meant it. He said it, and he meant it.”

Einen Moment fixierte sie mich noch. Dann atmete sie aus, und ihre Augen glitten zur Seite. „Yes, he said it.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln. „Anyway, that was when we rowed. After he came back from Hamburg and told me what he’d said to you.”

Ich blinzelte. “You fought with him because of what happened between … us?”

Konnte das sein? War ich der Grund für dieses Zerwürfnis zwischen ihnen? Hatte Sierra etwa … für mich Partei ergriffen und war deswegen ins Kreuzfeuer von Ramins Zorn geraten? Und saß jetzt hier, mit einem Schatten auf dem Gesicht und ohne Lachen in den Augen – meinetwegen?

Mein Unterkiefer versteifte sich. Das hatte ich nicht gewollt.

Und Sierra – nickte. „Yes, Martin, I did. But don’t you dare blame yourself”, setzte sie hinzu, und ich presste den Rücken ein wenig fester in die Kissen. Anscheinend hatte sie mir meine Gedanken vom Gesicht abgelesen. „This isn‘t your fault. It’s Ramin’s, all Ramin’s. And it was bound to happen sooner or later. We didn’t really … fight about you, you see? We fought about … well. Him. Everything he said to you was just … the incentive.”

Sie seufzte. “You see, when Ramin came back from New York, I asked him what he was going to do about you. At first, he pretended he didn’t know what I was talking about, but when I wouldn’t let it go, he finally told me that he was going to break up with you in person, after you’d come back from your training camp.”

Ich kauerte in meiner Ecke. Bei break up war ich zusammengezuckt. Aber ich unterbrach Sierra nicht. Ich wollte das nicht hören. Und gleichzeitig musste sie unbedingt weiterreden.

„I told him to be kind. To be gentle. To explain to you why he was going, and … and to be honest with you about his feelings for you.”

Eine Sekunde starrte ich sie an. Dann flohen meine Augen nach unten. Ich fixierte meinen kalten Rest Tee und versuchte, irgendwie genügend Luft für einen halbwegs festen Satz zusammenzukratzen. „Well. At least he listened to that last bit, didn’t he?”

Einen Moment war es still. Ich zuckte zusammen, als Sierra fortfuhr. „So when he came back after he’d been to see you and told me what he had done, I was furious. I told him a few home truths about himself, and that made him furious. He said … Well, let’s just say that after everything he’d thrown at you, he was on a roll, and I was conveniently in the way.”

Ich hob den Kopf. Auf ihren Lippen lag das gleiche verächtliche Lächeln wie zuvor, und ihre Stimme war voller Hohn. Aber in ihren Augen war der Schmerz zurück. Ich konnte ihn deutlich lesen, obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie ihn eigentlich lieber nicht zeigen würde.

In mir stach es. Was konnte Ramin zu ihr gesagt haben? Ich zögerte, holte Luft, hatte den Mund schon halb offen. Aber dann stockte ich. Sah ihr ins Gesicht, sah alles, was dort stand. Und traute mich nicht, zu fragen.

Schweigend saßen wir auf dem Sofa. Ramins Anwesenheit, oder vielmehr seine Abwesenheit, das Loch, das er gerissen hatte, spürte ich wie eine dritte körperliche Präsenz im Raum. Ich starrte auf meine Knie und schüttelte langsam den Kopf.

Sechs Wochen. Sechs Wochen war es her, dass ich an Ramins Arm in den hellerleuchtenden Ballsaal getreten war, dass er nur Augen für mich gehabt hatte. Sechs Wochen, seit Sierra uns strahlend entgegengekommen war, seit Ramin zu ihr gesagt hatte, Sierra, you look wonderful tonight. Sechs Wochen, seit Ramin mit ihr über die Tanzfläche gewirbelt war und mich geduldig und langsam durch die Lieder geführt hatte, die Tänze, die er mir beigebracht hatte. Es war ein Traum gewesen. Ich hatte mich in dieser Nacht gefühlt wie im Märchen. Aber mein Prinz hatte mir ja inzwischen eröffnet, dass es für ihn der langweiligste Abend seines Lebens gewesen war. Dass er die ganze Zeit eine Maske getragen hatte.

„Unbelievable.“ Obwohl gehaucht und tonlos, durchschnitt meine Stimme das stille Wohnzimmer. Ich sah Sierras Hände auf ihren Oberschenkeln zucken, und dann kehrte Spannung in ihren ganzen Körper zurück.

„Martin.“

Ich hob den Kopf. Sie fixierte mich mit ihren funkelnd grünen Augen.

„I know the last weeks have been hard. I know Ramin should never have left you like he did. I know he hurt you. But you’re letting it take over your whole life. You’ve lost your place on the team, the support of your coach and your teammates. You can’t let this happen, Martin. You have to wake up now. You can’t allow yourself to be defeated by it.”

Ich presste die Lippen zusammen. Musste das sein? Musste sie jetzt auch noch mit einer Predigt kommen? Sie konnte behaupten, sie wisse, wie es mir ging, so viel sie wollte – in mich hineinschauen konnte sie ja doch nicht. Sie war ja die letzten Wochen nicht mal hier gewesen. Sie hatte doch keine Ahnung, wie es für mich war. Von dem Schwarzen Loch in mir drin.

„I still need time.“ Ich starrte auf den Couchtisch. „I’m not ready yet.“

„Yes, you are!“ Sierra sprach so energisch, dass mein Blick zu ihr zurückzuckte. Sie hatte den Oberkörper nach vorn gelehnt und fixierte mich so intensiv, dass ich mich ein Stück zurücklehnte, als könnte ich so aus der Schusslinie kommen. Konnte ich leider nicht.

„Martin, listen to me. You have people who need you. Finn needs you. I talked to him before you came in, and he told me what you’ve been like these past few weeks. That isn’t you. That’s not the you I know, and it’s not the you he knows, either. You can’t do this to him. He cannot do this anymore.”

Ich öffnete den Mund, aber Sierra hob die Hand. Nur ganz leicht, aber es erzielte dieselbe Wirkung, als hätte sie die Faust mit voller Wucht auf die Tischplatte niederfahren lassen. „Your team needs you, too. Your fans need you, and your teammates need you. I think you only won one point out of your three matches after the break, didn’t you?”

Ich nickte wortlos. Gegen Bayern und Stuttgart hatten wir verloren, und das Spiel gegen Köln war eins zu eins ausgegangen. Insgesamt hatten wir jetzt seit sechs Spielen nicht mehr gewonnen und standen nur noch vier Punkte vor Relegationsplatz sechzehn.

“That’s not good, is it? Finn told me you’re not out of the woods yet. What’s going to happen if you are relegated, Martin? What will you do then?”

“I don’t care.” Ich ignorierte den Stich, der bei diesen Worten quer durch mich hindurchfuhr, und zuckte die Schultern. „I’m no longer part of the team anyway, so –“

„Then make sure you become part of the team again!” Sierra lehnte sich noch weiter nach vorne. Notgedrungen sah sie jetzt von unten zu mir herauf, was der Intensität ihres Blicks leider überhaupt keinen Abbruch tat. „I’m sure they didn’t suspend you forever, did they? They told you what it would take for you to get back in?”

Ich biss mir auf die Lippe. Irgendetwas an ihrem Blick zwang mich, zu antworten. „Yes. Bruno said I – I had to apologise. To him and the team.”

“Well then!”

“But why should I apologise to them?” Ich schnellte jetzt ebenfalls nach vorne. „I mean, okay, I know I haven’t been playing well maybe, or been the easiest person to be around, but – I mean, it wasn’t that bad, I –“

Ich rang nach Worten. Sierra hob die Augenbrauen. Ein paar Sekunden war es still. Mit einem Schnauben fiel ich zurück in die Kissen. „All right, you’re right. It was bad. I guess I – I know I should apologise. But – I mean, my –“

Wieder steckte ein Wort in meiner Kehle. Boyfriend. I am not your boyfriend. Es stach, es brannte. Aber es wollte nicht hinaus. Ich fuhr mir mit der Zungenspitze über die Oberlippe und atmete durch. „Ramin has just broken up with me. I just need some time to deal with that, all right? And I just – I can’t think of everyone else’s feelings too right now.”

Sierra legte den Kopf schief. „So you think because you’ve been treated unfairly, and you’ve been hurt, that that gives you the right to treat others unfairly and hurt them in turn?”

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Unbeweglich sah ich Sierra an. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie blinzelte, und im nächsten Moment strahlte ihr Gesicht Wärme aus. Sie streckte die Hand aus und ergriff meine linke Hand mit ihrer rechten. „Look, Martin. I understand why you did what you did, believe me, I do. And I’m not blaming you. But it’s time now to remember that you still have people who love you and care for you, and people that you love and care for. Don’t punish them for what Ramin did to you.”

Ein paar Augenblicke war es still. Dann drückte sie meine Hand und gab sie frei. „And now, I’m afraid I’ve got to go if I’m to make the performance tonight.”

Mir war schwindelig. In meinem Kopf drehte sich alles. Aber dann kristallisierte sich aus dem Wirbelsturm eine fassbare Frage heraus, und ich runzelte die Stirn. „Wait. You mean, you just came over here for a few hours? You won’t even stay for one night?”

Sierra schüttelte den Kopf. „I’d love to, but Harry would kill me if I missed the performance. It’s been difficult enough these past few weeks as it is. But … I wanted to see how you were, you know? And I also … I just had to get away for a bit. Even if it was just for a couple of hours.”

Plötzlich wirkte sie nicht mehr nur müde. Sie wirkte ausgelaugt. Als hätte sie seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen.

Ich schluckte. „Sierra …“

Sie schüttelte den Kopf. „It’s all right, Martin. Really. Don’t worry about it. It was good to see you.”

Sie erhob sich. Ich verharrte kurz auf der Sofakante. Dann stand ich ebenfalls auf. Während ich Sierra aus dem Wohnzimmer den Flur entlang zur Wohnungstür führte, hatte ich immer noch das Gefühl, etwas sagen zu müssen, irgendwas, um ihr zu helfen, um es besser zu machen. Aber in meinem Kopf war Chaos. Und was könnte ich schon sagen? Sierra war bestimmt mindestens fünf Jahre älter als ich und so viel erwachsener. Sicher hatte sie in London ihre eigenen Freunde, die ihr hoffentlich irgendwie helfen konnten.

Als wir an der Wohnungstür ankamen, klopfte Sierra an Finns Zimmertür und verabschiedete sich von ihm. Danach zog sie seine Tür wieder zu, sodass wir alleine im Flur waren. Sie hatte schon ihre Schuhe und ihre Jacke an und ihre Handtasche über der Schulter, als sie mit der Hand an der Türklinke noch einmal innehielt. „Martin, if you want to make it better, talk to someone. And I don’t mean Finn. I know he’s your best friend, and I’m sure you love each other, but he’s too involved in this. He’s too prejudiced against Ramin. Find someone else, someone you can trust, and tell them what’s happened. It’ll help, you’ll see.”

Sie studierte mein erstarrtes Gesicht und schmunzelte. „I’m sorry. Don’t worry, I’m not going to start berating you about not being an advocate for the gay cause. I don’t want you to do this for anyone else. I want you to do it for yourself. Take one of your friends – from the team, from somewhere else, it doesn’t matter – and talk to them. You’ll feel better afterwards.”

“But …“ Ich fühlte mich, als hätte sie mir ein Brett vor die Stirn geschlagen. „But … how do you know it’s gonna help?“

„Talking to me helped today, didn’t it?“ Mit einem letzten Lächeln über die Schulter, begleitet von einer leicht erhobenen Augenbraue, öffnete sie die Tür und verließ die Wohnung.

Chapter 45: Why? - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Warum?

 

Eine knappe Viertelstunde später trat ich durch die offene Tür ins Wohnzimmer. Mein Gesicht war gewaschen, ich hatte mich rasiert und meine Haare gekämmt, und ich trug Jeans und ein neues T-Shirt. Aus dem Flur hatte ich Stimmen gehört, aber als ich hereinkam, brach das Gespräch ab. Sierra saß auf dem Sofa, vor ihr auf dem Couchtisch zwei dampfende Tassen Tee. Finn hielt seine eigene Tasse in den Händen und saß ihr gegenüber auf dem Sessel. Alle beide schauten sie mich an. Auf Sierras Gesicht lag ein Lächeln. Finn starrte nur. Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wich ich seinem Blick nicht aus.

Er war blass. Finn sah immer ein bisschen blass aus, das machte sein hellblondes Haar, aber jetzt hatte die Farbe etwas Kränkliches. Unter seinen Augen lagen Schatten, und seine Wangenknochen traten deutlicher hervor. Er sah ausgezehrt aus. Ausgemergelt. In seinen weiten, hellblauen Augen standen Erschöpfung und Sorge und Erleichterung. Kein noch so kleiner Hauch von Ich-hab’s-dir-doch-gesagt.

Mein Bauch knotete sich zusammen. Wie lange war es her, dass ich Finn angeschaut hatte, richtig angeschaut? Drei Wochen. Seit diesem Sonntag nach dem Trainingslager. In diesen drei Wochen hatte Finn alles für mich gemacht. Er hatte mich bekocht, mich zum Training gefahren, gewaschen, geputzt, Tee gekocht, mit mir geredet, mir gezeigt, dass er da war, wenn ich ihn wollte. Und ich? Ich hatte nichts davon überhaupt gesehen. Und wenn doch, hatte ich es ihm nur übelgenommen. Jedes Mal, wenn er die Hand ausgestreckt hatte, hatte ich hineingebissen. Ich hatte meine geballte Wut an ihm ausgelassen. Obwohl er nichts für irgendetwas konnte. Und ganz nebenbei hatte er in der Zwischenzeit auch noch sein Kaderdebüt in der Profimannschaft gefeiert. Sein Kaderdebüt. Und ich hatte nichts getan, um das irgendwie zu würdigen, geschweige denn mit ihm zu feiern, so, wie er es damals für mich gemacht hatte.

Ich blinzelte. Wieder konnte ich seinen Blick nicht ertragen. Aber diesmal aus völlig anderen Gründen. Als ich sprach, sprach ich zum Teppich, und meine Stimme klang kratzig und heiser. „Finn, ich … ich … Es tut mir … Ich …“

„Lass mal.“

Mein Kopf ruckte hoch. Finn lächelte. Er lächelte, als sei das rasierte und anständig gekleidete Ich das Schönste, was er je in seinem Leben gesehen hatte. Als hätte ich ihn niemals auch nur schroff angefahren. Meine Wangen fingen an zu brennen.

Finn stand auf. Er lächelte immer noch. Plötzlich sah er nicht mehr ganz so kränklich aus. „Lass mal, Martin. Alles gut. Ehrlich. Du …“

Sein Blick glitt zum Sofa. Sierra beobachtete uns, obwohl sie doch kein Wort von dem verstehen konnte, was wir sagten. Sie erwiderte Finns Blick und sein Lächeln, das sofort noch ein wenig breiter wurde. Seine Augen kehrten zu mir zurück. „Du brauchst dich echt nicht zu entschuldigen. Ich … lass euch jetzt allein.“ Er wandte noch einmal den Kopf und sagte auf Englisch: „Wenn ihr irgendwas braucht, dann … sagt mir einfach Bescheid, okay?“

„Danke, Finn.”

Er strahlte, nickte, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Ich sank in die freie Sofaecke, nahm meinen Tee vom Tisch und schaute auf die dampfende Tasse hinunter. Auf meinen Lippen spürte ich ein leichtes Grinsen. Tja. Über Sierra würde ich mir von Finn wohl keine Tiraden anhören müssen.

Ich spürte ihren Blick und hob den Kopf. Ein leises Lächeln spielte auf ihren Lippen.

„Was?“

„Nichts. Es ist nur schön, dich lächeln zu sehen.”

Wie auf Knopfdruck hörte ich auf. „Tja. Ich habs in letzter Zeit nicht grade oft gemacht. Hatte nicht viel Grund dazu, weißt du.“

Ich starrte auf meine Tasse hinunter. Bilder schossen durch meinen Kopf. Finns Blick, nachdem Ramins Schritte im Treppenhaus verklungen waren. Wie ich ihn angeschnauzt hatte. Das Spiel gegen Bayern, in dem ich am Rande eines Platzverweises gestanden hatte, ohne darauf zu achten. Das Foul an Ivo im Training. Johans Worte, Brunos Worte. Das Eigentor gegen Stuttgart. Die Busfahrt zurück, die Blicke der Jungs. Die Suspendierung. Die einsamen Einheiten im Kraftraum. Das Spiel gegen Köln. Ohne mich.

Meine Hände krampften sich um die Tasse. Die Hitze an den Handflächen spürte ich kaum.

„Erzähl mir doch davon.”

Ich blinzelte und hob den Kopf. Sierras Blick war offen und klar. Ich holte Luft und begann. Ich fing an dem Moment an, an dem Ramin mir den Rücken zugedreht hatte und aus der Wohnung gestürmt war. Die Wut, den Frust, die Aggressivität, alles redete ich aus mir heraus. Alles, was passiert war, im Training, in den Spielen. Und wie es nach Stuttgart einfach vorbei gewesen war.

„Ich meine, davor war ich wütend.“ Ich schluckte und starrte auf den Couchtisch. Die völlige Verzweiflung der Rückfahrt traf mich wieder wie ein Faustschlag in den Magen. „Aber seit Stuttgart fühl ich mich einfach nur … leer. Und unser Trainer hat mich suspendiert, also darf ich nicht mehr am Mannschaftstraining teilnehmen. Ich muss stattdessen im Kraftraum arbeiten, aber … keine Ahnung, ich bin einfach … Es fühlt sich einfach an wie … keine Ahnung. Nichts, schätze ich.“

Ich schüttelte den Kopf. Meine Augen fixierten den Tisch, ohne ihn wahrzunehmen. Die nächsten Worte kamen langsam und stockend, und selbst in meinen eigenen Ohren hörten sie sich fremd an, als sei es ein anderer, der sie aussprach. „Ich … kann einfach nicht fassen, dass er mich nie mehr anrufen wird. Oder besuchen. Oder … mit mir tanzen. Oder …“

Ich biss mir auf die Lippe. Ein paar Sekunden war es still. Dann blinzelte ich und riss den Kopf hoch. „Warum?! Ich meine, WARUM hat er mich so sitzen lassen? Wie konnte er das tun? Wie?! Ich dachte, es läuft gut zwischen uns, ich dachte – ich –“

Meine Stimme überschlug sich. Ich holte Luft. Meine Hände umklammerten meine Tasse. „Und ich meine … ich meine, es bin doch nicht nur ich, oder? Was ist mit seinem Job, und seiner Wohnung, und … und was ist mit DIR? Bist du nicht seine beste Freundin, habt ihr nicht im selben Stück gespielt, ich meine … wie konnte er einfach GEHEN, wie konntest du das zulassen, warum hast du ihn nicht gehindert, warum –“

Ein wenig Tee war auf meine Finger geschwappt. Ich biss mir auf die Lippe, versuchte, das Zittern in meinen Händen zu kontrollieren. Mein Atem ging keuchend und stoßweise.

Sierra hatte sich alles ohne Regung angehört. Kerzengerade saß sie da, ihre Augen auf mich gerichtet. Ich sah sie an und schluckte. Irgendwas in ihrem Blick war … anders. Härter. Ich spürte ein eiskaltes Prickeln im Nacken.

„Ich weiß es nicht.“ Auch ihre Stimme klang anders. Kalt, schneidend. Wie Glassplitter. „Ich weiß nicht, warum er es getan hat. Ich meine, ich kann es mir natürlich denken. Aber ich fürchte, Ramin hält nicht viel davon, was ich mir denke.“

Ich starrte sie an. Diese Schärfe, dieser eiskalte Sarkasmus … So hatte ich sie noch nie reden hören. Ich hätte nicht gedacht, dass sie das überhaupt konnte. Das war doch … nicht sie.

Ich schluckte. Dann sah ich sie, genau wie vorhin Finn, zum ersten Mal richtig an. Sie hielt sich immer noch kerzengerade, und ihr Blick war unverändert. Zu gerade eben. Aber zu vor ein paar Wochen, zum Sommer, zum Herbst, zum Ball – kein Vergleich. Da war kein Glanz mehr. Kein Lachen. Kein Schalk. Stattdessen lag ein Schatten auf ihren Wangen, und um ihren Mund war ein harter Zug.

Mein Hals war mit einem Mal trocken. Keine dieser Veränderungen war besonders augenfällig, man konnte es leicht übersehen, aber wenn man genau hinsah … Mir schoss das Wort in den Kopf, das ich vorhin in meinem Zimmer gedacht hatte. Makellos. Wie hatte ich nur so blind sein können? Wie hatte ich nur denken können, ich sei der Einzige, in dessen Leben Ramins Verschwinden ein Loch gerissen hatte?

Ich holte Luft, aber ich brauchte zwei Anläufe, bis ich Worte herausbrachte. „Sierra … was ist passiert?“

Sie sah mich an, mit unverändertem Blick, ohne zu blinzeln. Was jetzt? Würde sie wütend werden? Hätte ich nicht fragen dürfen?

Aber dann seufzte sie. Ihre Haltung fiel in sich zusammen, und ihre Augen irrten durch den Raum, während sie ein paar Schlucke Tee nahm. Dann stellte sie die Tasse zurück auf den Tisch und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Ihr Blick kehrte zu mir zurück. Der Stahl darin war verschwunden. Jetzt sah sie hauptsächlich müde aus. Als sie sprach, war ihre Stimme nüchtern. „Ramin und ich … na ja, wir haben uns gestritten. Richtig heftig gestritten.“

Ich starrte sie an. Ein Echo klang durch meinen Kopf, Monate alt. Und habt ihr immer so viel …? Ein Lachen. Kabbeleien? Immer.

Ich schluckte. Die Kabbeleien hatte ich gesehen. Das, wovon Sierra jetzt sprach, war offensichtlich etwas anderes. „Du meinst … also … so richtig?“

Sierra lachte. Es war ein trockenes, ganz und gar humorloses Lachen, und es machte mir fast so viel Angst wie ihr Blick eben. „Ja. So richtig, echt, ernsthaft, lexikondefinitionsmäßig gestritten.“

Sie schaute an mir vorbei Richtung Sessel. Ein bitteres Lächeln lag auf ihren Lippen, und in ihrer Stimme war der Sarkasmus zurück. Und da war noch etwas anderes. Verdeckter, aber nicht verdeckt genug. Schmerz.

Meine Lippen öffneten sich. Ich wollte etwas sagen, irgendwas … Richtiges. Aber meine Kehle war schon wieder trocken, und mein Kopf wirbelte. Ich blinzelte, schloss den Mund, fuhr mir mit der Zunge über die Zähne, holte Luft. „Das … das versteh ich nicht.”

Sierra lächelte. Müde und angestrengt, aber es lag ein Hauch Wärme darin. „Nein. Na ja, ich schätze, ich sollte dir erzählen, was passiert ist.“ Sie seufzte wieder, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und setzte sich etwas aufrechter hin. Dann berichtete sie.

Anscheinend hatte Ramin nach dem Ball wie geplant die Feiertage in Kanada verbracht. Kurz nach Silvester war er nach New York geflogen, um dort noch eine Woche Urlaub zu machen und ein paar Freunde zu treffen. Danach hatte er zurückkehren wollen, um ab dem elften Januar planmäßig wieder bei den Vorstellungen in London dabei zu sein. Stattdessen hatte er wohl während der Tage in New York ein Jobangebot vom Produzenten von „West Side Story“ erhalten, das im Frühjahr wieder anlaufen sollte, und sofort zugesagt. Dann hatte er den Verantwortlichen für die „Love-Never-Dies“-Show im West End angerufen und seine Rolle als Phantom gekündigt.

„Und so hab ich erfahren, dass er geht.“ Das Lächeln auf Sierras Lippen war jetzt wieder bitter. „Nach dem Telefonat mit Ramin hat Harry mich angerufen und wollte wissen, was für ein verdammtes Spiel Ramin spielt. Ich hab ihm gesagt, dass ich keine Ahnung habe, wovon er redet. Und dann hat er mir erzählt, was passiert ist.“

Ich starrte Sierra an. „Er … er hat die Theaterleute angerufen? Bevor er dich angerufen hat?“

„Er hat mich überhaupt nicht angerufen.“ Der bittere Zug um ihren Mund vertiefte sich. „Nachdem Harry mir erzählt hat, dass Ramin geht, hab ich ihn angerufen, um ihn zu fragen, wer von ihnen beiden den Verstand verloren hat.“ Sie lachte. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. „Aber er ist nicht drangegangen. Hat mich nicht zurückgerufen, gar nichts. Er hat mich einfach ignoriert. Erst, als er wieder in London war, hat er sich schließlich dazu herabgelassen, mit mir zu reden.“

Mein Mund hing offen. Aber kein Fitzelchen Luft bahnte sich seinen Weg hindurch. Ich starrte Sierra an. Dass Ramin mich als Stiefelabtreter benutzt hatte, dass er mich von vorne bis hinten angelogen hatte, dass für ihn alles nur ein Spiel gewesen war, war schlimm genug. Aber das … Ich hatte ihn doch gesehen, mit Sierra. Das war kein Spiel gewesen. Er liebte Sierra. Wie konnte er sie dann so behandeln? Wie konnte er?

„Dieser Arsch.“ Meine Stimme war heiser und tonlos.

Sierras Lippen waren ein Strich. Mit dem Kopf machte sie eine kurze Bewegung, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. Ihre Augen waren wieder auf einen Punkt an meiner Seite gerichtet.

Ein paar Sekunden war es still. Ich wartete. Als sie das Schweigen nicht brach, tat ich es schließlich. „Also, als er zurück nach London gekommen ist und ihr dann doch noch geredet habt … Habt ihr euch da gestritten?“

Sierras Blick zuckte zu mir zurück, und sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es war nicht gerade ein angenehmes Gespräch, und ich war sauer, dass er mir nicht selber gesagt hat, dass er geht. Aber ich konnte schon verstehen, warum er die Rolle nicht abgelehnt hat. Es war ein gutes Angebot, und Ramin hat bis jetzt noch nie eine größere Rolle am Broadway gespielt. Das hat schon eine Weile an ihm genagt. Das Timing war diesmal nur einfach … grässlich.“

„Warum?”

Diesmal war ihr Lächeln mitleidig. „Na, deinetwegen natürlich, Martin.”

Ich wollte schlucken und konnte nicht. Jeder Muskel in meinem Körper war eingefroren. Ich zwang den Kopf aus seiner Starre und schüttelte ihn leicht. Meine Finger lagen wie ein Schraubstock um die lauwarme Teetasse. „Aber … ihm ist es doch egal“, brachte ich schließlich heraus. „Ihn interessiert das einen Scheißdreck. Das hat er mir gesagt. Als er gegangen ist, hat er …“

Ich brach ab, floh vor ihrem Blick. Ein paar Sekunden fixierte ich meine Oberschenkel. Dann holte ich Luft und hob den Kopf wieder. „Du weißt ja, was er gesagt hat. Du hast gesagt, er hats dir erzählt. Er hat gesagt, dass es nur Sex war. Er hat gesagt, dass wir nichts hatten. Er … er hat gesagt, ich bin nur … ich bin einfach …“

Ich kämpfte. Aber ich konnte es nicht sagen. Immer noch nicht. „Na ja, jedenfalls, dafür braucht er mich ja nicht, oder? Ich schätze, er kriegt in New York genug Sex ohne meine Hilfe.“

Es war nicht das erste Mal, dass mir der Gedanke kam. Aber das erste Mal, dass ich ihn laut aussprach. Und die dazugehörigen Bilder konnte ich auch nicht aufhalten. Ich blinzelte, starrte Sierra an, und plötzlich hätte ich mich am liebsten übergeben.

Auf Sierras Gesicht lag immer noch dieses Lächeln. „Glaubst du das wirklich, Martin? Glaubst du wirklich, dass er alles so gemeint hat, was er zu dir gesagt hat? Glaubst du wirklich, dass du ihm nichts bedeutest?“

Mein Blick klebte an ihrem. Mein Herz schlug so heftig, dass ich sicher war, dass Sierra es bis zu ihr hören musste. „Er hats gesagt.“

Durch Sierra hindurch sah ich Ramin, seine zusammengepressten Lippen, seine Augen, aus denen Eispfeile flogen. Hörte seine Stimme, die Dolche, die Messerstiche. Ich brauche dich nicht. Ich brauche VERDAMMT NOCH MAL niemanden! Wir hatten nichts. Aber ich hörte auch das, was ich ihm entgegengeschrien hatte. Wir haben mehr als nur Sex. Wir SIND mehr als nur Sex. DU LIEBST MICH!

Du liebst mich. Ich hatte es gesagt. Und ich hatte es geglaubt. Nach dem Ball hatte ich es fest geglaubt. Aber dann … „Ich meine … warum würde er das alles sagen, wenn er es nicht so meint?“

Noch mehr Sätze knallten durch meinen Kopf. So spektakulär warst du jetzt auch nicht. Ich hab dich gefickt, weil du einen engen Arsch und einen okayen Körper hast, aber es war niemals, zu keinem Zeitpunkt auch nur ein winziges bisschen mehr als Sex. Sogar ein enger Arsch wird langweilig, wenn man ihn zu oft fickt. Du bist schwach. Du bist erbärmlich. Du bist nur ein feiger kleiner Wichser!

Ich schluckte. Meine Augen brannten, und ich blinzelte. Das Bild von Ramin verschwand. „Nein, Sierra, er hats gesagt. Er hat gesagt, dass wir nichts hatten. Er hat gesagt, dass ich nur … nur Sex für ihn war. Dass ich einer von vielen war. Dass ich … nichts Besonderes war.“ Zittrig sog ich die Luft ein. Meine Hände klammerten sich an der Teetasse fest. „Und er hat es so gemeint. Er hats gesagt, und er hat es so gemeint.“

Einen Moment fixierte sie mich noch. Dann atmete sie aus, und ihre Augen glitten zur Seite. „Ja, er hats gesagt.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln. „Jedenfalls, da haben wir dann gestritten. Als er aus Hamburg zurückgekommen ist und mir erzählt hat, was er zu dir gesagt hat.“

Ich blinzelte. „Du hast mit ihm gestritten, weil das zwischen … uns passiert ist?“

Konnte das sein? War ich der Grund für dieses Zerwürfnis zwischen ihnen? Hatte Sierra etwa … für mich Partei ergriffen und war deswegen ins Kreuzfeuer von Ramins Zorn geraten? Und saß jetzt hier, mit einem Schatten auf dem Gesicht und ohne Lachen in den Augen – meinetwegen?

Mein Unterkiefer versteifte sich. Das hatte ich nicht gewollt.

Und Sierra – nickte. „Ja, Martin, hab ich. Aber mach dir ja keine Vorwürfe“, setzte sie hinzu, und ich presste den Rücken ein wenig fester in die Kissen. Anscheinend hatte sie mir meine Gedanken vom Gesicht abgelesen. „Es ist nicht deine Schuld. Es ist Ramins Schuld, alles Ramins Schuld. Und es wäre früher oder später sowieso passiert. Wir haben nicht wirklich … über dich gestritten, verstehst du? Wir haben über … na ja. Ihn gestritten. Alles, was er zu dir gesagt hat, war nur … der Auslöser.“

Sie seufzte. „Verstehst du, als Ramin aus New York zurückgekommen ist, hab ich ihn gefragt, was er deinetwegen zu unternehmen gedenkt. Zuerst hat er so getan, als wüsste er nicht, wovon ich rede, aber als ich nicht lockergelassen hab, hat er mir schließlich gesagt, dass er persönlich mit dir Schluss machen würde, sobald du aus deinem Trainingslager zurück bist.“

Ich kauerte in meiner Ecke. Bei Schluss machen war ich zusammengezuckt. Aber ich unterbrach Sierra nicht. Ich wollte das nicht hören. Und gleichzeitig musste sie unbedingt weiterreden.

„Ich hab ihm gesagt, dass er nett sein soll. Taktvoll. Dass er dir erklären soll, warum er geht, und … und dass er dir die Wahrheit sagen soll, was seine Gefühle für dich betrifft.“

Eine Sekunde starrte ich sie an. Dann flohen meine Augen nach unten. Ich fixierte meinen kalten Rest Tee und versuchte, irgendwie genügend Luft für einen halbwegs festen Satz zusammenzukratzen. „Na ja. Zumindest auf den letzten Teil hat er ja gehört, oder?“

Einen Moment war es still. Ich zuckte zusammen, als Sierra fortfuhr. „Als er dann zurückgekommen ist, nachdem er bei dir war, und mir gesagt hat, was er getan hat, war ich stinksauer. Ich hab ihm ein paar unschöne Wahrheiten über ihn eröffnet, und das hat ihn stinksauer gemacht. Er hat gesagt … Na ja, ich sag mal so, nach allem, was er dir hingeknallt hat, war er so richtig in Fahrt, und ich stand praktischerweise im Weg.“

Ich hob den Kopf. Auf ihren Lippen lag das gleiche verächtliche Lächeln wie zuvor, und ihre Stimme war voller Hohn. Aber in ihren Augen war der Schmerz zurück. Ich konnte ihn deutlich lesen, obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie ihn eigentlich lieber nicht zeigen würde.

In mir stach es. Was konnte Ramin zu ihr gesagt haben? Ich zögerte, holte Luft, hatte den Mund schon halb offen. Aber dann stockte ich. Sah ihr ins Gesicht, sah alles, was dort stand. Und traute mich nicht, zu fragen.

Schweigend saßen wir auf dem Sofa. Ramins Anwesenheit, oder vielmehr seine Abwesenheit, das Loch, das er gerissen hatte, spürte ich wie eine dritte körperliche Präsenz im Raum. Ich starrte auf meine Knie und schüttelte langsam den Kopf.

Sechs Wochen. Sechs Wochen war es her, dass ich an Ramins Arm in den hellerleuchtenden Ballsaal getreten war, dass er nur Augen für mich gehabt hatte. Sechs Wochen, seit Sierra uns strahlend entgegengekommen war, seit Ramin zu ihr gesagt hatte, Sierra, you look wonderful tonight. Sechs Wochen, seit Ramin mit ihr über die Tanzfläche gewirbelt war und mich geduldig und langsam durch die Lieder geführt hatte, die Tänze, die er mir beigebracht hatte. Es war ein Traum gewesen. Ich hatte mich in dieser Nacht gefühlt wie im Märchen. Aber mein Prinz hatte mir ja inzwischen eröffnet, dass es für ihn der langweiligste Abend seines Lebens gewesen war. Dass er die ganze Zeit eine Maske getragen hatte.

„Unfassbar.“ Obwohl gehaucht und tonlos, durchschnitt meine Stimme das stille Wohnzimmer. Ich sah Sierras Hände auf ihren Oberschenkeln zucken, und dann kehrte Spannung in ihren ganzen Körper zurück.

„Martin.“

Ich hob den Kopf. Sie fixierte mich mit ihren funkelnd grünen Augen.

„Ich weiß, dass die letzten Wochen schwer waren. Ich weiß, dass Ramin dich nie so hätte sitzen lassen dürfen. Ich weiß, dass er dir wehgetan hat. Aber du lässt momentan zu, dass es dein ganzes Leben dominiert. Du hast deinen Platz in der Mannschaft, den Rückhalt deines Trainers und den deiner Mitspieler verloren. Das darfst du nicht zulassen, Martin. Du musst jetzt aufwachen. Du darfst dich davon nicht unterkriegen lassen.“

Ich presste die Lippen zusammen. Musste das sein? Musste sie jetzt auch noch mit einer Predigt kommen? Sie konnte behaupten, sie wisse, wie es mir ging, so viel sie wollte – in mich hineinschauen konnte sie ja doch nicht. Sie war ja die letzten Wochen nicht mal hier gewesen. Sie hatte doch keine Ahnung, wie es für mich war. Von dem Schwarzen Loch in mir drin.

„Ich brauch noch Zeit.“ Ich starrte auf den Couchtisch. „Ich bin noch nicht so weit.“

„Doch, bist du!“ Sierra sprach so energisch, dass mein Blick zu ihr zurückzuckte. Sie hatte den Oberkörper nach vorn gelehnt und fixierte mich so intensiv, dass ich mich ein Stück zurücklehnte, als könnte ich so aus der Schusslinie kommen. Konnte ich leider nicht.

„Martin, hör zu. Du hast Menschen, die dich brauchen. Finn braucht dich. Ich hab mit ihm gesprochen, bevor du reingekommen bist, und er hat mir erzählt, wie du die letzten paar Wochen warst. Das bist nicht du. Das ist nicht der Martin, den ich kenne, und es ist auch nicht der Martin, den er kennt. Das kannst du ihm nicht antun. Er kann das nicht länger mitmachen.“

Ich öffnete den Mund, aber Sierra hob die Hand. Nur ganz leicht, aber es erzielte dieselbe Wirkung, als hätte sie die Faust mit voller Wucht auf die Tischplatte niederfahren lassen. „Deine Mannschaft braucht dich auch. Eure Fans brauchen dich, und deine Mitspieler brauchen dich. Ich glaube, aus euren drei Spielen nach der Winterpause habt ihr nur einen Punkt geholt, oder?“

Ich nickte wortlos. Gegen Bayern und Stuttgart hatten wir verloren, und das Spiel gegen Köln war eins zu eins ausgegangen. Insgesamt hatten wir jetzt seit sechs Spielen nicht mehr gewonnen und standen nur noch vier Punkte vor Relegationsplatz sechzehn.

„Das ist nicht gut, oder? Finn hat mir erzählt, dass ihr noch nicht durch seid. Was passiert, wenn ihr absteigt, Martin? Was wirst du dann tun?“

„Ist mir wurscht.” Ich ignorierte den Stich, der bei diesen Worten quer durch mich hindurchfuhr, und zuckte die Schultern. „Ich bin eh kein Teil der Mannschaft mehr, also –“

„Dann sorg dafür, dass du wieder Teil der Mannschaft wirst!“ Sierra lehnte sich noch weiter nach vorne. Notgedrungen sah sie jetzt von unten zu mir herauf, was der Intensität ihres Blicks leider überhaupt keinen Abbruch tat. „Sie haben dich ja sicher nicht für immer suspendiert, oder? Sie haben dir gesagt, was du tun musst, um wieder reinzukommen?“

Ich biss mir auf die Lippe. Irgendetwas an ihrem Blick zwang mich, zu antworten. „Ja. Bruno hat gesagt, ich – ich muss mich entschuldigen. Bei ihm und der Mannschaft.“

„Na also!”

„Aber warum sollte ich mich bei ihnen entschuldigen?“ Ich schnellte jetzt ebenfalls nach vorne. „Ich meine, okay, ich weiß, dass ich vielleicht nicht so gut gespielt hab, oder besonders gute Gesellschaft war, aber – Ich meine, es war nicht so schlimm, ich –“

Ich rang nach Worten. Sierra hob die Augenbrauen. Ein paar Sekunden war es still. Mit einem Schnauben fiel ich zurück in die Kissen. „Okay, du hast recht. Es war schlimm. Ich schätze, ich – ich weiß, dass ich mich entschuldigen sollte. Aber – ich meine, mein –“

Wieder steckte ein Wort in meiner Kehle. Freund. Ich bin nicht dein Freund. Es stach, es brannte. Aber es wollte nicht hinaus. Ich fuhr mir mit der Zungenspitze über die Oberlippe und atmete durch. „Ramin hat grade mit mir Schluss gemacht. Ich brauch einfach ein bisschen Zeit, um damit klarzukommen, okay? Und ich – ich kann jetzt einfach nicht auch noch an die Gefühle von allen anderen Leuten denken.“

Sierra legte den Kopf schief. „Du meinst also, weil du unfair behandelt worden bist, und weil dir jemand wehgetan hat, dass dir das das Recht gibt, andere unfair zu behandeln und dafür ihnen wehzutun?“

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Unbeweglich sah ich Sierra an. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie blinzelte, und im nächsten Moment strahlte ihr Gesicht Wärme aus. Sie streckte die Hand aus und ergriff meine linke Hand mit ihrer rechten. „Schau her, Martin. Ich kann verstehen, warum du dich so verhalten hast, wirklich, glaub mir. Und ich mache dir keinen Vorwurf. Aber jetzt musst du dich daran erinnern, dass du immer noch Menschen hast, die dich lieben und denen du wichtig bist, und Menschen, die du liebst und die dir wichtig sind. Lass sie nicht dafür büßen, was Ramin dir angetan hat.“

Ein paar Augenblicke war es still. Dann drückte sie meine Hand und gab sie frei. „Und ich fürchte, jetzt muss ich gehen, wenn ich heute Abend pünktlich auf der Bühne stehen will.“

Mir war schwindelig. In meinem Kopf drehte sich alles. Aber dann kristallisierte sich aus dem Wirbelsturm eine fassbare Frage heraus, und ich runzelte die Stirn. „Moment. Du meinst, du bist nur für ein paar Stunden herkommen? Du bleibst nicht mal für eine Nacht?“

Sierra schüttelte den Kopf. „Würde ich liebend gerne, aber Harry bringt mich um, wenn ich die Vorstellung verpasse. Es ist so schon schwer genug momentan. Aber … ich wollte sehen, wie es dir geht, weißt du? Und außerdem … Ich musste einfach mal da rauskommen. Selbst, wenn es nur für ein paar Stunden war.“

Plötzlich wirkte sie nicht mehr nur müde. Sie wirkte ausgelaugt. Als hätte sie seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen.

Ich schluckte. „Sierra …“

Sie schüttelte den Kopf. „Alles gut, Martin. Ehrlich. Mach dir keinen Kopf. Es war schön, dich zu sehen.“

Sie erhob sich. Ich verharrte kurz auf der Sofakante. Dann stand ich ebenfalls auf. Während ich Sierra aus dem Wohnzimmer den Flur entlang zur Wohnungstür führte, hatte ich immer noch das Gefühl, etwas sagen zu müssen, irgendwas, um ihr zu helfen, um es besser zu machen. Aber in meinem Kopf war Chaos. Und was könnte ich schon sagen? Sierra war bestimmt mindestens fünf Jahre älter als ich und so viel erwachsener. Sicher hatte sie in London ihre eigenen Freunde, die ihr hoffentlich irgendwie helfen konnten.

Als wir an der Wohnungstür ankamen, klopfte Sierra an Finns Zimmertür und verabschiedete sich von ihm. Danach zog sie seine Tür wieder zu, sodass wir alleine im Flur waren. Sie hatte schon ihre Schuhe und ihre Jacke an und ihre Handtasche über der Schulter, als sie mit der Hand an der Türklinke noch einmal innehielt. „Martin, wenn du dafür sorgen willst, dass es besser wird, sprich mit jemandem. Und ich meine nicht Finn. Ich weiß, dass er dein bester Freund ist, und bestimmt habt ihr euch lieb, aber er steckt zu tief in dem Ganzen drin. Er ist zu voreingenommen gegen Ramin. Such dir jemand anderen, jemanden, dem du vertrauen kannst, und erzähl, was passiert ist. Es wird helfen, du wirst sehen.“

Sie studierte mein erstarrtes Gesicht und schmunzelte. „Tut mir leid. Keine Sorge, ich fang jetzt nicht an, dir eine Predigt zu halten, weil du keine Galionsfigur der queeren Sache bist. Ich will nicht, dass du das für irgendjemand anderen tust. Ich will, dass du es für dich tust. Schnapp dir einen deiner Freunde – aus der Mannschaft, von woanders, ganz egal – und sprich mit ihm. Danach wirst du dich besser fühlen.“

„Aber …“ Es war, als hätte sie mir ein Brett vor die Stirn geschlagen. „Aber … woher willst du wissen, dass es hilft?“

„Mit mir zu reden, hat heute auch geholfen, oder?“ Mit einem letzten Lächeln über die Schulter, begleitet von einer leicht erhobenen Augenbraue, öffnete sie die Tür und verließ die Wohnung.

Chapter 46: Erste Schritte

Chapter Text

  1. Kapitel: Erste Schritte

„Also. Ich –“

Meine Augen huschten über die Mannschaft, die versammelt in der Kabine saß. Viele Arme waren vor der Brust verschränkt, viele Lippen zusammengepresst. Jedes Augenpaar war auf mich gerichtet.

Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger. Ich holte Luft. „– will mich entschuldigen. Für die letzten Wochen. Ich hab scheiße gespielt, und ich war …“

„Zum Abgewöhnen“, soufflierte Lewis lächelnd. „Unausstehlich. Ein Kotzbrocken.“

Hier und da kicherte jemand.

Ich schluckte. „Ja. Alles davon.“

Wieder huschte mein Blick durch den Raum. Lewis grinste. Auch in Nicos und Matzes Gesichtern konnte ich ein Lächeln erkennen. Aber viele Mienen blieben verschlossen. Dennis‘ Arme waren immer noch vor seiner Brust verknotet, und Ivo murmelte auf Kroatisch irgendetwas vor sich hin, das ganz sicher kein Heiratsantrag an mich war.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Mein Blick glitt zu Finn. Er saß hinten vor seinem Spind, lächelte mir zu und nickte. Der Platz neben ihm war leer. Michi war ja verletzt. Seit fast einer Woche schon, und ich hatte mich nicht bei ihm gemeldet. Nicht gefragt, wie es ihm ging.

Einen Herzschlag starrte ich auf seinen leeren Platz. Die nächste Bank war auch leer. Leider. Das war meine. Wie viel lieber wäre ich jetzt dort, würde untergehen im Stimmengewirr, Gelächter und Flachsen der anderen, das sonst vor dem Training die Kabine füllte. Aber es ging nicht. Das hatte ich verloren, das hatte er mir aus den Händen gerissen, und ich konnte es nicht einfach so zurückhaben. Ich musste darum kämpfen. Und deswegen durfte ich nicht fliehen, sondern musste hier stehen bleiben. Vor der ganzen Mannschaft. Die mich anstarrte, als sei ein brennender Scheinwerfer auf mich gerichtet.

Meine Handflächen fuhren an meiner Trainingshose entlang. Ich musste es aushalten. Um wenigstens irgendetwas wiederzubekommen. Ich zwang mich, den Blick von meinem Platz loszureißen und weiter nach links gleiten zu lassen. Und da …

Ich presste die Lippen zusammen. Schon wieder entzogen sich meine Augen meinem Befehl. Diesmal flohen sie in Richtung Fußboden. Noch ein Stück weiter links, direkt neben meinem Platz, saß Gidi. Und Gidi konnte ich nicht anschauen.

Die Stille wurde drückend. Ich bekam den Kopf wieder nach oben, aber ich schaute stur nach rechts. „Es … tut mir wirklich leid. Ich hatte privaten Stress, aber das war nicht eure Schuld, und ich hätte es nicht an euch auslassen dürfen. Das hat euch geschadet und dem Verein auch.“

Bilder schossen durch meinen Kopf. Ein Ball, der durch den Regen auf mich zugeflogen kam. Mein Kopf, der den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hatte. Mein Fuß, der den Ball völlig falsch getroffen hatte, der ihn statt ihn auf die Tribüne zu knallen hinter die eigene Torlinie befördert hatte.

Privaten Stress. Weak. Weak and pathetic.

Ich biss die Zähne zusammen und zwängte sie wieder auseinander. „Ich schwöre, es kommt nicht wieder vor. Ab jetzt ist Fußball Fußball, und der Rest ist … der Rest. Das werf ich nicht noch mal durcheinander. Das hat … na ja. Also. Das wollte ich sagen. Dass es mir leidtut, dass ich … na ja. Was Lewis gesagt hat.“

Das Schweigen presste auf meine Schultern. Dann fragte Johan, mit hochgezogenen Augenbrauen: „War das alles?“

„Noch nicht ganz.“ Ich schluckte und atmete durch. „Ich will das wiedergutmachen, im Rest der Saison. Und … ich hab mir was überlegt. Also … Ich werd natürlich wieder normal spielen und so, ich meine … besser, nicht so …“

Ich zwang einen Atemzug durch meine zugeschnürte Kehle und setzte neu an. „Ich meine, ich versuch halt, wieder so zu spielen, wie … vorher. Vor … der Winterpause. Aber ich will auch noch zusätzlich was machen. Als … Ausgleich. Und deswegen dachte ich, ich trainier ab jetzt jede Woche noch extra Ecken und Freistöße, und ich verspreche bis Saisonende mindestens drei Tore nach Standards. Also … wenn ihr mich dann schießen lasst, natürlich.“

Ich versuchte, den anderen in die Augen zu schauen, aber ich brachte es nicht fertig. Stattdessen starrte ich meine Fußballschuhe an. Während des kurzen Schweigens, das folgte, kämpfte ich den Drang nieder, mich umzudrehen und zu fliehen.

„Und was, wenn weniger Tore fallen?“ Das war wieder Lewis.

„Eine Woche Malle fürs Team!“

Mein Kopf ruckte hoch. Lasso strahlte mit leuchtenden Augen in die Runde. Hier und da gab es ein Lachen. Nico verdrehte die Augen und schüttelte grinsend den Kopf. Schippo, der neben Lasso saß und sich trotz der Konkurrenzsituation im Sturm super mit ihm verstand, schnalzte mit der Zunge. „Bloß nicht! Sonst ziehst du ab jetzt bei jeder Ecke die Birne weg, weil dir die Woche Malle lieber ist als die Tore!“

Das brach irgendeinen Bann. Alle lachten schallend, auch Lasso, mit einem ertappten Gesichtsausdruck. Ich stand vorne, sah die anderen lachen, sich in die Seiten stoßen, Bemerkungen machen, die den Sitznachbarn in noch lauteres Gelächter ausbrechen ließen. Das schiefe Lächeln auf meinen Lippen tat fast weh. Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger.

Als halbwegs Ruhe eingekehrt war, ergriff Johan das Wort. „Ich denke, über das Wenn-Nicht können wir uns Gedanken machen, wenn’s so weit ist. Aber ansonsten finde ich das ein starkes Angebot.“ Er stand auf, kam zu mir und hielt mir die Hand hin. „Willkommen zurück, Martin.“

Ein Teil des Gewichts glitt von meinen Schultern. Ich schlug ein, und als die Mannschaft um uns herum in Applaus und zustimmendes Pfeifen ausbrach, war das Lächeln auf meinen Lippen plötzlich ein bisschen weniger anstrengend. Nach und nach kamen die anderen auf mich zu, klatschen mit mir ab oder schlugen mir auf die Schulter, und ich lachte über ihre Witze und nickte zu ihren Worten, und als wir gemeinsam zum Trainingsplatz gingen, war alles wie immer. Oder sah zumindest so aus.

Nachdem Sierra gestern gegangen war, war ich zurück ins Wohnzimmer geschlichen. Ich hatte mich aufs Sofa sinken lassen, blicklos in den stillen Raum gestarrt und mit mir gerungen. Und irgendwann hatte ich mir einen Ruck gegeben und mich gezwungen, das Einzige zu tun, was mir übrigblieb.

Das Handy hatte ziemlich lange getutet, aber dann hatte Bruno doch noch abgehoben. Ich war auf dem Sofa gesessen, die linke Hand in ein Kissen gekrallt, und hatte mit geschlossenen Augen die Worte hervorgepresst, die ich eben auch zu meinen Teamkollegen gesagt hatte.

Nachdem ich mir die Entschuldigung abgerungen hatte, hatte ich mir auf die Zunge gebissen und gewartet. Aber Bruno hatte nichts gesagt. Die Stille war unerträglich gewesen, deswegen war ich schnell zu den Standards übergangen. Es war der offensichtliche Wiedergutmachungsvorschlag gewesen. Das konnte ich, hatte es aber bei den Profis bisher fast nie gemacht, und außerdem hatten wir einen guten Standardschützen bitter nötig. Bisher hatten diese Saison meistens Lewis oder Aaron Ecken und Freistöße getreten, aber die Bilanz war dürftig. Acht von zweiundzwanzig Toren nach Standards klangen auf den ersten Blick zwar ganz gut, aber zwei davon hatte Lasso per Elfmeter erzielt, und wenn man noch ein Eigentor abzog und einen Treffer, der erst im Anschluss an eine zuerst abgewehrte Ecke gefallen war, blieben schon nur noch vier Tore übrig. Davon hatte wiederum Michi zwei durch direkte Freistöße erzielt, die beide von der Mauer abgefälscht gewesen waren. Da hatte also auch Glück dazugehört. Außerdem fehlte er ja jetzt sowieso verletzt. Für direkte Freistöße würden wir also erst mal jemand anderen brauchen. Und für mich war es der schnellste Weg, auf dem ich torgefährlicher werden konnte. Mein einziges Bundesligator sollte nicht lange dieses verdammte Eigentor bleiben.

Als Bruno immer noch nichts gesagt hatte, hatte ich noch drangehängt, dass ich mit dem Krafttraining weitermachen wollte. Es war als Strafe gemeint gewesen, aber das Trainerteam hatte sich auch etwas dabei gedacht. Ich war gerade erst zwanzig geworden und steckte mitten in meiner erst zweiten Profisaison. Ich war zwar nicht so schmächtig wie Finn, aber die meisten Gegenspieler waren mir körperlich trotzdem überlegen. Gerade ein Sechser musste aber in Zweikämpfen dagegenhalten können, und das hatte auch mit der Muskelmasse zu tun. Die weiter aufzubauen, könnte mich wirklich weiterbringen. Und auf jeden Fall würden die Stunden im Kraftraum welche sein, in denen ich eine Aufgabe hatte, eine Aufgabe und ein Ziel. In denen ich nicht nutzlos allein irgendwo sein musste. Allein mit meinen Gedanken.

Als ich damit auch fertig gewesen war, hatte Bruno endlich sein Schweigen aufgegeben. Zwei Sätze hatte er gesagt: „Sprich mit der Mannschaft. Dann bist du wieder drin.“

Ich hatte tief eingeatmet. Erst, als ich mich nach dem Auflegen in die Lehne hatte zurückfallen lassen, hatte ich gemerkt, wie verkrampft ich dagesessen hatte. Ein paar Minuten war ich im Sofa gehangen, und die Erleichterung über das, was ich hinter mir hatte, hatte sich vermischt mit Angst und Wut und Verzweiflung und dem würgenden Unwillen beim Gedanken daran, was vor mir lag. Am liebsten wäre ich einfach da liegengeblieben. Aber das durfte ich nicht. Ich war Fußballer, Teil einer Mannschaft, Bürger meiner Stadt, und ich wurde gebraucht. Ich hatte Pflichten und eine Verantwortung. Und der musste ich gerecht werden.

Es hatte gedauert, bis der Kampf ausgefochten war. Aber irgendwann hatte ich die Hände aufs Polster gestemmt, mich hochgewuchtet und war den Flur entlang zu Finns Zimmertür gegangen. Ich hatte das Tock, tock gehört, aber meine Fingerknöchel hatten das Holz kaum gespürt. Auf Finns „Ja?“ hatte ich den Kopf durch die Tür gesteckt. Mein bester Freund war mit einem Buch am Schreibtisch gesessen, den Kopf um hundertachtzig Grad in Richtung Tür gedreht, Hoffnung und Angst in seinen blauen Augen.

Mechanisch hatte ich einen Mundwinkel hochgezogen. „Was ist? Wollen wir jetzt was kochen?“

Finn hatte Luft geholt, mehrmals hintereinander genickt, sein Buch fallen lassen, den Raum durchquert und war mir um den Hals gefallen.

Auch jetzt auf dem Weg zum Trainingsplatz schenkte er mir wieder dieses unendlich erleichterte Lächeln und legte mir flüchtig den Arm um den Rücken. Wie automatisch erwiderte ich das Lächeln. Seine Umarmung spürte ich dumpf, wie durch einen Schleier.

Das Training bestritt ich, wie ich es bis vor Weihnachten getan hatte: engagiert, konzentriert, mit Einsatz, aber nicht mit Übereifer. Ich fand bei Passübungen wieder den Mitspieler, traf beim Schießen das Tor und gewann im Abschlussspiel Zweikämpfe. Ich spielte nicht überragend, aber von dem, was ich in den letzten Wochen fabriziert hatte, war es so weit entfernt wie die Champions League von der Kreisliga. Beim Auslaufen drosch Lewis mir auf die Schulter. „Ganz der Alte, was?“

Es kostete alle Kraft, die ich hatte, das Grinsen zu erwidern.

Sierras Besuch gestern hatte etwas in mir angestoßen. Als ich auf dem Sofa gesessen hatte und ihre Worte in mir nachgeklungen waren, war ich langsam, zögernd und widerwillig zu der Erkenntnis gekommen, dass sie recht hatte: Ich hatte mich Finn, Bruno, der Mannschaft und den Fans gegenüber abscheulich verhalten. Den Abgrund, in den Ramin mich gestoßen hatte, hatte ich an ihnen ausgelassen, obwohl keiner von ihnen eine Schuld daran trug. Und im selben Moment hatte ich den Entschluss gefasst, dass das jetzt, auf der Stelle, vorbei sein musste. Es reichte, wenn Ramin mein Liebesleben in Stücke gerissen hatte. Meinen Job, meine Freunde, das Team – das alles durfte er mir nicht auch noch wegnehmen. Er durfte mich nicht komplett ruinieren. Das durfte ich nicht zulassen. Ich durfte ihn nicht gewinnen lassen.

Ich wollte es unbedingt wiedergutmachen, und obwohl es mir noch schwerer gefallen war, als ich gestern auf dem Sofa gedacht hatte, hatte ich jedes Wort meiner Entschuldigung so gemeint. Aber mir war klar, dass es mehr als ein „Es tut mir leid“ brauchen würde, um das wirklich wieder einzurenken. Deshalb schnappte ich mir nach dem Training ein paar Bälle und legte sie mir einen nach dem anderen an der Eckfahne zurecht, um sie in den Strafraum zu schlagen. Danach wechselte ich zur anderen Seite, dann machte ich mit Freistößen aus verschiedenen Positionen weiter. Auf jeden Schuss konzentrierte ich mich, und nach jedem versuchte ich, die Flugkurve leicht zu korrigieren, je nachdem, wie der vorherige Ball gekommen war.

Aber die Schwärze in meinem Inneren vertrieb nichts davon. Sie war weiter da, und ich schleppte sie bei jeder Grätsche, jedem Kopfball und jedem Sprint mit mir herum. Kein Freistoß und keine Ecke der Welt konnte das ändern. Es gab nur einen einzigen Menschen, der das gekonnt hätte. Aber der schlief sich vermutlich gerade irgendwo in New York genügend Energie an für die nächste Nacht fucking, dick-sucking und tight asses und hatte mich sicher längst vergessen.

 

*

 

Als ich zurück in die Kabine kam, waren fast alle anderen schon weg. Nur Finn stand noch fertig angezogen mit seiner Sporttasche über der Schulter da und unterhielt sich mit Gidi, der gerade seine Jacke überstreifte. Gottseidank standen beide schon bei der Tür. Ich zwängte mich mit gesenktem Kopf zwischen ihnen hindurch, setzte mich vor meinen Spind, schnürte meine Schuhe auf und schälte mich aus den Schichten meines Trainingsoutfits. Es war Anfang Februar, und draußen hatte es knapp über null Grad. Als ich mir mein Langarmshirt über den Kopf zog, hörte ich Finns leicht erhobene Stimme. „Ich warte draußen, Martin, ja?“

„Okay!“

Als mein Kopf aus dem Shirt auftauchte, sah ich noch, wie die Tür hinter ihm zufiel. Ein Glück. Allein. Aber dann wurde mein Blick von einer Bewegung links neben der Tür abgelenkt. Gidi war nicht mit hinausgegangen, sondern stand noch in der Kabine, die Sporttasche über der Schulter, eine Hand über seinen Nacken fahrend.

Ich wandte den Kopf ab. Meine Fingerspitzen kribbelten. Das Schweigen war bleiern. Dann sagte Gidi: „Hey, cool, dass du … wieder da bist.“

„Ja, ich … äh … danke.“ Mein Gesicht war heiß, und das kam nicht vom Training. Warum musste ich ausgerechnet mit Gidi allein sein? Warum?

Gidi räusperte sich. Ich starrte schräg hinunter auf den Boden und sah, wie er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. „Hör mal, Martin, was du vorhin meintest … also, dass du privaten Stress hattest. Willst du … Ich meine, passt das jetzt wieder?“

Der Kabinenboden verschwamm vor meinen Augen. Ich sah eiskalte dunkelbraune Augen, hörte Schritte, die im Treppenhaus verhallten. Meine Finger krallten sich in mein Trainingsshirt.

Ich zwang den Kopf nach oben und ein Lächeln auf mein Gesicht. „Wird schon.“

Gidi sah mich aus großen Augen an. Auch sie waren dunkelbraun. Ich schluckte und sah schnell auf meine Füße, die nur noch mit Stutzen bekleidet waren.

„Martin, kann ich dir irgendwie –“

„Nein!“ Ich sprang auf, stellte den rechten Fuß auf die Bank und begann, den Stutzen herunterzurollen. „Ist lieb, aber nicht nötig. Ehrlich. Ich … ich schaff das schon, okay?“

Über die Schulter warf ich ihm noch ein Lächeln zu. Zuversicht und Lockerheit hatte ich hineinlegen wollen, aber an Gidis Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass es wohl eher zu einer Grimasse verkommen war. Ich biss die Zähne zusammen und wandte mich wieder meinen Stutzen zu. Auch den linken hatte ich schon halb abgerollt, als ich Gidis leise Stimme in meinem Rücken hörte. „Okay. Aber … wenn du reden willst … Ich bin da, okay?“

Ich holte Luft, verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen und nickte ihm über die Schulter zu. „Mhm!“

Er blinzelte und legte ein wenig zögerlich die Hand auf die Türklinke. „Okay, dann … bis später.“

„Ja, bis dann!“

Ich zwang meine Gesichtsmuskeln, das Grinsen zu halten, bis Gidi draußen und die Tür hinter ihm zugefallen war. Dann entwich alle Spannung aus meinem Körper. Ich schmiss die Stutzen zu den restlichen Sachen in die Kiste in der Mitte der Kabine, die Miro später zum Waschen mitnehmen würde, zog auch Trainingshose und Boxershorts aus, ließ die Hose in die Kiste und die Shorts in meine Sporttasche fallen und ging duschen.

Das Wasser war eine Wohltat. Ich lehnte die Stirn gegen die Wand, schloss die Augen und genoss das warme Nass, das mir Haar und Rücken hinunterströmte und Schweiß, Kälte und Fassade wegspülte.

Tell someone.

Ich drehte mich um, hielt das Gesicht unter den Wasserstrahl und spürte, wie die Tropfen meine Stirn und meinen Wangen hinunterrannen.

Tell someone.

Letzte Nacht hatte ich mich im Bett hin- und hergewälzt, mich von der einen auf die andere Seite gedreht, und wieder und wieder war das Echo von Sierras Stimme durch meine Gedanken gehallt.

Tell someone.

Wenn, kam nur Gidi infrage. Der Gedanke, jemand anderem, vielleicht Johan, Nico oder Lewis, von Ramin zu erzählen, war lächerlich. Das waren Jungs, mit denen ich Fußball spielte, auf Teamabenden oder im Trainingslager eine Runde FIFA zocken und ein bisschen herumwitzeln konnte, aber das war es auch. Niemals würde ich mit einem von ihnen über meine persönlichen Probleme sprechen. Außer mit Finn konnte ich mir das nur mit zwei Jungs vorstellen: mit Michi. Und eben mit Gidi. Aber Michi war … immer so gut drauf. Der lachte immer, machte immer Witze. Auch deswegen machte es ja so viel Spaß, mit ihm rumzuhängen. Aber dieses Thema war kein Spaßthema. Das war ein ernstes Thema. Konnte Michi ernst sein? Ernst genug für … das?

Trotz des warmen Wassers schauderte ich. Ich wusste es nicht, und ich würde es sicher nicht auf diese Weise herausfinden. Und außerhalb des Teams hatte ich niemanden. Mit dreizehn war ich in die Jugend des HSV gewechselt, zweieinhalb Jahre später ins Internat gezogen und hatte auch die Schule besucht, mit der der Verein kooperierte. Erst gestern, als ich darüber nachgedacht hatte, wen außer Finn ich eigentlich sonst noch hatte, war mir so richtig aufgegangen, wie sehr mein Sozialleben auf den Fußball beschränkt war.

Es blieb also nur Gidi. Gidi, mit dem ich im Sommertrainingslager ein Zimmer geteilt hatte, der mein Konkurrent und mein Partner auf der Sechs war, der mir auf dem Platz den Rücken freihielt, der zu meinem zweitbesten Freund nach Finn geworden war. Gidi, der mich seit dem Wintertrainingslager immer wieder so angesehen hatte, besorgt, verwirrt, nachdenklich, der nicht so oft nachgefragt hatte wie Michi, der sich aber trotzdem unverkennbar Gedanken über meine veränderte Stimmung gemacht hatte. Gidi, der sich auf der Rückfahrt aus Stuttgart neben mich gesetzt und als menschlicher Schutzschild vor dem Rest der Mannschaft für mich fungiert hatte. Der danebengesessen hatte, als ich zum ersten Mal zusammengebrochen war. Er hatte Kopfhörer auf den Ohren und die Augen geschlossen gehabt. Aber hatte er nur so getan, als ob er nichts merkte, weil er gewusst hatte, dass mir das lieber gewesen war? Hatte er was mitgekriegt? Und wenn ja, wie viel? Welche Schlüsse hatte er gezogen? Hatte er – und an diesem Punkt war jeder Nerv in meinem Körper gestern Nacht zu Eis gefroren – eine Verbindung gezogen zu dem Mann, der damals nach dem Dortmund-Spiel mit mir auf dem Parkplatz gewesen war? Von all meinen Mannschaftskollegen war Gidi schließlich der einzige, der Ramin je zu Gesicht bekommen hatte.

Ich spürte Gänsehaut auf meinem Körper, drehte das Wasser ab, griff nach der Shampooflasche und seifte mir die Haare ein. Wie schon gestern Nacht betete ich mir Beruhigungen vor. Gidi hatte Ramin nur einmal gesehen, und das auch nur für ein paar Minuten. Es war völlig normal, dass auch männliche Freunde der Spieler sich Partien im Stadion anschauten, und ich hatte durch nichts den Anschein erweckt, dass Ramin mehr gewesen war als nur ein Freund. Und ich wusste ja noch nicht mal sicher, ob Gidi im Bus überhaupt was mitgekriegt hatte. Vielleicht war seine Musik so laut gewesen, dass er nichts gehört hatte. Vielleicht hatte er geschlafen. Es war nahezu unmöglich, dass Gidi alle losen Enden zum richtigen Gesamtbild verbunden hatte. Das war kein Zusammenzählen von eins und eins, das war noch nicht mal zwei und zwei. Das war schon eher siebzehn und siebzehn. Das hatte er bestimmt nicht gemacht.

Ich strich mir die glitschigen Haare aus der Stirn und drehte das Wasser wieder an. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam. Nein, Gidi wusste sicher nicht Bescheid. Wenn ich es ihm erzählte, würde ich von Anfang an, der Reihe nach und alles berichten müssen. Gestern Nacht hatte ich mich auf die Seite gedreht, die Wand in meinem dunklen Zimmer angestarrt und es mir ausgemalt: Hey, Gidi, kann ich mal mit dir reden? Ich war ja so scheiße drauf in letzter Zeit. Ich dachte, ich erzähl dir jetzt mal, warum. Kannst du dich noch an den Typen erinnern, mit dem du mich nach dem Dortmund-Spiel gesehen hast? Ich hab damals gesagt, das sei ein Freund, aber das war gelogen. Mit dem hatte ich seit der Sommerpause immer wieder Sex, und ich war in ihn verliebt, und ich dachte, er wäre auch in mich verliebt, aber nach dem Trainingslager hat er mich sitzen lassen. Das hat mich ziemlich fertig gemacht. Ach ja, und ich bin übrigens schwul.

Ich lachte. Die Fliesen warfen das Echo wie in einem Tunnel hin und her. Ich wollte Gidis Reaktion auf diese Worte nicht sehen. Ich wollte von niemandem eine Reaktion auf diese Worte sehen. Weil ich sie nie, nie, nie aussprechen wollte.

Sierra hatte es gut gemeint, und sie hatte ja auch recht gehabt: Es hatte geholfen, mit ihr zu reden. Ich fühlte mich zwar nicht gut, aber wenigstens hing ich nicht mehr halbtot in meinem Bett rum. Ich war wieder Teil des Teams. Das hatte ich mir zurückgeholt, und das wäre nicht passiert, wenn sie nicht gekommen wäre. Aber das war etwas völlig anderes gewesen. Ihr hatte ich nichts erklären müssen. Sie hatte gewusst, was vorgefallen war, sie kannte Ramin, sie wusste, was zwischen uns gewesen war, und sie hatte gewusst, dass ich Profifußballer und schwul war. Alles war auf dem Tisch gewesen. Aber wenn ich Gidi die ganze Geschichte erzählte, musste ich nicht nur ein Geständnis ablegen, sondern zwei. Ich bin von vorne bis hinten auf ein arrogantes, selbstverliebtes Arschloch hereingefallen war nicht genug. Ich bin schwul müsste ich noch voranstellen.

Übelkeit stieg in mir auf. Ich drehte die Dusche ab, schüttelte den Kopf, dass Wassertropfen in alle Richtungen stoben, und griff nach meinem Handtuch. Ich redete wieder mit Finn, ich hatte das Verhältnis zu meinen Teamkollegen wieder eingerenkt und ich spielte wieder normal Fußball. Und wenn ich zu Hause war, würde ich Michi anrufen. Noch ein Schritt auf dem Weg zurück. Und vielleicht, wenn ich mich genug auf diese Dinge konzentrierte und immer weiter einen Schritt nach dem anderen ging, würde das Loch in mir sich wieder füllen. Stück für Stück. Auch ohne irgendwelche halsbrecherischen Geständnisse. Und ohne den, der an allem Schuld war. Der es überhaupt erst gerissen hatte.

Chapter 47: Erste Schritte - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Erste Schritte

„Also. Ich –“

Meine Augen huschten über die Mannschaft, die versammelt in der Kabine saß. Viele Arme waren vor der Brust verschränkt, viele Lippen zusammengepresst. Jedes Augenpaar war auf mich gerichtet.

Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger. Ich holte Luft. „– will mich entschuldigen. Für die letzten Wochen. Ich hab scheiße gespielt, und ich war …“

„Zum Abgewöhnen“, soufflierte Lewis lächelnd. „Unausstehlich. Ein Kotzbrocken.“

Hier und da kicherte jemand.

Ich schluckte. „Ja. Alles davon.“

Wieder huschte mein Blick durch den Raum. Lewis grinste. Auch in Nicos und Matzes Gesichtern konnte ich ein Lächeln erkennen. Aber viele Mienen blieben verschlossen. Dennis‘ Arme waren immer noch vor seiner Brust verknotet, und Ivo murmelte auf Kroatisch irgendetwas vor sich hin, das ganz sicher kein Heiratsantrag an mich war.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Mein Blick glitt zu Finn. Er saß hinten vor seinem Spind, lächelte mir zu und nickte. Der Platz neben ihm war leer. Michi war ja verletzt. Seit fast einer Woche schon, und ich hatte mich nicht bei ihm gemeldet. Nicht gefragt, wie es ihm ging.

Einen Herzschlag starrte ich auf seinen leeren Platz. Die nächste Bank war auch leer. Leider. Das war meine. Wie viel lieber wäre ich jetzt dort, würde untergehen im Stimmengewirr, Gelächter und Flachsen der anderen, das sonst vor dem Training die Kabine füllte. Aber es ging nicht. Das hatte ich verloren, das hatte er mir aus den Händen gerissen, und ich konnte es nicht einfach so zurückhaben. Ich musste darum kämpfen. Und deswegen durfte ich nicht fliehen, sondern musste hier stehen bleiben. Vor der ganzen Mannschaft. Die mich anstarrte, als sei ein brennender Scheinwerfer auf mich gerichtet.

Meine Handflächen fuhren an meiner Trainingshose entlang. Ich musste es aushalten. Um wenigstens irgendetwas wiederzubekommen. Ich zwang mich, den Blick von meinem Platz loszureißen und weiter nach links gleiten zu lassen. Und da …

Ich presste die Lippen zusammen. Schon wieder entzogen sich meine Augen meinem Befehl. Diesmal flohen sie in Richtung Fußboden. Noch ein Stück weiter links, direkt neben meinem Platz, saß Gidi. Und Gidi konnte ich nicht anschauen.

Die Stille wurde drückend. Ich bekam den Kopf wieder nach oben, aber ich schaute stur nach rechts. „Es … tut mir wirklich leid. Ich hatte privaten Stress, aber das war nicht eure Schuld, und ich hätte es nicht an euch auslassen dürfen. Das hat euch geschadet und dem Verein auch.“

Bilder schossen durch meinen Kopf. Ein Ball, der durch den Regen auf mich zugeflogen kam. Mein Kopf, der den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hatte. Mein Fuß, der den Ball völlig falsch getroffen hatte, der ihn statt ihn auf die Tribüne zu knallen hinter die eigene Torlinie befördert hatte.

Privaten Stress. Schwach. Schwach und erbärmlich.

Ich biss die Zähne zusammen und zwängte sie wieder auseinander. „Ich schwöre, es kommt nicht wieder vor. Ab jetzt ist Fußball Fußball, und der Rest ist … der Rest. Das werf ich nicht noch mal durcheinander. Das hat … na ja. Also. Das wollte ich sagen. Dass es mir leidtut, dass ich … na ja. Was Lewis gesagt hat.“

Das Schweigen presste auf meine Schultern. Dann fragte Johan, mit hochgezogenen Augenbrauen: „War das alles?“

„Noch nicht ganz.“ Ich schluckte und atmete durch. „Ich will das wiedergutmachen, im Rest der Saison. Und … ich hab mir was überlegt. Also … Ich werd natürlich wieder normal spielen und so, ich meine … besser, nicht so …“

Ich zwang einen Atemzug durch meine zugeschnürte Kehle und setzte neu an. „Ich meine, ich versuch halt, wieder so zu spielen, wie … vorher. Vor … der Winterpause. Aber ich will auch noch zusätzlich was machen. Als … Ausgleich. Und deswegen dachte ich, ich trainier ab jetzt jede Woche noch extra Ecken und Freistöße, und ich verspreche bis Saisonende mindestens drei Tore nach Standards. Also … wenn ihr mich dann schießen lasst, natürlich.“

Ich versuchte, den anderen in die Augen zu schauen, aber ich brachte es nicht fertig. Stattdessen starrte ich meine Fußballschuhe an. Während des kurzen Schweigens, das folgte, kämpfte ich den Drang nieder, mich umzudrehen und zu fliehen.

„Und was, wenn weniger Tore fallen?“ Das war wieder Lewis.

„Eine Woche Malle fürs Team!“

Mein Kopf ruckte hoch. Lasso strahlte mit leuchtenden Augen in die Runde. Hier und da gab es ein Lachen. Nico verdrehte die Augen und schüttelte grinsend den Kopf. Schippo, der neben Lasso saß und sich trotz der Konkurrenzsituation im Sturm super mit ihm verstand, schnalzte mit der Zunge. „Bloß nicht! Sonst ziehst du ab jetzt bei jeder Ecke die Birne weg, weil dir die Woche Malle lieber ist als die Tore!“

Das brach irgendeinen Bann. Alle lachten schallend, auch Lasso, mit einem ertappten Gesichtsausdruck. Ich stand vorne, sah die anderen lachen, sich in die Seiten stoßen, Bemerkungen machen, die den Sitznachbarn in noch lauteres Gelächter ausbrechen ließen. Das schiefe Lächeln auf meinen Lippen tat fast weh. Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger.

Als halbwegs Ruhe eingekehrt war, ergriff Johan das Wort. „Ich denke, über das Wenn-Nicht können wir uns Gedanken machen, wenn’s so weit ist. Aber ansonsten finde ich das ein starkes Angebot.“ Er stand auf, kam zu mir und hielt mir die Hand hin. „Willkommen zurück, Martin.“

Ein Teil des Gewichts glitt von meinen Schultern. Ich schlug ein, und als die Mannschaft um uns herum in Applaus und zustimmendes Pfeifen ausbrach, war das Lächeln auf meinen Lippen plötzlich ein bisschen weniger anstrengend. Nach und nach kamen die anderen auf mich zu, klatschen mit mir ab oder schlugen mir auf die Schulter, und ich lachte über ihre Witze und nickte zu ihren Worten, und als wir gemeinsam zum Trainingsplatz gingen, war alles wie immer. Oder sah zumindest so aus.

Nachdem Sierra gestern gegangen war, war ich zurück ins Wohnzimmer geschlichen. Ich hatte mich aufs Sofa sinken lassen, blicklos in den stillen Raum gestarrt und mit mir gerungen. Und irgendwann hatte ich mir einen Ruck gegeben und mich gezwungen, das Einzige zu tun, was mir übrigblieb.

Das Handy hatte ziemlich lange getutet, aber dann hatte Bruno doch noch abgehoben. Ich war auf dem Sofa gesessen, die linke Hand in ein Kissen gekrallt, und hatte mit geschlossenen Augen die Worte hervorgepresst, die ich eben auch zu meinen Teamkollegen gesagt hatte.

Nachdem ich mir die Entschuldigung abgerungen hatte, hatte ich mir auf die Zunge gebissen und gewartet. Aber Bruno hatte nichts gesagt. Die Stille war unerträglich gewesen, deswegen war ich schnell zu den Standards übergangen. Es war der offensichtliche Wiedergutmachungsvorschlag gewesen. Das konnte ich, hatte es aber bei den Profis bisher fast nie gemacht, und außerdem hatten wir einen guten Standardschützen bitter nötig. Bisher hatten diese Saison meistens Lewis oder Aaron Ecken und Freistöße getreten, aber die Bilanz war dürftig. Acht von zweiundzwanzig Toren nach Standards klangen auf den ersten Blick zwar ganz gut, aber zwei davon hatte Lasso per Elfmeter erzielt, und wenn man noch ein Eigentor abzog und einen Treffer, der erst im Anschluss an eine zuerst abgewehrte Ecke gefallen war, blieben schon nur noch vier Tore übrig. Davon hatte wiederum Michi zwei durch direkte Freistöße erzielt, die beide von der Mauer abgefälscht gewesen waren. Da hatte also auch Glück dazugehört. Außerdem fehlte er ja jetzt sowieso verletzt. Für direkte Freistöße würden wir also erst mal jemand anderen brauchen. Und für mich war es der schnellste Weg, auf dem ich torgefährlicher werden konnte. Mein einziges Bundesligator sollte nicht lange dieses verdammte Eigentor bleiben.

Als Bruno immer noch nichts gesagt hatte, hatte ich noch drangehängt, dass ich mit dem Krafttraining weitermachen wollte. Es war als Strafe gemeint gewesen, aber das Trainerteam hatte sich auch etwas dabei gedacht. Ich war gerade erst zwanzig geworden und steckte mitten in meiner erst zweiten Profisaison. Ich war zwar nicht so schmächtig wie Finn, aber die meisten Gegenspieler waren mir körperlich trotzdem überlegen. Gerade ein Sechser musste aber in Zweikämpfen dagegenhalten können, und das hatte auch mit der Muskelmasse zu tun. Die weiter aufzubauen, könnte mich wirklich weiterbringen. Und auf jeden Fall würden die Stunden im Kraftraum welche sein, in denen ich eine Aufgabe hatte, eine Aufgabe und ein Ziel. In denen ich nicht nutzlos allein irgendwo sein musste. Allein mit meinen Gedanken.

Als ich damit auch fertig gewesen war, hatte Bruno endlich sein Schweigen aufgegeben. Zwei Sätze hatte er gesagt: „Sprich mit der Mannschaft. Dann bist du wieder drin.“

Ich hatte tief eingeatmet. Erst, als ich mich nach dem Auflegen in die Lehne hatte zurückfallen lassen, hatte ich gemerkt, wie verkrampft ich dagesessen hatte. Ein paar Minuten war ich im Sofa gehangen, und die Erleichterung über das, was ich hinter mir hatte, hatte sich vermischt mit Angst und Wut und Verzweiflung und dem würgenden Unwillen beim Gedanken daran, was vor mir lag. Am liebsten wäre ich einfach da liegengeblieben. Aber das durfte ich nicht. Ich war Fußballer, Teil einer Mannschaft, Bürger meiner Stadt, und ich wurde gebraucht. Ich hatte Pflichten und eine Verantwortung. Und der musste ich gerecht werden.

Es hatte gedauert, bis der Kampf ausgefochten war. Aber irgendwann hatte ich die Hände aufs Polster gestemmt, mich hochgewuchtet und war den Flur entlang zu Finns Zimmertür gegangen. Ich hatte das Tock, tock gehört, aber meine Fingerknöchel hatten das Holz kaum gespürt. Auf Finns „Ja?“ hatte ich den Kopf durch die Tür gesteckt. Mein bester Freund war mit einem Buch am Schreibtisch gesessen, den Kopf um hundertachtzig Grad in Richtung Tür gedreht, Hoffnung und Angst in seinen blauen Augen.

Mechanisch hatte ich einen Mundwinkel hochgezogen. „Was ist? Wollen wir jetzt was kochen?“

Finn hatte Luft geholt, mehrmals hintereinander genickt, sein Buch fallen lassen, den Raum durchquert und war mir um den Hals gefallen.

Auch jetzt auf dem Weg zum Trainingsplatz schenkte er mir wieder dieses unendlich erleichterte Lächeln und legte mir flüchtig den Arm um den Rücken. Wie automatisch erwiderte ich das Lächeln. Seine Umarmung spürte ich dumpf, wie durch einen Schleier.

Das Training bestritt ich, wie ich es bis vor Weihnachten getan hatte: engagiert, konzentriert, mit Einsatz, aber nicht mit Übereifer. Ich fand bei Passübungen wieder den Mitspieler, traf beim Schießen das Tor und gewann im Abschlussspiel Zweikämpfe. Ich spielte nicht überragend, aber von dem, was ich in den letzten Wochen fabriziert hatte, war es so weit entfernt wie die Champions League von der Kreisliga. Beim Auslaufen drosch Lewis mir auf die Schulter. „Ganz der Alte, was?“

Es kostete alle Kraft, die ich hatte, das Grinsen zu erwidern.

Sierras Besuch gestern hatte etwas in mir angestoßen. Als ich auf dem Sofa gesessen hatte und ihre Worte in mir nachgeklungen waren, war ich langsam, zögernd und widerwillig zu der Erkenntnis gekommen, dass sie recht hatte: Ich hatte mich Finn, Bruno, der Mannschaft und den Fans gegenüber abscheulich verhalten. Den Abgrund, in den Ramin mich gestoßen hatte, hatte ich an ihnen ausgelassen, obwohl keiner von ihnen eine Schuld daran trug. Und im selben Moment hatte ich den Entschluss gefasst, dass das jetzt, auf der Stelle, vorbei sein musste. Es reichte, wenn Ramin mein Liebesleben in Stücke gerissen hatte. Meinen Job, meine Freunde, das Team – das alles durfte er mir nicht auch noch wegnehmen. Er durfte mich nicht komplett ruinieren. Das durfte ich nicht zulassen. Ich durfte ihn nicht gewinnen lassen.

Ich wollte es unbedingt wiedergutmachen, und obwohl es mir noch schwerer gefallen war, als ich gestern auf dem Sofa gedacht hatte, hatte ich jedes Wort meiner Entschuldigung so gemeint. Aber mir war klar, dass es mehr als ein „Es tut mir leid“ brauchen würde, um das wirklich wieder einzurenken. Deshalb schnappte ich mir nach dem Training ein paar Bälle und legte sie mir einen nach dem anderen an der Eckfahne zurecht, um sie in den Strafraum zu schlagen. Danach wechselte ich zur anderen Seite, dann machte ich mit Freistößen aus verschiedenen Positionen weiter. Auf jeden Schuss konzentrierte ich mich, und nach jedem versuchte ich, die Flugkurve leicht zu korrigieren, je nachdem, wie der vorherige Ball gekommen war.

Aber die Schwärze in meinem Inneren vertrieb nichts davon. Sie war weiter da, und ich schleppte sie bei jeder Grätsche, jedem Kopfball und jedem Sprint mit mir herum. Kein Freistoß und keine Ecke der Welt konnte das ändern. Es gab nur einen einzigen Menschen, der das gekonnt hätte. Aber der schlief sich vermutlich gerade irgendwo in New York genügend Energie an für die nächste Nacht Ficken, Schwanzlutschen und enge Ärsche und hatte mich sicher längst vergessen.

 

*

 

Als ich zurück in die Kabine kam, waren fast alle anderen schon weg. Nur Finn stand noch fertig angezogen mit seiner Sporttasche über der Schulter da und unterhielt sich mit Gidi, der gerade seine Jacke überstreifte. Gottseidank standen beide schon bei der Tür. Ich zwängte mich mit gesenktem Kopf zwischen ihnen hindurch, setzte mich vor meinen Spind, schnürte meine Schuhe auf und schälte mich aus den Schichten meines Trainingsoutfits. Es war Anfang Februar, und draußen hatte es knapp über null Grad. Als ich mir mein Langarmshirt über den Kopf zog, hörte ich Finns leicht erhobene Stimme. „Ich warte draußen, Martin, ja?“

„Okay!“

Als mein Kopf aus dem Shirt auftauchte, sah ich noch, wie die Tür hinter ihm zufiel. Ein Glück. Allein. Aber dann wurde mein Blick von einer Bewegung links neben der Tür abgelenkt. Gidi war nicht mit hinausgegangen, sondern stand noch in der Kabine, die Sporttasche über der Schulter, eine Hand über seinen Nacken fahrend.

Ich wandte den Kopf ab. Meine Fingerspitzen kribbelten. Das Schweigen war bleiern. Dann sagte Gidi: „Hey, cool, dass du … wieder da bist.“

„Ja, ich … äh … danke.“ Mein Gesicht war heiß, und das kam nicht vom Training. Warum musste ich ausgerechnet mit Gidi allein sein? Warum?

Gidi räusperte sich. Ich starrte schräg hinunter auf den Boden und sah, wie er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. „Hör mal, Martin, was du vorhin meintest … also, dass du privaten Stress hattest. Willst du … Ich meine, passt das jetzt wieder?“

Der Kabinenboden verschwamm vor meinen Augen. Ich sah eiskalte dunkelbraune Augen, hörte Schritte, die im Treppenhaus verhallten. Meine Finger krallten sich in mein Trainingsshirt.

Ich zwang den Kopf nach oben und ein Lächeln auf mein Gesicht. „Wird schon.“

Gidi sah mich aus großen Augen an. Auch sie waren dunkelbraun. Ich schluckte und sah schnell auf meine Füße, die nur noch mit Stutzen bekleidet waren.

„Martin, kann ich dir irgendwie –“

„Nein!“ Ich sprang auf, stellte den rechten Fuß auf die Bank und begann, den Stutzen herunterzurollen. „Ist lieb, aber nicht nötig. Ehrlich. Ich … ich schaff das schon, okay?“

Über die Schulter warf ich ihm noch ein Lächeln zu. Zuversicht und Lockerheit hatte ich hineinlegen wollen, aber an Gidis Gesichtsausdruck konnte ich ablesen, dass es wohl eher zu einer Grimasse verkommen war. Ich biss die Zähne zusammen und wandte mich wieder meinen Stutzen zu. Auch den linken hatte ich schon halb abgerollt, als ich Gidis leise Stimme in meinem Rücken hörte. „Okay. Aber … wenn du reden willst … Ich bin da, okay?“

Ich holte Luft, verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen und nickte ihm über die Schulter zu. „Mhm!“

Er blinzelte und legte ein wenig zögerlich die Hand auf die Türklinke. „Okay, dann … bis später.“

„Ja, bis dann!“

Ich zwang meine Gesichtsmuskeln, das Grinsen zu halten, bis Gidi draußen und die Tür hinter ihm zugefallen war. Dann entwich alle Spannung aus meinem Körper. Ich schmiss die Stutzen zu den restlichen Sachen in die Kiste in der Mitte der Kabine, die Miro später zum Waschen mitnehmen würde, zog auch Trainingshose und Boxershorts aus, ließ die Hose in die Kiste und die Shorts in meine Sporttasche fallen und ging duschen.

Das Wasser war eine Wohltat. Ich lehnte die Stirn gegen die Wand, schloss die Augen und genoss das warme Nass, das mir Haar und Rücken hinunterströmte und Schweiß, Kälte und Fassade wegspülte.

Sprich mit jemandem.

Ich drehte mich um, hielt das Gesicht unter den Wasserstrahl und spürte, wie die Tropfen meine Stirn und meinen Wangen hinunterrannen.

Sprich mit jemandem.

Letzte Nacht hatte ich mich im Bett hin- und hergewälzt, mich von der einen auf die andere Seite gedreht, und wieder und wieder war das Echo von Sierras Stimme durch meine Gedanken gehallt.

Sprich mit jemandem.

Wenn, kam nur Gidi infrage. Der Gedanke, jemand anderem, vielleicht Johan, Nico oder Lewis, von Ramin zu erzählen, war lächerlich. Das waren Jungs, mit denen ich Fußball spielte, auf Teamabenden oder im Trainingslager eine Runde FIFA zocken und ein bisschen herumwitzeln konnte, aber das war es auch. Niemals würde ich mit einem von ihnen über meine persönlichen Probleme sprechen. Außer mit Finn konnte ich mir das nur mit zwei Jungs vorstellen: mit Michi. Und eben mit Gidi. Aber Michi war … immer so gut drauf. Der lachte immer, machte immer Witze. Auch deswegen machte es ja so viel Spaß, mit ihm rumzuhängen. Aber dieses Thema war kein Spaßthema. Das war ein ernstes Thema. Konnte Michi ernst sein? Ernst genug für … das?

Trotz des warmen Wassers schauderte ich. Ich wusste es nicht, und ich würde es sicher nicht auf diese Weise herausfinden. Und außerhalb des Teams hatte ich niemanden. Mit dreizehn war ich in die Jugend des HSV gewechselt, zweieinhalb Jahre später ins Internat gezogen und hatte auch die Schule besucht, mit der der Verein kooperierte. Erst gestern, als ich darüber nachgedacht hatte, wen außer Finn ich eigentlich sonst noch hatte, war mir so richtig aufgegangen, wie sehr mein Sozialleben auf den Fußball beschränkt war.

Es blieb also nur Gidi. Gidi, mit dem ich im Sommertrainingslager ein Zimmer geteilt hatte, der mein Konkurrent und mein Partner auf der Sechs war, der mir auf dem Platz den Rücken freihielt, der zu meinem zweitbesten Freund nach Finn geworden war. Gidi, der mich seit dem Wintertrainingslager immer wieder so angesehen hatte, besorgt, verwirrt, nachdenklich, der nicht so oft nachgefragt hatte wie Michi, der sich aber trotzdem unverkennbar Gedanken über meine veränderte Stimmung gemacht hatte. Gidi, der sich auf der Rückfahrt aus Stuttgart neben mich gesetzt und als menschlicher Schutzschild vor dem Rest der Mannschaft für mich fungiert hatte. Der danebengesessen hatte, als ich zum ersten Mal zusammengebrochen war. Er hatte Kopfhörer auf den Ohren und die Augen geschlossen gehabt. Aber hatte er nur so getan, als ob er nichts merkte, weil er gewusst hatte, dass mir das lieber gewesen war? Hatte er was mitgekriegt? Und wenn ja, wie viel? Welche Schlüsse hatte er gezogen? Hatte er – und an diesem Punkt war jeder Nerv in meinem Körper gestern Nacht zu Eis gefroren – eine Verbindung gezogen zu dem Mann, der damals nach dem Dortmund-Spiel mit mir auf dem Parkplatz gewesen war? Von all meinen Mannschaftskollegen war Gidi schließlich der einzige, der Ramin je zu Gesicht bekommen hatte.

Ich spürte Gänsehaut auf meinem Körper, drehte das Wasser ab, griff nach der Shampooflasche und seifte mir die Haare ein. Wie schon gestern Nacht betete ich mir Beruhigungen vor. Gidi hatte Ramin nur einmal gesehen, und das auch nur für ein paar Minuten. Es war völlig normal, dass auch männliche Freunde der Spieler sich Partien im Stadion anschauten, und ich hatte durch nichts den Anschein erweckt, dass Ramin mehr gewesen war als nur ein Freund. Und ich wusste ja noch nicht mal sicher, ob Gidi im Bus überhaupt was mitgekriegt hatte. Vielleicht war seine Musik so laut gewesen, dass er nichts gehört hatte. Vielleicht hatte er geschlafen. Es war nahezu unmöglich, dass Gidi alle losen Enden zum richtigen Gesamtbild verbunden hatte. Das war kein Zusammenzählen von eins und eins, das war noch nicht mal zwei und zwei. Das war schon eher siebzehn und siebzehn. Das hatte er bestimmt nicht gemacht.

Ich strich mir die glitschigen Haare aus der Stirn und drehte das Wasser wieder an. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam. Nein, Gidi wusste sicher nicht Bescheid. Wenn ich es ihm erzählte, würde ich von Anfang an, der Reihe nach und alles berichten müssen. Gestern Nacht hatte ich mich auf die Seite gedreht, die Wand in meinem dunklen Zimmer angestarrt und es mir ausgemalt: Hey, Gidi, kann ich mal mit dir reden? Ich war ja so scheiße drauf in letzter Zeit. Ich dachte, ich erzähl dir jetzt mal, warum. Kannst du dich noch an den Typen erinnern, mit dem du mich nach dem Dortmund-Spiel gesehen hast? Ich hab damals gesagt, das sei ein Freund, aber das war gelogen. Mit dem hatte ich seit der Sommerpause immer wieder Sex, und ich war in ihn verliebt, und ich dachte, er wäre auch in mich verliebt, aber nach dem Trainingslager hat er mich sitzen lassen. Das hat mich ziemlich fertig gemacht. Ach ja, und ich bin übrigens schwul.

Ich lachte. Die Fliesen warfen das Echo wie in einem Tunnel hin und her. Ich wollte Gidis Reaktion auf diese Worte nicht sehen. Ich wollte von niemandem eine Reaktion auf diese Worte sehen. Weil ich sie nie, nie, nie aussprechen wollte.

Sierra hatte es gut gemeint, und sie hatte ja auch recht gehabt: Es hatte geholfen, mit ihr zu reden. Ich fühlte mich zwar nicht gut, aber wenigstens hing ich nicht mehr halbtot in meinem Bett rum. Ich war wieder Teil des Teams. Das hatte ich mir zurückgeholt, und das wäre nicht passiert, wenn sie nicht gekommen wäre. Aber das war etwas völlig anderes gewesen. Ihr hatte ich nichts erklären müssen. Sie hatte gewusst, was vorgefallen war, sie kannte Ramin, sie wusste, was zwischen uns gewesen war, und sie hatte gewusst, dass ich Profifußballer und schwul war. Alles war auf dem Tisch gewesen. Aber wenn ich Gidi die ganze Geschichte erzählte, musste ich nicht nur ein Geständnis ablegen, sondern zwei. Ich bin von vorne bis hinten auf ein arrogantes, selbstverliebtes Arschloch hereingefallen war nicht genug. Ich bin schwul müsste ich noch voranstellen.

Übelkeit stieg in mir auf. Ich drehte die Dusche ab, schüttelte den Kopf, dass Wassertropfen in alle Richtungen stoben, und griff nach meinem Handtuch. Ich redete wieder mit Finn, ich hatte das Verhältnis zu meinen Teamkollegen wieder eingerenkt und ich spielte wieder normal Fußball. Und wenn ich zu Hause war, würde ich Michi anrufen. Noch ein Schritt auf dem Weg zurück. Und vielleicht, wenn ich mich genug auf diese Dinge konzentrierte und immer weiter einen Schritt nach dem anderen ging, würde das Loch in mir sich wieder füllen. Stück für Stück. Auch ohne irgendwelche halsbrecherischen Geständnisse. Und ohne den, der an allem Schuld war. Der es überhaupt erst gerissen hatte.

Chapter 48: Ersatz

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  1. Kapitel: Ersatz

Die restliche Woche stürzte ich mich ins Training. Im Kraftraum, während der regulären Einheiten und danach. Wenn meine Teamkollegen zu den Fans und in die Kabine gingen, sammelte ich ein paar Bälle zusammen und schlug Ecken, Freistoßflanken und direkte Freistöße. Meistens war ich allein, aber manchmal leistete mir einer der Torhüter Gesellschaft, und wenn ich dann aus verschiedenen Winkeln und Entfernungen die oberen Torecken anvisierte, bekam ich spektakuläre Flugshows geboten. Insgesamt lief es okay. Ich hatte lange nicht mehr regelmäßig Standards getreten, und am Anfang haute ich für jeden Ball, den ich im Tor versenkte, zwei in die dritte Etage und zwei so flach, dass jede Mauer sie geblockt hätte. Aber es dauerte nicht lange, bis mein Fuß sich an die Abläufe erinnerte. Bald kam der Großteil der Schüsse dahin, wo ich sie haben wollte, und ich hörte immer erst auf, wenn die letzten paar wirklich gut gewesen waren. Wenn ich die Bälle aus dem Tornetz sammelte und mir den Ballsack über die Schulter warf, kribbelten die Zehen in meinem rechten Fuß oft immer noch. Ich war bereit. Bereit, der Mannschaft im Spiel zu helfen, mein Versprechen einzulösen und meiner Verantwortung gerecht zu werden.

Mit den Jungs war alles beim Alten. So war es in einer Fußballmannschaft. Ich hatte mich unmöglich aufgeführt, es hatte knallharte Worte und eine Strafe gegeben, ich hatte mich entschuldigt, und Schwamm drüber. In den Trainingsspielen klatschte jetzt auch Ivo wieder strahlend mit mir ab, wenn ich ihn durch die Schnittstelle geschickt und er ein Tor aufgelegt hatte. Auch mit Gidi war es wieder normaler. Seit ich den Entschluss gefasst hatte, ihm nichts zu sagen, konnte ich ihm wieder ins Gesicht schauen, und er hatte sein Angebot, ich könne jederzeit mit ihm reden, nicht wiederholt. Wenn wir uns nebeneinander umzogen, schwiegen wir uns vielleicht ein bisschen häufiger an als früher. Aber das würde schon wieder werden. Mit der Zeit. Mit Michi war es einfacher. Ich hatte ihn angerufen, er hatte sich gefreut, ich hatte einen Krankenbesuch abgestattet, und seitdem schrieben wir regelmäßig hin und her, wie früher. So wie früher war es auch mit Finn. Wir zockten FIFA, kochten, lachten und redeten über alles und nichts. Na ja. Fast alles.

In den ersten Tagen hatte da immer diese Note in Finns Blick gelegen. Eine Art Behutsamkeit. So als wäre ich eine Kiste mit der Aufschrift, Achtung, zerbrechlich! Aber er sprach das Thema nie an. Und mit jedem Tag, an dem ich es auch nicht erwähnte, schien er sich ein bisschen mehr zu entspannen. Offensichtlich legte er keinen Wert auf eine Aufarbeitung. Gottseidank. Es ersparte mir, ihn abwimmeln zu müssen.

Denn ich wollte nicht über ihn reden. Es musste reichen, dass er da war, immer, bei jedem Schritt, bei jedem Pass, bei jeder Grätsche. Dass er immer noch als Schwarzes Loch mitten in meiner Brust saß. Dass er immer noch jeden Winkel meines Kopfes einnahm, vor allem, wenn ich allein war. Dass ich jeden Abend Angst davor hatte, einzuschlafen, weil ich wusste, dass ich dann träumen würde. Nein. Das alles war wirklich genug. Über ihn reden konnte ich nicht auch noch.

Was am besten half, war Ablenkung. Und deswegen hätte es mir gar nicht rechter sein können, dass jeder Tag von vorne bis hinten mit Fußball vollgestopft war und dass wir am Sonntag ein ganz wichtiges Spiel vor der Brust hatten. Seit dem vierzehnten Spieltag und dem Drei-zu-eins-Derbysieg in Bremen hatten wir nicht mehr gewonnen. In den sechs Spielen danach hatten wir nur zwei Punkte geholt und waren vom siebten auf den dreizehnten Tabellenplatz abgerutscht. Der Vorsprung auf den Relegationsplatz war von elf auf vier Punkte geschmolzen. Wenn wir dieses Wochenende wieder verloren, konnten wir theoretisch auf Platz fünfzehn mit nur einem Zähler Vorsprung zu Platz sechzehn landen. Und es war erst der einundzwanzigste Spieltag. Dann wären wir wieder richtig im Abstiegskampf. Ein Sieg musste her.

Das Problem war, dass der Gegner Borussia Mönchengladbach hieß. Die hatten die letzte Saison auf dem dritten Tabellenplatz abgeschlossen, ihr jetziger Kader war also der einer Champions-League-Mannschaft. Viele Spieler waren Nationalspieler ihres Landes, und mit vierzig Toren stellten sie die mit Abstand drittbeste Offensive der Liga nach Bayern und Dortmund. Um Lars Stindl, Raffael, Fabian Johnson, Thorgan Hazard, Mo Dahoud und Granit Xhaka zu stoppen, würden wir als Mannschaft eine Eins-A-Verteidigungsleistung hinlegen müssen. Und selbst wollten wir ja auch noch mindestens ein Tor schießen. Und genau dort, erklärte Bruno uns in der Taktiksitzung am Samstag, lag unsere Chance: Gladbach war offensiv zwar bärenstark und stand auch in der Tabelle schon wieder auf Platz sechs, nur drei Punkte hinter Champions-League-Rang drei. Aber defensiv waren sie schwach. Nur Stuttgart und Bremen hatten mit je einundvierzig Gegentoren mehr kassiert als die Borussia mit fünfunddreißig.

„Deshalb werden wir die Partie offensiv angehen.“ Bruno stand mit einem Edding in der Hand neben der Taktiktafel. „Wenn wir uns hinten einschnüren lassen, brauchen wir gar nicht auf den Platz zu gehen, dafür ist der Gegner zu gut. Aber wir spielen zu Hause. Das Stadion ist schon fast ausverkauft. Ich möchte, dass wir da morgen rausgehen und allen Fans zeigen, dass es richtig war, zu uns ins Stadion zu kommen, trotz der Kälte und trotz der letzten Spiele. Ist das klar?“

Nicken, zustimmendes Gemurmel, vereinzeltes Klatschen. Ich saß auf meinem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. Spielen. Gegen Gladbach. Mutig nach vorne, giftig nach hinten. Vor ausverkauftem Haus. Von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen fing mein Körper an zu kribbeln.

Bruno nickte und zog die Kappe vom Edding ab. „Passt auf. Wir spielen 4-2-3-1, wie immer. Johan fehlt gelbgesperrt, dafür spielt Cleber neben Emir in der Innenverteidigung. René, du bist Kapitän.“

Bruno schrieb die Viererkette plus Torwart an die Tafel.

„Davor Lewis, wie gegen Köln. Das war gut, gib Impulse nach vorne, versuch, das Spiel zu strukturieren, mach aber auch nach hinten mit. Aber das hast du in den letzten Wochen immer gut gemacht.“

Lewis grinste, nickte und wackelte mit den Füßen. Offenbar hätte er am liebsten gleich losgelegt.

„Auf der zweiten Sechserposition wechseln wir in der Startelf.“

Ein Blitz fuhr durch mich hindurch. Ich starrte Bruno an.

„Gojko, du hast nicht schlecht gespielt gegen Köln, aber diese Woche hat Gidi mir im Training sehr gut gefallen. Deswegen spielst du morgen neben Lewis, Gidi. Sicher ihn ab, bring deine Kopfballstärke ein und dein Spielverständnis. Mit euch beiden werden wir morgen ein sehr gutes Zentrum auf dem Platz haben.“

Im Stuhl neben mir strahlte Gidi. Er hatte sich ein Stück aufgerichtet. In mir war dagegen etwas zusammengefallen. Ich schielte Gidi von der Seite an und starrte dann nach unten auf meine Oberschenkel. Ich hätte ihm gratulieren müssen. Ihm zunicken. Auf die Schulter klopfen. Irgendwas. Aber ich tat es nicht.

Was hatte ich erwartet? Zwei Wochen grottenschlechtes Training, ein Eigentor, mannschaftsschädigendes Verhalten, eine Suspendierung, und im nächsten Spiel gleich wieder Startelf? Nur, weil ich mir ein paar Worte abgerungen, im Kraftraum Gewichte gestemmt und nach den Trainingseinheiten immer noch zwanzig Minuten Bälle durch den leeren Strafraum gekickt hatte?

Ich biss mir auf die Zunge. Wir hatten morgen ein entscheidendes Spiel gegen eine richtig starke Mannschaft, ein Spiel, in dem es darauf ankam, defensive Kompaktheit mit offensiver Zielstrebigkeit zu kombinieren. Ich war ein Spieler für dieses Spiel. Ein Scharnierspieler, einer, der beides konnte, der in beiden Hälften des Spielfelds zu gebrauchen war. Ich war gemacht für dieses Spiel. Und trotzdem war ich nicht dabei.

Mit Mühe hinderte ich meine Hände daran, sich zu Fäusten zu ballen. Ich bekam kaum mit, wie Bruno den Rest der Aufstellung verkündete. Meine Oberschenkel verblassten vor meinen Augen. Das ist deine Schuld. Das ist alles deine verdammte Schuld, Ramin. Wenn du das nicht gemacht hättest, würde ich morgen spielen. Dann hätte ich auch gegen Köln gespielt. Ich war Stammspieler. STAMMSPIELER, verdammt! Wenn du das nicht gesagt hättest, hätte ich nie ein Eigentor geschossen, dann hätten wir gegen Stuttgart vielleicht gar nicht verloren. Dann würde ich nicht jede Nacht wachliegen und versuchen, irgendwie diese Sätze abzustellen. DEINE Sätze. Du ARSCHLOCH. Wenn du nicht gegangen wärst –

Meine Finger krallten sich um meine Oberarme. Der Schmerz tat gut. Er war besser als der andere Schmerz. Ich atmete aus und hob den Kopf. Bruno war fertig mit seiner Aufstellung. An den Namen am Rand der Tafel sah ich, dass ich wenigstens im Kader stand. Ich blinzelte, atmete und versuchte, irgendwie die richtige Einstellung zusammenzukratzen für einen Auswechselspieler, ein Ich-sitze-zwar-nicht-gerne-auf-der-Bank-aber-ich-gönne-es-euch-und-bereite-mich-topprofessionell-und-positiv-auf-das-Spiel-vor-falls-ich-eingewechselt-werde. Aber es war schwer. Es war so verdammt schwer.

 

*

 

Es wurde noch schwerer, als ich am nächsten Tag um kurz vor halb vier aus der Mixed Zone ins Stadioninnere trat. Ganz ausverkauft war das Spiel nicht, aber so gut wie. Die vereinzelten freien Plätze im Oberrang waren kaum zu sehen. Mein Blick glitt nach rechts, zur Nordtribüne. Unsere Fans hüpften und sangen und klatschten, schwenkten Fahnen, machten einen ohrenbetäubenden Lärm. In meiner Brust stach es. Gerade war die Aufstellung verlesen worden. Alle elf Startelfspieler. Ohne mich.

Meine Zähne gruben sich in meine Unterlippe. Ich riss die Augen von der Nord los, ging ein paar Schritte nach rechts und krachte auf die Bank. Durch den Spielertunnel würden schließlich gleich die Mannschaften einlaufen. Da durfte ich ja keinesfalls im Weg stehen.

Pünktlich um 15.30 Uhr pfiff Deniz Aytekin das Spiel an. Artjoms, der heute zum ersten Mal überhaupt in der Saison in der Startelf stand, führte den Anstoß aus. Super. Sogar Artjoms spielt von Anfang an. Alle dürfen. Außer mir. Ich biss mir auf die Zunge und konzentrierte mich mit aller Willenskraft, die ich aufbringen konnte, aufs Spiel.

Beide Mannschaften begannen ohne viel Spielfluss. Es gab viele lange Bälle, und in der dritten Minute klärte Emir einen Ball, den er einfach ins Aus hätte fliegen lassen können, per Kopf zur Ecke. Die erste Hereingabe von Hazard konnten wir abwehren, und auch bei seiner zweiten Flanke bekamen wir einen Fuß dazwischen, bevor Dahoud aus fünfundzwanzig Metern einen Schuss abgab, der fünf Meter am Tor vorbeiging.

Meine Arme waren vor der Brust verknotet. Kein vernünftiges Zusammenspiel, eine unnötige Ecke, zwei zweite Bälle bei der Borussia. Keine Spur von Spielkontrolle. Keine Spur von Struktur. Hatten die anderen Bruno denn alle nicht zugehört?

In den nächsten Minuten versuchten wir, ein paar Angriffe zu starten, aber immer mit hohen Bällen, die nicht ankamen. Immerhin hielten wir wenigstens nach hinten einigermaßen dicht. Aber nach zehn Minuten war von unserem Vorhaben, hier das Kommando zu übernehmen, immer noch nichts zu sehen. Stattdessen musste ich tatenlos ansehen, wie genau das passierte, wovor Bruno gewarnt hatte: Gladbach erarbeitete sich Feldvorteile. Sie bekamen den nächsten Eckball. Artjoms klärte per Kopf, und Lewis sicherte den zweiten Ball. Mit einer Körpertäuschung ließ er Dahoud stehen und bediente Aaron, der ein paar Schritte Richtung Strafraum ging und Josip auf der linken Seite mitnahm. Der zog ab – zentral aufs Tor. Torwart Yann Sommer konnte den Schuss problemlos wegfausten.

Ich stieß die Luft aus und fiel in meinen Sitz zurück. Josip war doch erst am Ende der Wintertransferperiode vor ein paar Wochen zu uns gewechselt. Aus Gladbach! Hätte er da aus dem Training nicht noch wissen können, wo Sommer sich schwertat? Ich schnaubte leise. Jedenfalls bestimmt nicht genau in der Tormitte, wo er sowieso schon gestanden hatte.

Derweil hatte sich Rechtsverteidiger Havard Nordtveit den Ball gesichert. Er ging ein paar Schritte und spielte Raffael im Zentrum an, der sich etwas hatte zurückfallen lassen und ziemlich freistand. Er drehte auf und bediente Hazard, der auf dem rechten Flügel auch sehr viel Platz hatte. Verdammt, wie konnten die alle so frei sein? Wo waren unsere Leute? Wo war Matze? Hazard war sein Mann!

Aber Matze hatte anscheinend beschlossen, zu vergessen, wie stark die Gladbacher Angreifer waren, war bei unserem Angriff mit nach vorne gelaufen und jetzt zu weit weg, um eingreifen zu können. Hazard nahm den Ball in aller Ruhe Richtung Strafraum mit, hob den Kopf und schlug eine scharfe Flanke in die Mitte. Emir war anstelle von Matze herausgeeilt, um Hazard zu stoppen, aber er konnte den Ball nur leicht abfälschen und fehlte jetzt in der Mitte. Der Ball sauste durch den Strafraum. Stindl, der von Cleber eng bewacht wurde, verpasste, aber am zweiten Pfosten kam Johnson angerauscht. Gidi klebte an seinen Fersen. Ich lehnte mich nach vorne. Beide gingen im Vollsprint auf den Ball zu, René breitete die Arme aus und machte sich so groß wie möglich, Johnson hielt den linken Fuß hin, Gidi grätschte – „JAAAAA!“

Die vielstimmigen Jubelschreie kamen von links, wo der Gästeblock mit Gladbacher Anhängern vollgestopft war. Gidi war nicht schnell genug gewesen, und Johnson hatte den Ball nur noch einschieben müssen. Nach einer Viertelstunde stand es eins zu null für Gladbach.

„Shit!“ Links von mir haute Dennis mit voller Wucht seinen Fuß auf den Boden, und neben ihm stieß Ivo einen kroatischen Wortschwall aus, der Dennis‘ Äußerung im Inhalt sicher ziemlich genau entsprach. Ich schloss die Augen und sank in die Lehne zurück. Super. Einfach super. Genau das, was nicht passieren durfte.

Aber die Jungs gaben nicht auf. Im Gegenteil, das Gegentor schien sie endlich aufgeweckt zu haben. In den Minuten danach tauschten sie die langen Bälle gegen Kurzpassspiel und übernahmen zum ersten Mal, wie Bruno es gefordert hatte, die Kontrolle. Nicos und Emirs Pässe waren noch zu ungenau, aber dann nahm Gidi Xhaka im Mittelfeld den Ball ab und spielte ihn sofort zu Lewis, der im Strafraum ziemlich viel Platz hatte. „Schieß!“, brüllte das Stadion, aber Lewis schoss nicht, sondern legte den Ball quer in Richtung Aaron, der einen noch besseren Winkel hatte – aber der Pass kam in Aarons Rücken, und die Gladbacher konnten klären.

Ich fiel in den Sitz zurück und schlug mehrmals den Hinterkopf gegen die Lehne. Wie groß sollten die Chancen denn noch werden, verdammt?!

Auf dem Platz ging es weiter. Angepeitscht von den Fans gewann Emir nach Sommers Abschlag das Luftduell gegen Stindl, und der zweite Ball landete bei Lewis. Der spielte unbeeindruckt von seinem Fehlpass eben einen tollen Ball nach rechts auf Nico, der ihn nach links durch die Schnittstelle zwischen Innenverteidiger Andreas Christensen und Nordtveit zu Josip spielte. Wir sprangen von den Sitzen. Die Finger kerzengerade angespannt, sah ich, wie Josip versuchte, den Ball an Sommer vorbei ins Tor zu spitzeln, aber der Gladbacher Keeper fuhr den Fuß aus – Ecke.

Dennis fuhr herum, packte mit beiden Händen die Überdachung der Bank, vergrub den Kopf dazwischen und murmelte irgendetwas vor sich hin. Auf meiner anderen Seite fluchte Lasso umso lauter. Ich sank langsam auf meinen Platz zurück. Tja. Lasso hätte den wahrscheinlich gemacht. Und jetzt gab es Ecke. Mein rechter Fuß juckte. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Keine Chance, Mann. Bringt nichts. Ich sitz ja nur hier draußen und kann eh nichts tun.

Stattdessen schlug Aaron die Ecke. Gleich der erste Gladbacher Verteidiger kam an den Ball und köpfte ihn in hohem Bogen ins Seitenaus. Absolut null Gefahr. Wie IMMER diese Saison.

Damit schien der Angriffsschwung verpufft. In den nächsten Minuten kam keine Mannschaft gefährlich vor das Tor. Die Gladbacher hatten nach ihrem Treffer offensiv gar nichts mehr zustande gebracht. Erst jetzt sorgte Stindl für ein bisschen Entlastung, aber seine Flanke von der linken Seite pflückte René locker aus der Luft. Kurz danach kam Lewis im Mittelfeld ans Leder und versuchte, Josip mit einem Steilpass zu schicken, aber der Ball war zu lang und Josip hatte keine Chance, ihn zu erreichen.

Sommer schlug ab. Xhaka setzte sich im Kopfballduell gegen Gidi durch und verlängerte den Ball auf den linken Flügel. Hazard, der mit Johnson die Seiten gewechselt hatte, preschte dem Ball entgegen, und Cleber eilte aus der Abwehrkette heraus, um vor ihm an der Kugel zu sein. Es gab einen Zusammenprall, einen Aufschrei der Gladbach-Fans und einen Pfiff von Aytekin – Freistoß für Gladbach und Gelb für Cleber. Der Ball segelte in den Strafraum, und René fing ihn ab. Er warf ihn weit nach vorne zu Aaron, der ihn durchs Mittelfeld trieb und links Lewis mitnahm. Der schaute kurz und schlug eine Flanke in Richtung Artjoms, aber Innenverteidiger Martin Hinteregger kam gerade noch vor ihm an den Ball und haute ihn aus dem Strafraum.

Meine Füße zuckten. Ich schaute hoch zum Bildschirm. Eine knappe Viertelstunde noch bis zur Pause. Seit dem Führungstor für Gladbach waren die Jungs etwas besser im Spiel und hatten zwei richtig gute Chancen gehabt, aber es stand eben weiter null zu eins. Je länger wir zurücklagen, desto größer würde der Druck werden. Und wir durften dieses Spiel nicht verlieren.

Wieder verschränkte ich die Arme. „Wär schon gut, wenn wir vor der Halbzeit noch ausgleichen.“

Dennis nickte. „Mindestens.“

Der Ball war derweil in hohem Bogen Richtung rechter Gladbacher Flügel unterwegs. Nur wenige Meter von uns entfernt ging Emir ins Kopfballduell mit Hazard. Er erwischte den Ball, aber leider mit dem Ellbogen auch seinen Gegenspieler. Wieder gab es Freistoß für Gladbach. Der Ball flog in den Strafraum, aber er war etwas zu lang geschlagen, sodass er über die Spielertraube um den Elfmeterpunkt hinwegsegelte und Raffael ihn nur gerade so vor der Torauslinie erlaufen konnte. Josip stellte sich ihm in den Weg, und kurz darauf lag der Ball im Toraus. Der Linienrichter zeigte Abstoß an. Aus dem Gladbacher Block hallten Pfiffe. Raffael lief wild protestierend auf Aytekin zu und schlug sich mit der Hand an den Unterarm. Was wollte er denn da gesehen haben? Handspiel? Ich schnaubte. So ein Schwachsinn.

Aytekin war glücklicherweise meiner Meinung und schüttelte lächelnd den Kopf. René legte sich den Ball zurecht, wartete, bis die Jungs zurück auf ihre Positionen gelaufen waren, und schlug lang ab. Artjoms ging ins Kopfballduell mit Christensen, und obwohl er nicht an den Ball kam, behinderte er seinen Gegner so weit, dass der die Kugel nur unkontrolliert ins Aus köpfen konnte. Matze schnappte sich den Ball und suchte nach einer Anspielstation, aber vorne fand er niemanden. Stattdessen warf er nach hinten zu Emir. Der leitete die Seitenverlagerung auf Cleber ein, aber Gladbach verschob gut, und auch er fand vorne keinen freien Mann. Er spielte zurück auf Emir, der Matze mitnahm, der sofort wieder klatschen ließ.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Wo war der Drive, wo war die Idee, die Bewegung ohne Ball, der Zug zum Tor? Ich kaute auf meiner Zunge herum. Wie gerne würde ich aufspringen und das mal aufs Spielfeld brüllen. Wie gerne wäre ich auf dem Platz.

Lewis wurde das Ballgeschiebe in der Viererkette jetzt auch zu blöd. Er ließ sich tief fallen und wurde angespielt. Mit der Ballannahme drehte er sich um Stindl herum und hatte ein paar Meter Rasen vor sich. Mit großen Schritten ging er durchs Mittelfeld, täuschte einen Pass nach rechts auf Nico an und nahm stattdessen links Matze mit, der wieder mitgelaufen war. Er war in Flankenposition. In der Mitte lauerten Artjoms und der eingelaufene Nico, Josip und Lewis boten sich kurz an. Matze schaute und nutzte keine dieser Optionen, sondern spielte einen Flachpass an die Strafraumgrenze zu Aaron, der vor sich ein wenig Platz hatte. Aber er spürte wohl den heranjagenden Xhaka in seinem Rücken und zog deshalb sofort ab – platziert, aber nicht hart genug. Wieder bekam Sommer eine Hand dazwischen.

Ecke. Schon wieder lief Aaron hin. Vor dem Familienblock legte er sich den Ball zurecht. Toll. Und gleich der nächste verschenkte Standard, wetten? Warum kann denn nicht wenigstens Lewis mal schießen? Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte, meinen Gesichtsausdruck neutral zu halten. Wenn ich mir diese Gedanken anmerken ließ, konnte ich meinen Bankplatz gleich in Stein meißeln.

Im Gladbacher Strafraum herrschte Hochbetrieb. Gidi, Cleber und Emir waren alle mit nach vorne gelaufen, während Lewis sich kurz hinter der Strafraumgrenze aufgebaut hatte und auf den zweiten Ball lauerte. Matze und Go blieben zur Absicherung hinten. Aaron hob beide Arme. Er lief an und zog den Ball mit dem linken Fuß mit Schnitt vom Tor weg in die Mitte. Diesmal kam kein Gladbacher dran. Stattdessen senkte sich die Kugel maßgeschneidert am Elfmeterpunkt auf Clebers Kopf.

Pong! Mit voller Wucht klatschte der Ball an die Latte und sprang zurück ins Getümmel im Sechzehner. Halb sitzend, halb stehend, mit aufgerissenen Augen, starrten wir eingefroren aufs Spielfeld. Ich sah viele Beine in grünen und blauen Stutzen; sah ein grüngekleidetes Bein den Ball berühren, aber nicht wegschlagen, ein langes Bein mit blauen Stutzen, das ihn wieder Richtung Tor bugsierte, ein grünes Bein, das klären wollte, aber die Kugel nur abfälschte, und auf der Torlinie Stindl, der mit dem rechten Fuß nach dem Ball schlug –

„JAAAAAAAAAA!“

Wir schossen bis zum Rand der Coaching-Zone, klatschten, schrien, fielen uns um den Hals, ruderten mit den Armen in Richtung Spielfeld. Auf den Rängen hüpften die Fans, aus den Lautsprechern schallte die Torhymne. Der Ball war drin, eins zu eins, der Ausgleich war geschafft!

Ich stand vor der Bank, ballte die Fäuste und grinste – nur ein bisschen schief. Mein gehässiger Gedanke von eben schoss durch meinen Kopf. Tja. DIE Wette hätte ich verloren. Ich schüttelte leicht den Kopf und klatschte in die Hände. Egal. Die Jungs hatten ausgeglichen. Alles wieder auf null, und fünf Minuten noch in Hälfte eins. Da ging noch was!

Das zeigten die Jungs auch gleich in der nächsten Aktion. Artjoms, Josip und Nico liefen die Gladbacher Verteidiger so energisch an, dass Christensen nur der lange Schlag nach vorne blieb. Emir übersprang Stindl im Kopfballduell, und Lewis sicherte den Ball. Er spielte ihn zu Matze, der im Vollsprint die Seitenlinie entlangpreschte, den Ball bis auf Höhe der Strafraumkante mitnahm und ihn flach in die Mitte gab. Kurz hinter der Sechzehnerlinie stand Aaron in halbrechter Position bereit, aber wieder hatte er Gegnerdruck und musste direkt abschließen, und wieder traf er dabei die Kugel nicht voll. Harmlos rollte sie fünf Meter neben dem Tor ins Aus. Trotzdem stachelte dieser Angriff die Fans, die ohnehin schon in ohrenbetäubender Lautstärke den Ausgleich gefeiert hatten, noch einmal an. „HSV, HSV, HSV!“, schallte es von den Rängen, und auf der Nord sah ich ein Meer aus erhobenen Fäusten, die im Rhythmus der Rufe in die Luft boxten.

So sehr die Wahnsinnsstimmung die Jungs beflügelte, so sehr machte sie die Gladbacher offenbar nervös. Sommers Abschlag flog über Verteidiger und Stürmer hinweg direkt in unseren Strafraum, wo René den Ball abfing, ihn einmal aufprallen ließ und hoch und weit auf den rechten Flügel abschlug. Nico sprang hoch. Der Ball strich ganz knapp über seinen Kopf hinweg und flog weiter in Richtung Artjoms, der sich aus der Mitte nach rechts bewegt hatte und jetzt Linksverteidiger Oscar Wendt als Gegenspieler hatte. Artjoms tat, als wolle er den Ball mit der Brust annehmen, glitt blitzschnell nach links weg und ließ Wendt stehen, der Ball und Gegner passieren ließ.

Ich schoss aus meinem Sitz. Nur vage nahm ich wahr, dass alle anderen auf der Bank das Gleiche taten. Mit angehaltenem Atem verfolgte ich, wie Artjoms den Ball mit einem Kontakt herunternahm, ungehindert in den Strafraum eindrang, den Kopf hob, ausholte und abschloss. Der saubere Flachschuss zischte schnurgerade ins linke untere Toreck.

„JAAAAAAAAAAAAAA!“

Das Stadion kochte. Ich fiel erst Dennis, dann Ivo um den Hals, und dann waren Lasso und Schippo da, die mich in die Mitte nahmen und mit ihren Umarmungen beinahe zerquetschen. Als ich mich zwischen unseren Stürmern hervorgekämpft hatte, sah ich eine weiße Jubeltraube vor dem Gästeblock, die sich um Artjoms geschart hatte und ihn feierte. Hinten vor der Nordtribüne waren Emir und Matze zu René gestürmt und beglückwünschten ihn zu seinem punktgenauen Abschlag, der Vorlage zum Führungstor. Dem Führungstor! Wir führten! In nur zwei Minuten hatten wir das Spiel gedreht!

Ich lachte und ballte beide Fäuste. Aber während ich aufs Spielfeld schaute, spürte ich auch einen Stich im Bauch. Wie gerne würde ich jetzt auch auf dem Rasen feiern.

Die Gladbacher hatten derweil anderes zu tun. In einer Traube umringten sie Aytekin, gestikulierten wild in Richtung Nico und hoben demonstrativ den Arm.

Ich runzelte die Stirn. „Was wollen die denn? Das war doch niemals Abseits, oder?“

Dennis schüttelte den Kopf. „Beim Abschlag auf keinen Fall. Ich glaube, die sagen, dass Nico noch dran war. Dann könnt‘s vielleicht welches gewesen sein.“

„Und? War er?“

„Der Schiri sagt Nein.“ Dennis grinste über beide Ohren. Er packte mich, schlang mir den Arm um den Hals, sodass er mir mit dem Ellbogen fast die Luft abschnürte, und zerzauste mir mit den Fingerknöcheln das Haar. „Na, was hab ich gesagt? Mindestens ausgleichen, hab ich gesagt! Bin ich gut oder bin ich gut?“

„Super.“ Ich konnte nur röcheln. Als er mich losließ, schnappte ich erst mal nach Luft. Aber gleichzeitig lachte ich. Mein Blick schweifte durchs Stadion. Die Fans hüpften und sprangen und sangen, Fahnen und Schals flogen. Plötzlich schmeckte die Luft ein bisschen lebendiger. Wenigstens den Fußball. Wenigstens das hatte ich zurück.

In den letzten Minuten der ersten Hälfte versuchte Hazard noch einmal, über rechts Betrieb zu machen, aber seine Flanke konnte Matze so abfälschen, dass René sie nur noch wegfangen musste. Auch wir kombinierten uns über die rechte Seite noch mal nach vorn, und Gidi zog nach einem Doppelpass mit Go aus rund zwanzig Metern ab, aber Sommer parierte. Kurz danach pfiff Aytekin zur Halbzeit. Mit donnerndem Applaus und vielstimmigen Anfeuerungsrufen wurden die Startelfspieler in die Kabine begleitet. Ich klatschte mit Lewis und Nico ab, als sie an mir vorbeigingen, und grinste Gidi zu, der mir den erhobenen Daumen zeigte. Mit den anderen Ersatzspielern lief ich aufs Feld, um mich in der Pause warmzulaufen und bereitzumachen für eine eventuelle Einwechslung in der zweiten Halbzeit.

Zu siebt ließen wir den Ball kreisen, erst flach, dann hoch. Meine Gedanken waren in der Kabine. Was Bruno den Jungs wohl sagte? Sicher, dass sie so weiterspielen sollten wie seit dem Gladbacher Führungstor. Aber bestimmt bläute er ihnen auch ein, dass sie kein bisschen nachlassen durften. Auch für Gladbach ging es um einiges. Mit einem Sieg könnten sie punktemäßig mit Platz drei gleichziehen.

Ich nahm Dennis‘ Pass mit der Innenseite an, legte mir den Ball mit dem ersten Kontakt in den Lauf vor und spielte ihn mit dem zweiten weiter zu Ivo. Einen Sieg würden die Gladbacher heute nicht kriegen. Niemals. Koste es, was es wolle.

In den letzten Minuten der Pause verteilten wir uns in Zweierpaaren über unsere Hälfte und schlugen Pässe hin und her. Dennis und ich fingen mit kurzen, direkten Bällen an, vergrößerten langsam den Abstand und streuten auch ein paar Flugbälle ein. Ich spürte den sanften Druck des Balls an der Innenseite meines rechten Fußes, wenn ich Dennis‘ Pässe annahm, den dumpfen Aufprall, wenn ich einen hohen Ball mit der Brust herunternahm, das Kribbeln im großen Zeh, wenn ich ihn zu Dennis zurückschlug. Mit jeder Ballberührung, jedem Blick in Dennis‘ Richtung nahm ich ihn und den Ball deutlicher, das Stadion um mich herum verschwommener wahr. Ich atmete tief, meine Schritte waren sicher, meine Pässe präzise und scharf. Das bisherige Spiel war sehr laufintensiv gewesen, gespickt mit Zweikämpfen. Alle hatten alles reingehauen. Keiner konnte mehr ganz frisch sein. Jetzt in der Pause würden sie sich ein bisschen erholen, aber Bruno würde bestimmt bald anfangen zu wechseln. Um die sechzigste Minute oder so. Die frischen Beine von der Bank konnten das Spiel entscheiden. Und dafür würde ich da sein. Ich würde da sein.

Der Ball flog auf mich zu. Ich machte zwei Schritte, hielt die Innenseite hin, gab in dem Sekundenbruchteil, in dem der Ball auf meinem Schuh aufprallte, leicht nach. Als hätte ihm jemand den Stecker gezogen, fiel der Ball auf den Boden und blieb vor meinem Fuß liegen, bereit, sofort weiterverarbeitet zu werden. Ich hob den Kopf, holte aus, spielte. Ball, Gegner, Mitspieler. Das war alles, was jetzt zählte.

Zu Beginn der zweiten Halbzeit kehrten wir nicht auf die Bank zurück, sondern setzten das Aufwärmprogramm hinter Renés Tor fort, der jetzt vor der Südtribüne stand. Unter Daniels Anleitung machten wir Sidesteps, Kreuzschritte, Knie hoch, Anfersen, immer wieder unterbrochen von kurzen Dehnübungen. Aufs Spielfeld schauten wir hauptsächlich, wenn das Publikum laut wurde, und konzentrierten uns ansonsten auf uns. Nicht nur ich, sondern alle wussten, dass Einwechselspieler in so einem engen Spiel den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen konnten.

Als fast eine Stunde gespielt war, wechselte Gladbachs Trainer Andre Schubert zum ersten Mal. Flügelflitzer Ibrahima Traoré kam für Sechser Dahoud – ein Signal ans Team, offensiver zu spielen. Bisher hatten wir in der zweiten Halbzeit keine wirklich gefährliche Aktion der Borussia zugelassen. Aber Traoré war wendig, trickreich und pfeilschnell, er würde sicher frischen Wind ins Spiel bringen.

Mit Tempo ging ich die mit Hütchen abgesteckte Strecke parallel zur Torauslinie entlang, immer im Wechsel zwei schnelle Sidestep-Schritte nach rechts vorne, zwei nach links vorne. Wie lange wollte Bruno denn noch warten?

Die Antwort lautete: nicht mehr. Nur ein paar Minuten nach Traorés Einwechslung drang durch den diffusen Geräuschpegel im Stadion ein Pfiff zu uns durch, der nicht von Aytekin, sondern von unserem Co-Trainer Eddy kam. Ivo hielt mitten in der Übung inne. Alle schauten zur Trainerbank hinüber, wo Eddy in unsere Richtung das Trikot mit der Nummer 6 hochhielt.

Meins.

„Martin!“, brüllte er und winkte mich zu sich.

Ein Blitz fuhr mir durch die Kopfhaut bis in die Fußspitzen. Die Schulterklopfer und Anfeuerungen der Jungs nahm ich kaum wahr, als ich um die Eckfahne vor dem Familienblock herum und entlang der Außenlinie zu Eddy lief und mir dabei schon das Leibchen über den Kopf streifte. An der Bank angekommen, drückte Eddy mir mein Trikot in die Hand.

„Du kommst für Nico“, erklärte er, während ich mir das Trainingsshirt auszog und ein langes Unterziehshirt und das Trikot überwarf. „Du spielst mit Gidi auf der Sechs. Lewis soll auf den Flügel. Wir wollen im Zentrum noch massiver stehen, dass da gar nichts durchkommt. Aber wenn die über außen kommen, dann geh zum Doppeln und hilf Go und Matze. Du bist frisch, die sind müde, und die nächste Viertelstunde wird entscheidend. Mach hinten dicht, stopf Lücken, und spiel konstruktiv und klar nach vorne! Klar? Kein Gebolze! Sichere Pässe von hinten raus. Die werden mehr und mehr drücken, wenn wir einen Konter setzen können, ist das Ding durch.“

Ich nickte, zog die lange Trainingshose über die Schuhe hinweg aus und griff nach meinen Schienbeinschonern. „Soll ich das Lewis sagen, dass er auf rechts soll? Oder weiß er das schon?“

„Das weiß er, Bruno hat ihn schon vorgewarnt. Aber erinner ihn ruhig noch mal, wenn du reinkommst. So. Bei Standards.“ Eddy griff nach seiner Mappe mit den Anordnungen für Ecken und Freistöße und klappte sie auf. „Du übernimmst Nicos Position. Bei Freistößen von links läufst du auf den rechten Fünfer, von rechts auf den linken.“ Er deutete auf die entsprechenden blauen Punkte. „Bei Ecken langer Pfosten. Bleib aus dem Gewühl raus, da sind genug Jungs dabei. Versuch, dich wegzuschleichen, vielleicht rutscht mal einer durch.“

Er klappte die Mappe zu. Ich nickte, während ich mir den zweiten Schoner in die Stutzen schob. Aber ich musste einfach fragen. „Soll ich nicht schießen?“

Eddy musterte mich. „Klär das mit Aaron und Lewis. Von mir aus kannst du auch schießen.“ Er stand auf und hielt mir die Hand hin. Ich schlug ein. Energisch zog er mich an sich und haute mir auf den Rücken. „Hey, mach sie fertig, Junge! Komm, alles reinhauen!“

Ich nickte und atmete durch. Mein Körper prickelte, als flösse Strom durch mich hindurch. Ich ging zu Bruno, der am Rand der Coaching-Zone stand und das Spiel beobachtete. Als er mich kommen hörte, drehte er den Kopf. Einen Moment sah er mich regungslos an. Fast unmerklich neigte er den Kopf. „Spiel fürs Team.“

Ich schluckte. Mit Kopf. Mit Teamgeist und mit Kopf. Einen Herzschlag erwiderte ich seinen Blick. Dann nickte ich. Bruno wandte sich wieder dem Spiel zu, und ich trat zu Eddy, der den Wechsel beim vierten Offiziellen anmeldete. Als der Ball das nächste Mal ins Aus flog, unterbrach Aytekin das Spiel und zeigte an, dass wir wechseln durften. Von der erhobenen Tafel blitzten zwei Nummern durchs Volksparkstadion: die 27 in Rot, und die 6 in Grün.

Lottos Stimme schallte aus den Lautsprechern. „Sechsundsechzigste Spielminute, Spielerwechsel bei unserem HSV. Wir bedanken uns bei unserem Spieler mit der Nummer 27, Nicolai –“

„MÜLLER!“

Mit viel Applaus wurde Nico verabschiedet. Er kam mit erhobenen Händen auf mich zu und klatschte ab. „Auf geht’s, macht den Sieg klar!“

„Und wir begrüßen unseren Spieler mit der Nummer 6, Martin –“

„BRANT!“

Mein Name donnerte durchs Stadion. Mit einem festen Schritt überquerte ich die Seitenauslinie, ordnete mich im Laufschritt auf der Doppelsechs ein und suchte mit einem Auge nach dem Gegenspieler und mit dem anderen nach Lewis, um ihn nach außen zu schicken, aber der war längst dorthin unterwegs. Ich fand Xhaka und stellte ihn zu. Bei jedem Schritt spürte ich den Rasen unter meinen Schuhen leicht nachgeben, ich spürte die Kälte, die durch Trikot und Unterziehshirt drang und sich um meine unbedeckten Knie legte, ich spürte die Luft, die kalt und klar durch meine Kehle rann. Ich atmete tief ein. Endlich. Endlich war ich wieder da, wo ich hingehörte. Endlich war mein Kopf mal ruhig. Hier auf dem Feld gab es keine Zweifel. Hier wusste ich genau, wer ich war. Und was ich konnte.

Aytekin gab das Spiel wieder frei. Mit Einwurf für Gladbach von der linken Seite ging es weiter. Ich klebte in Xhakas Rücken, folgte jeder seiner Bewegungen. Nordtveit warf ein auf Stindl, der ließ prallen auf Johnson, der jetzt wieder auf rechts agierte und ins Eins-gegen-eins gegen Matze ging. Er kam zum Flanken, aber in der Mitte war Cleber vor Raffael am Ball und klärte zur Ecke. René brüllte durch den Sechzehner, um uns in eine gute Zuordnung zu dirigieren, aber die Gladbacher führten den Eckstoß schnell kurz aus. Johnson nahm Stindl mit, der sofort wieder zurückspielen wollte, aber Matze hatte aufgepasst und fing den Ball ab.

Mit großen Schritten ging er nach vorne. Ich lief in der Mitte mit, versuchte, mich von Xhaka zu lösen, gleichzeitig das Spielfeld zu scannen und die Lücke für den nächsten Pass schon zu sehen. Aber Matze spielte nicht kurz, sondern schlug einen langen Ball auf die andere Seite, den Aaron nicht erreichen konnte. Wendt fing ihn ab und gab ihn die Linie entlang nach vorne auf Hazard, der ihn aus dem Halbfeld in den Strafraum schlug. Stindl nahm den Ball gegen Emir mit dem Rücken zum Tor herunter und versuchte es mit einem Schuss aus der Drehung, aber er brachte kaum Druck hinter den Ball. René konnte ihn locker aufnehmen. Er ließ ihn zweimal prallen, wartete, bis sich der Strafraum geleert hatte, und rollte ihn kurz zu Cleber. Der nahm auf rechts Go mit, der wieder klatschen ließ. Emir bekam den Ball, und das gleiche Spiel begann auf der anderen Seite.

Gladbach versuchte, hoch anzulaufen, aber Eddy hatte recht gehabt: Sie wirkten müde. Ich bewegte mich hinter der ersten Gladbacher Pressinglinie in die Lücken, damit ich anspielbar war, aber unsere Viererkette brauchte mich gar nicht. Mehr oder weniger unbehelligt konnten sie den Ball mehrmals hin- und herlaufen lassen, bevor Hazard, Raffael, Stindl und Johnson schließlich doch alle Querpasswege zugestellt hatten. „Ja!“, brüllte ich, und Emir spielte mir den Ball mit dem Kommando „Dreh auf!“ in den Fuß.

Ein Kontakt, und ich war der Gladbacher Hälfte zugewandt. Ich führte den Ball durchs Mittelfeld, den Kopf oben. Lewis war rechts, Aaron zentral, Artjoms und Josip im Strafraum. Kurz hinter der Mittellinie stellte Xhaka sich mir in den Weg. Ich täuschte einen Pass nach links an, Xhaka machte eine Bewegung, und der Passweg zu Aaron in der Mitte war frei. Aaron nahm den Ball mit dem Rücken zum Tor an und schirmte ihn gegen Traoré ab. Mit zwei Schritten war ich an Xhaka vorbei, der nicht hinterherkam, forderte den Ball und bekam ihn zurück. Ich ging auf den Strafraum zu. Nordtveit rutschte aus der Kette heraus, um mir den Schussweg zu versperren. Diesmal machte ich es umgekehrt, täuschte eine Bewegung nach rechts an und chippte den Ball mit dem rechten Innenspann über Nordtveits ausgestrecktes Bein hinweg zu Matze, der links im Strafraum völlig freistand und den Ball volley nahm – drei Meter drüber.

„Uhhhh!“ Ein kollektives Raunen ging durch den Volkspark, gefolgt von Beifall und Anfeuerungsrufen.

„Gut so, weiter so!“ Mehrmals klatschte ich in die Hände. Als Matze an mir vorbei zurück nach hinten lief, hielt ich ihm die Hand hin, und er schlug ein.

„Geiler Ball!“

„Der Nächste sitzt!“

Ich gesellte mich wieder zu Xhaka, um ihn bei Sommers Abstoß zuzustellen. Der Ball flog über meinen Kopf hinweg und landete bei Hazard, der ihn gegen Gidi festmachte und zurück auf Hinteregger klatschen ließ. Der spielte ihn die Linie entlang zu Wendt, der Mitte unserer Hälfte gegen Josip eins gegen eins ging – und vorbeikam. Ich zog einen Vollsprint an, um noch in den Zweikampf zu kommen, und auch Josip setzte sofort nach. Aber Wendt hob nur kurz den Kopf und flankte sofort, sodass ich nicht mal in die Nähe des Balls kam und Josip ihn nur leicht abfälschen konnte. Dadurch änderte der Ball so unglücklich die Richtung, dass René, der schon aus dem Tor geeilt war, ihm nur hinterherschauen konnte. Die Kugel landete rechts im Strafraum bei Hazard, der von Emir hart bedrängt wurde, aber trotzdem aus der Drehung aufs Tor schießen konnte – vorbei.

Ein kollektives Aufatmen ging durchs Rund. Ich legte den Kopf in den Nacken. Was für eine Riesenchance, und quasi aus dem Nichts. Aber das konnte immer passieren: ein verlorener Zweikampf, ein abgefälschter Ball, ein Zufallsprodukt, und schon stand es zwei zu zwei. Es war unmöglich, hinten alles zu verhindern, zumal gegen diese Gladbacher Offensive. Es gab nur eine Sache, die unseren Sieg sicherstellen würde: Wir brauchten ein drittes Tor.

René schlug lang ab. Lewis, der mit Josip die Seiten getauscht hatte, machte den Ball links gegen Nordtveit fest. Er ließ ihn prallen auf Matze. Ich zog in der Mitte einen kurzen Sprint an, um Xhaka abzuschütteln, brüllte nach der Kugel und bekam sie. Erst wollte ich Lewis auf außen mitnehmen, aber als Nordtveit sofort auf meine Bewegung reagierte und einen Schritt die Linie entlang in Richtung Lewis machte, nahm ich den Ball mit dem rechten Außenrist nach innen mit, hob den Kopf und schlug eine Flanke in den Strafraum, wo sich Artjoms hochschraubte, die Stirn hinter den Ball bekam und ihn in Richtung Tor brachte – hauchzart links vorbei.

Ich brüllte den Nachmittagshimmel an. So knapp!

Sommers Abschlag kam wieder lang. Stindl verlängerte in den Strafraum, und Matze klärte zur Ecke, obwohl er eigentlich Platz für eine andere Lösung gehabt hätte. Egal. Wir bauten uns im Strafraum auf, und ich klebte an Xhaka, um ihn ja nicht zum Abschluss kommen zu lassen. Aber der Ball kam hoch, ohne viel Schnitt und direkt in den Fünfer – René konnte ihn wegfausten. Die Kugel ging auf der anderen Seite ins Aus. Es gab Einwurf für Gladbach, aber Matze setzte den angespielten Stindl sofort unter Druck, ließ ihn nicht von der Linie weg und konnte ihn sogar anschießen, sodass es Einwurf für uns gab. Dafür bekam er Szenenapplaus.

Matze führte den Einwurf selbst aus und warf die Linie hoch zu Lewis, der gegen Nordtveit sofort den nächsten herausholte. Matze ging fünfzehn Meter nach vorne, ließ den Ball in den Händen umherwirbeln und wollte ihn wieder lang und weit nach vorne schmeißen, als Aytekin das Spiel für den nächsten Wechsel unterbrach: Dennis kam für Artjoms ins Spiel. Standing Ovations und Chöre von „Rudnevs, Rudnevs, Rudnevs!“ schallten von den Rängen. Zu Recht – er hatte ein tolles Spiel gemacht.

Nachdem Aytekin das Spiel wieder freigegeben hatte, täuschte Matze den Wurf nach vorne nur an und führte den Einwurf nach hinten zu Emir aus. Der spielte wiederum nach hinten zu René, der auf Cleber verlagerte. Cleber schaute und spielte den Ball zwischen Raffael und Stindl hindurch zu mir. Irgendwer brüllte „Hintermann!“. Auch ohne die Warnung hätte ich Traoré im Rücken gespürt, deshalb ließ ich die Kugel mit dem ersten Kontakt wieder zu Emir klatschen, der wiederum René mitnahm. Der wurde jetzt von Raffael so hoch angelaufen, dass ihm nur der lange Schlag nach vorne blieb.

Josip konnte den Ball an der rechten Außenlinie gegen Wendt festmachen, und wie ein Verrückter kam Dennis von hinten herangeprescht und hinterlief ihn. Josip überließ ihm die Kugel, und Dennis jagte die Linie hinunter. Wendt versuchte, ihn einzuholen, aber Dennis war einer der schnellsten Spieler in unserer Mannschaft und er war gerade erst frisch eingewechselt worden. Wendt hatte keine Chance. Hinteregger löste sich aus der Abwehr und stellte sich Dennis, fast schon an der Grundlinie, entgegen. Dennis schaute und versuchte, den Ball an ihm vorbei in die Mitte zu schlagen, aber der Gladbacher bekam ein Bein dazwischen und klärte zur Ecke.

Ecke! Ein Kribbeln fuhr durch meinen Körper. Ich lief zur Eckfahne, wo Aaron sich den Ball geschnappt hatte und ihn gerade zurechtlegen wollte. „Soll ich schießen?“

Aaron zögerte und schüttelte den Kopf. „Ich schieß. Geh du in die Mitte.“

Ich wollte widersprechen. Aber Aaron war neun Jahre älter als ich und hatte fast zweihundertfünfzig Bundesligaspiele auf dem Buckel. Außerdem war seine zweite Ecke vorhin ja klasse gewesen und hatte zum Eins-zu-eins geführt. Da dachte er vermutlich, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um den Schützen zu wechseln. Also nickte ich, wandte mich um und lief in den Sechzehner.

Im Fünfmeterraum lieferten sich Christensen, Hinteregger, Gidi, Emir und ein paar andere ein Gerangel, aus dem sicher keiner ohne blaue Flecken hervorgehen würde. Wie Eddy mich angewiesen hatte, hielt ich mich da raus. Stattdessen baute ich mich am zweiten Pfosten auf. Mir schoss ein Bild vom letzten Mal in den Kopf, an dem ich mich vor einer Ecke zum zweiten Pfosten orientiert hatte. Regen, Flutlicht. Dreckverschmierte Spieler in Weiß und Schwarz. Kaltes Aluminium unter meiner Hand. Ein Kopfball. Ein völlig missratener Klärungsversuch.

Ich biss die Zähne zusammen. Das war vorbei. Vorbei und damit jetzt egal. Das hier war nicht mehr Stuttgart. Das hier war Gladbach. Und ich war diesmal richtig da.

Sonst war aber niemand da. Kein Verteidiger interessierte sich für mich. Sommer fuchtelte zwar wild mit den Armen, aber keiner achtete auf ihn. Wendt machte zwei halbherzige Schritte in meine Richtung, aber bevor er sich entscheiden konnte, ob er mich nun eng zustellen oder doch lieber weiter in den Ringkämpfen im Fünfer mitmachen wollte, führte Aaron den Eckstoß aus. Mit Schnitt zum Tor gezogen sauste der Ball auf den ersten Pfosten. Aus dem Gipfelmassiv erhob sich ein schwarzer Schopf im weißen Trikot, und Emir verlängerte die Kugel. Sie flog durch den Fünfer, über alle Köpfe hinweg. Wendt reckte sich, aber er war zu klein. Der Ball flog haargenau auf mich zu. Und um mich herum stand immer noch niemand.

Ich starrte dem Ball entgegen. Wendt war nicht drangekommen, aber ich stand eineinhalb Meter weiter hinten und musste nicht mal springen. Ball treffen, war das Einzige, was ich dachte. Ball treffen. Ball treffen.

Die fliegende Kugel füllte mein ganzes Gesichtsfeld aus. Meine Augen zuckten zu. Ein harter Schlag auf der Stirnplatte. Ich riss die Augen auf. Wendt ließ den Kopf hängen. Sommer fluchte. Der Ball lag im Tor.

Die Geräuschexplosion von vorne riss mich beinahe von den Füßen. Ich starrte auf den Ball, den Ball im Netz, den Ball hinter der Torlinie. Zwei Schritte taumelte ich zurück. Dann rammte von rechts der erste Mitspieler in mich hinein. Bevor ich den Kopf heben, die Umarmung erwidern, bevor ich irgendetwas tun konnte, wurde ich verschluckt von der Traube meiner Teamkollegen. Sie schrien, sie feierten, sie brüllten mir ins Ohr, sie hauten mir so fest auf den Schädel, dass er zu dröhnen begann. Irgendwer hielt die ganze Zeit meinen Kopf mit beiden Händen umklammert und presste ihn an seine Brust, zog ihn mit der Bewegung des Jubelhaufens nach links und rechts, sodass ich mir fast den Nacken verrenkte.

Irgendwann gaben sie mich frei. Ich löste den Kopf aus den Händen, blinzelte wie wild, versuchte, meine Atmung in den Griff zu kriegen. Auf der Nordtribüne feierten die Fans immer noch. Die, die ganz vorne standen, lehnten sich über den Zaun, schrien zu uns nach unten, schüttelten ihre geballten Fäuste, ein Strahlen auf jedem hochroten Gesicht. Auch auf den anderen Tribünen stand alles. Fahnen und Schals flogen, Freunde und Wildfremde umarmten sich, Eltern hoben ihre Kinder auf die Schultern und lachten und wippten vorsichtig in den Knien. Als die Torhymne verklungen war, ergriff Lotto das Wort. Seine Stimme klang komplett heiser. „In der achtzigsten Spielminute, Tor für den HSV!“

Ohrenbetäubende Jubelschreie.

„Unser Torschütze, unser Spieler mit der Nummer 6, Martin –“

„BRANT!“

„Martin –“

„BRANT!“

„Martin –“

„BRANT!“

„Und damit haben wir einen neuen Spielstand. Nur der HSV –“

„DREI!“

„Borussia Mönchengladbach?“

„NULL!“

„Hummel Hummel!“

„MORS MORS!“

Noch ein paar Schreie. Jubel, der langsam ausklang. Auf der Nordtribüne legten die Fans sich die Arme auf die Schultern und fingen geschlossen an, zu hüpfen. Das Vibrieren spürte ich bis in den Rasen.

Die Gladbacher standen in ihrer Hälfte längst wieder bereit. Im langsamen Laufschritt schlängelten wir uns durch sie hindurch, nahmen allmählich unsere Positionen wieder ein. Wir hatten keine Eile. Es waren nur noch zehn Minuten zu spielen, und wir führten mit zwei Toren.

Auf dem Weg zurück auf meine Position hielt ich den Kopf gesenkt. Ich wollte nicht, dass irgendwer, Mitspieler, Gegner oder Kamera, mein Gesicht sehen konnte.

Ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet so. Nach einem Standard, ja. Aber nicht nach einem direkten Freistoß. Sondern nach einer von jemand anderem getretenen und verlängerten Ecke, die ich mit dem Kopf – mit dem Kopf – versenkt hatte. Mein erstes Bundesligator. Diesmal ein echtes.

Etwas schoss meine Kehle hoch, und ich presste die Lippen aufeinander. Ruckartig schüttelte ich den Kopf, versuchte, die Reste der Lähmung zu vertreiben. Als ich meinen Platz auf dem Rasen erreicht hatte und mich umwandte, glitt mein Blick einen Herzschlag die Haupttribüne entlang. Über den VIP-Bereich. Die Plätze, wo heute niemand für mich saß.

Meine Daumennägel bohrten sich in meine Zeigefinger. Ich starrte auf den Ball, der am Anstoßpunkt lag. Das Spiel war noch nicht durch. Wir führten zwar komfortabel, aber es waren noch zehn Minuten, mit Nachspielzeit wahrscheinlich eher Richtung fünfzehn. Wir durften nicht abschalten. Wir mussten konzentriert bleiben.

Die restliche Spielzeit verteidigten wir leidenschaftlich. In jeden Ball warf sich irgendeiner von uns rein. Trotzdem rutschte in der achtundachtzigsten Minute ein Pass von Wendt durch. Raffael schloss mit dem ersten Kontakt flach ins rechte Eck ab. Sofort nach dem Anschluss nahm Gladbach Verteidiger Hinteregger raus und brachte dafür Stürmer Branimir Hrgota, der eine Minute später eine Flanke von Traoré maßgenau auf den Schädel serviert bekam. Er war unbedrängt – wir hatten noch keine neue Zuordnung gefunden. Ich stand bei Xhaka und konnte nur zusehen, wie Hrgota neun Meter vor dem Tor hochstieg und köpfte – links vorbei. Der Jubel, der durchs Stadion ging, war fast so laut wie nach unseren Toren.

Die letzten Standards überstanden wir mit Einsatz, Kampf und dem nötigen Glück. Und dann pfiff Aytekin endlich ab. Wir fielen auf den Rasen, breiteten die Arme aus und schnauften und schnauften. Alles hatten wir gegeben. Um so viel war es gegangen. Aber schlussendlich hatten wir gesiegt.

Danach war ein verwaschener Streif von Jubel und Feiern. Gidi, der mich umarmte und fest an sich drückte. Eddy, der mir fast die Rippen brach. Bruno, der mich begutachtete und ebenfalls kurz an sich zog, das Lächeln nur als Hauch in seinen Augen. Die Nordtribüne, das Hüpfen, das Armehochwerfen, das Singen. Finn, der vor der Kabine gewartet hatte, auf mich zugestürmt kam und mich umklammerte, als wollte er mich nie wieder loslassen.

„War das nun eins von den versprochenen Standardtoren oder nicht?“, frotzelte Lasso, als wir unter der Dusche standen.

„Angst um Malle, was?“, gab Schippo zurück, und die ganze Kabine brüllte vor Lachen.

Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung. Auf den Gedanken, dass ich nach einer Ecke ein Tor per Kopf erzielen könnte, war ich in meinen wildesten Träumen nicht gekommen.

Zu Hause machten Finn und ich eine Flasche Champagner auf und stießen auf unseren Sieg und mein erstes Bundesligator an. Wir redeten und lachten, schauten uns die Zusammenfassung auf Sky an und schalteten dann um auf eine Folge „Game of Thrones“. Finn kam aus dem Grinsen den ganzen Abend nicht heraus, und auch mir huschte ab und zu ein Lächeln über die Lippen. Aber als ich um kurz vor zehn in meinem Zimmer verschwand, hätte ich schon nicht mehr sagen können, was in der Folge überhaupt passiert war.

Die ganze Zeit hatte ich mein Handy in der Hosentasche gehabt. Leise gestellt, ja, aber auf Vibrationsalarm. Ich hatte nicht darauf achten wollen. Aber es hatte gebrannt wie Feuer. Und jedes Mal, wenn ich meine Aufmerksamkeit davon weg und auf den Fernseher gerissen hatte, war mein Kopf schleichend und unaufhaltsam dorthin zurückgekehrt.

Wer in der Bundesliga Tore schoss, war kein Geheimnis. Man konnte es nachschauen, auf allen möglichen Apps. Und in allen möglichen Sprachen. Es war nicht schwer. Es war sogar ganz einfach. Aber es war egal. Michis Glückwünsche waren schon da gewesen, als ich nach dem Spiel im Auto auf mein Handy geschaut hatte, und danach hatte es sich nicht mehr gerührt. Nicht beim Essen, nicht beim Fernsehen. Kein Vibrieren. Nichts.

 

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Referenzen:

 

„Game of Thrones“ – TV-Serie von David Benioff und D. B. Weiss. Basierend auf der Romanreihe “A Song of Ice and Fire” von George R. R. Martin. HBO 2011 – 2019.

 

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Aus gegebenem Anlass ein kurzes Wort zu den aktuellen Geschehnissen rund um den HSV: Tja … was hab ich gesagt? Jetzt hat sogar das Unentschieden schon gereicht. Oh Mann. Ich wünschte, ich hätte nicht Recht behalten – oder besser gesagt, der fragliche Fall wäre gar nicht erst eingetreten und wir hätten einfach (ich weiß, es ist nicht einfach …) gewonnen. Andererseits, sollte jetzt wirklich Labbadia noch mal antreten … Ich habe ihn von Anfang an gemocht. Und in Bezug auf diese Geschichte, für die mir der Fußball- und Autorgott ohnehin schon die perfekte Saison beschert hat, mit Siegen, Niederlagen, Heimspielen, Auswärtsspielen, Spielverläufen und (Eigen-)Torschützen immer GENAU SO, wie ich es brauchte, wäre es natürlich … na ja. Irre, einfach nur :D

Chapter 49: It's Him

Chapter Text

  1. Kapitel: It’s Him

Aber wenigstens im Fußball zeigte das Tor Wirkung. Im nächsten Spiel gegen Frankfurt durfte ich von Beginn an spielen. Gidi flog aus der Startelf, obwohl er gegen Gladbach wirklich nicht schlecht gespielt hatte. Nach der Teambesprechung wusste ich wieder nicht, wie ich ihn anschauen sollte. Ich kaute auf meiner Zunge herum, starrte auf meine Füße und wünschte, ich würde wenigstens ein wenig Schuldgefühle um seinetwillen haben. Während ich mit mir kämpfte, spürte ich ein leichtes Anstupsen an der Schulter. „Hey, was ist denn los? Freust du dich gar nicht, dass du anfangen darfst?“

Gidis Augenbrauen waren leicht gehoben, und er grinste. Aber ich sah genau, dass er sich ärgerte. „Na ja …“ Ich biss mir auf die Lippe. „Klar, schon, aber … Ich dachte … Weil du …“

Gidi lachte. „Weil ich rausgeflogen bin, meinst du? Das ist doch nicht deine Schuld! So ist das halt, wenn man auf der gleichen Position spielt. Ich meine, das wissen wir doch nicht erst seit gestern.“ Er zuckte die Schultern. „Letzte Woche hab ich gespielt. Morgen eben du. Und vielleicht spielen wir nächste Woche ja zusammen. Ruh dich jedenfalls nicht aus, klar, du kriegst von mir einen Konkurrenzkampf, der sich gewaschen hat!“

Er lachte wieder, klopfte mir auf die Schulter und verließ den Besprechungsraum. Ich schaute ihm hinterher. Die Startelfnominierung für morgen war eine Anerkennung meiner Wiedereingliederung ins Team und meiner Leistung im Training und in der halben Stunde gegen Gladbach. Und ich hatte mir das verdient. Ich hatte ja in den letzten zwei Wochen praktisch nichts anderes gemacht, als dafür zu kämpfen. Aber wenn Bruno die Spieler hätte aufstellen wollen, die die mannschaftsdienlichste Einstellung an den Tag legten, hätte er Gidi nominieren müssen.

Das Spiel war dann zum Abgewöhnen. Frankfurt war Fünfzehnter, und so spielten sie auch. Unser Fehler war, dass wir uns an das Kick-and-Rush-Niveau anpassten. Ich bemühte mich, für Struktur und Spielkontrolle zu sorgen, aber auch mir unterliefen immer wieder Fehlpässe. Nur drei Ecken holten wir im gesamten Spiel heraus. Wieder schickte Aaron mich von allen Bällen weg. Nur mit der ersten fand er einen Hamburger Kopf – Emir setzte den Ball drüber. Wenigstens ließen wir hinten fast nichts zu, nur eine echte Chance erspielte sich Frankfurt in den gesamten neunzig Minuten. Als Wolfgang Stark abpfiff, blieb ich stehen, stemmte die Hände in die Seiten und legte den Kopf in den Nacken. Ein null zu null der allerschlechtesten Sorte.

Ich war mir sicher, dass ich nach diesem Spiel mein Startelfmandat auch sofort wieder verlieren würde, aber so kam es nicht. Bruno gab der gesamten ersten Elf von Frankfurt im Heimspiel gegen Ingolstadt eine zweite Chance. Und diesmal machten wir es besser. Schon nach sieben Minuten gingen wir nach einer schnellen, direkten Kombination, an der ich auch beteiligt war, durch Josips erstes Tor für uns mit eins zu null in Führung. Danach ließen wir uns aber schon während der ersten Hälfte immer mehr hinten reindrängen, und nach einer Stunde kassierten wir nach einer Ecke den Ausgleich.

Bruno stand draußen und tobte. Die Ingolstädter waren das standardstärkste Team der Liga. Von ihrem Eckenschützen Pascal Groß hätte ich mir gut ein paar Scheiben abschneiden können. Eine komplette Videoschulung hatten wir vor der Partie auf die Varianten der Ingolstädter bei Ecken und Freistößen verwendet, damit wir so eben kein Gegentor kassierten. Und jetzt war es doch passiert.

Nach Wiederanpfiff versuchten wir, die Spielkontrolle zu übernehmen, aber nach fast einer Stunde Abwarten und Kontern war es schwer, den Schalter umzulegen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis wir uns die erste Chance auf die erneute Führung erspielten. Lewis lupfte den Ball genial über die Ingolstädter Viererkette zu Artjoms, der nicht im Abseits stand. Aber auf dem seifigen Rasen rutschte er bei der Ballannahme weg. Die Kugel prallte ein Stück zurück an die Sechzehnerkante. Genau vor meinen Fuß. Ich nahm sie an und zog ab. Einen Meter rauschte der Schuss über das obere linke Toreck.

Ich krallte die Hände so fest ins Haar, dass es sich anfühlte, als würde ich sie alle ausreißen. Warum nur konnte ich mit dem Kopf das Tor treffen, aber nicht aus dieser klasse Position mit meinem starken rechten Fuß?

Es blieb die einzige Chance auf den Siegtreffer. Nach dem Schlusspfiff sanken viele Jungs enttäuscht zu Boden. Von den Rängen gab es Pfiffe. Ich hinderte mich mit Mühe daran, meinen Fuß in eine der Werbebanden zu hauen, als ich das Stadioninnere verließ. Im nächsten Spiel, schwor ich mir, im nächsten Spiel auf Schalke gewinnen wir wieder.

Schon am Mittwoch würden wir in Gelsenkirchen antreten. Immerhin – so hatten wir schnell die Chance, das Ingolstadt-Spiel wiedergutzumachen. Für Regeneration blieb keine Zeit. Bruno war so unzufrieden mit den letzten beiden Partien, dass er am Montag eine Doppelschicht ansetzte. Gut so. Mit vollem Einsatz schmiss ich mich in jede Übung, Passspiel, Flanken, Abschlüsse. Auf keinen Fall wollte ich aus der Startelf fliegen. Ich wollte auf Schalke dabei sein.

Am Ende der zweiten Einheit machten wir ein elf-gegen-elf Abschlussspiel. Ich bekam ein Startelfleibchen. Richtig so. Ich haue mich ja auch voll rein, hier, im Kraftraum, bei den zusätzlichen Standards. Kein anderer macht so viel wie ich. Aber dieses Mal fehlten auch einfach die Alternativen. Albin, unser Sommerneuzugang für die Sechs, der seit Oktober verletzt fehlte, war zwar fast wieder so weit, aber Bruno wollte wohl auf Nummer sicher gehen und ihn nach Gelsenkirchen noch nicht mitnehmen. Er spielte im B-Team. Zusätzlich würde am Mittwoch auch Aaron ausfallen. Seine Rückenprobleme hatten nach dem Ingolstadt-Spiel in den Oberschenkel ausgestrahlt. Stattdessen würde wohl, wenn ich mir meine Mitspieler im A-Team ansah, Lewis gegen Schalke auf die Zehn vorrücken und Gidi mit mir die Doppelsechs bilden. Er fing meinen Blick auf und grinste. Ich hob einen Mundwinkel. Ja. So war es natürlich am einfachsten.

Finn spielte wie immer in der B-Elf. Kurz vor Trainingsende ging er auf der rechten Seite ins Laufduell mit Matze. Ich klebte in der Mitte an Schippo, um ihn daran zu hindern, an den Ball zu kommen, falls Finn die Flanke hereinschlagen konnte. Der Blick nach außen war mir durch Josip versperrt. Ich sah nicht, was passierte. Ich hörte nur den Schrei.

Matze schwor hinterher, dass er Finn nicht berührt hatte, und natürlich glaubte ich ihm. Verletzungen, gerade Bänder- und Muskelverletzungen, entstanden leider oft auch ohne gegnerische Einwirkung. Nach diesem Training hängte ich zum ersten Mal seit meiner Entschuldigung an die Mannschaft keine Extraschicht dran, und auch bei den am Zaun wartenden Fans machte ich nicht Halt. Ich packte nur so schnell wie möglich unsere Sachen zusammen und fuhr Finn hinterher ins Krankenhaus. Noch am selben Tag bekam er die Diagnose: Muskelbündelriss, sechs Wochen Pause. Ausgerechnet jetzt. Seit dem Bayern-Spiel war er zwar nicht mehr im Kader gestanden, aber er hatte immer mit uns trainiert und sich angeboten. Es hätte jederzeit wieder passieren können.

Finn war schon so oft verletzt gewesen, und er hatte sich immer seinen Optimismus bewahrt. Ganz sicher würde er ihn auch diesmal wiederfinden. Aber als er an diesem Abend mit in den Händen vergrabenem Gesicht auf dem Sofa saß, waren bei uns zum ersten Mal seit dem Verhallen von Ramins Schritten im Treppenhaus vor eineinhalb Monaten die Rollen des Häuflein Elends und des Trostspenders wieder vertauscht.

 

*

 

Zwei Tage später stand ich um kurz vor acht auf dem Rasen der Veltins-Arena, atmete die kühle Luft und wartete auf den Anpfiff. Wir spielten genau so wie im Abschlussspiel am Montag – Gidi und ich auf der Sechs, Lewis davor auf der Zehn. Ich ließ den Blick über die fast ausverkauften Ränge schweifen, bevor ich den Anstoßpunkt fixierte. Wir würden dieses Spiel gewinnen. Für uns, und für mich, und für Finn.

So schienen alle meine Kollegen zu denken. Schon nach vier Minuten segelte ein Freistoß aus unserer eigenen Hälfte in den Schalker Strafraum. Innenverteidiger Roman Neustädter verschätzte sich und tauchte darunter durch. Nico schaltete blitzschnell, nahm den Ball an und versenkte ihn mit dem zweiten Kontakt zur Eins-zu-null-Führung im Schalker Tor. Direkt vor der Schalker Fantribüne versammelten wir uns zum Feiern. Die Pfiffe und Beleidigungen waren das schönste Geräusch der Welt. Wir ließen uns Zeit und liefen nur allmählich in unsere Hälfte zurück. Wieder nahm ich den Anstoßpunkt ins Visier. Die Basis war gelegt. So konnte es weitergehen.

Aber so ging es leider nicht weiter. Mit dem ersten Angriff nach Wiederanpfiff holten die Schalker einen Freistoß heraus, und den abgewehrten Ball bekam Flügelspieler Younes Belhanda vor dem Strafraum vor die Füße. Volley knallte er ihn aufs Tor. René konnte ihn durch das Getümmel unmöglich gesehen haben, bis er fast an ihm vorbei war, aber irgendwie brachte er noch die Fingerspitzen dran und lenkte ihn ins Toraus. Die nächste Riesenchance für Schalke gab es in der dreizehnten Minute, als Linksverteidiger Dennis Aogo, wieder nach einem Freistoß, an der Fünfmeterlinie frei zum Kopfball kam, ihn aber über das Tor setzte.

In den nächsten Minuten überließen wir Schalke den Ball und versuchten, die Räume möglichst eng zu machen. Ich rannte, grätschte und dirigierte brüllend meine Mitspieler. Wenn wir in Ballbesitz waren, spielten wir hintenrum, bemühten uns, Ruhe ins Spiel zu bringen. Nach knapp zwanzig Minuten gab es in der eigenen Hälfte Freistoß für uns, nachdem Belhanda Nico zu ungestüm in den Rücken gerannt war. Nico reagierte geistesgegenwärtig und spielte sofort steil die Linie entlang auf Lewis, der die Außenbahn entlangsprintete und aus spitzem Winkel abschloss. Torwart Ralf Fährmann parierte zur Ecke. Heute war Aaron nicht dabei. Heute durfte ich schießen.

Ich legte den Ball auf den Viertelkreis, hob den Arm und zog die Kugel mit dem rechten Fuß weg vom Tor. Aber er kam zu früh herunter. Neustädter köpfte ihn aus dem Strafraum, und ein paar Sekunden sah es aus, als ob die Schalker einen brandgefährlichen Konter fahren würden, aber Belhanda spielte glücklicherweise zu hastig und unpräzise ab. Ich verlangsamte meinen Vollsprint zu einem gemächlichen Dauerlauf, atmete durch und schrie wieder nach dem Ball.

So ging es die ganze erste Hälfte lang. Schalke machte das Spiel, wir igelten uns ein und verteidigten, was das Zeug hielt. Aber wir kamen immer wieder einen Schritt zu spät. Nur zwei Minuten nach dem unsauber ausgespielten Konter steckte Belhanda auf den anderen Flügelspieler Alessandro Schöpf durch, der im Strafraum gegen Matze zu Fall kam. Schiedsrichter Günter Perl winkte ab, obwohl sich alle Schalker bitterlich beschwerten. Wieder nur ein paar Minuten später fand Belhanda erneut einen Passkorridor durch den schwarzen Stutzenwald hindurch, und Stürmer Klaas-Jan Huntelaar kam zum Abschluss – René hielt. Auch den Volley von Zehner Max Meyer aus spitzem Winkel konnte er wenig später abwehren.

Aber kurz vor der Pause war auch er machtlos. Lasso verlor direkt vor unserem Strafraum gegen Neustädter den Ball, der ihn querlegte zu Meyer. Ich jagte heran, aber ich hatte einen eigenen Angriff antizipiert und war dabei gewesen, mich freizulaufen. Jetzt konnte ich nur zusehen, wie Meyer sich den Ball vorlegte und mit rechts abschloss. Unhaltbar schlug er im langen Eck ein.

Der Jubel war ohrenbetäubend. Ich drehte mich von der königsblauen Feiertraube weg und spuckte auf den Rasen. Was hatte Lasso überhaupt so nah an unserem Tor zu suchen gehabt? In Zukunft sollte er besser auf der anderen Seite der Mittellinie bleiben. Besser für ihn und für uns.

Den Wiederanstoß tippte Lasso zu Lewis. Der spielte zurück zu mir. Von vorne jagte mir Meyer entgegen. Der dachte wohl, wir leisteten uns alle so stümperhafte Ballverluste. Pah. Ich holte aus und schlug einen langen Pass auf die linke Seite in Richtung Josip, aber er segelte über seinen Kopf hinweg ins Aus. Rechtsverteidiger Junior Caicara warf sofort ein, und Innenverteidiger Joel Matip suchte mit einem langen Schlag Schöpf. Sein Ball kam an. Schöpf nahm ihn mit dem ersten Kontakt herunter und legte ihn sich Richtung Strafraum vor. Johan stürmte ihm wie eine Dampfwalze entgegen. Ein Knall, ein Schrei, ein Pfiff. Freistoß für Schalke zentral vor dem Tor und Gelb für Johan.

Sechser Johannes Geis führte aus. Ich stand neben Gidi außen in der Mauer. Als Geis schoss, sprangen wir hoch. Ich spürte den Luftzug des Balls neben meinem Kopf, aber ich berührte ihn nicht. Schnurgerade sauste die Kugel durch den Strafraum und direkt in Renés wartende Arme.

Zwei Minuten später sah auch Neustädter Gelb, nachdem er gegen Lasso mit dem Ellbogen zu Werke gegangen war. Es gab Freistoß von links außen, fast auf Höhe der Strafraumgrenze. Ich zog ihn hoch und weit in die Mitte, aber Fährmann fing den Ball ab. Er ließ ihn einmal aufprallen und schlug ihn zielgenau zur Mittellinie, wo Belhanda wartete. Er war sehr allein, kein Verteidiger weit und breit. Johan, Emir und Gidi waren für den Freistoß alle nach vorne gelaufen, und ich hatte ihn ja ausgeführt. In unserer Hälfte standen nur noch Go und Matze. Und Schöpf und Meyer waren schon im Vollsprint nach vorne unterwegs.

Ich jagte Belhanda hinterher. Er hatte den Ball heruntergenommen und ging mit großen Schritten in unsere Hälfte. Ich biss die Zähne zusammen, holte das letzte bisschen aus meinen Beinen heraus. Aber Johan war näher dran gewesen. Er hatte sich sofort, als Fährmann den Freistoß abgefangen hatte, auf den Weg zurück gemacht und näherte sich Belhanda mit riesigen Schritten. Vier Meter war ich noch weg, als er ihn erreichte. Ich hatte beste Sicht auf das, was passierte. Noch bevor Johan Belhanda überholt hatte, holte er aus. Um Belhandas Füße herum stocherte er nach dem Ball und versuchte, ihn wegzuspitzeln. Seine Hände bearbeiteten derweil Belhandas Trikot.

„AHH!“ Belhanda warf die Arme in die Luft und fiel. Johan drosch den Ball weg und hob beide Arme angewinkelt auf Schulterhöhe. Aber der Pfiff kam, lange bevor der Ball auf der Tribüne aufprallte. Perl kam mit großen Schritten auf Johan zugelaufen. Noch in der Bewegung nestelte er die Gelbe Karte aus seiner Brusttasche. Johan riss die Augen auf, griff sich mit beiden Händen an den Kopf, schüttelte ihn wild hin und her.

Ich blieb stehen und stemmte die Hände in die Seiten. Schwer atmend forderte mein Körper den Tribut für den Sprint eben, den sinnlosen Sprint, den ich hingelegt hatte, um Belhanda aufzuhalten, um Johan diesen Zweikampf zu ersparen, den Zweikampf, der genau dazu geführt hatte, was nicht hätte passieren dürfen und was jetzt doch geschah. Tatenlos sah ich zu, wie Perl drei Schritte von mir entfernt in seine Gesäßtasche griff und der Gelben Karte die Rote folgen ließ. Ampelkarte, innerhalb von fünf Minuten, quasi mit dem Pausenpfiff. Die zweite Halbzeit würden wir ohne Abwehrchef und Kapitän bestreiten müssen.

Bruno brachte mit Cleber für Josip einen Innenverteidiger für einen Stürmer und wies uns in der Kabine an, mit allem, was wir hatten, das Unentschieden zu verteidigen und vielleicht irgendwann mit einem Konter noch mal zuzuschlagen. Mit Kampf, Einsatz und einer Riesenmenge Glück ging das auch irgendwie gut, und nach einer guten Stunde kamen wir tatsächlich nach einem Schalker Ballverlust mal schnell nach vorne. Gidi bediente Matze, der kurz vor dem Strafraum stand und einfach abzog. Der Ball prallte dem direkt hinter der Sechzehnergrenze stehenden Caicara an die Hand, und Fährmann nahm ihn auf.

„Hand!“ Mit ausgebreiteten Armen starrte ich den Schiedsrichter an. Auch Matze beschwerte sich.

Perl winkte ab. „Weiter, weiter, keine Absicht!“

Ich drehte mich schnaubend weg. Keine Absicht, dass ich nicht lache. Der hat Matzes Schuss voll geblockt, der wäre sonst richtig gefährlich geworden!

Mit dem nächsten Angriff erarbeitete sich Schalke eine Ecke. Geis zog sie in den Strafraum, und Artjoms, der kurz vorher für Lasso ins Spiel gekommen war, köpfte den Ball weg. Er landete bei Schöpf, der ihn annahm, schaute und sofort wieder in den Strafraum schlug. Schwarz und blau gekleidete Spieler stiegen dicht nebeneinander hoch. Ich hatte auf Höhe des vorderen Fünferecks gestanden und war unter dem Ball hindurchgesegelt. Jetzt riss ich den Kopf herum und beobachtete, wie ein brauner Schopf in königsblauem Trikot den Ball leicht streifte. Aber das war genug. Von Huntelaar verlängert, segelte die Kugel über René hinweg ins lange Eck. Zwei zu eins für Schalke.

„ABSEITS!“ Ich fuhr herum und brüllte in Richtung Linienrichter. Aber der stand an der Seitenauslinie und konnte mich durch den Schalker Jubellärm natürlich nicht hören. Meinen erhobenen Arm und meine weit aufgerissenen Augen hätte er aber wohl interpretieren können. Sie interessierten ihn nur nicht. Er lief in Richtung Mittellinie, die Fahne gesenkt an seiner Seite.

„Verdammt, das war Abseits!“ Ich wandte mich vom Linienrichter ab und stürmte mit langen Schritten auf Schiedsrichter Perl zu. Wir waren doch rausgerückt, nachdem Artjoms den ersten Ball geklärt hatte, das war doch ein Automatismus, da hatte keiner gepennt, Huntelaar war im Abseits gestanden!

Perl war schon auf dem Weg zum Mittelkreis. Ich sprintete um ihn herum, blockierte seinen Weg und gestikulierte mit beiden Händen. „Das war Abseits, Schiri, zwei Meter, das darf nicht zählen, das Tor!“

„Geh auf deine Position!“ Perl streifte mich mit einem hochmütigen Blick und setzte unbeirrt seinen Weg fort. „Es war kein Abseits, das Tor war korrekt.“

Ich lief halb rückwärts, halb seitwärts, drängte mich zwischen Perl und den Mittelkreis. „Schwachsinn! Natürlich war das Abseits, glasklar, mach doch mal die Augen auf, du –“

„DAS REICHT!“ Wie angenagelt blieb Perl stehen, riss die Gelbe Karte aus seiner Brusttasche und hielt sie in die Luft. „Du kriegst Gelb, und wenn du noch mal versuchst, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe, siehst du Gelb-Rot!“

„DU –“

Von hinten gab es einen Ruck, zwei Hände klammerten sich um meine Oberarme, und im nächsten Moment wurde ich herumgerissen und weggeschleift. „Spinnst du?“ Nicos Stimme stach zischend in mein Ohr. „Reicht es nicht, dass Johan schon vom Platz geflogen ist? Meinst du, wir wollen zu neunt weiterspielen? Reiß dich zusammen und konzentrier dich auf deinen Job!“

Er stieß mich weg, sodass ich drei Schritte stolperte, bevor ich mein Gleichgewicht zurückhatte. Nico hatte mich in Richtung eigenes Tor geschubst. René stand auf Höhe des Elfmeterpunkts und klatschte mehrmals in seine Handschuhe. Ein paar Sekunden starrte ich nur. Mein Kopf fühlte sich seltsam heiß, meine Finger dafür eiskalt an. Ich könnte es immer noch tun. Perl war immer noch irgendwo hinter mir auf dem Spielfeld. Ich könnte mich immer noch umdrehen, hinrennen und ihn als den gekauften Drecksack anbrüllen, der er war. Oder besser noch, ihm die Faust ins Gesicht schlagen. Vielleicht würden seine Augen endlich richtig funktionieren, wenn sie einmal zu- und wieder abgeschwollen waren.

Links in meinem Blickfeld gab es eine Bewegung. Go stand dort und klatschte ebenfalls in die Hände. René machte jetzt mit den Armen ausladende, schaufelnde Bewegungen. Auf geht’s Jungs, weiter!, glaubte ich auf seinen Lippen zu lesen. Nicos Worte hallten durch meinen Kopf. Meinst du, wir wollen zu neunt weiterspielen?

Ich presste die Lippen zusammen. Mit einer riesigen Anstrengung riss ich den Blick von unserer Spielfeldhälfte los, wandte mich um und nahm den Anstoßpunkt ins Visier. Aber als der langgezogene Pfiff durch die Luft schnitt, kochte es in mir drin immer noch. Wir ließen hier mit zehn Mann gegen elf Schalker plus ein frenetisches Publikum unser Leben auf dem Platz. Konnten da nicht wenigstens die Scheiß-Schiedsrichter ihren verdammten Job ordentlich machen?

In den nächsten Minuten versuchten wir, wieder mehr nach vorne zu spielen, trotz Unterzahl. Es half ja nichts, irgendwie brauchten wir jetzt noch ein Tor. Aber Schalke stand gut, hatte das Publikum im Rücken, und wir kamen nicht durch. Meine Pässe gingen alle entweder direkt zum Gegenspieler, oder Artjoms, Lewis und Nico verloren die Kugel im Zweikampf. Und zehn Minuten nach ihrem Führungstor erzielte Schöpf nach Vorarbeit von Belhanda und Meyer den dritten Treffer für Schalke.

Danach kam ich mir vor wie der einzige Hamburger, der nicht akzeptieren wollte, dass das Ding gelaufen war. Auch in den verbleibenden fünfzehn Minuten rannte ich wie wild auf dem Spielfeld herum, warf mich in die Zweikämpfe und brüllte die anderen an, sie sollten weitermachen und nicht aufgeben. Wirklich erreichen konnte ich damit nichts. Zwar machte ich in der zweiten Minute der Nachspielzeit tatsächlich noch den Anschlusstreffer, nachdem Nico den Ball in den Strafraum geschlagen hatte und ich in die Flanke gehechtet war, als hätte ich nie etwas anderes getan, als Kopfballtore zu erzielen. Aber für ein letztes echtes Aufbäumen kam der Treffer zu spät. Fast sofort nach Wiederanpfiff beendete Perl das Spiel.

Beim Mannschaftskreis und beim Gang zu den Fans machten die meisten meiner Teamkollegen Trauermienen. Ich dagegen konnte mich kaum beherrschen. In der Kabine brach alles aus mir heraus. „Das Zwei-eins war so was von Abseits!“ Ich pfefferte meine Schuhe auf den Boden, dass Gras und Erde in alle Richtungen stoben. „Und direkt davor hätte es Elfer für uns geben müssen, das war ein ganz klares Handspiel!“

„Jetzt komm mal runter, Martin.“ Johan saß fertig umgezogen auf der Bank. Seine Stimme klang müde und bedient. „Matze hat ihm aus ganz kurzer Entfernung gegen die Hand geschossen, das war nie und nimmer ein Elfer.“

„Aber das Zwei-eins –“

„– war Abseits, ja, ich weiß. Aber dafür hätte Schalke zwei Elfmeter kriegen müssen, die es nicht gab. Die waren heute einfach besser, und spätestens in Unterzahl hatten wir gar keine Chance mehr. Wenn hier heute einer Schuld ist, bin ich das und nicht der Schiedsrichter, klar?“ Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. „Jetzt geh duschen, okay? Ich will hier raus.“ Er stand auf und verließ die Kabine.

Ich schaute ihm hinterher auf die zuschwingende Tür. Tja. Johan fühlte sich jetzt sicher wirklich beschissen. Andererseits, wenn er Belhanda nicht so plump von den Beinen geholt hätte …

Ich biss die Zähne zusammen und zog mir das Trikot über den Kopf. Finn hatte sich das ganze Elend zu Hause anschauen müssen, machtlos, etwas zu tun oder zu ändern. Ich seufzte. Ich würde ihn gleich aus dem Bus anrufen.

Unter dem warmen Wasser lehnte ich den Kopf in den Nacken und wischte mir den Dreck von der Stirn, wo der Ball beim Anschlusstor aufgeprallt war. Das war schon irre. Jetzt hatte ich gerade mein zweites Bundesligator gemacht, und schon wieder per Kopf. Die Riesenchance mit dem Fuß gegen Ingolstadt hatte ich dagegen drüber gehauen. Ich war doch nie ein guter Kopfballspieler gewesen. Nie. Zielgenau schießen konnte ich dagegen gut. Eigentlich. Deswegen hatte ich in den Jugendteams ja auch fast immer die Standards getreten. Aber heute hatte ich alle Ecken und Freistöße geschossen, und nichts war daraus entstanden. Nur ein Konter für Schalke, der zu Johans Platzverweis geführt hatte.

Ich schnaubte und massierte mir mit mehr Kraft, als nötig gewesen wäre, Shampoo ins Haar. Klar, heute machte ich das Tor, heute, wo es wertlos war. Verloren war verloren. Aber das Ding gegen Ingolstadt, das den Sieg gebracht hätte, das vergab ich. Scheiße war das doch alles. Alles, alles scheiße.

 

*

 

Bruno hatte die Gesamtleistung gegen Schalke scheiße gefunden. In der Nachbesprechung knallte es richtig, und für das Heimspiel gegen Hertha tauschte er auf gleich fünf Positionen. Für Johan, der ja gesperrt war, rutschte Cleber in die Startelf. Vorne ersetzten Artjoms und Ivo Lasso und Josip, und zwei Jungs holte Bruno aus Verletzungen direkt wieder in die Startelf: Aaron, für den Lewis wieder auf die Sechs zurückrückte, und Albin. Vier Monate verletzt, und sofort wieder von Beginn an dabei. Mehr Erfahrung wolle er auf dem Platz haben, verkündete Bruno. Tja, dachte ich zähneknirschend, während ich mal wieder mit verknoteten Armen auf meine Schuhspitzen starrte. Das kriegst du so natürlich hin. Gidi und ich mussten beide auf die Bank.

Die Jungs spielten ruhig, dominant und machten vor allem in der zweiten Hälfte richtig Betrieb nach vorne. Durch einen Doppelpack von Nico gewannen wir mit zwei zu null. Danach sah Bruno keinen Grund, etwas zu verändern. Am nächsten Spieltag in Leverkusen lief bis auf die Innenverteidigung, in der Johan den diesmal gelbgesperrten Emir ersetzte, exakt dieselbe Elf auf.

Auswärts auf der Bank zu sitzen war erst recht beschissen. Da reiste man stundenlang durch Deutschland, wurde in irgendwelchen ranzigen Hotels geparkt und auf fremde Trainingsplätze abgeschoben, und alles nur, um einen schlechteren Blick aufs Spielfeld zu haben als zu Hause vor dem Fernseher. Die Beine lang ausgestreckt und die Finger in die Oberarme gekrallt, saß ich an einem Ende der Bank neben Gidi. Es kostete mich alle Konzentration, einen einigermaßen neutralen Gesichtsausdruck hinzulegen. Mein Unterkiefer war so verkrampft, dass ich mich fragte, ob ich ihn je wieder würde herunterklappen können.

Das Spiel war diesmal auch noch grottenschlecht. Leverkusen schnürte uns sofort hinten ein, und wäre René nicht mal wieder auf dem Posten gewesen, hätten wir ganz schnell zurückgelegen. Aber auch so dauerte es nicht lang. Nach knapp zwanzig Minuten ging Julian Brandt, mein Fast-Namensvetter, der sogar noch ein paar Monate jünger war als ich, die rechte Außenlinie entlang und schlug den Ball in den Strafraum. In der Mitte hatten wir eine Vier-zu-zwei-Überzahl. Albin erwischte die Kugel als Erster. Nur dummerweise völlig falsch. Statt sie ins Toraus zu lenken oder anders zu klären, spitzelte er sie wie ein gelernter Mittelstürmer an René vorbei zum null zu eins ins eigene Tor.

Lasso fluchte so laut, dass er sogar den Leverkusener Torlärm übertönte. Gidi schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ich hämmerte den Hinterkopf in die Lehne. Ganz toll, Bruno. Wirklich hervorragend. Da siehst du, was Erfahrung auf dem Platz ausmacht. Der Brandt ist noch keine zwanzig und legt das Tor auf, und Albin erzielt es mit der vollendeten Ruhe seiner sechsundzwanzig Jahre freundlicherweise gleich selbst. Du hättest ruhig auch mich aufstellen können. Eigentore schießen kann ich schließlich auch ganz toll.

Mit immer noch versteiftem Unterkiefer und jetzt auch noch mit pochendem Schädel starrte ich wieder aufs Spielfeld. Es blieb ein totaler Krampf. Erst in der zweiten Hälfte kamen wir wirklich mal vors Leverkusener Tor, aber die wenigen Chancen konnte ihr Torwart Bernd Leno halten. Bruno brachte Dennis für Go und Josip für Ivo, aber ich musste bis zehn Minuten vor Schluss warten, bis er mich erlöste. Ich ersetzte Lewis und spielte etwas offensiver als sonst, bildete eine Art Doppel-Zehn mit Aaron, um irgendwie noch die Chance auf den Ausgleich einzuleiten. Aber es gelang einfach nichts. Die Ecken, die wir uns erarbeiteten, ließ Aaron mich nicht schießen, und die Leverkusener ließen sich jedes Mal, wenn der Ball im Aus war, ätzend lange Zeit und machten so jeden Spielfluss zunichte.

Tief in der Nachspielzeit hielt Rechtsverteidiger Tin Jedvaj nahe der Seitenauslinie den Ball. Ich sprintete auf ihn zu, nahm Körperkontakt auf und versuchte, ihm die Kugel abzunehmen. Aber er schirmte sie ab, und alles, was ich erreichte, war, den Ball mit dem langen Bein ins Seitenaus zu spitzeln. Sofort setzte ich über die Linie, griff den Ball und drückte ihn Jedvaj in die Finger. Aber der tat, als wäre ich Luft. Er schaute in die entgegengesetzte Richtung, und der Ball fiel aus seinen schlaffen Händen auf den Boden.

In mir kochte irgendetwas über. „Bist du blind oder was?! Was soll denn das, nimm halt den Ball und wirf ihn ein, verdammt!“

Jedvaj grinste. Der Ball lag vor seinen Füßen. Ich starrte auf sein Grinsen, dieses lächerliche Grinsen unter diesem lächerlichen wallenden Haar. „Steh nicht da und guck so blöd, du –“

„AUSEINANDER!“ Laut und schneidend, direkt neben meinem Ohr. Im nächsten Moment war Schiedsrichter Christian Dingert zwischen uns und schob jeden mit einer Hand nach außen. „Zeitspiel dulde ich nicht, genauso wenig wie aggressives Verhalten. Ihr kriegt beide Gelb.“

Zack, hatte ich den Karton vor der Nase. Schnaubend wandte ich mich ab. Jedvaj allerdings kriegte jetzt doch noch den Mund auf. „What? Ref, are you crazy? I didn’t do anything, it was he who –“

Ich wirbelte herum, bereit, auf Jedvaj zuzustürmen und ihm die Faust ins Gesicht zu schmettern, aber Dingert brauchte keine Hilfe. Ohne zu zögern schoss sein Arm mit der Gelben Karte noch einmal nach oben, und die Rote folgte direkt hinterher. Jedvaj jammerte und gestikulierte, aber Dingert blieb hart. Mit unerbittlich ausgestrecktem Arm verwies er ihn des Feldes. Ich starrte ihm kalt lächelnd hinterher.

Aber die Überzahl kam zu spät, um noch Wirkung zu entfalten. Die letzte Chance auf den Ausgleich haute Dennis nach einem Freistoß links vorbei. Dann war Schluss. Na ja, dachte ich unter der Dusche, wenigstens hat Albin wirklich keine Glanzleistung hingelegt. Wenn ich gut trainiere diese Woche, darf ich vielleicht gegen Hoffenheim endlich mal wieder von Anfang an spielen.

Bis zum Bus milderte dieser Gedanke zumindest einen Teil des Frusts. Erst, als alle saßen und Miro schon fuhr, ging mir auf, was die Szene in der Nachspielzeit wirklich für eine Bedeutung gehabt hatte. Der Platzverweis für Jedvaj war Nebensache gewesen. Die Überzahl hatte uns keinen Vorteil mehr gebracht, letztendlich hatte das Ganze für Leverkusen vermutlich sogar Zeitgewinn bedeutet. Aber die Gelbe Karte, die ich gesehen hatte, war meine fünfte in dieser Saison gewesen. Und das hieß, dass ich im nächsten Spiel gesperrt war. Genau in dem Moment, da mein Konkurrent sich mit einem Eigentor nicht eben angeboten hatte und ich eine reelle Chance gehabt hätte, wieder in die Startelf zu rücken. Mit voller Wucht trat ich in die Lehne des Sitzes vor mir.

 

*

 

Am nächsten Samstag saß ich also nicht mal auf der Bank, sondern neben Finn auf der Tribüne. Der war gut drauf. Er lag genau im Plan und würde am Montag mit leichtem Lauftraining beginnen. Fast das ganze Spiel unterhielt er sich angeregt mit Nico, der ebenfalls gelbgesperrt war und auf seiner anderen Seite saß. Am Anfang versuchte er noch, mich ins Gespräch einzubinden, aber er gab es bald auf. Ein Blick auf mein Gesicht zeigte ihm, dass es besser war, mich in Ruhe zu lassen.

Die Doppelsechs war im Vergleich zum Leverkusen-Spiel unverändert, Albin bekam also eine zweite Chance. Das hieß, dass für Gidi wieder nur die Bank blieb. Dafür feierte Michi nach sieben Spielen Ausfallzeit sein Comeback. Er ersetzte Nico auf dem rechten Flügel. Von meinem Tribünenplatz aus, der einen herrlichen Überblick über das Feld bot, von dem mir regelrecht schlecht wurde, beobachtete ich, wie die Jungs eigentlich ganz gut mitspielten. Gemessen an den Chancen hätten wir durchaus Punkte holen können. Stattdessen verloren wir mit eins zu drei. Die Abstiegsplätze waren plötzlich wieder nur noch vier Zähler entfernt. Als Finn und ich das Stadion verließen, hatte ich die Zähne immer noch nicht auseinandergekriegt. Beim nächsten Spiel in Hannover stehe ich in der Startelf, schwor ich mir, während ich die Fahrertür zuschlug. Koste es, was es wolle.

 

*

 

„Links oben ins Eck.“

„Lass sehen!“

Michi holte noch einmal tief Luft und visierte einen Punkt irgendwo über meiner rechten Schulter an – den linken Torwinkel, wusste ich. Er nahm Anlauf, holte mit seinem starken linken Fuß aus und schoss. Ich spürte den Luftzug, aber schon als ich den Kopf drehte, hatte ich den Eindruck, dass die Kugel nicht nah genug an mir vorbeigeflogen war, um aufs Tor zu kommen. Und tatsächlich: Michis Schuss ging einen halben Meter am linken Pfosten vorbei.

„Mist!“ Er stampfte ein paarmal auf den Boden, als könne er so bessere Zielgenauigkeit in den Fuß hineinschütteln.

„War knapp.“ Ich gab meine Position als äußerster Spieler einer ansonsten imaginären Mauer auf und ging zu Michi hinüber. „Geh du in die Mauer. Ich mach auch noch ein paar.“

Michi postierte sich wie ich zuvor an der Stelle, wo im Spiel eine Mauer stehen würde. Ich schnappte mir den ersten von drei Bällen, die noch übrig waren, und legte ihn zurecht.

Links oben, dachte ich, während ich zwei Schritte zurück und einen zur Seite vom Ball wegtrat und mit verengten Augen mein Ziel anvisierte. Weil mein starker Fuß der rechte und nicht wie bei Michi der linke war, würde ich aus halblinker Position mittig über die Mauer und nicht außen an ihr vorbeischießen. Ich musste den Schuss also so timen, dass der Ball hoch genug flog, um über die Köpfe der Verteidiger zu kommen, sich aber rechtzeitig senkte, um trotzdem noch unter der Latte einzuschlagen. Bei nur rund zwanzig Metern Torentfernung war das keine leichte Aufgabe. Aber ich hatte in den letzten Wochen unzählige Schüsse über diese Distanz abgegeben und schon oft getroffen, und ich wollte dieses Training zwei Tage vor der Partie in Hannover unbedingt mit einem Erfolgserlebnis zu Ende bringen.

Ich sah noch einmal auf den Ball, dann auf den Torwinkel, lief an und schoss. Schon im Moment, in dem mein Fuß den Ball traf, wusste ich, dass es nichts werden würde. Der Ball flog zwar hoch genug über Michis Kopf hinweg, aber auch zwei Meter übers Tor.

„Shit!“

„Komm schon, der Nächste!“ Michi klatschte in die Hände, und ich legte mir den nächsten Ball hin.

Diesmal traf ich ihn besser. Ich sah ihn über Michis Kopf hinwegzischen, einen Bogen beschreiben und – Pong! – auf der Latte auftreffen. Der zurückspringende Ball flog genau auf Michi zu, der sich umgedreht hatte und gedankenschnell den Fuß hinhielt. Jetzt erst zappelte er im Netz. „Tor!“

Ich schnaubte. „Aber nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe.“

Ich nahm den letzten Ball in die Hand. Michi ging zurück auf seine Position, und ich drehte den Ball noch einmal auf dem Rasen, bevor ich ihn losließ und zurücktrat. Nur ein ganz bisschen weniger Kraft. Mein großer Zeh kribbelte noch vom Kontakt mit dem Ball eben. Komm schon, erinner dich.

Drei Schritte Anlauf, ausholen, Schuss. Bis zu Michis Kopf gewann der Ball an Höhe, flog ganz knapp über seinen Scheitel hinweg und begann sofort danach, sich zu senken. Ungefähr auf halber Höhe zwischen Rasen und Latte schlug er direkt neben dem linken Pfosten ein.

„Yes!“ Ich ballte beide Fäuste.

„Schönes Ding!“ Michi kam auf mich zugelaufen und hielt mir die Hände hin. Ich schlug ein. Die rund fünfzig noch am Spielfeldrand stehenden Fans applaudierten.

Ich ließ den Blick über sie schweifen und verzog das Gesicht. „Wird Zeit, dass es im Spiel auch mal klappt.“

Wir machten uns daran, die verstreuten Bälle zusammenzusammeln. Michi lief auf den Nebenplatz, um die zu holen, die wir neben das Tor geschossen hatten, und ich sammelte die ein, die etwas weniger weit weg lagen. Als Letztes holte ich den Ball von meinem letzten Schuss aus dem Tor und lupfte ihn in den Ballsack, den ich zuzog und mir über die Schulter hing.

Es war Ende März und ein warmer Frühlingstag. Nur wenige kleine Wolken trübten den ansonsten strahlend blauen Himmel. Hoffentlich würde das Wetter am Samstag in Hannover auch so gut werden, das würde uns als technisch überlegener Mannschaft helfen. Morgen Vormittag würden wir noch das Abschlusstraining machen, und danach würde ich erfahren, ob ich mein Ziel erreicht hatte und in der Startelf stand. Ich hatte alles gegeben in den Einheiten, mich voll reingehängt und weiterhin meine Extraschichten an den Standards und im Kraftraum gemacht. Das musste Bruno doch honorieren. Aber in den Trainingsspielen war ich trotzdem meistens an Gidis Seite in der B-Elf gewesen.

Ich biss die Zähne zusammen und trat den Gang Richtung Zaun an. Eigentlich wollte ich bloß duschen und heim. Es war ein langer Tag mit zwei Einheiten gewesen, und Michi und ich hatten ja noch die Standards drangehängt. Aber das war den Fans natürlich egal. Die wollten Autogramme und Fotos, und wenn man sie ignorierte und gleich in die Kabine ging, galt man als arrogant, verwöhnt und verzogen. Meine Zähne knirschten aufeinander. Warum konnte ich nicht ein bisschen mehr sein wie Lasso? Dem war egal, was die Fans dachten, der verschwand öfter ohne Blicke nach links und rechts. Aber so bin ich eben. Immer darauf bedacht, es allen recht zu machen. Ich presste die Lippen zusammen, zwang ein Lächeln auf mein Gesicht und griff nach dem ersten Edding.

Wie immer arbeitete ich mich von rechts außen den hüfthohen Zaun zwischen Zuschauern und Trainingsplatz entlang nach links. Ich nahm einen Edding nach dem anderen, kritzelte meine Unterschrift auf Autogrammkarten, Fahnen und Trikots und schenkte Handys und Kameras ein aufgesetztes Lächeln. Michi, der mittlerweile auch mit dem Bälleeinsammeln fertig war, tat ein paar Meter hinter mir das Gleiche. Als ich auf Höhe der Mittellinie angekommen war, wo der Ausgang des Trainingsplatzes und dahinter die Treppe hinauf zum Stadion und zum Kabinentrakt lagen, ließ ich den Ballsack von meiner Schulter gleiten. Ich würde ihn gleich mitnehmen, aber erst musste ich noch die Fans bespaßen, die auf der anderen Seite des Ausgangs warteten.

Immerhin waren es nur noch eine Handvoll. Die große Mehrzahl an Leuten hatte sich näher an dem Tor postiert, auf das wir eben auch geschossen hatten. Außerdem sprach Bruno auf dieser Seite neben dem Platz gerade noch mit den Pressevertretern; wahrscheinlich wollten die Fans danach auch ihn noch in die Zange nehmen. Monoton unterschrieb ich noch auf drei Autogrammkarten, die klebrige Kinderhände mir entgegenstreckten, und hielt ein höchstens zweijähriges Mädchen in winzigen HSV-Klamotten auf dem Zaun fest, damit ihr Vater ein Foto von uns machen konnte.

„Danke!“, sagte er, nachdem er mehrmals auf den Auslöser gedrückt hatte, und nahm seine Tochter wieder in Empfang. Ich nickte. Jetzt war noch einer übrig, dann konnte ich endlich in die Kabine.

Der letzte Anhänger in der Reihe war ein erwachsener Mann. Er stand etwas abseits vom Vater mit der Tochter, und er war auch nicht näher herangetreten, nachdem ich das Kind zurückgegeben hatte. Er war seltsam warm angezogen, trotz des lauen Frühlingstages mit bis zum Anschlag geschlossener Jacke und sogar mit über den Kopf gezogener Kapuze. Auch die Hände hatte er in den Taschen seiner Jacke vergraben.

Ich zögerte. Wie ein Autogrammjäger sah der nicht aus. Abgesehen davon, dass er dafür eigentlich ein bisschen zu alt war, hatte er noch immer keinen Schritt in meine Richtung gemacht. Aber was wollte er dann hier? Unser Training ausspionieren? Vielleicht im Auftrag von Hannover? Aber wozu der lächerliche Aufzug?

Ich versuchte, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu erhaschen. Aber keine Chance. Der Schatten der Kapuze verdeckte es vollkommen. Sollte ich einfach gehen? Gegnerische Spione daran zu hindern, unser Training auszukundschaften, war schließlich nicht meine Aufgabe, und jetzt hatte er ja eh schon alles gesehen.

Aber ich hatte das komische Gefühl, dass der Kerl mich anstarrte. Im Schatten der Kapuze regte sich etwas, und er drehte den Kopf einen Herzschlag nach links. Unwillkürlich folgte ich seinem Blick. Der Vater stand mit seiner Tochter mittlerweile mehrere Meter weit entfernt und konzentrierte sich voll auf Michi, um den sich die restlichen verbliebenen Fans scharten. Auf uns beide ganz links am Zaun achtete keiner mehr.

Meine Augen kehrten zu dem Mann zurück. Langsam fand ich ihn wirklich unheimlich. Würde er gleich eine Pistole oder ein Messer aus der Jackentasche ziehen und sich auf mich stürzen? Im nächsten Moment fand ich mich selbst lächerlich. Aber irgendwas war falsch mit dem. Irgendwas …

Wieder bewegte sich die Kapuze. Der Mann hatte den Kopf zu mir zurückgedreht, und im nächsten Moment trat er einen Schritt auf mich zu. Jetzt stand er direkt am Zaun, nah genug dran, dass ich unter den Schatten in sein Gesicht sehen konnte. Ich sah, und starrte, und konnte mich nicht rühren.

Unter der Kapuze steckten ein rasiertes Kinn, dichte, dunkle Augenbrauen, ein so hoher Haaransatz, dass er fast nicht mehr zu sehen war, und dunkelbraune Augen. Tief dunkelbraune Augen. Augen, die ich zuletzt im Januar gesehen hatte, eiskalt und wutentbrannt, die sich abgewandt hatten mit einem Ruck, der mir den Boden unter den Füßen weggezogen und ein Loch in mich hineingerissen hatte.

Der Boden unter meinen Füßen war auch jetzt wieder weg. Alles in mir war zusammengequetscht, und ich kriegte kein Fitzelchen Luft in meine Lunge. Ich konnte nur dastehen und starren in das Gesicht von Ramin.

 

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Referenzen:

 

„It’s him“ – Lyric des Songs “Dear Old Friend” aus dem Musical „Love Never Dies“ von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Glenn Slater, Buch von Andrew Lloyd Webber und Ben Elton, mit Glenn Slater und Frederick Forsyth. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 2010.

Chapter 50: It's Him - D

Chapter Text

  1. Kapitel: It’s Him

Aber wenigstens im Fußball zeigte das Tor Wirkung. Im nächsten Spiel gegen Frankfurt durfte ich von Beginn an spielen. Gidi flog aus der Startelf, obwohl er gegen Gladbach wirklich nicht schlecht gespielt hatte. Nach der Teambesprechung wusste ich wieder nicht, wie ich ihn anschauen sollte. Ich kaute auf meiner Zunge herum, starrte auf meine Füße und wünschte, ich würde wenigstens ein wenig Schuldgefühle um seinetwillen haben. Während ich mit mir kämpfte, spürte ich ein leichtes Anstupsen an der Schulter. „Hey, was ist denn los? Freust du dich gar nicht, dass du anfangen darfst?“

Gidis Augenbrauen waren leicht gehoben, und er grinste. Aber ich sah genau, dass er sich ärgerte. „Na ja …“ Ich biss mir auf die Lippe. „Klar, schon, aber … Ich dachte … Weil du …“

Gidi lachte. „Weil ich rausgeflogen bin, meinst du? Das ist doch nicht deine Schuld! So ist das halt, wenn man auf der gleichen Position spielt. Ich meine, das wissen wir doch nicht erst seit gestern.“ Er zuckte die Schultern. „Letzte Woche hab ich gespielt. Morgen eben du. Und vielleicht spielen wir nächste Woche ja zusammen. Ruh dich jedenfalls nicht aus, klar, du kriegst von mir einen Konkurrenzkampf, der sich gewaschen hat!“

Er lachte wieder, klopfte mir auf die Schulter und verließ den Besprechungsraum. Ich schaute ihm hinterher. Die Startelfnominierung für morgen war eine Anerkennung meiner Wiedereingliederung ins Team und meiner Leistung im Training und in der halben Stunde gegen Gladbach. Und ich hatte mir das verdient. Ich hatte ja in den letzten zwei Wochen praktisch nichts anderes gemacht, als dafür zu kämpfen. Aber wenn Bruno die Spieler hätte aufstellen wollen, die die mannschaftsdienlichste Einstellung an den Tag legten, hätte er Gidi nominieren müssen.

Das Spiel war dann zum Abgewöhnen. Frankfurt war Fünfzehnter, und so spielten sie auch. Unser Fehler war, dass wir uns an das Kick-and-Rush-Niveau anpassten. Ich bemühte mich, für Struktur und Spielkontrolle zu sorgen, aber auch mir unterliefen immer wieder Fehlpässe. Nur drei Ecken holten wir im gesamten Spiel heraus. Wieder schickte Aaron mich von allen Bällen weg. Nur mit der ersten fand er einen Hamburger Kopf – Emir setzte den Ball drüber. Wenigstens ließen wir hinten fast nichts zu, nur eine echte Chance erspielte sich Frankfurt in den gesamten neunzig Minuten. Als Wolfgang Stark abpfiff, blieb ich stehen, stemmte die Hände in die Seiten und legte den Kopf in den Nacken. Ein null zu null der allerschlechtesten Sorte.

Ich war mir sicher, dass ich nach diesem Spiel mein Startelfmandat auch sofort wieder verlieren würde, aber so kam es nicht. Bruno gab der gesamten ersten Elf von Frankfurt im Heimspiel gegen Ingolstadt eine zweite Chance. Und diesmal machten wir es besser. Schon nach sieben Minuten gingen wir nach einer schnellen, direkten Kombination, an der ich auch beteiligt war, durch Josips erstes Tor für uns mit eins zu null in Führung. Danach ließen wir uns aber schon während der ersten Hälfte immer mehr hinten reindrängen, und nach einer Stunde kassierten wir nach einer Ecke den Ausgleich.

Bruno stand draußen und tobte. Die Ingolstädter waren das standardstärkste Team der Liga. Von ihrem Eckenschützen Pascal Groß hätte ich mir gut ein paar Scheiben abschneiden können. Eine komplette Videoschulung hatten wir vor der Partie auf die Varianten der Ingolstädter bei Ecken und Freistößen verwendet, damit wir so eben kein Gegentor kassierten. Und jetzt war es doch passiert.

Nach Wiederanpfiff versuchten wir, die Spielkontrolle zu übernehmen, aber nach fast einer Stunde Abwarten und Kontern war es schwer, den Schalter umzulegen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis wir uns die erste Chance auf die erneute Führung erspielten. Lewis lupfte den Ball genial über die Ingolstädter Viererkette zu Artjoms, der nicht im Abseits stand. Aber auf dem seifigen Rasen rutschte er bei der Ballannahme weg. Die Kugel prallte ein Stück zurück an die Sechzehnerkante. Genau vor meinen Fuß. Ich nahm sie an und zog ab. Einen Meter rauschte der Schuss über das obere linke Toreck.

Ich krallte die Hände so fest ins Haar, dass es sich anfühlte, als würde ich sie alle ausreißen. Warum nur konnte ich mit dem Kopf das Tor treffen, aber nicht aus dieser klasse Position mit meinem starken rechten Fuß?

Es blieb die einzige Chance auf den Siegtreffer. Nach dem Schlusspfiff sanken viele Jungs enttäuscht zu Boden. Von den Rängen gab es Pfiffe. Ich hinderte mich mit Mühe daran, meinen Fuß in eine der Werbebanden zu hauen, als ich das Stadioninnere verließ. Im nächsten Spiel, schwor ich mir, im nächsten Spiel auf Schalke gewinnen wir wieder.

Schon am Mittwoch würden wir in Gelsenkirchen antreten. Immerhin – so hatten wir schnell die Chance, das Ingolstadt-Spiel wiedergutzumachen. Für Regeneration blieb keine Zeit. Bruno war so unzufrieden mit den letzten beiden Partien, dass er am Montag eine Doppelschicht ansetzte. Gut so. Mit vollem Einsatz schmiss ich mich in jede Übung, Passspiel, Flanken, Abschlüsse. Auf keinen Fall wollte ich aus der Startelf fliegen. Ich wollte auf Schalke dabei sein.

Am Ende der zweiten Einheit machten wir ein elf-gegen-elf Abschlussspiel. Ich bekam ein Startelfleibchen. Richtig so. Ich haue mich ja auch voll rein, hier, im Kraftraum, bei den zusätzlichen Standards. Kein anderer macht so viel wie ich. Aber dieses Mal fehlten auch einfach die Alternativen. Albin, unser Sommerneuzugang für die Sechs, der seit Oktober verletzt fehlte, war zwar fast wieder so weit, aber Bruno wollte wohl auf Nummer sicher gehen und ihn nach Gelsenkirchen noch nicht mitnehmen. Er spielte im B-Team. Zusätzlich würde am Mittwoch auch Aaron ausfallen. Seine Rückenprobleme hatten nach dem Ingolstadt-Spiel in den Oberschenkel ausgestrahlt. Stattdessen würde wohl, wenn ich mir meine Mitspieler im A-Team ansah, Lewis gegen Schalke auf die Zehn vorrücken und Gidi mit mir die Doppelsechs bilden. Er fing meinen Blick auf und grinste. Ich hob einen Mundwinkel. Ja. So war es natürlich am einfachsten.

Finn spielte wie immer in der B-Elf. Kurz vor Trainingsende ging er auf der rechten Seite ins Laufduell mit Matze. Ich klebte in der Mitte an Schippo, um ihn daran zu hindern, an den Ball zu kommen, falls Finn die Flanke hereinschlagen konnte. Der Blick nach außen war mir durch Josip versperrt. Ich sah nicht, was passierte. Ich hörte nur den Schrei.

Matze schwor hinterher, dass er Finn nicht berührt hatte, und natürlich glaubte ich ihm. Verletzungen, gerade Bänder- und Muskelverletzungen, entstanden leider oft auch ohne gegnerische Einwirkung. Nach diesem Training hängte ich zum ersten Mal seit meiner Entschuldigung an die Mannschaft keine Extraschicht dran, und auch bei den am Zaun wartenden Fans machte ich nicht Halt. Ich packte nur so schnell wie möglich unsere Sachen zusammen und fuhr Finn hinterher ins Krankenhaus. Noch am selben Tag bekam er die Diagnose: Muskelbündelriss, sechs Wochen Pause. Ausgerechnet jetzt. Seit dem Bayern-Spiel war er zwar nicht mehr im Kader gestanden, aber er hatte immer mit uns trainiert und sich angeboten. Es hätte jederzeit wieder passieren können.

Finn war schon so oft verletzt gewesen, und er hatte sich immer seinen Optimismus bewahrt. Ganz sicher würde er ihn auch diesmal wiederfinden. Aber als er an diesem Abend mit in den Händen vergrabenem Gesicht auf dem Sofa saß, waren bei uns zum ersten Mal seit dem Verhallen von Ramins Schritten im Treppenhaus vor eineinhalb Monaten die Rollen des Häuflein Elends und des Trostspenders wieder vertauscht.

 

*

 

Zwei Tage später stand ich um kurz vor acht auf dem Rasen der Veltins-Arena, atmete die kühle Luft und wartete auf den Anpfiff. Wir spielten genau so wie im Abschlussspiel am Montag – Gidi und ich auf der Sechs, Lewis davor auf der Zehn. Ich ließ den Blick über die fast ausverkauften Ränge schweifen, bevor ich den Anstoßpunkt fixierte. Wir würden dieses Spiel gewinnen. Für uns, und für mich, und für Finn.

So schienen alle meine Kollegen zu denken. Schon nach vier Minuten segelte ein Freistoß aus unserer eigenen Hälfte in den Schalker Strafraum. Innenverteidiger Roman Neustädter verschätzte sich und tauchte darunter durch. Nico schaltete blitzschnell, nahm den Ball an und versenkte ihn mit dem zweiten Kontakt zur Eins-zu-null-Führung im Schalker Tor. Direkt vor der Schalker Fantribüne versammelten wir uns zum Feiern. Die Pfiffe und Beleidigungen waren das schönste Geräusch der Welt. Wir ließen uns Zeit und liefen nur allmählich in unsere Hälfte zurück. Wieder nahm ich den Anstoßpunkt ins Visier. Die Basis war gelegt. So konnte es weitergehen.

Aber so ging es leider nicht weiter. Mit dem ersten Angriff nach Wiederanpfiff holten die Schalker einen Freistoß heraus, und den abgewehrten Ball bekam Flügelspieler Younes Belhanda vor dem Strafraum vor die Füße. Volley knallte er ihn aufs Tor. René konnte ihn durch das Getümmel unmöglich gesehen haben, bis er fast an ihm vorbei war, aber irgendwie brachte er noch die Fingerspitzen dran und lenkte ihn ins Toraus. Die nächste Riesenchance für Schalke gab es in der dreizehnten Minute, als Linksverteidiger Dennis Aogo, wieder nach einem Freistoß, an der Fünfmeterlinie frei zum Kopfball kam, ihn aber über das Tor setzte.

In den nächsten Minuten überließen wir Schalke den Ball und versuchten, die Räume möglichst eng zu machen. Ich rannte, grätschte und dirigierte brüllend meine Mitspieler. Wenn wir in Ballbesitz waren, spielten wir hintenrum, bemühten uns, Ruhe ins Spiel zu bringen. Nach knapp zwanzig Minuten gab es in der eigenen Hälfte Freistoß für uns, nachdem Belhanda Nico zu ungestüm in den Rücken gerannt war. Nico reagierte geistesgegenwärtig und spielte sofort steil die Linie entlang auf Lewis, der die Außenbahn entlangsprintete und aus spitzem Winkel abschloss. Torwart Ralf Fährmann parierte zur Ecke. Heute war Aaron nicht dabei. Heute durfte ich schießen.

Ich legte den Ball auf den Viertelkreis, hob den Arm und zog die Kugel mit dem rechten Fuß weg vom Tor. Aber er kam zu früh herunter. Neustädter köpfte ihn aus dem Strafraum, und ein paar Sekunden sah es aus, als ob die Schalker einen brandgefährlichen Konter fahren würden, aber Belhanda spielte glücklicherweise zu hastig und unpräzise ab. Ich verlangsamte meinen Vollsprint zu einem gemächlichen Dauerlauf, atmete durch und schrie wieder nach dem Ball.

So ging es die ganze erste Hälfte lang. Schalke machte das Spiel, wir igelten uns ein und verteidigten, was das Zeug hielt. Aber wir kamen immer wieder einen Schritt zu spät. Nur zwei Minuten nach dem unsauber ausgespielten Konter steckte Belhanda auf den anderen Flügelspieler Alessandro Schöpf durch, der im Strafraum gegen Matze zu Fall kam. Schiedsrichter Günter Perl winkte ab, obwohl sich alle Schalker bitterlich beschwerten. Wieder nur ein paar Minuten später fand Belhanda erneut einen Passkorridor durch den schwarzen Stutzenwald hindurch, und Stürmer Klaas-Jan Huntelaar kam zum Abschluss – René hielt. Auch den Volley von Zehner Max Meyer aus spitzem Winkel konnte er wenig später abwehren.

Aber kurz vor der Pause war auch er machtlos. Lasso verlor direkt vor unserem Strafraum gegen Neustädter den Ball, der ihn querlegte zu Meyer. Ich jagte heran, aber ich hatte einen eigenen Angriff antizipiert und war dabei gewesen, mich freizulaufen. Jetzt konnte ich nur zusehen, wie Meyer sich den Ball vorlegte und mit rechts abschloss. Unhaltbar schlug er im langen Eck ein.

Der Jubel war ohrenbetäubend. Ich drehte mich von der königsblauen Feiertraube weg und spuckte auf den Rasen. Was hatte Lasso überhaupt so nah an unserem Tor zu suchen gehabt? In Zukunft sollte er besser auf der anderen Seite der Mittellinie bleiben. Besser für ihn und für uns.

Den Wiederanstoß tippte Lasso zu Lewis. Der spielte zurück zu mir. Von vorne jagte mir Meyer entgegen. Der dachte wohl, wir leisteten uns alle so stümperhafte Ballverluste. Pah. Ich holte aus und schlug einen langen Pass auf die linke Seite in Richtung Josip, aber er segelte über seinen Kopf hinweg ins Aus. Rechtsverteidiger Junior Caicara warf sofort ein, und Innenverteidiger Joel Matip suchte mit einem langen Schlag Schöpf. Sein Ball kam an. Schöpf nahm ihn mit dem ersten Kontakt herunter und legte ihn sich Richtung Strafraum vor. Johan stürmte ihm wie eine Dampfwalze entgegen. Ein Knall, ein Schrei, ein Pfiff. Freistoß für Schalke zentral vor dem Tor und Gelb für Johan.

Sechser Johannes Geis führte aus. Ich stand neben Gidi außen in der Mauer. Als Geis schoss, sprangen wir hoch. Ich spürte den Luftzug des Balls neben meinem Kopf, aber ich berührte ihn nicht. Schnurgerade sauste die Kugel durch den Strafraum und direkt in Renés wartende Arme.

Zwei Minuten später sah auch Neustädter Gelb, nachdem er gegen Lasso mit dem Ellbogen zu Werke gegangen war. Es gab Freistoß von links außen, fast auf Höhe der Strafraumgrenze. Ich zog ihn hoch und weit in die Mitte, aber Fährmann fing den Ball ab. Er ließ ihn einmal aufprallen und schlug ihn zielgenau zur Mittellinie, wo Belhanda wartete. Er war sehr allein, kein Verteidiger weit und breit. Johan, Emir und Gidi waren für den Freistoß alle nach vorne gelaufen, und ich hatte ihn ja ausgeführt. In unserer Hälfte standen nur noch Go und Matze. Und Schöpf und Meyer waren schon im Vollsprint nach vorne unterwegs.

Ich jagte Belhanda hinterher. Er hatte den Ball heruntergenommen und ging mit großen Schritten in unsere Hälfte. Ich biss die Zähne zusammen, holte das letzte bisschen aus meinen Beinen heraus. Aber Johan war näher dran gewesen. Er hatte sich sofort, als Fährmann den Freistoß abgefangen hatte, auf den Weg zurück gemacht und näherte sich Belhanda mit riesigen Schritten. Vier Meter war ich noch weg, als er ihn erreichte. Ich hatte beste Sicht auf das, was passierte. Noch bevor Johan Belhanda überholt hatte, holte er aus. Um Belhandas Füße herum stocherte er nach dem Ball und versuchte, ihn wegzuspitzeln. Seine Hände bearbeiteten derweil Belhandas Trikot.

„AHH!“ Belhanda warf die Arme in die Luft und fiel. Johan drosch den Ball weg und hob beide Arme angewinkelt auf Schulterhöhe. Aber der Pfiff kam, lange bevor der Ball auf der Tribüne aufprallte. Perl kam mit großen Schritten auf Johan zugelaufen. Noch in der Bewegung nestelte er die Gelbe Karte aus seiner Brusttasche. Johan riss die Augen auf, griff sich mit beiden Händen an den Kopf, schüttelte ihn wild hin und her.

Ich blieb stehen und stemmte die Hände in die Seiten. Schwer atmend forderte mein Körper den Tribut für den Sprint eben, den sinnlosen Sprint, den ich hingelegt hatte, um Belhanda aufzuhalten, um Johan diesen Zweikampf zu ersparen, den Zweikampf, der genau dazu geführt hatte, was nicht hätte passieren dürfen und was jetzt doch geschah. Tatenlos sah ich zu, wie Perl drei Schritte von mir entfernt in seine Gesäßtasche griff und der Gelben Karte die Rote folgen ließ. Ampelkarte, innerhalb von fünf Minuten, quasi mit dem Pausenpfiff. Die zweite Halbzeit würden wir ohne Abwehrchef und Kapitän bestreiten müssen.

Bruno brachte mit Cleber für Josip einen Innenverteidiger für einen Stürmer und wies uns in der Kabine an, mit allem, was wir hatten, das Unentschieden zu verteidigen und vielleicht irgendwann mit einem Konter noch mal zuzuschlagen. Mit Kampf, Einsatz und einer Riesenmenge Glück ging das auch irgendwie gut, und nach einer guten Stunde kamen wir tatsächlich nach einem Schalker Ballverlust mal schnell nach vorne. Gidi bediente Matze, der kurz vor dem Strafraum stand und einfach abzog. Der Ball prallte dem direkt hinter der Sechzehnergrenze stehenden Caicara an die Hand, und Fährmann nahm ihn auf.

„Hand!“ Mit ausgebreiteten Armen starrte ich den Schiedsrichter an. Auch Matze beschwerte sich.

Perl winkte ab. „Weiter, weiter, keine Absicht!“

Ich drehte mich schnaubend weg. Keine Absicht, dass ich nicht lache. Der hat Matzes Schuss voll geblockt, der wäre sonst richtig gefährlich geworden!

Mit dem nächsten Angriff erarbeitete sich Schalke eine Ecke. Geis zog sie in den Strafraum, und Artjoms, der kurz vorher für Lasso ins Spiel gekommen war, köpfte den Ball weg. Er landete bei Schöpf, der ihn annahm, schaute und sofort wieder in den Strafraum schlug. Schwarz und blau gekleidete Spieler stiegen dicht nebeneinander hoch. Ich hatte auf Höhe des vorderen Fünferecks gestanden und war unter dem Ball hindurchgesegelt. Jetzt riss ich den Kopf herum und beobachtete, wie ein brauner Schopf in königsblauem Trikot den Ball leicht streifte. Aber das war genug. Von Huntelaar verlängert, segelte die Kugel über René hinweg ins lange Eck. Zwei zu eins für Schalke.

„ABSEITS!“ Ich fuhr herum und brüllte in Richtung Linienrichter. Aber der stand an der Seitenauslinie und konnte mich durch den Schalker Jubellärm natürlich nicht hören. Meinen erhobenen Arm und meine weit aufgerissenen Augen hätte er aber wohl interpretieren können. Sie interessierten ihn nur nicht. Er lief in Richtung Mittellinie, die Fahne gesenkt an seiner Seite.

„Verdammt, das war Abseits!“ Ich wandte mich vom Linienrichter ab und stürmte mit langen Schritten auf Schiedsrichter Perl zu. Wir waren doch rausgerückt, nachdem Artjoms den ersten Ball geklärt hatte, das war doch ein Automatismus, da hatte keiner gepennt, Huntelaar war im Abseits gestanden!

Perl war schon auf dem Weg zum Mittelkreis. Ich sprintete um ihn herum, blockierte seinen Weg und gestikulierte mit beiden Händen. „Das war Abseits, Schiri, zwei Meter, das darf nicht zählen, das Tor!“

„Geh auf deine Position!“ Perl streifte mich mit einem hochmütigen Blick und setzte unbeirrt seinen Weg fort. „Es war kein Abseits, das Tor war korrekt.“

Ich lief halb rückwärts, halb seitwärts, drängte mich zwischen Perl und den Mittelkreis. „Schwachsinn! Natürlich war das Abseits, glasklar, mach doch mal die Augen auf, du –“

„DAS REICHT!“ Wie angenagelt blieb Perl stehen, riss die Gelbe Karte aus seiner Brusttasche und hielt sie in die Luft. „Du kriegst Gelb, und wenn du noch mal versuchst, mir vorzuschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen habe, siehst du Gelb-Rot!“

„DU –“

Von hinten gab es einen Ruck, zwei Hände klammerten sich um meine Oberarme, und im nächsten Moment wurde ich herumgerissen und weggeschleift. „Spinnst du?“ Nicos Stimme stach zischend in mein Ohr. „Reicht es nicht, dass Johan schon vom Platz geflogen ist? Meinst du, wir wollen zu neunt weiterspielen? Reiß dich zusammen und konzentrier dich auf deinen Job!“

Er stieß mich weg, sodass ich drei Schritte stolperte, bevor ich mein Gleichgewicht zurückhatte. Nico hatte mich in Richtung eigenes Tor geschubst. René stand auf Höhe des Elfmeterpunkts und klatschte mehrmals in seine Handschuhe. Ein paar Sekunden starrte ich nur. Mein Kopf fühlte sich seltsam heiß, meine Finger dafür eiskalt an. Ich könnte es immer noch tun. Perl war immer noch irgendwo hinter mir auf dem Spielfeld. Ich könnte mich immer noch umdrehen, hinrennen und ihn als den gekauften Drecksack anbrüllen, der er war. Oder besser noch, ihm die Faust ins Gesicht schlagen. Vielleicht würden seine Augen endlich richtig funktionieren, wenn sie einmal zu- und wieder abgeschwollen waren.

Links in meinem Blickfeld gab es eine Bewegung. Go stand dort und klatschte ebenfalls in die Hände. René machte jetzt mit den Armen ausladende, schaufelnde Bewegungen. Auf geht’s Jungs, weiter!, glaubte ich auf seinen Lippen zu lesen. Nicos Worte hallten durch meinen Kopf. Meinst du, wir wollen zu neunt weiterspielen?

Ich presste die Lippen zusammen. Mit einer riesigen Anstrengung riss ich den Blick von unserer Spielfeldhälfte los, wandte mich um und nahm den Anstoßpunkt ins Visier. Aber als der langgezogene Pfiff durch die Luft schnitt, kochte es in mir drin immer noch. Wir ließen hier mit zehn Mann gegen elf Schalker plus ein frenetisches Publikum unser Leben auf dem Platz. Konnten da nicht wenigstens die Scheiß-Schiedsrichter ihren verdammten Job ordentlich machen?

In den nächsten Minuten versuchten wir, wieder mehr nach vorne zu spielen, trotz Unterzahl. Es half ja nichts, irgendwie brauchten wir jetzt noch ein Tor. Aber Schalke stand gut, hatte das Publikum im Rücken, und wir kamen nicht durch. Meine Pässe gingen alle entweder direkt zum Gegenspieler, oder Artjoms, Lewis und Nico verloren die Kugel im Zweikampf. Und zehn Minuten nach ihrem Führungstor erzielte Schöpf nach Vorarbeit von Belhanda und Meyer den dritten Treffer für Schalke.

Danach kam ich mir vor wie der einzige Hamburger, der nicht akzeptieren wollte, dass das Ding gelaufen war. Auch in den verbleibenden fünfzehn Minuten rannte ich wie wild auf dem Spielfeld herum, warf mich in die Zweikämpfe und brüllte die anderen an, sie sollten weitermachen und nicht aufgeben. Wirklich erreichen konnte ich damit nichts. Zwar machte ich in der zweiten Minute der Nachspielzeit tatsächlich noch den Anschlusstreffer, nachdem Nico den Ball in den Strafraum geschlagen hatte und ich in die Flanke gehechtet war, als hätte ich nie etwas anderes getan, als Kopfballtore zu erzielen. Aber für ein letztes echtes Aufbäumen kam der Treffer zu spät. Fast sofort nach Wiederanpfiff beendete Perl das Spiel.

Beim Mannschaftskreis und beim Gang zu den Fans machten die meisten meiner Teamkollegen Trauermienen. Ich dagegen konnte mich kaum beherrschen. In der Kabine brach alles aus mir heraus. „Das Zwei-eins war so was von Abseits!“ Ich pfefferte meine Schuhe auf den Boden, dass Gras und Erde in alle Richtungen stoben. „Und direkt davor hätte es Elfer für uns geben müssen, das war ein ganz klares Handspiel!“

„Jetzt komm mal runter, Martin.“ Johan saß fertig umgezogen auf der Bank. Seine Stimme klang müde und bedient. „Matze hat ihm aus ganz kurzer Entfernung gegen die Hand geschossen, das war nie und nimmer ein Elfer.“

„Aber das Zwei-eins –“

„– war Abseits, ja, ich weiß. Aber dafür hätte Schalke zwei Elfmeter kriegen müssen, die es nicht gab. Die waren heute einfach besser, und spätestens in Unterzahl hatten wir gar keine Chance mehr. Wenn hier heute einer Schuld ist, bin ich das und nicht der Schiedsrichter, klar?“ Er fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen. „Jetzt geh duschen, okay? Ich will hier raus.“ Er stand auf und verließ die Kabine.

Ich schaute ihm hinterher auf die zuschwingende Tür. Tja. Johan fühlte sich jetzt sicher wirklich beschissen. Andererseits, wenn er Belhanda nicht so plump von den Beinen geholt hätte …

Ich biss die Zähne zusammen und zog mir das Trikot über den Kopf. Finn hatte sich das ganze Elend zu Hause anschauen müssen, machtlos, etwas zu tun oder zu ändern. Ich seufzte. Ich würde ihn gleich aus dem Bus anrufen.

Unter dem warmen Wasser lehnte ich den Kopf in den Nacken und wischte mir den Dreck von der Stirn, wo der Ball beim Anschlusstor aufgeprallt war. Das war schon irre. Jetzt hatte ich gerade mein zweites Bundesligator gemacht, und schon wieder per Kopf. Die Riesenchance mit dem Fuß gegen Ingolstadt hatte ich dagegen drüber gehauen. Ich war doch nie ein guter Kopfballspieler gewesen. Nie. Zielgenau schießen konnte ich dagegen gut. Eigentlich. Deswegen hatte ich in den Jugendteams ja auch fast immer die Standards getreten. Aber heute hatte ich alle Ecken und Freistöße geschossen, und nichts war daraus entstanden. Nur ein Konter für Schalke, der zu Johans Platzverweis geführt hatte.

Ich schnaubte und massierte mir mit mehr Kraft, als nötig gewesen wäre, Shampoo ins Haar. Klar, heute machte ich das Tor, heute, wo es wertlos war. Verloren war verloren. Aber das Ding gegen Ingolstadt, das den Sieg gebracht hätte, das vergab ich. Scheiße war das doch alles. Alles, alles scheiße.

 

*

 

Bruno hatte die Gesamtleistung gegen Schalke scheiße gefunden. In der Nachbesprechung knallte es richtig, und für das Heimspiel gegen Hertha tauschte er auf gleich fünf Positionen. Für Johan, der ja gesperrt war, rutschte Cleber in die Startelf. Vorne ersetzten Artjoms und Ivo Lasso und Josip, und zwei Jungs holte Bruno aus Verletzungen direkt wieder in die Startelf: Aaron, für den Lewis wieder auf die Sechs zurückrückte, und Albin. Vier Monate verletzt, und sofort wieder von Beginn an dabei. Mehr Erfahrung wolle er auf dem Platz haben, verkündete Bruno. Tja, dachte ich zähneknirschend, während ich mal wieder mit verknoteten Armen auf meine Schuhspitzen starrte. Das kriegst du so natürlich hin. Gidi und ich mussten beide auf die Bank.

Die Jungs spielten ruhig, dominant und machten vor allem in der zweiten Hälfte richtig Betrieb nach vorne. Durch einen Doppelpack von Nico gewannen wir mit zwei zu null. Danach sah Bruno keinen Grund, etwas zu verändern. Am nächsten Spieltag in Leverkusen lief bis auf die Innenverteidigung, in der Johan den diesmal gelbgesperrten Emir ersetzte, exakt dieselbe Elf auf.

Auswärts auf der Bank zu sitzen war erst recht beschissen. Da reiste man stundenlang durch Deutschland, wurde in irgendwelchen ranzigen Hotels geparkt und auf fremde Trainingsplätze abgeschoben, und alles nur, um einen schlechteren Blick aufs Spielfeld zu haben als zu Hause vor dem Fernseher. Die Beine lang ausgestreckt und die Finger in die Oberarme gekrallt, saß ich an einem Ende der Bank neben Gidi. Es kostete mich alle Konzentration, einen einigermaßen neutralen Gesichtsausdruck hinzulegen. Mein Unterkiefer war so verkrampft, dass ich mich fragte, ob ich ihn je wieder würde herunterklappen können.

Das Spiel war diesmal auch noch grottenschlecht. Leverkusen schnürte uns sofort hinten ein, und wäre René nicht mal wieder auf dem Posten gewesen, hätten wir ganz schnell zurückgelegen. Aber auch so dauerte es nicht lang. Nach knapp zwanzig Minuten ging Julian Brandt, mein Fast-Namensvetter, der sogar noch ein paar Monate jünger war als ich, die rechte Außenlinie entlang und schlug den Ball in den Strafraum. In der Mitte hatten wir eine Vier-zu-zwei-Überzahl. Albin erwischte die Kugel als Erster. Nur dummerweise völlig falsch. Statt sie ins Toraus zu lenken oder anders zu klären, spitzelte er sie wie ein gelernter Mittelstürmer an René vorbei zum null zu eins ins eigene Tor.

Lasso fluchte so laut, dass er sogar den Leverkusener Torlärm übertönte. Gidi schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Ich hämmerte den Hinterkopf in die Lehne. Ganz toll, Bruno. Wirklich hervorragend. Da siehst du, was Erfahrung auf dem Platz ausmacht. Der Brandt ist noch keine zwanzig und legt das Tor auf, und Albin erzielt es mit der vollendeten Ruhe seiner sechsundzwanzig Jahre freundlicherweise gleich selbst. Du hättest ruhig auch mich aufstellen können. Eigentore schießen kann ich schließlich auch ganz toll.

Mit immer noch versteiftem Unterkiefer und jetzt auch noch mit pochendem Schädel starrte ich wieder aufs Spielfeld. Es blieb ein totaler Krampf. Erst in der zweiten Hälfte kamen wir wirklich mal vors Leverkusener Tor, aber die wenigen Chancen konnte ihr Torwart Bernd Leno halten. Bruno brachte Dennis für Go und Josip für Ivo, aber ich musste bis zehn Minuten vor Schluss warten, bis er mich erlöste. Ich ersetzte Lewis und spielte etwas offensiver als sonst, bildete eine Art Doppel-Zehn mit Aaron, um irgendwie noch die Chance auf den Ausgleich einzuleiten. Aber es gelang einfach nichts. Die Ecken, die wir uns erarbeiteten, ließ Aaron mich nicht schießen, und die Leverkusener ließen sich jedes Mal, wenn der Ball im Aus war, ätzend lange Zeit und machten so jeden Spielfluss zunichte.

Tief in der Nachspielzeit hielt Rechtsverteidiger Tin Jedvaj nahe der Seitenauslinie den Ball. Ich sprintete auf ihn zu, nahm Körperkontakt auf und versuchte, ihm die Kugel abzunehmen. Aber er schirmte sie ab, und alles, was ich erreichte, war, den Ball mit dem langen Bein ins Seitenaus zu spitzeln. Sofort setzte ich über die Linie, griff den Ball und drückte ihn Jedvaj in die Finger. Aber der tat, als wäre ich Luft. Er schaute in die entgegengesetzte Richtung, und der Ball fiel aus seinen schlaffen Händen auf den Boden.

In mir kochte irgendetwas über. „Bist du blind oder was?! Was soll denn das, nimm halt den Ball und wirf ihn ein, verdammt!“

Jedvaj grinste. Der Ball lag vor seinen Füßen. Ich starrte auf sein Grinsen, dieses lächerliche Grinsen unter diesem lächerlichen wallenden Haar. „Steh nicht da und guck so blöd, du –“

„AUSEINANDER!“ Laut und schneidend, direkt neben meinem Ohr. Im nächsten Moment war Schiedsrichter Christian Dingert zwischen uns und schob jeden mit einer Hand nach außen. „Zeitspiel dulde ich nicht, genauso wenig wie aggressives Verhalten. Ihr kriegt beide Gelb.“

Zack, hatte ich den Karton vor der Nase. Schnaubend wandte ich mich ab. Jedvaj allerdings kriegte jetzt doch noch den Mund auf. „Was? Schiri, bist du bescheuert? Ich hab gar nichts gemacht, er hat doch –“

Ich wirbelte herum, bereit, auf Jedvaj zuzustürmen und ihm die Faust ins Gesicht zu schmettern, aber Dingert brauchte keine Hilfe. Ohne zu zögern schoss sein Arm mit der Gelben Karte noch einmal nach oben, und die Rote folgte direkt hinterher. Jedvaj jammerte und gestikulierte, aber Dingert blieb hart. Mit unerbittlich ausgestrecktem Arm verwies er ihn des Feldes. Ich starrte ihm kalt lächelnd hinterher.

Aber die Überzahl kam zu spät, um noch Wirkung zu entfalten. Die letzte Chance auf den Ausgleich haute Dennis nach einem Freistoß links vorbei. Dann war Schluss. Na ja, dachte ich unter der Dusche, wenigstens hat Albin wirklich keine Glanzleistung hingelegt. Wenn ich gut trainiere diese Woche, darf ich vielleicht gegen Hoffenheim endlich mal wieder von Anfang an spielen.

Bis zum Bus milderte dieser Gedanke zumindest einen Teil des Frusts. Erst, als alle saßen und Miro schon fuhr, ging mir auf, was die Szene in der Nachspielzeit wirklich für eine Bedeutung gehabt hatte. Der Platzverweis für Jedvaj war Nebensache gewesen. Die Überzahl hatte uns keinen Vorteil mehr gebracht, letztendlich hatte das Ganze für Leverkusen vermutlich sogar Zeitgewinn bedeutet. Aber die Gelbe Karte, die ich gesehen hatte, war meine fünfte in dieser Saison gewesen. Und das hieß, dass ich im nächsten Spiel gesperrt war. Genau in dem Moment, da mein Konkurrent sich mit einem Eigentor nicht eben angeboten hatte und ich eine reelle Chance gehabt hätte, wieder in die Startelf zu rücken. Mit voller Wucht trat ich in die Lehne des Sitzes vor mir.

 

*

 

Am nächsten Samstag saß ich also nicht mal auf der Bank, sondern neben Finn auf der Tribüne. Der war gut drauf. Er lag genau im Plan und würde am Montag mit leichtem Lauftraining beginnen. Fast das ganze Spiel unterhielt er sich angeregt mit Nico, der ebenfalls gelbgesperrt war und auf seiner anderen Seite saß. Am Anfang versuchte er noch, mich ins Gespräch einzubinden, aber er gab es bald auf. Ein Blick auf mein Gesicht zeigte ihm, dass es besser war, mich in Ruhe zu lassen.

Die Doppelsechs war im Vergleich zum Leverkusen-Spiel unverändert, Albin bekam also eine zweite Chance. Das hieß, dass für Gidi wieder nur die Bank blieb. Dafür feierte Michi nach sieben Spielen Ausfallzeit sein Comeback. Er ersetzte Nico auf dem rechten Flügel. Von meinem Tribünenplatz aus, der einen herrlichen Überblick über das Feld bot, von dem mir regelrecht schlecht wurde, beobachtete ich, wie die Jungs eigentlich ganz gut mitspielten. Gemessen an den Chancen hätten wir durchaus Punkte holen können. Stattdessen verloren wir mit eins zu drei. Die Abstiegsplätze waren plötzlich wieder nur noch vier Zähler entfernt. Als Finn und ich das Stadion verließen, hatte ich die Zähne immer noch nicht auseinandergekriegt. Beim nächsten Spiel in Hannover stehe ich in der Startelf, schwor ich mir, während ich die Fahrertür zuschlug. Koste es, was es wolle.

 

*

 

„Links oben ins Eck.“

„Lass sehen!“

Michi holte noch einmal tief Luft und visierte einen Punkt irgendwo über meiner rechten Schulter an – den linken Torwinkel, wusste ich. Er nahm Anlauf, holte mit seinem starken linken Fuß aus und schoss. Ich spürte den Luftzug, aber schon als ich den Kopf drehte, hatte ich den Eindruck, dass die Kugel nicht nah genug an mir vorbeigeflogen war, um aufs Tor zu kommen. Und tatsächlich: Michis Schuss ging einen halben Meter am linken Pfosten vorbei.

„Mist!“ Er stampfte ein paarmal auf den Boden, als könne er so bessere Zielgenauigkeit in den Fuß hineinschütteln.

„War knapp.“ Ich gab meine Position als äußerster Spieler einer ansonsten imaginären Mauer auf und ging zu Michi hinüber. „Geh du in die Mauer. Ich mach auch noch ein paar.“

Michi postierte sich wie ich zuvor an der Stelle, wo im Spiel eine Mauer stehen würde. Ich schnappte mir den ersten von drei Bällen, die noch übrig waren, und legte ihn zurecht.

Links oben, dachte ich, während ich zwei Schritte zurück und einen zur Seite vom Ball wegtrat und mit verengten Augen mein Ziel anvisierte. Weil mein starker Fuß der rechte und nicht wie bei Michi der linke war, würde ich aus halblinker Position mittig über die Mauer und nicht außen an ihr vorbeischießen. Ich musste den Schuss also so timen, dass der Ball hoch genug flog, um über die Köpfe der Verteidiger zu kommen, sich aber rechtzeitig senkte, um trotzdem noch unter der Latte einzuschlagen. Bei nur rund zwanzig Metern Torentfernung war das keine leichte Aufgabe. Aber ich hatte in den letzten Wochen unzählige Schüsse über diese Distanz abgegeben und schon oft getroffen, und ich wollte dieses Training zwei Tage vor der Partie in Hannover unbedingt mit einem Erfolgserlebnis zu Ende bringen.

Ich sah noch einmal auf den Ball, dann auf den Torwinkel, lief an und schoss. Schon im Moment, in dem mein Fuß den Ball traf, wusste ich, dass es nichts werden würde. Der Ball flog zwar hoch genug über Michis Kopf hinweg, aber auch zwei Meter übers Tor.

„Shit!“

„Komm schon, der Nächste!“ Michi klatschte in die Hände, und ich legte mir den nächsten Ball hin.

Diesmal traf ich ihn besser. Ich sah ihn über Michis Kopf hinwegzischen, einen Bogen beschreiben und – Pong! – auf der Latte auftreffen. Der zurückspringende Ball flog genau auf Michi zu, der sich umgedreht hatte und gedankenschnell den Fuß hinhielt. Jetzt erst zappelte er im Netz. „Tor!“

Ich schnaubte. „Aber nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe.“

Ich nahm den letzten Ball in die Hand. Michi ging zurück auf seine Position, und ich drehte den Ball noch einmal auf dem Rasen, bevor ich ihn losließ und zurücktrat. Nur ein ganz bisschen weniger Kraft. Mein großer Zeh kribbelte noch vom Kontakt mit dem Ball eben. Komm schon, erinner dich.

Drei Schritte Anlauf, ausholen, Schuss. Bis zu Michis Kopf gewann der Ball an Höhe, flog ganz knapp über seinen Scheitel hinweg und begann sofort danach, sich zu senken. Ungefähr auf halber Höhe zwischen Rasen und Latte schlug er direkt neben dem linken Pfosten ein.

„Yes!“ Ich ballte beide Fäuste.

„Schönes Ding!“ Michi kam auf mich zugelaufen und hielt mir die Hände hin. Ich schlug ein. Die rund fünfzig noch am Spielfeldrand stehenden Fans applaudierten.

Ich ließ den Blick über sie schweifen und verzog das Gesicht. „Wird Zeit, dass es im Spiel auch mal klappt.“

Wir machten uns daran, die verstreuten Bälle zusammenzusammeln. Michi lief auf den Nebenplatz, um die zu holen, die wir neben das Tor geschossen hatten, und ich sammelte die ein, die etwas weniger weit weg lagen. Als Letztes holte ich den Ball von meinem letzten Schuss aus dem Tor und lupfte ihn in den Ballsack, den ich zuzog und mir über die Schulter hing.

Es war Ende März und ein warmer Frühlingstag. Nur wenige kleine Wolken trübten den ansonsten strahlend blauen Himmel. Hoffentlich würde das Wetter am Samstag in Hannover auch so gut werden, das würde uns als technisch überlegener Mannschaft helfen. Morgen Vormittag würden wir noch das Abschlusstraining machen, und danach würde ich erfahren, ob ich mein Ziel erreicht hatte und in der Startelf stand. Ich hatte alles gegeben in den Einheiten, mich voll reingehängt und weiterhin meine Extraschichten an den Standards und im Kraftraum gemacht. Das musste Bruno doch honorieren. Aber in den Trainingsspielen war ich trotzdem meistens an Gidis Seite in der B-Elf gewesen.

Ich biss die Zähne zusammen und trat den Gang Richtung Zaun an. Eigentlich wollte ich bloß duschen und heim. Es war ein langer Tag mit zwei Einheiten gewesen, und Michi und ich hatten ja noch die Standards drangehängt. Aber das war den Fans natürlich egal. Die wollten Autogramme und Fotos, und wenn man sie ignorierte und gleich in die Kabine ging, galt man als arrogant, verwöhnt und verzogen. Meine Zähne knirschten aufeinander. Warum konnte ich nicht ein bisschen mehr sein wie Lasso? Dem war egal, was die Fans dachten, der verschwand öfter ohne Blicke nach links und rechts. Aber so bin ich eben. Immer darauf bedacht, es allen recht zu machen. Ich presste die Lippen zusammen, zwang ein Lächeln auf mein Gesicht und griff nach dem ersten Edding.

Wie immer arbeitete ich mich von rechts außen den hüfthohen Zaun zwischen Zuschauern und Trainingsplatz entlang nach links. Ich nahm einen Edding nach dem anderen, kritzelte meine Unterschrift auf Autogrammkarten, Fahnen und Trikots und schenkte Handys und Kameras ein aufgesetztes Lächeln. Michi, der mittlerweile auch mit dem Bälleeinsammeln fertig war, tat ein paar Meter hinter mir das Gleiche. Als ich auf Höhe der Mittellinie angekommen war, wo der Ausgang des Trainingsplatzes und dahinter die Treppe hinauf zum Stadion und zum Kabinentrakt lagen, ließ ich den Ballsack von meiner Schulter gleiten. Ich würde ihn gleich mitnehmen, aber erst musste ich noch die Fans bespaßen, die auf der anderen Seite des Ausgangs warteten.

Immerhin waren es nur noch eine Handvoll. Die große Mehrzahl an Leuten hatte sich näher an dem Tor postiert, auf das wir eben auch geschossen hatten. Außerdem sprach Bruno auf dieser Seite neben dem Platz gerade noch mit den Pressevertretern; wahrscheinlich wollten die Fans danach auch ihn noch in die Zange nehmen. Monoton unterschrieb ich noch auf drei Autogrammkarten, die klebrige Kinderhände mir entgegenstreckten, und hielt ein höchstens zweijähriges Mädchen in winzigen HSV-Klamotten auf dem Zaun fest, damit ihr Vater ein Foto von uns machen konnte.

„Danke!“, sagte er, nachdem er mehrmals auf den Auslöser gedrückt hatte, und nahm seine Tochter wieder in Empfang. Ich nickte. Jetzt war noch einer übrig, dann konnte ich endlich in die Kabine.

Der letzte Anhänger in der Reihe war ein erwachsener Mann. Er stand etwas abseits vom Vater mit der Tochter, und er war auch nicht näher herangetreten, nachdem ich das Kind zurückgegeben hatte. Er war seltsam warm angezogen, trotz des lauen Frühlingstages mit bis zum Anschlag geschlossener Jacke und sogar mit über den Kopf gezogener Kapuze. Auch die Hände hatte er in den Taschen seiner Jacke vergraben.

Ich zögerte. Wie ein Autogrammjäger sah der nicht aus. Abgesehen davon, dass er dafür eigentlich ein bisschen zu alt war, hatte er noch immer keinen Schritt in meine Richtung gemacht. Aber was wollte er dann hier? Unser Training ausspionieren? Vielleicht im Auftrag von Hannover? Aber wozu der lächerliche Aufzug?

Ich versuchte, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu erhaschen. Aber keine Chance. Der Schatten der Kapuze verdeckte es vollkommen. Sollte ich einfach gehen? Gegnerische Spione daran zu hindern, unser Training auszukundschaften, war schließlich nicht meine Aufgabe, und jetzt hatte er ja eh schon alles gesehen.

Aber ich hatte das komische Gefühl, dass der Kerl mich anstarrte. Im Schatten der Kapuze regte sich etwas, und er drehte den Kopf einen Herzschlag nach links. Unwillkürlich folgte ich seinem Blick. Der Vater stand mit seiner Tochter mittlerweile mehrere Meter weit entfernt und konzentrierte sich voll auf Michi, um den sich die restlichen verbliebenen Fans scharten. Auf uns beide ganz links am Zaun achtete keiner mehr.

Meine Augen kehrten zu dem Mann zurück. Langsam fand ich ihn wirklich unheimlich. Würde er gleich eine Pistole oder ein Messer aus der Jackentasche ziehen und sich auf mich stürzen? Im nächsten Moment fand ich mich selbst lächerlich. Aber irgendwas war falsch mit dem. Irgendwas …

Wieder bewegte sich die Kapuze. Der Mann hatte den Kopf zu mir zurückgedreht, und im nächsten Moment trat er einen Schritt auf mich zu. Jetzt stand er direkt am Zaun, nah genug dran, dass ich unter den Schatten in sein Gesicht sehen konnte. Ich sah, und starrte, und konnte mich nicht rühren.

Unter der Kapuze steckten ein rasiertes Kinn, dichte, dunkle Augenbrauen, ein so hoher Haaransatz, dass er fast nicht mehr zu sehen war, und dunkelbraune Augen. Tief dunkelbraune Augen. Augen, die ich zuletzt im Januar gesehen hatte, eiskalt und wutentbrannt, die sich abgewandt hatten mit einem Ruck, der mir den Boden unter den Füßen weggezogen und ein Loch in mich hineingerissen hatte.

Der Boden unter meinen Füßen war auch jetzt wieder weg. Alles in mir war zusammengequetscht, und ich kriegte kein Fitzelchen Luft in meine Lunge. Ich konnte nur dastehen und starren in das Gesicht von Ramin.

 

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Referenzen:

 

„It’s him“ – Lyric des Songs “Dear Old Friend” aus dem Musical „Love Never Dies“ von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Glenn Slater, Buch von Andrew Lloyd Webber und Ben Elton, mit Glenn Slater und Frederick Forsyth. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 2010.

Chapter 51: Nicht schon wieder

Chapter Text

  1. Kapitel: Nicht schon wieder

Stille.

Fans, Vögel, Blätterrauschen, Wind – alles war weg. In meinen Ohren dröhnte es, als stünde neben mir ein Lautsprecher mit hämmerndem Bass.

Ramin stand vor mir und sah mich an. Das Dröhnen ließ meinen Körper im Rhythmus der Bässe erzittern, schneller und schneller, Bumm bumm, Bumm-bumm, Bummbumm. Es war mein Herz, ging mir auf. So heftig hatte es das ganze Training nicht geschlagen.

Stunden vergingen. Oder nur Sekunden. Dann bewegten sich Ramins Lippen. „Hey.“ Ein Mundwinkel hob sich. Er blinzelte. Seine Augen zuckten in Richtung Trainingsplatz. „Good shot.“

Er sah mich an. Ich starrte zurück. Das Dröhnen war verstummt. Langsam drangen die Geräusche des Volksparks wieder zu mir durch. Ein Vogel zwitscherte. Ein Kind lachte. Und Ramin war immer noch da.

Er sah mich weiter an. Wartend. Irgendwo um seine Augen zuckte es. Er presste die Lippen zusammen, und sein Mund verzog sich wieder zu einem halben Lächeln. „I, ah … I guess you didn’t expect to see me here, huh?”

Seine Stimme ging nach oben. Eine Frage. Eine Frage verlangte eine Antwort. Aber ich konnte keinen Muskel rühren.

Ramin.

I’m going to New York.

Ramin war hier, an unserem Trainingsgelände.

What do we have, Martin? Huh? I’ll tell you: NOTHING, okay?

Ramin war hier und sprach mit mir.

I do not love you. I am not your boyfriend. I fucked you because you have a tight ass and an okay body, but it was never ever anything more than sex.

Er sah mich immer noch an. Seine Augen waren nicht kalt, nicht hart. Keine Eispfeile flogen aus ihnen. Sie waren matt, dumpf, und müde. Und irgendwo, ganz tief unten, war ein Hauch von einem Funkeln.

Plopp, plopp, stürzten Impulse auf mich ein.

Ich wollte schreien.

Ich wollte wegrennen.

Ich wollte mich auf ihn stürzen und ihn küssen.

Ich wollte mich auf ihn stürzen und auf jeden Zentimeter einprügeln, den ich unter die Fäuste bekam.

Das Braun seiner Augen verschwand einen Herzschlag unter seinen Lidern. Er warf einen schnellen Blick nach links und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. „Look, I didn‘t mean to ambush you. I went to your place first, but when there was no one there, I figured you had to be here, so I – I just – I couldn’t resist …”

Im Schatten der Kapuze bewegte sich sein Adamsapfel auf und ab. Seine Stimme bekam einen neuen Unterton. „Look, Martin, I need to talk to you. Please. I want to apologise, I –“

Aber nicht nur mein Kopf, sondern auch mein Körper war aus der Lähmung entkommen. Ich stolperte weg vom Zaun, einen Schritt, zwei. Als wollte meine Lunge die fehlende Luft der letzten Minuten ausgleichen, jagte jetzt ein Atemzug den nächsten. Ich schüttelte wild den Kopf, meine Hand hob sich in einer abwehrenden Geste, und dann setzten meine Überlebensinstinkte wieder ein. Training. Fußball. Ramin. Fußball. Fans. Öffentlichkeit. Reporter. NORMAL.

Der letzte Gedanke war ein Befehl, ein Rettungsring, an den ich mich klammern konnte.

Normal.

Ich ließ die Hand sinken, fuhr herum und stolperte zum Ausgang. Ich wusste nicht, wie ich es schaffte, ohne zu fallen. Meine Beine spürte ich nicht.

Normal, normal, normal.

Ich machte den Mund zu, atmete bewusst langsam durch die Nase und verzog die Lippen zu einem freundlichen, unverbindlichen Lächeln. Ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen, hastete ich am Zaun entlang, schnell, aber nicht zu schnell, an Michi vorbei, am Ballsack vorbei – Ballsack, mitnehmen, über die Schulter, normal, normal, normal, normal – nach links, durchs Gatter vom Trainingsplatz, zwei Stufen hoch, über den Asphalt, durch das große Metalltor, die Treppen zur Südtribüne hoch, das Klack-klack-klack der Fußballschuhe auf jeder Stufe, ins Stadioninnere, um eine Ecke, eine zweite, einen Gang entlang, Ballsack abstellen, Treppe nach unten, noch eine Ecke, durch die Kabinentür. Einmal umschauen – alle weg. Gottseidank. Aber Michi, der kommt noch, der ist auch gleich fertig, der will auch hier rein – zack, Schuhe aus, Stutzen aus, Schienbeinschoner, schnell, schnell, Klamotten runter, Tasche auf, Klamotten an, nicht duschen, ist doch egal, egal, egal. Straßenschuhe an, Tasche umhängen, raus, durch die Tür, um die Ecke, durch die Bushalle, über den Parkplatz, zum Auto – Schlüssel, wo ist der scheiß – da ist er ja, Knopf drücken, Blinken, Tür auf, einsteigen – Rumms, die Tasche knallt gegen den Türrahmen, verdammt, verdammt, verdammt, noch mal aufrichten, Tasche von der Schulter, auf den Beifahrersitz, ins Auto, Tür zu, Motor an, Rückwärtsgang, Gas geben.

Es war das erste Mal, dass ich den Parkplatz mit quietschenden Reifen und heulendem Motor verließ.

 

*

 

Dass ich ohne Unfall nach Hause kam, war ein Wunder. Ich konnte mich danach an keine rote Ampel und keine Abbiegung mehr erinnern. Aber irgendwie kam ich an. Ich parkte und stellte den Motor ab. Ich brauchte zwei Anläufe. Meine Finger bebten so sehr, dass ich den Knopf beim ersten Versuch nicht herunterbekam.

Mit der Sporttasche über der Schulter wankte ich die Treppen hinauf. Auch die Wohnungstür bekam ich nicht auf Anhieb aufgesperrt. Zweimal glitt der Schlüssel ab. Als ich endlich drin war, hörte ich die Geräusche von FIFA aus dem Wohnzimmer, und fast sofort Finns Stimme. „Martin? Bist du das?“

Ich nickte. Dann schüttelte ich den Kopf, schloss die Augen und zwang mich, durchzuatmen. „Ja!“

Ich stellte die Tasche ab, zog mit fahrigen Bewegungen die Schuhe von den Füßen und ging ins Wohnzimmer. Finn saß mit dem Controller in der Hand auf dem Sofa.

„Die Tür klang so komisch.“ Er studierte mich, und seine Stirn furchte sich. „Sag mal, du bist ja total bleich! Was ist denn los?“

Einen Moment erwiderte ich seinen Blick. Dann schloss ich die Augen, sank auf den Sessel nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. „Er war da. Beim Training.“

„Was!?“

Ich nahm die Hände vom Gesicht. Finn war aufgesprungen und starrte mich entsetzt an. Auf dem Fernseher lief noch immer FIFA. Finn folgte meinem Blick, haute auf ein paar Knöpfe, und der Bildschirm wurde schwarz. Er schmiss den Controller aufs Sofa. „Was hast du gesagt?“

Ich nickte. Jede Sehne in meinem Körper wog plötzlich eine Tonne. „Doch. Er hat zugeschaut. Er … er sagt, er will mit mir reden.“

„Er hat mit dir gesprochen!?“ Finn machte einen Schritt auf mich zu. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen schauen zu können.

„Nach dem Training. Er stand am Zaun. Als Letzter, ganz links.“ Vor meinen Augen verschwamm Finn, und ich sah ihn noch einmal neben dem Trainingsplatz stehen, in seiner Jacke, mit Kapuze, die Hände in den Taschen vergraben. „Er hat gesagt, er konnte nicht widerstehen.“

„Nicht widerstehen? Was denn? Dich auffliegen zu lassen oder was?“

Ich blinzelte und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Finns Gesicht war knallrot angelaufen. Er sah aus wie eine blondierte Kirsche. Aber zum Lachen war mir nicht zumute, und ihm erst recht nicht. Er drehte sich abrupt von mir weg, machte einen Schritt nach vorne und stolperte fast über den Couchtisch. Mit der Hand fing er sich ab, umrundete die Ecke des Tisches und stürmte auf der freien Fläche vor den Balkontüren auf und ab.

„Wie kann er das tun? Wie KANN er nur? Nach zwei Monaten, aus dem NICHTS, einfach wieder auftauchen, nachdem er dich so sitzengelassen hat? Ohne Ankündigung, ohne Warnung, ohne Anruf, NICHTS! Und dann auch noch beim Training! In der Öffentlichkeit! Ich meine, das ist dein Job, verdammt noch mal! Und dann auch noch mit dir REDEN! Was meint er denn, wie du reagierst, wenn er da einfach so auftaucht und mit dir spricht? Glaubt er, du freust dich? Er weiß doch, dass keiner außer mir weiß, dass du schwul bist! Und dann lauert er dir beim TRAINING auf! Ich meine, WILL er dich outen oder was? Das ist doch einfach –“

„Will er nicht.“

Unter Finns Geschrei war meine Stimme selbst für mich kaum hörbar, aber zumindest undeutlich musste Finn sie vernommen haben. „Was?“

„Will er nicht“, wiederholte ich lauter.

Was Finn gesagt hatte, waren alles Gedanken, die mir auch gekommen waren, auf meiner Flucht ins Stadion, in der Kabine, auf dem Weg nach Hause. Aber jetzt, als ich sie von Finn hörte, war es, als hätten sie meinen Kopf durch seinen Mund verlassen, und dafür war Platz für eine neue Erkenntnis, so scharf und klar, dass ich mich ihr so vorsichtig annäherte wie einer hauchdünnen Glasscheibe: als ob ich mich durch jede Bewegung an ihr schneiden oder sie zerbrechen könnte.

„Er will mich nicht outen.“ Erneut verschwand das Wohnzimmer, und ich sah stattdessen den Trainingsplatz, den Zaun, die Fans, Ramin. Wie ein Detektiv ging ich jedes Detail Schritt für Schritt durch, und mit jedem neuen Bild wurde das Gewebe fester. „Er stand ganz links. Ganz am Ende der Reihe. Er hatte die Jacke ganz zu und die Kapuze auf, sodass ich ihn erst gar nicht erkannt habe. Eigentlich ist es ja viel zu warm. Aber er wollte nicht, dass ich während dem Training zufällig zu ihm rüber schaue und mich erschrecke. Deswegen hat er sein Gesicht nicht gezeigt.“

Die Erkenntnis kam mir in dem Augenblick, in dem die Worte meinen Mund verließen, aber ich wusste, dass es stimmte. „Und als ich zu den Fans gegangen bin, waren die anderen ja fast alle schon weg. Wegen dem Extratraining. Das konnte er natürlich nicht wissen, das war halt Glück.“

Ich schluckte, atmete. Mit jedem Wort legte sich der Sturm ein bisschen mehr, und der Nebel lichtete sich. „Er stand ganz links. Das war bestimmt Absicht. Die anderen waren ja schon durch, da konnte er sehen, dass wir immer rechts anfangen und nach links durchgehen. Er hat sich gedacht, dass die Chance, mich allein zu erwischen, am größten ist, wenn er ganz links steht.“

Bild um Bild, Erinnerung um Erinnerung legte sich ineinander. Alles passte. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass etwas Sinn ergab, dass etwas ganz und gar und vollkommen richtig war. Vielleicht das erste Mal seit Wochen. Vielleicht das erste Mal seit dem siebzehnten Januar, dem Sonntag nach dem Trainingslager.

„Und das hat geklappt. Er war der Letzte, und die anderen Fans standen mehrere Meter weit weg.“ Ich sah ihn den Kopf drehen, sah ihn nach links schauen, bevor er den Schritt auf mich zu gemacht und mir den Blick unter die Kapuze gewährt hatte. „Das hat er extra geprüft, bevor er mir sein Gesicht gezeigt hat. Er wollte, dass uns keiner beobachtet. Dass uns keiner sieht. Wenn das nicht so gewesen wäre, wäre er weggeblieben. Dann hätte er nicht zugelassen, dass ich ihn erkenne. Weil er eben nicht wollte, dass irgendwer was mitkriegt.“

Die plötzliche Sicherheit war ein unglaubliches Geschenk. Nach dem Riesenschreck, nach dem Abgrund, der sich vor mir aufgetan hatte, hätte ich mich an jeden Strohhalm geklammert. Das war mehr als ein Strohhalm. Das war ein Stahlseil. „Er wollte mich nicht outen. Er wollte mir nicht schaden. Er wollte …“

Ich brachte den Satz nicht zu Ende. I want to apologise, hallten seine letzten Worte in mir nach. Wieder hörte ich den Unterton. Intensiv, dringlich, aber da war noch etwas gewesen, etwas, das mir erst jetzt, mit Abstand und in der geschützten Abgeschiedenheit des Wohnzimmers, klar wurde. Flehentlich.

„Oh, Martin.“

Ich zuckte zusammen. Finn stand mit herabbaumelnden Armen vor mir. „Nicht schon wieder. Bitte, nicht schon wieder.“

Ich sah ihn an. Zwischen uns materialisierte sich der Flur, hallten Ramins Schritte im Treppenhaus nach. I do not love you. I am not your boyfriend. You’re weak. You’re pathetic. You’re a scared little faggot. SCARED LITTLE FAGGOT!

Ich blinzelte. Der Flur verschwand, und mit ihm ein großer Teil des Euphorie-artigen Zustands, in den die Erleuchtung von eben mich versetzt hatte. Ja, Ramin hatte mir heute nichts Böses gewollt. Ja, er hatte gesagt, er wolle mit mir reden, er wolle sich entschuldigen. Aber er hatte mich auch verletzt. So sehr. Er hatte mich in Stücke gerissen. Und als seine Worte jetzt in mir nachhallten, bohrte sich ein neuer Splitter in mich hinein.

Und dann war plötzlich noch ein anderes Echo in meinem Kopf. Your team needs you. Your fans need you, and your teammates need you. Do you think because you’ve been treated unfairly, and you’ve been hurt, that that gives you the right to treat others unfairly and hurt them in turn?

Ich schluckte. Meine Finger verkrampften sich zu Fäusten. Finn starrte mich noch immer verzweifelt an.

Ich atmete durch. Meine Hände entspannten sich, und ich stand auf. Als ich sprach, war meine Stimme leise, aber fest. „Nein, Finn. Keine Angst. Ich … werde diesmal klarkommen.“

Ein bisschen Angst verschwand aus seinen Augen. Aber nicht alles. Er blieb einen Moment regungslos stehen, umrundete dann mit schnellen Schritten den Couchtisch und fiel mir um den Hals. Ich spürte, wie er sein Gesicht in meine Schulter presste. „Tu dir das nicht noch mal an. Bitte, bitte, tu dir das nicht noch mal an.“

Ich klopfte ihm auf den Rücken. „Hey, ich hab noch nicht mal geduscht.“

Er reagierte nicht. Ich wusste nicht, ob er es überhaupt wahrgenommen hatte. Ein paar Sekunden stand ich da, spürte erst jetzt so richtig, wie mir die Klamotten am verschwitzten Körper klebten, und schauderte. Dann konnte ich nicht mehr anders. Ich schob Finn sanft, aber bestimmt von mir weg. „Hey. Alles gut, okay? Alles gut.“

Er nickte, schniefte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Plötzlich wollte ich nur noch allein sein. „Ich geh jetzt duschen.“ Mit Mühe brachte ich ein Lächeln zustande. „Zock du mal weiter FIFA, ja?“

Ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter, drehte mich um und verschwand Richtung Badezimmer, ohne mich noch einmal umzusehen.

 

*

 

Nach dem Duschen ging ich direkt in mein Zimmer. Eigentlich wäre jetzt Zeit zum Abendessen gewesen, aber ich wollte immer noch keine Gesellschaft. Außerdem hatte ich keinen Hunger. Stattdessen saß ich auf meinem Bett und starrte das schwarze Display meines Handys an, das ich mit der rechten Hand umklammerte.

Ich hatte nachgedacht. Wie immer hatte das heiße Wasser geholfen, meine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Ganz windstill war es in meinem Kopf zwar immer noch nicht, aber der Wirbelsturm hatte sich erst mal gelegt. Ich wusste zwar nicht, was ich wollte, aber immerhin war ich mir ziemlich im klaren darüber, was ich nicht wollte.

Das Wichtigste war der Fußball. Das war mein Job, meine Pflicht, meine Verantwortung, und auf keinen Fall wollte ich noch mal alle hängen lassen, die Mannschaft, die Trainer, die Fans, den Verein, die Stadt. Hier hatte ich meinen Platz, hier wurde ich gebraucht, hier konnte ich mich darauf verlassen, dass an jedem Wochenende ein Spiel und am nächsten Tag wieder Training war. Das war die Basis, und auf ihr musste ich fest und sicher stehen. Deswegen hatte ich mir eins versprochen: Auf gar keinen Fall würde ich mich von irgendetwas – oder irgendjemandem – von meiner vollen Konzentration auf das Spiel am Samstag in Hannover abbringen lassen. Das Spiel, bei dem ich wieder von Anfang an dabei sein würde. Musste. Hoffentlich. Endlich. Das war Prio eins. Nichts war wichtiger als das.

Aber das Nächste, das ich nicht wollte, war, die Augen vor allem zu verschließen. Ramin war beim Training aufgetaucht. Er war zurückgekommen, um mich zu sehen. Mit mir zu reden.

Warum? Und wie? Warum war er nicht in New York? Wo war er jetzt? Wie lange würde er in Hamburg bleiben? Was wollte er hier? Nach allem, was er mir hingeknallt, allem, was er gesagt hatte – was wollte er jetzt noch von mir? Wollte er noch etwas von mir?

Bei diesen Fragen hatte sich mein Herzschlag beschleunigt, und mir war schwindelig geworden. Ich hatte das aktiv niederringen müssen. Nicht, hatte ich mir befohlen. Denk an den Fußball!

Ich wusste, dass es diese Gedanken waren, vor denen Finn Angst hatte, und ich wusste auch, dass er wollte, dass ich Ramins Auftauchen ignorierte. Nicht nachfragen. Nicht drüber nachdenken. Nichts. Aber war das auch, was ich wollte?

Mit geschlossenen Augen war ich dagestanden, hatte das Wasser an meinem Körper gespürt und wieder Sierras Stimme in meinem Kopf gelauscht. Finn’s too involved in this. He’s too prejudiced against Ramin. Wie recht sie gehabt hatte. Finn hatte gute Gründe, schlecht von Ramin zu denken, aber auf ihn konnte ich nicht hoffen, wenn ich einen neutralen Rat, jemandem zum Reden wollte. Aber auf wen dann?

Kurz hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Sierra anzurufen. Vielleicht wusste sie, warum Ramin hier war; vielleicht war er längst bei ihr in London gewesen. Diese Möglichkeit hatte ihren Reiz gehabt, aber noch bevor ich mich ganz dafür entscheiden konnte, war mir aufgegangen, dass sie gar nicht existierte. Ich konnte Sierra nicht anrufen, weil ich ihre Nummer nicht hatte. Als sie im Februar hier gewesen war, hatten wir beide nicht daran gedacht, sie auszutauschen.

Sierra fiel als Gesprächspartner also raus. Finn fiel auch raus. Das Ganze zu ignorieren, fiel definitiv raus. Es blieb nur eine Möglichkeit. Eine letzte Person, mit der ich reden konnte. Und die war schließlich der Kern der ganzen Sache.

Ich schluckte. Mein Daumen schwebte über dem Display. Ich wusste, dass es vermutlich nicht klug war, was ich da gleich tun würde. Aber ich wusste auch, dass ich ohne diesen Anruf an nichts anderes mehr würde denken können. Ich musste es tun. Nicht trotz des Fußballs. Für den Fußball.

Ein Wischen, und das Display wurde hell. Auf dem Zahlenfeld tippte mein Daumen oben links, zweimal unten Mitte, unten links für die 1887, und meine Apps erschienen auf dem Bildschirm. Unten Mitte für die Kontakte. Ein Wischen, ein Klick in der Buchstabenleiste auf R. Innehalten. Gänsehaut. Dann – eine Berührung. Handy ans Ohr. Augen zu. Atmen.

Es klingelte nur einmal. Dann hob er schon ab. „Hello?“ Seine Stimme klang atemlos, als sei er gerade gerannt.

Ich presste die Lider zusammen. Holte Luft und öffnete den Mund. „It’s me. Martin.“

Ich hielt die Luft an. Am anderen Ende der Leitung stieß er sie aus. „Martin. Thank God.“

Stille. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber plötzlich platzte die eine, zentrale Frage einfach aus mir heraus. „What are you doing here?“

Er antwortete schnell, immer noch schwer atmend, als sei er tatsächlich eben noch Treppen rauf- und runtergesprintet. „I came to see to you. To talk to you. Please. I –“

„Where are you?“ Meine Augen waren noch immer geschlossen, und ich hörte ein Zittern in meiner Stimme. Ich hasste den Gedanken, dass er es auch hören konnte.

„At a hotel. The – the – I can’t pronounce the fucking name. But it’s not far from your flat. I can be there in fifteen minutes, I –“

“No!” Das Wort flog mir von den Lippen. Aber ich wusste, dass es richtig war. „Not tonight.“

Erneute Stille. Ich hörte ihn atmen. „Of course. No problem.“ Er klang nicht mehr atemlos. Seine Stimme war flach und tonlos. Es gab eine kurze Pause. Dann fragte er, mit etwas mehr Leben: „When?“

„I – I don’t know.“ Ich atmete tief und bewusst. Kontrolliert bleiben. Nicht auseinanderfallen. „I’ll call you.“

Er schwieg. Dann – „Can I come to your match on Saturday?”

Für einen Moment vergaß ich das Atmen. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Nein? Ja? Ich spürte ein Prickeln im Nacken. Beide Antworten sendeten zu klare Botschaften. Botschaften, die ich noch nicht geben wollte. Ein Teil von mir wollte, dass er wegblieb. Aber ein anderer sah in dem Gedanken, dass Ramin in Hannover auf der Tribüne sitzen könnte, einen Reiz. Einen sehr großen Reiz. Ich rang nach Worten. Und plötzlich fielen sie mir ein. „Well, I can’t stop you from buying a ticket.”

Stille. Dann lachte er. Kurz und unsicher. Aber es war das alte Lachen, nicht das kalte, sondern das von davor. Tief und voll. Zittrig sog ich die Luft ein.

„Okay.“ Wieder eine Pause. „You’ll call?“ Sein Tonfall war ein Fuß, der lang ausgestreckt einen zugefrorenen See betastete, um zu sehen, ob das Eis wohl halten würde.

„I will.“ Ich atmete durch. „I guess on Sunday or … or something.”

“Okay.” Ich hörte, wie auch er tief Luft holte. „Good luck!“

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er das Spiel meinte. „Oh. Thanks.“ Ich wartete. Aber er sagte nichts mehr. „Well – bye.“ Ich legte auf.

Chapter 52: Nicht schon wieder - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Nicht schon wieder

Stille.

Fans, Vögel, Blätterrauschen, Wind – alles war weg. In meinen Ohren dröhnte es, als stünde neben mir ein Lautsprecher mit hämmerndem Bass.

Ramin stand vor mir und sah mich an. Das Dröhnen ließ meinen Körper im Rhythmus der Bässe erzittern, schneller und schneller, Bumm bumm, Bumm-bumm, Bummbumm. Es war mein Herz, ging mir auf. So heftig hatte es das ganze Training nicht geschlagen.

Stunden vergingen. Oder nur Sekunden. Dann bewegten sich Ramins Lippen. „Hey.“ Ein Mundwinkel hob sich. Er blinzelte. Seine Augen zuckten in Richtung Trainingsplatz. „Guter Schuss.“

Er sah mich an. Ich starrte zurück. Das Dröhnen war verstummt. Langsam drangen die Geräusche des Volksparks wieder zu mir durch. Ein Vogel zwitscherte. Ein Kind lachte. Und Ramin war immer noch da.

Er sah mich weiter an. Wartend. Irgendwo um seine Augen zuckte es. Er presste die Lippen zusammen, und sein Mund verzog sich wieder zu einem halben Lächeln. „Ich, äh … ich schätze, du hast nicht damit gerechnet, mich hier zu sehen, was?“

Seine Stimme ging nach oben. Eine Frage. Eine Frage verlangte eine Antwort. Aber ich konnte keinen Muskel rühren.

Ramin.

Ich gehe nach New York.

Ramin war hier, an unserem Trainingsgelände.

Was haben wir denn, Martin? Hm? Ich sags dir: NICHTS, okay?

Ramin war hier und sprach mit mir.

Ich liebe dich nicht. Ich bin nicht dein Freund. Ich hab dich gefickt, weil du einen engen Arsch und einen okayen Körper hast, aber es war niemals, zu keinem Zeitpunkt auch nur ein winziges bisschen mehr als Sex.

Er sah mich immer noch an. Seine Augen waren nicht kalt, nicht hart. Keine Eispfeile flogen aus ihnen. Sie waren matt, dumpf, und müde. Und irgendwo, ganz tief unten, war ein Hauch von einem Funkeln.

Plopp, plopp, stürzten Impulse auf mich ein.

Ich wollte schreien.

Ich wollte wegrennen.

Ich wollte mich auf ihn stürzen und ihn küssen.

Ich wollte mich auf ihn stürzen und auf jeden Zentimeter einprügeln, den ich unter die Fäuste bekam.

Das Braun seiner Augen verschwand einen Herzschlag unter seinen Lidern. Er warf einen schnellen Blick nach links und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe. „Pass auf, ich wollte dir nicht auflauern. Ich bin zuerst bei dir zu Hause gewesen, aber als keiner da war, hab ich mir gedacht, dass du hier sein musst, also bin ich – Ich konnte einfach – Ich konnte nicht widerstehen …“

Im Schatten der Kapuze bewegte sich sein Adamsapfel auf und ab. Seine Stimme bekam einen neuen Unterton. „Pass auf, Martin, ich muss mit dir reden. Bitte. Ich will mich entschuldigen, ich –“

Aber nicht nur mein Kopf, sondern auch mein Körper war aus der Lähmung entkommen. Ich stolperte weg vom Zaun, einen Schritt, zwei. Als wollte meine Lunge die fehlende Luft der letzten Minuten ausgleichen, jagte jetzt ein Atemzug den nächsten. Ich schüttelte wild den Kopf, meine Hand hob sich in einer abwehrenden Geste, und dann setzten meine Überlebensinstinkte wieder ein. Training. Fußball. Ramin. Fußball. Fans. Öffentlichkeit. Reporter. NORMAL.

Der letzte Gedanke war ein Befehl, ein Rettungsring, an den ich mich klammern konnte.

Normal.

Ich ließ die Hand sinken, fuhr herum und stolperte zum Ausgang. Ich wusste nicht, wie ich es schaffte, ohne zu fallen. Meine Beine spürte ich nicht.

Normal, normal, normal.

Ich machte den Mund zu, atmete bewusst langsam durch die Nase und verzog die Lippen zu einem freundlichen, unverbindlichen Lächeln. Ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen, hastete ich am Zaun entlang, schnell, aber nicht zu schnell, an Michi vorbei, am Ballsack vorbei – Ballsack, mitnehmen, über die Schulter, normal, normal, normal, normal – nach links, durchs Gatter vom Trainingsplatz, zwei Stufen hoch, über den Asphalt, durch das große Metalltor, die Treppen zur Südtribüne hoch, das Klack-klack-klack der Fußballschuhe auf jeder Stufe, ins Stadioninnere, um eine Ecke, eine zweite, einen Gang entlang, Ballsack abstellen, Treppe nach unten, noch eine Ecke, durch die Kabinentür. Einmal umschauen – alle weg. Gottseidank. Aber Michi, der kommt noch, der ist auch gleich fertig, der will auch hier rein – zack, Schuhe aus, Stutzen aus, Schienbeinschoner, schnell, schnell, Klamotten runter, Tasche auf, Klamotten an, nicht duschen, ist doch egal, egal, egal. Straßenschuhe an, Tasche umhängen, raus, durch die Tür, um die Ecke, durch die Bushalle, über den Parkplatz, zum Auto – Schlüssel, wo ist der scheiß – da ist er ja, Knopf drücken, Blinken, Tür auf, einsteigen – Rumms, die Tasche knallt gegen den Türrahmen, verdammt, verdammt, verdammt, noch mal aufrichten, Tasche von der Schulter, auf den Beifahrersitz, ins Auto, Tür zu, Motor an, Rückwärtsgang, Gas geben.

Es war das erste Mal, dass ich den Parkplatz mit quietschenden Reifen und heulendem Motor verließ.

 

*

 

Dass ich ohne Unfall nach Hause kam, war ein Wunder. Ich konnte mich danach an keine rote Ampel und keine Abbiegung mehr erinnern. Aber irgendwie kam ich an. Ich parkte und stellte den Motor ab. Ich brauchte zwei Anläufe. Meine Finger bebten so sehr, dass ich den Knopf beim ersten Versuch nicht herunterbekam.

Mit der Sporttasche über der Schulter wankte ich die Treppen hinauf. Auch die Wohnungstür bekam ich nicht auf Anhieb aufgesperrt. Zweimal glitt der Schlüssel ab. Als ich endlich drin war, hörte ich die Geräusche von FIFA aus dem Wohnzimmer, und fast sofort Finns Stimme. „Martin? Bist du das?“

Ich nickte. Dann schüttelte ich den Kopf, schloss die Augen und zwang mich, durchzuatmen. „Ja!“

Ich stellte die Tasche ab, zog mit fahrigen Bewegungen die Schuhe von den Füßen und ging ins Wohnzimmer. Finn saß mit dem Controller in der Hand auf dem Sofa.

„Die Tür klang so komisch.“ Er studierte mich, und seine Stirn furchte sich. „Sag mal, du bist ja total bleich! Was ist denn los?“

Einen Moment erwiderte ich seinen Blick. Dann schloss ich die Augen, sank auf den Sessel nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. „Er war da. Beim Training.“

„Was!?“

Ich nahm die Hände vom Gesicht. Finn war aufgesprungen und starrte mich entsetzt an. Auf dem Fernseher lief noch immer FIFA. Finn folgte meinem Blick, haute auf ein paar Knöpfe, und der Bildschirm wurde schwarz. Er schmiss den Controller aufs Sofa. „Was hast du gesagt?“

Ich nickte. Jede Sehne in meinem Körper wog plötzlich eine Tonne. „Doch. Er hat zugeschaut. Er … er sagt, er will mit mir reden.“

„Er hat mit dir gesprochen!?“ Finn machte einen Schritt auf mich zu. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen schauen zu können.

„Nach dem Training. Er stand am Zaun. Als Letzter, ganz links.“ Vor meinen Augen verschwamm Finn, und ich sah ihn noch einmal neben dem Trainingsplatz stehen, in seiner Jacke, mit Kapuze, die Hände in den Taschen vergraben. „Er hat gesagt, er konnte nicht widerstehen.“

„Nicht widerstehen? Was denn? Dich auffliegen zu lassen oder was?“

Ich blinzelte und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Finns Gesicht war knallrot angelaufen. Er sah aus wie eine blondierte Kirsche. Aber zum Lachen war mir nicht zumute, und ihm erst recht nicht. Er drehte sich abrupt von mir weg, machte einen Schritt nach vorne und stolperte fast über den Couchtisch. Mit der Hand fing er sich ab, umrundete die Ecke des Tisches und stürmte auf der freien Fläche vor den Balkontüren auf und ab.

„Wie kann er das tun? Wie KANN er nur? Nach zwei Monaten, aus dem NICHTS, einfach wieder auftauchen, nachdem er dich so sitzengelassen hat? Ohne Ankündigung, ohne Warnung, ohne Anruf, NICHTS! Und dann auch noch beim Training! In der Öffentlichkeit! Ich meine, das ist dein Job, verdammt noch mal! Und dann auch noch mit dir REDEN! Was meint er denn, wie du reagierst, wenn er da einfach so auftaucht und mit dir spricht? Glaubt er, du freust dich? Er weiß doch, dass keiner außer mir weiß, dass du schwul bist! Und dann lauert er dir beim TRAINING auf! Ich meine, WILL er dich outen oder was? Das ist doch einfach –“

„Will er nicht.“

Unter Finns Geschrei war meine Stimme selbst für mich kaum hörbar, aber zumindest undeutlich musste Finn sie vernommen haben. „Was?“

„Will er nicht“, wiederholte ich lauter.

Was Finn gesagt hatte, waren alles Gedanken, die mir auch gekommen waren, auf meiner Flucht ins Stadion, in der Kabine, auf dem Weg nach Hause. Aber jetzt, als ich sie von Finn hörte, war es, als hätten sie meinen Kopf durch seinen Mund verlassen, und dafür war Platz für eine neue Erkenntnis, so scharf und klar, dass ich mich ihr so vorsichtig annäherte wie einer hauchdünnen Glasscheibe: als ob ich mich durch jede Bewegung an ihr schneiden oder sie zerbrechen könnte.

„Er will mich nicht outen.“ Erneut verschwand das Wohnzimmer, und ich sah stattdessen den Trainingsplatz, den Zaun, die Fans, Ramin. Wie ein Detektiv ging ich jedes Detail Schritt für Schritt durch, und mit jedem neuen Bild wurde das Gewebe fester. „Er stand ganz links. Ganz am Ende der Reihe. Er hatte die Jacke ganz zu und die Kapuze auf, sodass ich ihn erst gar nicht erkannt habe. Eigentlich ist es ja viel zu warm. Aber er wollte nicht, dass ich während dem Training zufällig zu ihm rüber schaue und mich erschrecke. Deswegen hat er sein Gesicht nicht gezeigt.“

Die Erkenntnis kam mir in dem Augenblick, in dem die Worte meinen Mund verließen, aber ich wusste, dass es stimmte. „Und als ich zu den Fans gegangen bin, waren die anderen ja fast alle schon weg. Wegen dem Extratraining. Das konnte er natürlich nicht wissen, das war halt Glück.“

Ich schluckte, atmete. Mit jedem Wort legte sich der Sturm ein bisschen mehr, und der Nebel lichtete sich. „Er stand ganz links. Das war bestimmt Absicht. Die anderen waren ja schon durch, da konnte er sehen, dass wir immer rechts anfangen und nach links durchgehen. Er hat sich gedacht, dass die Chance, mich allein zu erwischen, am größten ist, wenn er ganz links steht.“

Bild um Bild, Erinnerung um Erinnerung legte sich ineinander. Alles passte. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass etwas Sinn ergab, dass etwas ganz und gar und vollkommen richtig war. Vielleicht das erste Mal seit Wochen. Vielleicht das erste Mal seit dem siebzehnten Januar, dem Sonntag nach dem Trainingslager.

„Und das hat geklappt. Er war der Letzte, und die anderen Fans standen mehrere Meter weit weg.“ Ich sah ihn den Kopf drehen, sah ihn nach links schauen, bevor er den Schritt auf mich zu gemacht und mir den Blick unter die Kapuze gewährt hatte. „Das hat er extra geprüft, bevor er mir sein Gesicht gezeigt hat. Er wollte, dass uns keiner beobachtet. Dass uns keiner sieht. Wenn das nicht so gewesen wäre, wäre er weggeblieben. Dann hätte er nicht zugelassen, dass ich ihn erkenne. Weil er eben nicht wollte, dass irgendwer was mitkriegt.“

Die plötzliche Sicherheit war ein unglaubliches Geschenk. Nach dem Riesenschreck, nach dem Abgrund, der sich vor mir aufgetan hatte, hätte ich mich an jeden Strohhalm geklammert. Das war mehr als ein Strohhalm. Das war ein Stahlseil. „Er wollte mich nicht outen. Er wollte mir nicht schaden. Er wollte …“

Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Ich will mich entschuldigen, hallten seine letzten Worte in mir nach. Wieder hörte ich den Unterton. Intensiv, dringlich, aber da war noch etwas gewesen, etwas, das mir erst jetzt, mit Abstand und in der geschützten Abgeschiedenheit des Wohnzimmers, klar wurde. Flehentlich.

„Oh, Martin.“

Ich zuckte zusammen. Finn stand mit herabbaumelnden Armen vor mir. „Nicht schon wieder. Bitte, nicht schon wieder.“

Ich sah ihn an. Zwischen uns materialisierte sich der Flur, hallten Ramins Schritte im Treppenhaus nach. Ich liebe dich nicht. Ich bin nicht dein Freund. Du bist schwach. Du bist erbärmlich. Du bist ein feiger kleiner Wichser. FEIGER KLEINER WICHSER!

Ich blinzelte. Der Flur verschwand, und mit ihm ein großer Teil des Euphorie-artigen Zustands, in den die Erleuchtung von eben mich versetzt hatte. Ja, Ramin hatte mir heute nichts Böses gewollt. Ja, er hatte gesagt, er wolle mit mir reden, er wolle sich entschuldigen. Aber er hatte mich auch verletzt. So sehr. Er hatte mich in Stücke gerissen. Und als seine Worte jetzt in mir nachhallten, bohrte sich ein neuer Splitter in mich hinein.

Und dann war plötzlich noch ein anderes Echo in meinem Kopf. Deine Mannschaft braucht dich. Eure Fans brauchen dich, und deine Mitspieler brauchen dich. Du meinst also, weil du unfair behandelt worden bist, und weil dir jemand wehgetan hat, dass dir das das Recht gibt, andere unfair zu behandeln und dafür ihnen wehzutun?

Ich schluckte. Meine Finger verkrampften sich zu Fäusten. Finn starrte mich noch immer verzweifelt an.

Ich atmete durch. Meine Hände entspannten sich, und ich stand auf. Als ich sprach, war meine Stimme leise, aber fest. „Nein, Finn. Keine Angst. Ich … werde diesmal klarkommen.“

Ein bisschen Angst verschwand aus seinen Augen. Aber nicht alles. Er blieb einen Moment regungslos stehen, umrundete dann mit schnellen Schritten den Couchtisch und fiel mir um den Hals. Ich spürte, wie er sein Gesicht in meine Schulter presste. „Tu dir das nicht noch mal an. Bitte, bitte, tu dir das nicht noch mal an.“

Ich klopfte ihm auf den Rücken. „Hey, ich hab noch nicht mal geduscht.“

Er reagierte nicht. Ich wusste nicht, ob er es überhaupt wahrgenommen hatte. Ein paar Sekunden stand ich da, spürte erst jetzt so richtig, wie mir die Klamotten am verschwitzten Körper klebten, und schauderte. Dann konnte ich nicht mehr anders. Ich schob Finn sanft, aber bestimmt von mir weg. „Hey. Alles gut, okay? Alles gut.“

Er nickte, schniefte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Plötzlich wollte ich nur noch allein sein. „Ich geh jetzt duschen.“ Mit Mühe brachte ich ein Lächeln zustande. „Zock du mal weiter FIFA, ja?“

Ich gab ihm einen Klaps auf die Schulter, drehte mich um und verschwand Richtung Badezimmer, ohne mich noch einmal umzusehen.

 

*

 

Nach dem Duschen ging ich direkt in mein Zimmer. Eigentlich wäre jetzt Zeit zum Abendessen gewesen, aber ich wollte immer noch keine Gesellschaft. Außerdem hatte ich keinen Hunger. Stattdessen saß ich auf meinem Bett und starrte das schwarze Display meines Handys an, das ich mit der rechten Hand umklammerte.

Ich hatte nachgedacht. Wie immer hatte das heiße Wasser geholfen, meine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Ganz windstill war es in meinem Kopf zwar immer noch nicht, aber der Wirbelsturm hatte sich erst mal gelegt. Ich wusste zwar nicht, was ich wollte, aber immerhin war ich mir ziemlich im klaren darüber, was ich nicht wollte.

Das Wichtigste war der Fußball. Das war mein Job, meine Pflicht, meine Verantwortung, und auf keinen Fall wollte ich noch mal alle hängen lassen, die Mannschaft, die Trainer, die Fans, den Verein, die Stadt. Hier hatte ich meinen Platz, hier wurde ich gebraucht, hier konnte ich mich darauf verlassen, dass an jedem Wochenende ein Spiel und am nächsten Tag wieder Training war. Das war die Basis, und auf ihr musste ich fest und sicher stehen. Deswegen hatte ich mir eins versprochen: Auf gar keinen Fall würde ich mich von irgendetwas – oder irgendjemandem – von meiner vollen Konzentration auf das Spiel am Samstag in Hannover abbringen lassen. Das Spiel, bei dem ich wieder von Anfang an dabei sein würde. Musste. Hoffentlich. Endlich. Das war Prio eins. Nichts war wichtiger als das.

Aber das Nächste, das ich nicht wollte, war, die Augen vor allem zu verschließen. Ramin war beim Training aufgetaucht. Er war zurückgekommen, um mich zu sehen. Mit mir zu reden.

Warum? Und wie? Warum war er nicht in New York? Wo war er jetzt? Wie lange würde er in Hamburg bleiben? Was wollte er hier? Nach allem, was er mir hingeknallt, allem, was er gesagt hatte – was wollte er jetzt noch von mir? Wollte er noch etwas von mir?

Bei diesen Fragen hatte sich mein Herzschlag beschleunigt, und mir war schwindelig geworden. Ich hatte das aktiv niederringen müssen. Nicht, hatte ich mir befohlen. Denk an den Fußball!

Ich wusste, dass es diese Gedanken waren, vor denen Finn Angst hatte, und ich wusste auch, dass er wollte, dass ich Ramins Auftauchen ignorierte. Nicht nachfragen. Nicht drüber nachdenken. Nichts. Aber war das auch, was ich wollte?

Mit geschlossenen Augen war ich dagestanden, hatte das Wasser an meinem Körper gespürt und wieder Sierras Stimme in meinem Kopf gelauscht. Finn steckt zu tief in dem Ganzen drin. Er ist zu voreingenommen gegen Ramin. Wie recht sie gehabt hatte. Finn hatte gute Gründe, schlecht von Ramin zu denken, aber auf ihn konnte ich nicht hoffen, wenn ich einen neutralen Rat, jemandem zum Reden wollte. Aber auf wen dann?

Kurz hatte ich mit dem Gedanken gespielt, Sierra anzurufen. Vielleicht wusste sie, warum Ramin hier war; vielleicht war er längst bei ihr in London gewesen. Diese Möglichkeit hatte ihren Reiz gehabt, aber noch bevor ich mich ganz dafür entscheiden konnte, war mir aufgegangen, dass sie gar nicht existierte. Ich konnte Sierra nicht anrufen, weil ich ihre Nummer nicht hatte. Als sie im Februar hier gewesen war, hatten wir beide nicht daran gedacht, sie auszutauschen.

Sierra fiel als Gesprächspartner also raus. Finn fiel auch raus. Das Ganze zu ignorieren, fiel definitiv raus. Es blieb nur eine Möglichkeit. Eine letzte Person, mit der ich reden konnte. Und die war schließlich der Kern der ganzen Sache.

Ich schluckte. Mein Daumen schwebte über dem Display. Ich wusste, dass es vermutlich nicht klug war, was ich da gleich tun würde. Aber ich wusste auch, dass ich ohne diesen Anruf an nichts anderes mehr würde denken können. Ich musste es tun. Nicht trotz des Fußballs. Für den Fußball.

Ein Wischen, und das Display wurde hell. Auf dem Zahlenfeld tippte mein Daumen oben links, zweimal unten Mitte, unten links für die 1887, und meine Apps erschienen auf dem Bildschirm. Unten Mitte für die Kontakte. Ein Wischen, ein Klick in der Buchstabenleiste auf R. Innehalten. Gänsehaut. Dann – eine Berührung. Handy ans Ohr. Augen zu. Atmen.

Es klingelte nur einmal. Dann hob er schon ab. „Hallo?“ Seine Stimme klang atemlos, als sei er gerade gerannt.

Ich presste die Lider zusammen. Holte Luft und öffnete den Mund. „Ich bins. Martin.“

Ich hielt die Luft an. Am anderen Ende der Leitung stieß er sie aus. „Martin. Gottseidank.“

Stille. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber plötzlich platzte die eine, zentrale Frage einfach aus mir heraus. „Was willst du hier?“

Er antwortete schnell, immer noch schwer atmend, als sei er tatsächlich eben noch Treppen rauf- und runtergesprintet. „Ich bin gekommen, um dich zu sehen. Um mit dir zu reden. Bitte. Ich –“

„Wo bist du?“ Meine Augen waren noch immer geschlossen, und ich hörte ein Zittern in meiner Stimme. Ich hasste den Gedanken, dass er es auch hören konnte.

„In einem Hotel. Im – im – Ich kann den Scheiß-Namen nicht aussprechen. Aber es ist in der Nähe von deiner Wohnung. Ich kann in fünfzehn Minuten da sein, ich –“

„Nein!” Das Wort flog mir von den Lippen. Aber ich wusste, dass es richtig war. „Nicht heute.“

Erneute Stille. Ich hörte ihn atmen. „Klar. Kein Problem.“ Er klang nicht mehr atemlos. Seine Stimme war flach und tonlos. Es gab eine kurze Pause. Dann fragte er, mit etwas mehr Leben: „Wann?“

„Ich – ich weiß nicht.“ Ich atmete tief und bewusst. Kontrolliert bleiben. Nicht auseinanderfallen. „Ich ruf dich an.“

Er schwieg. Dann – „Kann ich zu deinem Spiel am Samstag kommen?”

Für einen Moment vergaß ich das Atmen. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Nein? Ja? Ich spürte ein Prickeln im Nacken. Beide Antworten sendeten zu klare Botschaften. Botschaften, die ich noch nicht geben wollte. Ein Teil von mir wollte, dass er wegblieb. Aber ein anderer sah in dem Gedanken, dass Ramin in Hannover auf der Tribüne sitzen könnte, einen Reiz. Einen sehr großen Reiz. Ich rang nach Worten. Und plötzlich fielen sie mir ein. „Na ja, ich kann dich nicht dran hindern, dir eine Karte zu kaufen.“

Stille. Dann lachte er. Kurz und unsicher. Aber es war das alte Lachen, nicht das kalte, sondern das von davor. Tief und voll. Zittrig sog ich die Luft ein.

„Okay.“ Wieder eine Pause. „Du rufst an?“ Sein Tonfall war ein Fuß, der lang ausgestreckt einen zugefrorenen See betastete, um zu sehen, ob das Eis wohl halten würde.

„Ja.“ Ich atmete durch. „Wahrscheinlich am Sonntag oder … oder so.”

„Okay.” Ich hörte, wie auch er tief Luft holte. „Viel Glück!“

Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er das Spiel meinte. „Oh. Danke.“ Ich wartete. Aber er sagte nichts mehr. „Na dann – tschüss.“ Ich legte auf.

Chapter 53: Seht her!

Chapter Text

  1. Kapitel: Seht her!

 

Als ich am Samstag um kurz vor halb vier aus dem Spielertunnel in den Sonnenschein trat und nach links in Richtung Gästebank abbog, huschten meine Augen über die vollbesetzten Ränge. Aber die meisten Plätze waren zu weit weg, um einzelne Fans ausmachen zu können, und bei einem kurzen Blick auf die Haupttribüne links neben mir sah ich Männer, Frauen und Kinder, die meisten in Rot gekleidet, aber das Gesicht, das ich suchte, fand ich nicht.

Natürlich nicht. Ich wusste ja gar nicht, wo er saß. Ich wusste noch nicht mal, ob er überhaupt noch eine Karte bekommen hatte. Seit dem Telefonat am Donnerstag hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt.

„Und? Ein Drittel sind unsere, meinst du nicht?“

Ich zuckte zusammen, riss die Augen von der Tribüne los und richtete sie stattdessen auf Gidi, der hinter mir zur Ersatzbank gegangen war und wohl ebenfalls die Kulisse studiert hatte. Ich schaute noch einmal zu den Fans, diesmal hinüber zur Süd-West-Kurve, die fest in blau-weiß-schwarzer Hand war. Auch auf großen Teilen der Südtribüne und der Gegengerade waren überwiegend weiße Trikots und blau-schwarze Fahnen und Schals zu sehen.

Ich nickte, während Gidi und ich nebeneinander auf der Bank Platz nahmen. „Könnte hinkommen.“

Gidi rieb sich die Hände. „Dann hoffen wir mal, dass wir ihnen auch ordentlich was bieten.“

Wieder nickte ich, aber gleichzeitig biss ich die Zähne zusammen. Wir würden unseren Fans mal wieder überhaupt nichts bieten können. Ich stand nicht in der Startelf. Wieder nicht. Trotz vollem Einsatz und extra Krafttraining und extra Standardtraining. Bruno hatte wieder Lewis und Albin aufgestellt. Mein letzter Startelfeinsatz aus dem Spiel gegen Schalke vom zweiten März lag jetzt genau einen Monat zurück.

Bei der Besprechung gestern, als Bruno die Aufstellung bekanntgegeben hatte, hatte ich den Kampf um einen neutralen Gesichtsausdruck zum ersten Mal wirklich verloren. Ich hatte doch alles gegeben, alles, seit dem Hoffenheim-Spiel, und ich hatte so sehr darauf gehofft, zu spielen. Mehr als gehofft. Ich hatte damit gerechnet. Als ich gestern Lewis‘ und Albins Namen auf der Tafel gelesen hatte, hatte ich auf meine Oberschenkel gestarrt und mir so fest auf die Lippe gebissen, dass ich Blut geschmeckt hatte. Schon wieder Lewis und Albin. Konnten die nicht mal auf der Treppe ausrutschen oder umknicken und sich die Bänder reißen?

Ein eiskalter Schauer war mir über den Rücken gelaufen. Mein Gott, was passiert mit mir? Ich hatte mich geschüttelt und versucht, Bruno zuzuhören. Schau dir Gidi an, dem geht’s genauso wie dir und der kommt auch klar, hatte ich mir gedacht, aber geholfen hatte es nicht. Gidi teilte in der Tat haargenau mein Schicksal, und er hatte trotzdem gerade in der Kabine mit den Jungs Witze gerissen, den Startelfspielern auf die Schulter geklopft, und jetzt saß er locker neben mir auf der Bank, hielt sein Gesicht in die Sonne und hoffte, dass die Jungs auf dem Rasen ein super Spiel hinlegen würden. Und das hatte nichts mit fehlendem Ehrgeiz zu tun. Unter der Woche gab er trotzdem alles, um zu spielen. Aber wenn es nicht klappte, versuchte er eben, von der Bank aus alles für den Sieg zu tun. Alles für die Mannschaft. So sollte es sein. So sollte ich mich auch verhalten.

Aber ich konnte einfach nicht. Ich konnte nur hier sitzen, mit zusammengepressten Lippen, und darum kämpfen, meine Gefühle nicht zu sehr nach außen dringen zu lassen. Wie lange sollte das denn so weitergehen? War das hier jetzt mein neuer Stammplatz? Für immer und immer und immer? Ich machte doch so viel. Ich gab doch alles, jeden Tag, in jedem Training. Reichte das denn nicht mehr? War ich denn auf einmal auch für Bruno nicht mehr gut genug?

Und heute war auch noch Ramin da. Oder? War er hier, irgendwo auf der Tribüne? Oder nicht? Hatte er noch eine Karte bekommen? Wieder huschte mein Blick über die Ränge, die Gesichter, unzählige unförmige Flecken, blass und farblos zwischen dem Blau und Schwarz und Grün und Rot. War er hier? Schaute er zu?

Aber eigentlich, schoss es mir durch den Kopf, während meine Kollegen zum Jubel der Fans aufs Spielfeld liefen, war es ja egal. Selbst wenn er hier war, würde er ja nichts sehen. Je nachdem, wo sein Platz war, würde er höchstens einen Blick auf meine Schuhspitzen erhaschen können. So viel zu your match. Ich verschränkte die Arme und verfolgte mit eingefrorenen Gesichtszügen das Spiel.

Es war ein absoluter Grottenkick. Hannover war abgeschlagen Letzter und hatte bis jetzt in der kompletten Rückrunde erst ein einziges Tor zu Hause erzielt. Trotzdem lief bei uns nichts zusammen. Wir ließen immer wieder Flanken und Torschüsse zu, und in den seltenen Situationen, in denen wir in den gegnerischen Strafraum kamen, vergaben wir die Chance entweder durch ein Offensivfoul, wie Schippo nach einer halben Stunde, oder durch schiere Unfähigkeit, als Ivo in der zwölften Minute mutterseelenallein fünf Meter vor dem Tor den Ball über den leeren Kasten haute.

Ich sah immer wieder zu Bruno, der in den ersten Minuten noch gestenreich die Coachingzone rauf- und runtergetobt, mit der Zeit aber immer ruhiger geworden war und mittlerweile völlig unbeweglich dastand. Für die Spieler auf dem Platz kein gutes Zeichen. Aber je starrer Bruno wurde, desto mehr fingen meine Füße an zu kribbeln. Und tatsächlich drehte er sich direkt nach Schippos Offensivfoul zu uns um und befahl: „Warmmachen, alle!“

Zu siebt machten wir uns auf den Weg hinter Renés Tor. Nicht nur Gidi war dabei, sondern auch Michi, für den Nico wieder die rechte Außenbahn übernommen hatte. Aber ich sprach kein Wort und schaute nur auf die paar Meter Rasen direkt vor mir. Ab und zu, wenn die anderen die mit Hütchen abgesteckte Strecke abliefen und ich wartete, bis ich wieder dran war, schweifte mein Blick durchs Stadion, über die südlichsten Blöcke der Haupttribüne und die unteren Ränge der Südkurve hinter dem Tor. Gesicht für Gesicht scannte ich, hunderte in Sekundenschnelle, bevor ich loslaufen und wieder auf meine Schritte achten musste. Jeder Schlag meiner Schuhe auf dem Rasen schleuderte eine Frage durch meinen Kopf. Wo war er? War er hier? Fragte er sich, warum ich nicht spielte? War ihm aufgefallen, dass Bruno uns schon zum Warmmachen geschickt hatte? Beobachtete er das Spiel? Oder beobachtete er mich, jetzt, in diesem Moment, sah jeden meiner Schritte, jedes Lockern der Arme, jedes Kreisen des Nackens, jeden Blick Richtung Tribüne?

„Suchst du irgendwen?“

Ich fuhr so ruckartig herum, dass meine Halswirbel knackten. Gidi stand hinter mir und sah mich stirnrunzelnd an.

„Ich? Ne, wieso?“ Mein Gesicht glühte. Hoffentlich würde Gidi das der Sonne und dem Anschwitzen zuschreiben.

„Du schaust ständig auf die Tribüne. Hast du vorhin schon gemacht, als wir rausgekommen sind. Ist irgendwer von dir da heute?“

„Quatsch.“ Mein Mund war trocken. Hatte ich gerade gelogen? Nein? Ja? Aber Gidi gegenüber war es egal. Ich musste so tun, als wäre nichts. Wieder mal. Ich spürte, wie mein Unterkiefer sich anspannte. „Ich find’s nur super, wie viele Fans von uns da sind. Fühlt sich fast wie ein Heimspiel an.“

Ich drehte mich um und ging in die nächste Übung. Konzentrier dich. Denk an dein Versprechen. Erst das Team. Nichts steht über dem Team.

Langsam wurde mein Atem ruhiger. Es war, als ob alles, was in meinem Kopf gewirbelt hatte, durch meinen Oberkörper und meine Beine in meine Füße hinab und aus mir herausfloss, bis ich nichts spürte als nur den Kontakt meiner Schuhe zum Gras. Was unserem Spiel fehlte, war Ordnung und Struktur, nach vorne wie hinten. Kleinere Abstände in der Rückwärtsbewegung, schnelleres Umschalten nach vorne, breit machen über die Flügel, präzise Pässe, klare Spielzüge. Die anderen Auswechselspieler passten dafür nicht. Lasso und Artjoms waren Verwerter, keine Gestalter, Nabil ein Flügelmann und obendrein zu neu, Michi zu offensiv, Gidi zu defensiv. Ich war der Einzige, der alle Aufgaben ausfüllen konnte. Wenn ich gut war. Und das würde ich sein. Bruno würde mich einwechseln, und ich würde ihm beweisen, dass ich nicht auf die Bank gehörte. Ich würde es ihm zeigen. Ihm, und allen, die sonst noch zuschauten.

Nach genau fünfundvierzig Minuten pfiff Robert Hartmann zur Halbzeit. Die Hannoveraner verabschiedeten ihr Team mit Applaus, aber aus dem Gästeblock hagelte es Pfiffe. Kein Wunder, nach der Leistung. Wir machten uns wie die Startelfspieler auf den Weg zurück in Richtung Spielertunnel, allerdings nicht, um mit in die Kabine zu gehen, sondern um Bälle zu holen und uns in der Pause auf dem Platz weiter warmzumachen. Schon aus der Ferne sah ich, dass Bruno noch nicht in den Katakomben verschwunden war, sondern in der Coachingzone wartete. Ein Kribbeln wanderte von meinen Füßen meine Beine hinauf und strömte durch meinen ganzen Körper.

Als ich an Bruno vorbei zu den Ballsäcken hinter der Bank gehen wollte, legte er mir die Hand auf den Unterarm. „Du spielst jetzt. Für Lewis, mit Albin auf der Sechs. Spiel klare Pässe, mach das Spiel nach vorne schnell. Aber immer nach hinten absichern! Halt die Abstände klein, klar?“

Ich nickte. Jeder Muskel in meinem Körper vibrierte. Ich wollte keine Pause. Ich wollte loslegen. Jetzt.

Bruno studierte mich, dann gab er mir einen Klaps auf die Schulter. „Mach dich noch mit Ball warm. Und dann zeig, was du kannst!“

Er verschwand im Spielertunnel – vermutlich, um in der Kabine ein Donnerwetter loszulassen. Ich sah ihm hinterher. Zeig, was du kannst. Ihr werdet schon sehen, dachte ich. Ihr werdet schon sehen.

 

*

 

Als die Teams wieder auf den Rasen gelaufen kamen, musste ich noch mal runter vom Platz. Ich tauschte mein Aufwärmshirt gegen mein Trikot, Eddy meldete den Wechsel beim vierten Offiziellen an, und kurz darauf leuchtete auf der Tafel die Nummer 6 in Grün und die 8 in Rot auf. Ich lief aufs Spielfeld.

Auf dem Weg zu meiner Position schlug ich mit Ivo, Aaron und Albin ab, und als ich auf meinem Platz angekommen war, klatschte ich in die Hände. „Auf geht’s, Jungs, unser Spiel!“

Hannover hatte Anstoß. Stürmer Hugo Almeida tippte den Ball zu seinem Nebenmann Adam Szalai, der ihn zurück zu Sechser Ceyhun Gülselam spielte. Die Hannoveraner Offensivspieler liefen geschlossen nach vorne, den Blick nach hinten gerichtet.

„Zuordnung!“, brüllte ich und hörte, wie Emir hinter mir das gleiche Kommando gab. Ich heftete mich an die Fersen von Achter Iver Fossum, der erst im Winter nach Hannover gewechselt war, aber seitdem schon fünf Startelfeinsätze zu verzeichnen hatte. Er war ein halbes Jahr jünger als ich und – das Beste – einen Zentimeter kleiner. Nach dem Anstoß war er ins linke Mittelfeld gelaufen und wartete jetzt, genau wie alle anderen Spieler, auf Gülselams langen Ball. Als er ihn schlug, flog er genau auf uns zu.

Ich nahm zwei Schritte Anlauf und stieg hoch. Ich übersprang Fossum, aber einen Wimpernschlag, bevor mein Kopf den Ball traf, rammte sein Körper beim Versuch, das Duell zu gewinnen, in meine linke Seite, und ich konnte die Richtung des Kopfballs nicht mehr kontrollieren. Der Ball sprang nach links von meiner Stirn weg und fiel Hannovers Rechtsverteidiger Hiroki Sakai in den Fuß, der ihn annahm und nach einer Anspielstation Ausschau hielt.

„Ja!“

Fossum hatte schneller das Gleichgewicht zurückerlangt als ich und sprintete Sakai entgegen. Mit großen Schritten nahm ich die Verfolgung auf. Fossum bekam die Kugel in den Fuß, drehte sich über die linke Schulter auf, sah mich einen halben Meter von ihm entfernt auf ihn zulaufen und legte sich den Ball schräg nach rechts in Richtung Seitenauslinie vor. In einer fließenden Bewegung änderte ich die Richtung, ohne Tempo zu verlieren. Seite an Seite sprinteten Fossum und ich die Linie entlang, den Ball fest im Blick. Als ich noch zwei Schritte entfernt war, ging ich in den Tiefflug, das rechte Bein wie eine Lanze ausgefahren. Mit der Sohle erwischte ich die Kugel voll und rutschte ihr hinterher über die Seitenauslinie. Fossum geriet ins Straucheln und fiel über meinen Oberkörper der Länge nach auf den Rasen.

„Hey!“ Mit ausgebreiteten Armen und großen Augen bettelte er den Linienrichter um einen Freistoß an, aber der schüttelte den Kopf und hob nur die Fahne parallel zur Seitenauslinie nach rechts. Einwurf für Hannover. Ich schnappte mir den Ball, warf ihn Sakai zu und lief zurück aufs Spielfeld. Sobald auch Fossum wieder stand, klebte ich wieder an seinem Rücken.

Die ersten zehn Minuten der zweiten Halbzeit waren zerfahren, ohne viel Spielfluss und sehr zweikampfbetont. Große Offensivaktionen gab es auf keiner Seite. Nur einmal mussten wir durchatmen, als René einen eigentlich harmlosen Schuss von Zehner Hiroshi Kiyotake beinahe durch die Hände rutschen ließ. Dafür hielt er zwei Minuten später eine Volleyabnahme von Fossum aus zwanzig Metern sicher fest. Ich fletschte die Zähne. Das war heute der letzte Torschuss von dir, den ich nicht verhindert habe, schwor ich mir, während ich schon wieder versuchte, mich im Mittelfeld für den Abschlag von René freizulaufen.

Zwei Minuten später spielte Cleber mir aus der Innenverteidigung den Ball mit dem Kommando „Dreh!“ zu. Mit der ersten Ballberührung machte ich die 180-Grad-Wende, sah vor mir viel freie Fläche und nahm Tempo auf. Meine Augen flogen über das Spielfeld. Ivo könnte ich anspielen, aber hinter ihm lauerten Sakai und Innenverteidiger Alexander Milosevic. Unwahrscheinlich, dass eine Torchance daraus werden würde. Und Aaron war in der Mitte zugestellt …

Ich rammte den linken Fuß in den Rasen, glitt mit Rumpf und Oberkörper nach rechts und nahm den Ball mit dem rechten Außenrist mit. Jetzt hatte ich die rechte Seite des Spielfelds im Blick. Hinter mir spürte ich Fossums Atem, ein paar Meter vor mir kam der zweite Achter Edgar Prib auf mich zu. Aber hinter Prib, weit draußen, an der Außenlinie, stand eine einzelne Gestalt in Weiß, und um sie herum war niemand zu sehen. Die Gestalt winkte mit beiden Armen.

Ich lehnte den Oberkörper nach hinten, brachte den Innenspann unter den Ball und schoss. Nico nahm den Pass in einer Bewegung mit, überlief Linksverteidiger Oliver Sorg locker, drang in den Strafraum ein und legte den Ball mit der Innenseite auf den Elfmeterpunkt zurück. Schippo holte aus, traf die Kugel satt mit dem Vollspann, und – Keeper Ron-Robert Zieler flog durch die Luft, fuhr die Hand aus und lenkte den Schuss mit den Fingerspitzen um den Pfosten. „UHHH!“, hallte es durch die Süd-West-Kurve, auf die wir jetzt spielten.

Meine Hände, die schon auf dem Weg nach oben gewesen waren, flogen statt zu Fäusten geballt in die Luft in mein Haar und krallten sich hinein. Das war nach Ivos Fehlschuss in der zwölften Minute die zweite Riesenchance, die wir vergeben hatten! Aber egal. Dann würde es eben jetzt klingeln.

Ich lief nach links zur Eckfahne vor der Süd-Ost-Kurve und legte den Ball auf die weiße Linie. In der ersten Halbzeit hatte Aaron die Standards getreten, und nichts war daraus entstanden. Diesmal würde ich mich nicht von ihm abwimmeln lassen. Diese Ecke gehörte mir.

Ich ging drei Schritte zurück und fixierte den Strafraum, wo sich eine Spielertraube in Rot und Weiß um den Elfmeterpunkt gebildet hatte. Ich suchte nach Emir und Cleber, den Kopfballstärksten im Team. Beide waren im Getümmel dabei. Aber wenn alles so lief, wie wir es trainiert hatten, würde das Getümmel sich gleich auflösen. Ich wusste, wo die beiden hinlaufen würden, und ich wusste, wo sie den Ball brauchten. Ich atmete durch, hob den rechten Arm, nahm Anlauf und schoss.

Von meinem rechten Innenspann flog der Ball in den Strafraum, wobei er sich leicht zum Tor hindrehte, aber weit genug wegblieb, dass Zieler keine Chance hatte, ihn herunterzufangen. Er zischte auf Höhe des ersten Pfostens über Emirs Kopf hinweg und damit auch über die Schädel der Hannoveraner Innenverteidiger, die Emir gedeckt hatten und jetzt nicht mehr eingreifen konnten. Zwischen Elfmeterpunkt und langem Pfosten senkte sich die Kugel, und genau dort wartete Cleber, der vom Freiraum, den Emir geschaffen hatte, profitierte und unbedrängt köpfen konnte. Von seiner Stirn flog der Ball schnurgerade ins rechte obere Toreck.

„JAAAAAAAAA!“

Mit geballten Fäusten brüllte ich den Himmel an. Einen Moment starrte ich aufs Spielfeld, wo Emir und Schippo mit Cleber jubelten, dann fuhr ich zur Tribüne herum und ließ den Blick über die Zuschauer jagen, über die feiernden und sich umarmenden Fans in Weiß, über die starr und versteinert dasitzenden in Rot.

„JAAAAAAAA!“

Ich nahm zwei Schritte Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Eckfahne, die hin- und herschwankte wie eine Jolle im Sturm.

„JAAA!“

Ein Körper prallte von hinten auf meinen, zwei Arme umschlangen mich, ich hörte Dennis‘ jubelnde Stimme, und gleich darauf Aarons und Nicos. Auch Emir, Schippo und Cleber kamen angelaufen, um das Tor zu feiern.

Als wir uns in unserer Hälfte aufstellten, hatte ich schon wieder nichts als den nächsten Zweikampf im Kopf. Eine halbe Stunde war noch zu spielen, und es kam jetzt darauf an, in den nächsten zehn, fünfzehn Minuten kein Gegentor zu kassieren. Je mehr Zeit verstrich, desto schwerer würden die Beine unserer Gegner werden, desto mehr würde jeder Meter wehtun. Für uns würden sich dagegen immer mehr Räume zum Kontern auftun. Nur jetzt nicht gleich den Ausgleich kassieren.

Aber in diese Gefahr gerieten wir nicht. Hannover hatte bisher für die Verhältnisse eines abgeschlagenen Tabellenletzten ein ziemlich gutes Spiel gemacht, aber schon mit den ersten Pässen nach Wiederanpfiff wurde klar, dass das Gegentor das kümmerliche bisschen Selbstvertrauen, das noch vorhanden gewesen war, zerstört hatte. Ab sofort reihte sich Querpass an Querpass, es gab kaum noch Bewegung ohne Ball, und jeder Spieler schien hauptsächlich daran interessiert zu sein, die Kugel möglichst schnell weiterzugeben, um nur ja nicht selbst den nächsten Fehler zu machen.

Zehn Minuten nach unserem Treffer wechselte Bruno Michi für Aaron ein, und auch Hannovers Trainer Thomas Schaaf wechselte und brachte mit Uffe Bech für Gülselam einen Stürmer für einen Sechser – ein letzter verzweifelter Versuch, doch noch für frischen Wind nach vorne zu sorgen. Aber nur zwei Minuten nach seiner Einwechslung bewies Bech, dass er nicht vorhatte, sich positiv von seinen Mannschaftskameraden abzuheben, und ließ den Ball bei einer unbedrängten Annahme von seinem Fuß ins Aus springen. Dennis schnappte sich die Kugel und warf sie gedankenschnell zu Schippo, der auf dem rechten Flügel viel Platz hatte und zielsicher an die Kante des Fünfmeterraums flankte. Ivo war eingelaufen und machte es diesmal besser als in der zwölften Minute. Mit dem rechten Fuß schob er den Ball ins linke Eck. Zwei zu null für uns.

Direkt nach dem Anstoß der Hannoveraner gewann Michi den Zweikampf gegen Kiyotake und spielte den Ball zu Schippo. Der nahm den Kopf hoch und steckte die Kugel wunderbar zwischen Sorg und Innenverteidiger Christian Schulz durch auf Nico, der sie im Vollsprint mitnahm, in den Strafraum eindrang, Zieler umkurvte und ins leere Tor schoss. Das drei zu null war die endgültige Entscheidung.

Rund eine Viertelstunde später pfiff Hartmann das Spiel nach nur zwei Minuten Nachspielzeit ab. Der schrille Ton, der dreimal kurz hintereinander durchs Stadion hallte, zog einen Schleier von meinen Ohren. Vorher war der Lärm der Fans nur ein diffuses Hintergrundgeräusch gewesen, die Rufe meiner Mitspieler und der Gegner, der dumpfe Schlag, wenn ein Fuß den Ball traf und die gelegentlichen Schreie der Trainer von außen das einzig Klare, das ich wahrgenommen hatte. Jetzt rutschte ich mit Augen und Ohren vom Zoom- in den Weitwinkelmodus. Ich hörte unsere Fans „Auswärtssieg! Auswärtssieg!“ skandieren, die Pfiffe aus der Hannoveraner Kurve, sah Tribünen, auf denen die Zuschauer nach und nach aufstanden, klatschten, sich mit den Umstehenden unterhielten oder schon auf dem Weg die Treppen entlang zu den Ausgängen waren, und die Spieler auf dem Platz, meine in Weiß gekleideten Mannschaftskameraden, die sich grinsend abklatschten und umarmten, und die Hannoveraner in Rot, die auf dem Rasen lagen, saßen oder standen, elf Inseln in einem Meer aus grün, jeder für sich allein.

Links von mir, ein paar Meter vor unserer Bank, ging Gidi zu Michi, klatschte mit ihm ab und sagte etwas, das beide zum Lachen brachte. Erst wollte ich zu ihnen herübergehen, aber etwas hielt mich ab. Ich zögerte einen Moment und wandte meine Schritte stattdessen nach rechts, wo mein Gegenspieler Iver Fossum im Mittelkreis stand, die Hände in die Hüften stützte und ins Leere starrte.

„Hey.“

Sein Blick irrte durch die Luft, dann fand er mich.

„Gutes Spiel.“

Ich hielt ihm die Hand hin. Er lächelte und schlug ein. „Thanks.“

Klar, er war Norweger und erst seit drei Monaten in Deutschland. Mindestens das Sprechen fiel ihm sicher noch schwer. Auch ich wechselte ins Englische. „You’re a tough opponent. It wasn’t easy playing against you.”

Er lachte. Ein bisschen Leben kehrte in seine Augen zurück. „Thanks. You too!“ Dann grinste er. „But next time we play, I win!”

Ich lachte auch. Ich musste mich nicht mal anstrengen. Es kam einfach so. „No way!“

Einen Moment standen wir da. Die Sonne schien auf uns herab und wärmte meine Arme und mein Gesicht. Ich atmete tief ein und roch Frühling und Gras und Fußball. „Wanna swap shirts?“

Er schien sich zu freuen. „Sure!“

Er zog sein Trikot über den Kopf, ich meins, und wir tauschten. Ich warf einen Blick über die Schulter. Der Rest der Truppe versammelte sich, um sich auf den Weg in die Kurve zu machen. Plötzlich wollte ich doch unbedingt dabei sein. „Well, see you! Good luck for the next matches!”

“You too!”, rief er mir nach, und ich joggte dem Spielerpulk hinterher, der sich langsam in Richtung Süd-West-Kurve bewegte. Im Gehen fand ich die Öffnung von Ivers Trikot und wollte es mir über den Kopf ziehen. Dann tat ich es doch nicht. Stattdessen schlang ich es mir über die Schulter und hielt es beim Hüpfen fest, damit es nicht herunterfiel, während ich mit nacktem Oberkörper unseren Sieg in der Fankurve feierte.

 

*

 

Als ich im Bus mein Handy aus der Sporttasche zog, leuchtete in der Symbolleiste das WhatsApp-Logo. Finn hatte geschrieben und zum Sieg und der Vorlage gratuliert. Die zweite Nachricht hatte einen Chat nach oben gerückt, der zuvor in der Versenkung meiner Kontakte verschwunden war. Die letzte Kommunikation davor war am zweiten Januar gewesen, genau vor drei Monaten.

Ich schluckte. Einen Moment schwebte mein Daumen über seinem Namen. Dann senkte er sich aufs Display.

Ramins Nachricht war ganz kurz. Um 17.28 Uhr, rund zehn Minuten nach dem Abpfiff des Spiels, hatte er drei Worte an mich getippt: >Great game. Congratulations!<

Mein Mundwinkel zuckte, und ich stieß die Luft aus. Good shot. Great game. Glaubte er, dass es so einfach sein würde?

Ich drehte den Kopf zum Fenster, klemmte die Zungenspitze zwischen die Zähne und wippte mit der Ferse auf und ab. Ein paar Minuten beobachtete ich, wie Miro uns durch die Straßen Hannovers in Richtung Autobahn manövrierte. Dann richtete ich die Augen wieder aufs Handy, zog die Zungenspitze zwischen den Zähnen hervor und tippte eine Antwort. >Thanks<

Nachdem ich auf den Sende-Pfeil gedrückt hatte, verharrte mein Daumen über der Tastatur. Ein paar Sekunden starrte ich auf den Chat. Dann presste ich die Zähne aufeinander und fügte hinzu: >You can come to the flat tomorrow at three< Wieder zögerte ich, bevor ich ergänzte: >If you want<

Mein Daumen schwebte über der Tastatur. Sollte ich noch ein „to talk or whatever“ hinterherschieben?

Aber noch während ich hinsah, wurden die grauen Doppelhaken hinter meinen Nachrichten blau, und unter Ramins Namen erschien das Wort „online“. Gleich darauf machte es Platz für „schreibt…“. >Sure! Yes!<

Ich stieß den Atem aus, blinzelte und schüttelte den Kopf. Mein Nacken war steinhart. Als mein Blick aufs Handy zurückkehrte, hatte Ramin schon wieder geschrieben. >Thank you, Martin<

Ich atmete, einmal, zweimal, mein Daumen schreibbereit über dem Display. Aber statt auf die Tastatur führte ich ihn an die Seite auf die Powertaste, und der Bildschirm wurde schwarz. Ich ließ das Smartphone zurück in die Tasche gleiten, lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze, schloss die Augen und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.

Ich wusste nicht, was Ramin morgen zu mir sagen würde, und ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen würde. Aber eines wusste ich: Für ein Danke war es viel, viel zu früh.

Chapter 54: Seht her! - D

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  1. Kapitel: Seht her!

 

Als ich am Samstag um kurz vor halb vier aus dem Spielertunnel in den Sonnenschein trat und nach links in Richtung Gästebank abbog, huschten meine Augen über die vollbesetzten Ränge. Aber die meisten Plätze waren zu weit weg, um einzelne Fans ausmachen zu können, und bei einem kurzen Blick auf die Haupttribüne links neben mir sah ich Männer, Frauen und Kinder, die meisten in Rot gekleidet, aber das Gesicht, das ich suchte, fand ich nicht.

Natürlich nicht. Ich wusste ja gar nicht, wo er saß. Ich wusste noch nicht mal, ob er überhaupt noch eine Karte bekommen hatte. Seit dem Telefonat am Donnerstag hatten wir keinen Kontakt mehr gehabt.

„Und? Ein Drittel sind unsere, meinst du nicht?“

Ich zuckte zusammen, riss die Augen von der Tribüne los und richtete sie stattdessen auf Gidi, der hinter mir zur Ersatzbank gegangen war und wohl ebenfalls die Kulisse studiert hatte. Ich schaute noch einmal zu den Fans, diesmal hinüber zur Süd-West-Kurve, die fest in blau-weiß-schwarzer Hand war. Auch auf großen Teilen der Südtribüne und der Gegengerade waren überwiegend weiße Trikots und blau-schwarze Fahnen und Schals zu sehen.

Ich nickte, während Gidi und ich nebeneinander auf der Bank Platz nahmen. „Könnte hinkommen.“

Gidi rieb sich die Hände. „Dann hoffen wir mal, dass wir ihnen auch ordentlich was bieten.“

Wieder nickte ich, aber gleichzeitig biss ich die Zähne zusammen. Wir würden unseren Fans mal wieder überhaupt nichts bieten können. Ich stand nicht in der Startelf. Wieder nicht. Trotz vollem Einsatz und extra Krafttraining und extra Standardtraining. Bruno hatte wieder Lewis und Albin aufgestellt. Mein letzter Startelfeinsatz aus dem Spiel gegen Schalke vom zweiten März lag jetzt genau einen Monat zurück.

Bei der Besprechung gestern, als Bruno die Aufstellung bekanntgegeben hatte, hatte ich den Kampf um einen neutralen Gesichtsausdruck zum ersten Mal wirklich verloren. Ich hatte doch alles gegeben, alles, seit dem Hoffenheim-Spiel, und ich hatte so sehr darauf gehofft, zu spielen. Mehr als gehofft. Ich hatte damit gerechnet. Als ich gestern Lewis‘ und Albins Namen auf der Tafel gelesen hatte, hatte ich auf meine Oberschenkel gestarrt und mir so fest auf die Lippe gebissen, dass ich Blut geschmeckt hatte. Schon wieder Lewis und Albin. Konnten die nicht mal auf der Treppe ausrutschen oder umknicken und sich die Bänder reißen?

Ein eiskalter Schauer war mir über den Rücken gelaufen. Mein Gott, was passiert mit mir? Ich hatte mich geschüttelt und versucht, Bruno zuzuhören. Schau dir Gidi an, dem geht’s genauso wie dir und der kommt auch klar, hatte ich mir gedacht, aber geholfen hatte es nicht. Gidi teilte in der Tat haargenau mein Schicksal, und er hatte trotzdem gerade in der Kabine mit den Jungs Witze gerissen, den Startelfspielern auf die Schulter geklopft, und jetzt saß er locker neben mir auf der Bank, hielt sein Gesicht in die Sonne und hoffte, dass die Jungs auf dem Rasen ein super Spiel hinlegen würden. Und das hatte nichts mit fehlendem Ehrgeiz zu tun. Unter der Woche gab er trotzdem alles, um zu spielen. Aber wenn es nicht klappte, versuchte er eben, von der Bank aus alles für den Sieg zu tun. Alles für die Mannschaft. So sollte es sein. So sollte ich mich auch verhalten.

Aber ich konnte einfach nicht. Ich konnte nur hier sitzen, mit zusammengepressten Lippen, und darum kämpfen, meine Gefühle nicht zu sehr nach außen dringen zu lassen. Wie lange sollte das denn so weitergehen? War das hier jetzt mein neuer Stammplatz? Für immer und immer und immer? Ich machte doch so viel. Ich gab doch alles, jeden Tag, in jedem Training. Reichte das denn nicht mehr? War ich denn auf einmal auch für Bruno nicht mehr gut genug?

Und heute war auch noch Ramin da. Oder? War er hier, irgendwo auf der Tribüne? Oder nicht? Hatte er noch eine Karte bekommen? Wieder huschte mein Blick über die Ränge, die Gesichter, unzählige unförmige Flecken, blass und farblos zwischen dem Blau und Schwarz und Grün und Rot. War er hier? Schaute er zu?

Aber eigentlich, schoss es mir durch den Kopf, während meine Kollegen zum Jubel der Fans aufs Spielfeld liefen, war es ja egal. Selbst wenn er hier war, würde er ja nichts sehen. Je nachdem, wo sein Platz war, würde er höchstens einen Blick auf meine Schuhspitzen erhaschen können. So viel zu dein Spiel. Ich verschränkte die Arme und verfolgte mit eingefrorenen Gesichtszügen das Match.

Es war ein absoluter Grottenkick. Hannover war abgeschlagen Letzter und hatte bis jetzt in der kompletten Rückrunde erst ein einziges Tor zu Hause erzielt. Trotzdem lief bei uns nichts zusammen. Wir ließen immer wieder Flanken und Torschüsse zu, und in den seltenen Situationen, in denen wir in den gegnerischen Strafraum kamen, vergaben wir die Chance entweder durch ein Offensivfoul, wie Schippo nach einer halben Stunde, oder durch schiere Unfähigkeit, als Ivo in der zwölften Minute mutterseelenallein fünf Meter vor dem Tor den Ball über den leeren Kasten haute.

Ich sah immer wieder zu Bruno, der in den ersten Minuten noch gestenreich die Coachingzone rauf- und runtergetobt, mit der Zeit aber immer ruhiger geworden war und mittlerweile völlig unbeweglich dastand. Für die Spieler auf dem Platz kein gutes Zeichen. Aber je starrer Bruno wurde, desto mehr fingen meine Füße an zu kribbeln. Und tatsächlich drehte er sich direkt nach Schippos Offensivfoul zu uns um und befahl: „Warmmachen, alle!“

Zu siebt machten wir uns auf den Weg hinter Renés Tor. Nicht nur Gidi war dabei, sondern auch Michi, für den Nico wieder die rechte Außenbahn übernommen hatte. Aber ich sprach kein Wort und schaute nur auf die paar Meter Rasen direkt vor mir. Ab und zu, wenn die anderen die mit Hütchen abgesteckte Strecke abliefen und ich wartete, bis ich wieder dran war, schweifte mein Blick durchs Stadion, über die südlichsten Blöcke der Haupttribüne und die unteren Ränge der Südkurve hinter dem Tor. Gesicht für Gesicht scannte ich, hunderte in Sekundenschnelle, bevor ich loslaufen und wieder auf meine Schritte achten musste. Jeder Schlag meiner Schuhe auf dem Rasen schleuderte eine Frage durch meinen Kopf. Wo war er? War er hier? Fragte er sich, warum ich nicht spielte? War ihm aufgefallen, dass Bruno uns schon zum Warmmachen geschickt hatte? Beobachtete er das Spiel? Oder beobachtete er mich, jetzt, in diesem Moment, sah jeden meiner Schritte, jedes Lockern der Arme, jedes Kreisen des Nackens, jeden Blick Richtung Tribüne?

„Suchst du irgendwen?“

Ich fuhr so ruckartig herum, dass meine Halswirbel knackten. Gidi stand hinter mir und sah mich stirnrunzelnd an.

„Ich? Ne, wieso?“ Mein Gesicht glühte. Hoffentlich würde Gidi das der Sonne und dem Anschwitzen zuschreiben.

„Du schaust ständig auf die Tribüne. Hast du vorhin schon gemacht, als wir rausgekommen sind. Ist irgendwer von dir da heute?“

„Quatsch.“ Mein Mund war trocken. Hatte ich gerade gelogen? Nein? Ja? Aber Gidi gegenüber war es egal. Ich musste so tun, als wäre nichts. Wieder mal. Ich spürte, wie mein Unterkiefer sich anspannte. „Ich find’s nur super, wie viele Fans von uns da sind. Fühlt sich fast wie ein Heimspiel an.“

Ich drehte mich um und ging in die nächste Übung. Konzentrier dich. Denk an dein Versprechen. Erst das Team. Nichts steht über dem Team.

Langsam wurde mein Atem ruhiger. Es war, als ob alles, was in meinem Kopf gewirbelt hatte, durch meinen Oberkörper und meine Beine in meine Füße hinab und aus mir herausfloss, bis ich nichts spürte als nur den Kontakt meiner Schuhe zum Gras. Was unserem Spiel fehlte, war Ordnung und Struktur, nach vorne wie hinten. Kleinere Abstände in der Rückwärtsbewegung, schnelleres Umschalten nach vorne, breit machen über die Flügel, präzise Pässe, klare Spielzüge. Die anderen Auswechselspieler passten dafür nicht. Lasso und Artjoms waren Verwerter, keine Gestalter, Nabil ein Flügelmann und obendrein zu neu, Michi zu offensiv, Gidi zu defensiv. Ich war der Einzige, der alle Aufgaben ausfüllen konnte. Wenn ich gut war. Und das würde ich sein. Bruno würde mich einwechseln, und ich würde ihm beweisen, dass ich nicht auf die Bank gehörte. Ich würde es ihm zeigen. Ihm, und allen, die sonst noch zuschauten.

Nach genau fünfundvierzig Minuten pfiff Robert Hartmann zur Halbzeit. Die Hannoveraner verabschiedeten ihr Team mit Applaus, aber aus dem Gästeblock hagelte es Pfiffe. Kein Wunder, nach der Leistung. Wir machten uns wie die Startelfspieler auf den Weg zurück in Richtung Spielertunnel, allerdings nicht, um mit in die Kabine zu gehen, sondern um Bälle zu holen und uns in der Pause auf dem Platz weiter warmzumachen. Schon aus der Ferne sah ich, dass Bruno noch nicht in den Katakomben verschwunden war, sondern in der Coachingzone wartete. Ein Kribbeln wanderte von meinen Füßen meine Beine hinauf und strömte durch meinen ganzen Körper.

Als ich an Bruno vorbei zu den Ballsäcken hinter der Bank gehen wollte, legte er mir die Hand auf den Unterarm. „Du spielst jetzt. Für Lewis, mit Albin auf der Sechs. Spiel klare Pässe, mach das Spiel nach vorne schnell. Aber immer nach hinten absichern! Halt die Abstände klein, klar?“

Ich nickte. Jeder Muskel in meinem Körper vibrierte. Ich wollte keine Pause. Ich wollte loslegen. Jetzt.

Bruno studierte mich, dann gab er mir einen Klaps auf die Schulter. „Mach dich noch mit Ball warm. Und dann zeig, was du kannst!“

Er verschwand im Spielertunnel – vermutlich, um in der Kabine ein Donnerwetter loszulassen. Ich sah ihm hinterher. Zeig, was du kannst. Ihr werdet schon sehen, dachte ich. Ihr werdet schon sehen.

 

*

 

Als die Teams wieder auf den Rasen gelaufen kamen, musste ich noch mal runter vom Platz. Ich tauschte mein Aufwärmshirt gegen mein Trikot, Eddy meldete den Wechsel beim vierten Offiziellen an, und kurz darauf leuchtete auf der Tafel die Nummer 6 in Grün und die 8 in Rot auf. Ich lief aufs Spielfeld.

Auf dem Weg zu meiner Position schlug ich mit Ivo, Aaron und Albin ab, und als ich auf meinem Platz angekommen war, klatschte ich in die Hände. „Auf geht’s, Jungs, unser Spiel!“

Hannover hatte Anstoß. Stürmer Hugo Almeida tippte den Ball zu seinem Nebenmann Adam Szalai, der ihn zurück zu Sechser Ceyhun Gülselam spielte. Die Hannoveraner Offensivspieler liefen geschlossen nach vorne, den Blick nach hinten gerichtet.

„Zuordnung!“, brüllte ich und hörte, wie Emir hinter mir das gleiche Kommando gab. Ich heftete mich an die Fersen von Achter Iver Fossum, der erst im Winter nach Hannover gewechselt war, aber seitdem schon fünf Startelfeinsätze zu verzeichnen hatte. Er war ein halbes Jahr jünger als ich und – das Beste – einen Zentimeter kleiner. Nach dem Anstoß war er ins linke Mittelfeld gelaufen und wartete jetzt, genau wie alle anderen Spieler, auf Gülselams langen Ball. Als er ihn schlug, flog er genau auf uns zu.

Ich nahm zwei Schritte Anlauf und stieg hoch. Ich übersprang Fossum, aber einen Wimpernschlag, bevor mein Kopf den Ball traf, rammte sein Körper beim Versuch, das Duell zu gewinnen, in meine linke Seite, und ich konnte die Richtung des Kopfballs nicht mehr kontrollieren. Der Ball sprang nach links von meiner Stirn weg und fiel Hannovers Rechtsverteidiger Hiroki Sakai in den Fuß, der ihn annahm und nach einer Anspielstation Ausschau hielt.

„Ja!“

Fossum hatte schneller das Gleichgewicht zurückerlangt als ich und sprintete Sakai entgegen. Mit großen Schritten nahm ich die Verfolgung auf. Fossum bekam die Kugel in den Fuß, drehte sich über die linke Schulter auf, sah mich einen halben Meter von ihm entfernt auf ihn zulaufen und legte sich den Ball schräg nach rechts in Richtung Seitenauslinie vor. In einer fließenden Bewegung änderte ich die Richtung, ohne Tempo zu verlieren. Seite an Seite sprinteten Fossum und ich die Linie entlang, den Ball fest im Blick. Als ich noch zwei Schritte entfernt war, ging ich in den Tiefflug, das rechte Bein wie eine Lanze ausgefahren. Mit der Sohle erwischte ich die Kugel voll und rutschte ihr hinterher über die Seitenauslinie. Fossum geriet ins Straucheln und fiel über meinen Oberkörper der Länge nach auf den Rasen.

„Hey!“ Mit ausgebreiteten Armen und großen Augen bettelte er den Linienrichter um einen Freistoß an, aber der schüttelte den Kopf und hob nur die Fahne parallel zur Seitenauslinie nach rechts. Einwurf für Hannover. Ich schnappte mir den Ball, warf ihn Sakai zu und lief zurück aufs Spielfeld. Sobald auch Fossum wieder stand, klebte ich wieder an seinem Rücken.

Die ersten zehn Minuten der zweiten Halbzeit waren zerfahren, ohne viel Spielfluss und sehr zweikampfbetont. Große Offensivaktionen gab es auf keiner Seite. Nur einmal mussten wir durchatmen, als René einen eigentlich harmlosen Schuss von Zehner Hiroshi Kiyotake beinahe durch die Hände rutschen ließ. Dafür hielt er zwei Minuten später eine Volleyabnahme von Fossum aus zwanzig Metern sicher fest. Ich fletschte die Zähne. Das war heute der letzte Torschuss von dir, den ich nicht verhindert habe, schwor ich mir, während ich schon wieder versuchte, mich im Mittelfeld für den Abschlag von René freizulaufen.

Zwei Minuten später spielte Cleber mir aus der Innenverteidigung den Ball mit dem Kommando „Dreh!“ zu. Mit der ersten Ballberührung machte ich die 180-Grad-Wende, sah vor mir viel freie Fläche und nahm Tempo auf. Meine Augen flogen über das Spielfeld. Ivo könnte ich anspielen, aber hinter ihm lauerten Sakai und Innenverteidiger Alexander Milosevic. Unwahrscheinlich, dass eine Torchance daraus werden würde. Und Aaron war in der Mitte zugestellt …

Ich rammte den linken Fuß in den Rasen, glitt mit Rumpf und Oberkörper nach rechts und nahm den Ball mit dem rechten Außenrist mit. Jetzt hatte ich die rechte Seite des Spielfelds im Blick. Hinter mir spürte ich Fossums Atem, ein paar Meter vor mir kam der zweite Achter Edgar Prib auf mich zu. Aber hinter Prib, weit draußen, an der Außenlinie, stand eine einzelne Gestalt in Weiß, und um sie herum war niemand zu sehen. Die Gestalt winkte mit beiden Armen.

Ich lehnte den Oberkörper nach hinten, brachte den Innenspann unter den Ball und schoss. Nico nahm den Pass in einer Bewegung mit, überlief Linksverteidiger Oliver Sorg locker, drang in den Strafraum ein und legte den Ball mit der Innenseite auf den Elfmeterpunkt zurück. Schippo holte aus, traf die Kugel satt mit dem Vollspann, und – Keeper Ron-Robert Zieler flog durch die Luft, fuhr die Hand aus und lenkte den Schuss mit den Fingerspitzen um den Pfosten. „UHHH!“, hallte es durch die Süd-West-Kurve, auf die wir jetzt spielten.

Meine Hände, die schon auf dem Weg nach oben gewesen waren, flogen statt zu Fäusten geballt in die Luft in mein Haar und krallten sich hinein. Das war nach Ivos Fehlschuss in der zwölften Minute die zweite Riesenchance, die wir vergeben hatten! Aber egal. Dann würde es eben jetzt klingeln.

Ich lief nach links zur Eckfahne vor der Süd-Ost-Kurve und legte den Ball auf die weiße Linie. In der ersten Halbzeit hatte Aaron die Standards getreten, und nichts war daraus entstanden. Diesmal würde ich mich nicht von ihm abwimmeln lassen. Diese Ecke gehörte mir.

Ich ging drei Schritte zurück und fixierte den Strafraum, wo sich eine Spielertraube in Rot und Weiß um den Elfmeterpunkt gebildet hatte. Ich suchte nach Emir und Cleber, den Kopfballstärksten im Team. Beide waren im Getümmel dabei. Aber wenn alles so lief, wie wir es trainiert hatten, würde das Getümmel sich gleich auflösen. Ich wusste, wo die beiden hinlaufen würden, und ich wusste, wo sie den Ball brauchten. Ich atmete durch, hob den rechten Arm, nahm Anlauf und schoss.

Von meinem rechten Innenspann flog der Ball in den Strafraum, wobei er sich leicht zum Tor hindrehte, aber weit genug wegblieb, dass Zieler keine Chance hatte, ihn herunterzufangen. Er zischte auf Höhe des ersten Pfostens über Emirs Kopf hinweg und damit auch über die Schädel der Hannoveraner Innenverteidiger, die Emir gedeckt hatten und jetzt nicht mehr eingreifen konnten. Zwischen Elfmeterpunkt und langem Pfosten senkte sich die Kugel, und genau dort wartete Cleber, der vom Freiraum, den Emir geschaffen hatte, profitierte und unbedrängt köpfen konnte. Von seiner Stirn flog der Ball schnurgerade ins rechte obere Toreck.

„JAAAAAAAAA!“

Mit geballten Fäusten brüllte ich den Himmel an. Einen Moment starrte ich aufs Spielfeld, wo Emir und Schippo mit Cleber jubelten, dann fuhr ich zur Tribüne herum und ließ den Blick über die Zuschauer jagen, über die feiernden und sich umarmenden Fans in Weiß, über die starr und versteinert dasitzenden in Rot.

„JAAAAAAAA!“

Ich nahm zwei Schritte Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Eckfahne, die hin- und herschwankte wie eine Jolle im Sturm.

„JAAA!“

Ein Körper prallte von hinten auf meinen, zwei Arme umschlangen mich, ich hörte Dennis‘ jubelnde Stimme, und gleich darauf Aarons und Nicos. Auch Emir, Schippo und Cleber kamen angelaufen, um das Tor zu feiern.

Als wir uns in unserer Hälfte aufstellten, hatte ich schon wieder nichts als den nächsten Zweikampf im Kopf. Eine halbe Stunde war noch zu spielen, und es kam jetzt darauf an, in den nächsten zehn, fünfzehn Minuten kein Gegentor zu kassieren. Je mehr Zeit verstrich, desto schwerer würden die Beine unserer Gegner werden, desto mehr würde jeder Meter wehtun. Für uns würden sich dagegen immer mehr Räume zum Kontern auftun. Nur jetzt nicht gleich den Ausgleich kassieren.

Aber in diese Gefahr gerieten wir nicht. Hannover hatte bisher für die Verhältnisse eines abgeschlagenen Tabellenletzten ein ziemlich gutes Spiel gemacht, aber schon mit den ersten Pässen nach Wiederanpfiff wurde klar, dass das Gegentor das kümmerliche bisschen Selbstvertrauen, das noch vorhanden gewesen war, zerstört hatte. Ab sofort reihte sich Querpass an Querpass, es gab kaum noch Bewegung ohne Ball, und jeder Spieler schien hauptsächlich daran interessiert zu sein, die Kugel möglichst schnell weiterzugeben, um nur ja nicht selbst den nächsten Fehler zu machen.

Zehn Minuten nach unserem Treffer wechselte Bruno Michi für Aaron ein, und auch Hannovers Trainer Thomas Schaaf wechselte und brachte mit Uffe Bech für Gülselam einen Stürmer für einen Sechser – ein letzter verzweifelter Versuch, doch noch für frischen Wind nach vorne zu sorgen. Aber nur zwei Minuten nach seiner Einwechslung bewies Bech, dass er nicht vorhatte, sich positiv von seinen Mannschaftskameraden abzuheben, und ließ den Ball bei einer unbedrängten Annahme von seinem Fuß ins Aus springen. Dennis schnappte sich die Kugel und warf sie gedankenschnell zu Schippo, der auf dem rechten Flügel viel Platz hatte und zielsicher an die Kante des Fünfmeterraums flankte. Ivo war eingelaufen und machte es diesmal besser als in der zwölften Minute. Mit dem rechten Fuß schob er den Ball ins linke Eck. Zwei zu null für uns.

Direkt nach dem Anstoß der Hannoveraner gewann Michi den Zweikampf gegen Kiyotake und spielte den Ball zu Schippo. Der nahm den Kopf hoch und steckte die Kugel wunderbar zwischen Sorg und Innenverteidiger Christian Schulz durch auf Nico, der sie im Vollsprint mitnahm, in den Strafraum eindrang, Zieler umkurvte und ins leere Tor schoss. Das drei zu null war die endgültige Entscheidung.

Rund eine Viertelstunde später pfiff Hartmann das Spiel nach nur zwei Minuten Nachspielzeit ab. Der schrille Ton, der dreimal kurz hintereinander durchs Stadion hallte, zog einen Schleier von meinen Ohren. Vorher war der Lärm der Fans nur ein diffuses Hintergrundgeräusch gewesen, die Rufe meiner Mitspieler und der Gegner, der dumpfe Schlag, wenn ein Fuß den Ball traf und die gelegentlichen Schreie der Trainer von außen das einzig Klare, das ich wahrgenommen hatte. Jetzt rutschte ich mit Augen und Ohren vom Zoom- in den Weitwinkelmodus. Ich hörte unsere Fans „Auswärtssieg! Auswärtssieg!“ skandieren, die Pfiffe aus der Hannoveraner Kurve, sah Tribünen, auf denen die Zuschauer nach und nach aufstanden, klatschten, sich mit den Umstehenden unterhielten oder schon auf dem Weg die Treppen entlang zu den Ausgängen waren, und die Spieler auf dem Platz, meine in Weiß gekleideten Mannschaftskameraden, die sich grinsend abklatschten und umarmten, und die Hannoveraner in Rot, die auf dem Rasen lagen, saßen oder standen, elf Inseln in einem Meer aus grün, jeder für sich allein.

Links von mir, ein paar Meter vor unserer Bank, ging Gidi zu Michi, klatschte mit ihm ab und sagte etwas, das beide zum Lachen brachte. Erst wollte ich zu ihnen herübergehen, aber etwas hielt mich ab. Ich zögerte einen Moment und wandte meine Schritte stattdessen nach rechts, wo mein Gegenspieler Iver Fossum im Mittelkreis stand, die Hände in die Hüften stützte und ins Leere starrte.

„Hey.“

Sein Blick irrte durch die Luft, dann fand er mich.

„Gutes Spiel.“

Ich hielt ihm die Hand hin. Er lächelte und schlug ein. „Danke.“

„Du bist ein echt harter Gegenspieler. War nicht leicht, dich ständig im Nacken zu haben.“

Er lachte. Ein bisschen Leben kehrte in seine Augen zurück. „Danke. Du aber auch!“ Dann grinste er. „Aber wenn wir das nächste Mal gegeneinander spielen, gewinne ich!“

Ich lachte auch. Ich musste mich nicht mal anstrengen. Es kam einfach so. „Keine Chance!“

Einen Moment standen wir da. Die Sonne schien auf uns herab und wärmte meine Arme und mein Gesicht. Ich atmete tief ein und roch Frühling und Gras und Fußball. „Willst du Trikots tauschen?“

Er schien sich zu freuen. „Klar!“

Er zog sein Trikot über den Kopf, ich meins, und wir tauschten. Ich warf einen Blick über die Schulter. Der Rest der Truppe versammelte sich, um sich auf den Weg in die Kurve zu machen. Plötzlich wollte ich doch unbedingt dabei sein. „Na dann, bis dann! Viel Glück für die nächsten Spiele!“

„Dir auch!”, rief er mir nach, und ich joggte dem Spielerpulk hinterher, der sich langsam in Richtung Süd-West-Kurve bewegte. Im Gehen fand ich die Öffnung von Ivers Trikot und wollte es mir über den Kopf ziehen. Dann tat ich es doch nicht. Stattdessen schlang ich es mir über die Schulter und hielt es beim Hüpfen fest, damit es nicht herunterfiel, während ich mit nacktem Oberkörper unseren Sieg in der Fankurve feierte.

 

*

 

Als ich im Bus mein Handy aus der Sporttasche zog, leuchtete in der Symbolleiste das WhatsApp-Logo. Finn hatte geschrieben und zum Sieg und der Vorlage gratuliert. Die zweite Nachricht hatte einen Chat nach oben gerückt, der zuvor in der Versenkung meiner Kontakte verschwunden war. Die letzte Kommunikation davor war am zweiten Januar gewesen, genau vor drei Monaten.

Ich schluckte. Einen Moment schwebte mein Daumen über seinem Namen. Dann senkte er sich aufs Display.

Ramins Nachricht war ganz kurz. Um 17.28 Uhr, rund zehn Minuten nach dem Abpfiff des Spiels, hatte er drei Worte an mich getippt: >Klasse Spiel. Glückwunsch!<

Mein Mundwinkel zuckte, und ich stieß die Luft aus. Guter Schuss. Klasse Spiel. Glaubte er, dass es so einfach sein würde?

Ich drehte den Kopf zum Fenster, klemmte die Zungenspitze zwischen die Zähne und wippte mit der Ferse auf und ab. Ein paar Minuten beobachtete ich, wie Miro uns durch die Straßen Hannovers in Richtung Autobahn manövrierte. Dann richtete ich die Augen wieder aufs Handy, zog die Zungenspitze zwischen den Zähnen hervor und tippte eine Antwort. >Danke<

Nachdem ich auf den Sende-Pfeil gedrückt hatte, verharrte mein Daumen über der Tastatur. Ein paar Sekunden starrte ich auf den Chat. Dann presste ich die Zähne aufeinander und fügte hinzu: >Du kannst morgen um drei zu mir kommen< Wieder zögerte ich, bevor ich ergänzte: >Wenn du willst<

Mein Daumen schwebte über der Tastatur. Sollte ich noch ein „zum Reden oder was auch immer“ hinterherschieben?

Aber noch während ich hinsah, wurden die grauen Doppelhaken hinter meinen Nachrichten blau, und unter Ramins Namen erschien das Wort „online“. Gleich darauf machte es Platz für „schreibt…“. >Klar! Gerne!<

Ich stieß den Atem aus, blinzelte und schüttelte den Kopf. Mein Nacken war steinhart. Als mein Blick aufs Handy zurückkehrte, hatte Ramin schon wieder geschrieben. >Danke, Martin<

Ich atmete, einmal, zweimal, mein Daumen schreibbereit über dem Display. Aber statt auf die Tastatur führte ich ihn an die Seite auf die Powertaste, und der Bildschirm wurde schwarz. Ich ließ das Smartphone zurück in die Tasche gleiten, lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze, schloss die Augen und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.

Ich wusste nicht, was Ramin morgen zu mir sagen würde, und ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen würde. Aber eines wusste ich: Für ein Danke war es viel, viel zu früh.

Chapter 55: Red and Black

Chapter Text

  1. Kapitel: Red and Black

 

Als ich am nächsten Tag vom Auslaufen nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, gar nicht dort gewesen zu sein. Der Trab durch den Volkspark und die anschließende Massageeinheit mit den Physios sollten unsere Muskeln nach der hohen Belastung im Spiel entspannen und so Verletzungen vorbeugen, aber davon merkte ich heute überhaupt nichts. Ich trat mir die Füße ab, schloss die Tür auf, zog sie hinter mir zu, legte Jacke und Schuhe ab und ging in die Küche. 13:04, schleuderte mir die Ofenuhr in roten Leuchtzahlen entgegen.

Ich öffnete den Kühlschrank, nahm den Topf mit Couscous vom Freitag heraus und füllte die Reste auf einen Teller, den ich in die Mikrowelle schob. Während das Summen des Geräts die Küche füllte, weichte ich den Topf in der Spüle ein und legte einen Löffel auf den Tisch. Ich warf einen Blick auf den Ofen. 13:06.

Ich ging aus der Küche den Flur entlang ins Wohnzimmer bis zur Balkontür, starrte einen Moment hinaus in den strahlenden Sonnenschein, drehte mich um und wanderte zurück in die Küche. Immer noch 13:06.

Ping!, kam es von der Mikrowelle. Ich ließ die Tür aufschnappen, nahm den Teller heraus, setzte mich an den Tisch, salzte nach und schob mir den ersten Löffel in den Mund. Es schmeckte nach nichts. Ich schob die formlose Masse mit der Zunge von der linken auf die rechte Seite, kaute so lange, als hätte ich Kieselsteine statt des ohnehin schon weichen Couscous im Mund, und würgte den Bissen schließlich herunter. Ich schaffte einen zweiten, einen dritten Löffel. Nach dem vierten war meine Kehle so zugeschnürt, dass nicht mal mehr ein einzelnes Körnchen hindurchgepasst hätte. Ich ließ den Löffel fallen, schob den Stuhl zurück und stand auf. 13:09.

Ich ging in mein Zimmer, zog mich bis auf die Boxershorts aus, legte mich ins Bett, stellte den Handywecker auf 14:30 Uhr und schloss die Augen. Unter der Decke drehte ich mich nach rechts, auf den Bauch, auf den Rücken, nach links und wieder nach rechts, hielt die Lider geschlossen und wartete auf den Schlaf. Ich versuchte, an den Sieg gestern zu denken, an meine Ecke, die zum Tor geführt hatte, an die Joggingrunde durch den Volkspark heute Vormittag und das dumpfe, rhythmische Geräusch unserer Schuhe auf den Waldwegen. Aber in meinen Ohren dröhnten nur die Stille der Wohnung und das donnernde Pochen meines Herzens. Ein paar Minuten blieb ich noch liegen, dann schlug ich die Decke zurück und schaltete den Alarm im Handy wieder aus. Meine Augen huschten über die Symbolleiste. 13:27.

Ich stand auf, ging zum Schrank und zog eine schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt heraus. Die Jeans zog ich an, aber als ich das Shirt überstreifen wollte, hielt ich inne. Kurz stand ich da, die Unterarme schon im T-Shirt verschwunden. Dann ließ ich es aufs Bett fallen, machte die Schranktür wieder auf und kramte ein schwarzes Shirt hervor, das ich länger nicht mehr getragen hatte, weil es mir eigentlich schon vor dem zusätzlichen Krafttraining zu klein gewesen war. Schon an der Brust spannte es so sehr, dass ich befürchtete, es würde reißen. Als ich es ganz heruntergezogen hatte, machte ich die Schranktür zu und musterte mich im Spiegel. Jeder Muskel war zu sehen. Ich drehte mich nach links, nach rechts und machte einen Schritt nach vorne. Über mein Gesicht im Spiegelbild huschte ein winziges Lächeln. Perfekt.

Ich atmete durch, ballte die Hände zu Fäusten, entspannte sie und ging zurück in die Küche, wo ich den fast unberührten Teller Couscous zurück in den Kühlschrank schob. 13:35.

Ich ging ins Wohnzimmer, nahm den kicker vom Couchtisch, schlug ihn auf und versuchte, die Vorberichte zu den zwei Bundesligaspielen zu lesen, die heute noch stattfinden würden. Aber als ich beim letzten Wort des Artikels über Borussia Mönchengladbach angekommen war, stellte ich fest, dass nichts von seinem Inhalt bei mir hängengeblieben war. Ich starrte auf die Überschrift und fing an, den Artikel noch mal zu lesen. Aber alles, was zu mir durchdrang, waren einzelne, zusammenhanglose Wörter. Nach einem dritten Versuch gab ich es auf und schmiss den kicker zurück auf den Tisch. Meine Augen wanderten zur Uhr am Sky-Receiver. 13:47.

Ich nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher ein. Die drei Zweitligaspiele hatten vor einer Viertelstunde begonnen. Kaiserlautern führte mit eins zu null gegen Sandhausen, und den Führungstreffer von 1860 München gegen Karlsruhe sah ich gerade noch in der Wiederholung. Danach gab die Konferenz nach Frankfurt ab, wo dem 1. FC Nürnberg ein reguläres Tor gegen den FSV zurückgepfiffen worden war. Der aufgeregte Kommentar des Reporters wusch über mich hinweg. Zusammen mit Finn sah ich die 2. Liga manchmal ganz gerne, wenn wir nichts anderes zu tun hatten und nur ein bisschen rumhängen und uns von unseren Spielen erholen wollten. Aber jetzt war Finn im Volkspark und arbeitete mit Rehatrainer Sebastian an seiner Rückkehr ins Mannschaftstraining, und ich konnte mich auf die Konferenz genauso wenig einlassen wie zuvor auf den kicker. Trotzdem sah ich noch ein wenig zu. Vielleicht würden ja ein paar Tore fallen und es interessanter machen. Aber als bis zur dreißigsten Minute immer noch nichts weiter passiert war, hielt ich es nicht mehr aus und schaltete die Spielkonsole an.

FIFA war noch eingelegt. Ich spielte das Nordderby gegen Werder, haute immer wieder auf die falschen Tasten und regte mich nicht mal auf, als ich null zu fünf verlor. Die Uhr am Sky-Receiver zeigte 14:16.

Ich schluckte, fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen und startete mit gefühllosen Fingern ein zweites Spiel. Diesmal schlug die Konsole mich mit acht zu null, aber die einzige Anzeige, die mich interessierte, war die in weißen Leuchtzahlen am Receiver. 14:32.

Ich schaltete die Konsole aus, stand auf, wanderte ins Badezimmer, ging aufs Klo und klatschte mir nach dem Händewaschen eine Ladung Wasser ins Gesicht. Regungslos starrte ich mein Spiegelbild an. Die Wassertropfen rannen meine Stirn und meine Wangen hinunter, sammelten sich an Augenbrauen und Oberlippe, verharrten, hielten beinahe inne und folgten schließlich zitternd und in Zeitlupe dem Weg ihrer Vorgänger. In meinem Kopf hörte ich das schrille Läuten der Türklingel, den Hall von Schritten im Treppenhaus. Schwerer Schritte. Seiner Schritte.

Noch gut zwanzig Minuten, und er würde hier sein. Noch gut zwanzig Minuten, und er würde vor der Tür stehen, der Tür, durch die er zuletzt im Januar gegangen war, der Tür, die sich beim letzten Mal langsam hinter ihm geschlossen hatte, während seine Schritte im Treppenhaus verhallt waren. Beim letzten Mal …

What do we have, Martin? Huh? I’ll tell you: NOTHING, okay? We had sex, we fucked, a couple of times, that’s it.

Ich hatte es nicht glauben wollen. Aber ich hatte es glauben müssen.

I was fucking guys every single night, and I didn’t miss you once when you were not there. And now, I have the opportunity to go to Broadway and live in New York, and you bet your ass I’m taking it, so I’m going, and this is it. But I would’ve stopped it anyway, you know? Even a tight ass gets boring when you fuck it too often.

This is it. Er hatte es gesagt, mir ins Gesicht geschleudert und mich damit stehen lassen, zack, weg, ohne einen Blick zurück. Und jetzt? War es nun doch nicht it? Wollte er immer noch, dass es it war? Und was wollte ich eigentlich? In zwanzig Minuten würde er hier sein, und dann … Was würde er tun? Was würde ich tun? Was würde er sagen? Was würde ich sagen?

Mein Spiegelbild verschwamm, und ich beugte mich vor, umklammerte mit beiden Händen den Waschbeckenrand und zwang mich, nur an meine Atmung zu denken. Ein – aus, ein – aus, langsam, tief, ein – aus, ein – aus. Allmählich ließ die Übelkeit nach. Mit zitternden Fingern drehte ich den Wasserhahn auf, formte mit den Händen eine Schale und spülte mir den Mund aus. Ich richtete mich auf und betrachtete mein Spiegelbild. Den blassen, rothaarigen Jungen im zu kleinen schwarzen T-Shirt. Abrupt wandte ich mich ab und ging zurück ins Wohnzimmer.

Die Anzeige am Receiver sagte 14:43. Ich versuchte, nicht auf das Kribbeln in meinem Körper zu achten, ließ mich aufs Sofa fallen und schaltete Sky wieder an. Kaiserslautern führte immer noch mit eins zu null, und Frankfurt hielt gegen den Club weiter das null zu null. Nur Karlsruhe hatte das Spiel gedreht und führte jetzt mit drei zu eins. Ich sah die Spielstandsanzeigen, ließ mich von der Konferenz von Stadion zu Stadion ziehen, hörte das Blubbern der Kommentatorenstimmen und fühlte nichts. Als irgendwann der Ball im Netz landete, starrte ich auf die Worte „FSV 0 – 1 FCN“ in der Anzeige und auf die Jubeltraube in Weiß daneben, ohne irgendetwas davon zu verstehen. Das Einzige, was ich begriff, waren die Zahlen neben der Spielstandsanzeige. 66:49. Mein Blick wanderte nach unten zum Receiver. 14:54.

In den nächsten Minuten blinzelte ich nicht. Ich nahm nichts wahr als die eine Stelle des Bildschirms, das winzige Quadrat mit den quälend langsam und grausam schnell voranschreitenden Ziffern.

67:32.

68:04.

68:48.

69:25.

70:00.

Und dann, als 72 Minuten und 39 Sekunden gespielt waren, klingelte es.

Ich schoss hoch, haute auf die Powertaste der Fernbedienung und nahm, während ich aus dem Zimmer stürzte, gerade noch die weiße Leuchtanzeige am Receiver wahr. Punkt 15 Uhr. War das Zufall? Oder hatte er die letzten zwei Stunden genau so verbracht wie ich, krampfhaft auf der Suche nach irgendeiner Beschäftigung und doch nichts anderes im Kopf als die Uhrzeit und wie lange noch, alles daran setzend, nur ja nicht zu früh oder zu spät zu kommen?

Ich riss den Hörer der Sprechanlage von der Wand. „Hello?“

„Martin, it’s me.“

It’s me. Ich schloss die Augen. Das hatte er beim letzten Mal auch gesagt. Wahrscheinlich hatte er es vergessen.

Ich holte Luft, zwang die Lider auseinander und drückte auf den Öffner. Während es drei Stockwerke unter mir summte, hängte ich den Hörer ein, ging zur Tür, lehnte die Stirn dagegen, machte die Augen wieder zu und atmete. Seine Schritte hallten durchs Treppenhaus, erst kaum zu hören, dann immer deutlicher. Auf den Treppenstufen klangen sie anders als auf den ebenen Abschnitten. Ich zählte mit. Erste Treppe, erster Stock. Zweite Treppe, Wende, dritte Treppe, zweiter Stock. Vierte Treppe. Wende. Fünfte Treppe. Ein Schritt, zwei, drei, vier. Stille.

Mit geschlossenen Augen sah ich ihn vor mir stehen, kaum zwanzig Zentimeter entfernt, auf der anderen Seite der Tür. Er verharrte, ich verharrte. Keiner rührte sich. Dann – tock, tock. Zwei Schläge, genau vor meiner Stirn. Ich spürte ein winziges Zittern im Holz.

Ich atmete noch einmal ein. Dann öffnete ich die Augen, machte einen Schritt zurück und zog die Tür auf.

Er sah aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, wie er in den letzten Wochen immer wieder in meine Träume eingefallen war: das schwarze Haar leicht zerzaust, rasierte Wangen, ein hellblaues Hemd, die obersten zwei Knöpfe geöffnet, eine verwaschene blaue Jeans. Aber sein Blick war anders. Noch immer sah er zu mir hinunter, weil er immer noch ein paar Zentimeter größer war als ich, aber es fühlte sich an, als würde ich ihn um zwei Köpfe überragen. Seine Lider zuckten, und er presste die Lippen zusammen.

„Hi.“ Seine Stimme war rau und krächzte ein wenig, als hätte er sie lange nicht benutzt.

„Hi.“ Ich war selbst überrascht, wie ruhig ich klang. Fast kühl. Ich ging einen Schritt zur Seite. „Come in.“

Er trat über die Schwelle. Sein Blick huschte über den Flur, bevor er sich bückte und die Schuhe auszog. Ich beobachtete ihn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mein T-Shirt spannte an Brust und Bauch.

Ramin richtete sich auf. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich seinen Blick über mich gleiten, von den schwarzen Socken bis zu den roten Haarspitzen, die in der Stirn noch leicht feucht waren. Seine Lippen wurden noch dünner. Seine Augen zuckten von mir weg, wieder hin, wieder weg. Einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann ruckte ich den Kopf in Richtung Wohnzimmer. „Well, come on.“

Ich ging voraus. Hinter mir hörte ich seine Schritte.

Ich trat durch die offene Tür und durchquerte langsam den Raum. Erst, als ich direkt vor der Balkontür stand, drehte ich mich um. Ramin war ebenfalls stehengeblieben, rund drei Schritte hinter mir. Seine Hände schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich wieder.

Ich verschränkte die Arme, diesmal vor der Brust. „Well? What do you want?”

Ramin atmete. Ich sah, wie sich sein Bauch hob und senkte. Seine Hände ballten sich wieder zu Fäusten. Seine Gesichtsmuskeln verspannten sich, seine Lider hörten auf zu zucken, er holte Luft und öffnete den Mund. „You.“

Ich blinzelte. „What?“

„You and me. To see each other. To – well, what we had …” Er schluckte. Seine Stimme klang noch immer etwas rostig, aber sie war fest. „I want that. Again.“

Wir starrten uns an. Mein Herz hämmerte. Mein Mund war so trocken, dass ich nicht sprechen konnte. Oder vielleicht war es mein Hirn, das mich hinderte. Mit allem hatte ich gerechnet. Entschuldigungen, Ausreden, Erklärungsversuchen. Damit nicht.

Ich holte Luft und fuhr mir mehrmals mit der Zunge über den Gaumen. Etwas in mir zog sich zurück. Sammelte sich. Bäumte sich auf. „Just like that?“

Ramin machte einen Schritt auf mich zu und hob die Hand. „No, no of course not just like that, Martin, I –“

„You think it’s gonna be that easy? Huh? DO YOU?! You get tired of something, you throw it away, you leave it there to rot for TWO MONTHS, you don’t give a shit if it’s broken or not, and then you just COME BACK, just like that, and say you want it back, and that’s IT?!”

Ramin öffnete den Mund, aber ich stürmte einen Schritt auf ihn zu, Arme kerzengerade an meinen Seiten, Fäuste verkrampft, kochend von Kopf bis Fuß. Alles stürzte wieder auf mich ein, alles; der Schock, die Hilflosigkeit, die Wut, der Schmerz, die Lethargie, alles, was ich beinahe verloren hätte, seinetwegen.

„And why would you want it back? Huh?! To have what we had, well, what did we have, Ramin, huh? I thought we had NOTHING! I thought all we had was sex, and that was it, just like you had with thousands of other guys! I mean, apparently, I wasn’t spectacular, or special, or anything, was I? No, apparently, I was just a tight ass and you got bored of it! Huh? Didn’t you? Isn’t that what you said? ISN’T IT? So what’s the matter now, run out of tight asses in New York already? Well, too bad, because you can’t just come back here and –“

“I DIDN’T MEAN IT!”

Irgendwie schaffte Ramin es, mich zu übertönen. Sein Gesicht war verzerrt, er atmete schwer, aber er war nicht zurückgewichen. Jetzt machte er sogar einen Schritt auf mich zu, und ich spürte, wie ich mich aufrichtete, stählte. Meine Kehle, mein Gesicht, meine Augen, alles in mir brannte.

„Everything I said to you, Martin, all that … FUCKING stuff, I didn’t mean any of it, I didn’t mean to hurt you, I –“

“OH YEAH, RIGHT! Like HELL you didn’t mean it! Look, you don’t MEAN to … to knock over a vase or something, or … or you don’t MEAN to score an own goal, those are things you don’t MEAN to do, but sometimes they happen anyway. What you said was different, it didn’t just slip out, you said it and you FUCKING meant it!”

“NO I DIDN‘T!”

„YES YOU DID!”

“NO I DIDN’T, I SWEAR I DIDN’T!”

“Then WHY THE HELL did you say it? Huh?! Why the hell would you say something like that if you didn’t mean it?!”

“To hurt you! To break away from you! To push you away! But I didn’t mean –“

“Oh great, if that’s ALL!” Mein Hals war rau. Ramin sah mich an, flehend, und ich konnte, konnte einfach nichts begreifen. „Look, if you really didn’t mean all that … all that stuff, then WHY THE HELL did you want to hurt me? Why did you want to break away from me? I thought we were doing fine, I thought – after the ball, I thought –“

“We were!” Er hob die Hand, fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, stieß die Luft aus. „We WERE doing fine, we were – I was –“

“Then WHY –“

“Because I was SCARED, Martin, okay?! I was frightened, I … FREAKED, I was so scared!”

“SCARED?!“ Mein ganzer Körper zitterte. Meine Finger krampften sich noch fester zusammen. „Scared of WHAT, damn it!?“

„OF BEING IN LOVE WITH YOU!”

 

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Referenzen:

 

“Red and Black” – Song aus dem Musical “Les Misérables” von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg. Französischer Originaltext von Alain Boublil und Jean-Marc Natel, englische Songtexte von Herbert Kretzmer. Basierend auf dem Roman von Victor Hugo. Uraufführung 1985.

 

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… und damit entlasse ich euch passend zum Fest der Liebe mit einem der schnulzigsten Kapitel-Schlusssätze, die diese Geschichte zu bieten hat – ich bitte um Nachsicht und kann zu meiner Ehrenrettung nur darauf hinweisen, dass das Gespräch gerade erst begonnen hat ;)

Ich wünsche euch wunderbare Feiertage, welches Fest ihr in diesen Tagen auch immer begeht, und solltet ihr keines begehen, wünsche ich euch trotzdem eine tolle, hoffentlich freie und erholsame Zeit! Und ich hoffe sehr, euch nächste Woche noch ein letztes Mal in diesem Jahr hier begrüßen zu dürfen, wenn sich 2024 dann auch in diesem Rahmen hoffentlich gebührend verabschieden wird …

Chapter 56: Red and Black - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Red and Black

 

Als ich am nächsten Tag vom Auslaufen nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, gar nicht dort gewesen zu sein. Der Trab durch den Volkspark und die anschließende Massageeinheit mit den Physios sollten unsere Muskeln nach der hohen Belastung im Spiel entspannen und so Verletzungen vorbeugen, aber davon merkte ich heute überhaupt nichts. Ich trat mir die Füße ab, schloss die Tür auf, zog sie hinter mir zu, legte Jacke und Schuhe ab und ging in die Küche. 13:04, schleuderte mir die Ofenuhr in roten Leuchtzahlen entgegen.

Ich öffnete den Kühlschrank, nahm den Topf mit Couscous vom Freitag heraus und füllte die Reste auf einen Teller, den ich in die Mikrowelle schob. Während das Summen des Geräts die Küche füllte, weichte ich den Topf in der Spüle ein und legte einen Löffel auf den Tisch. Ich warf einen Blick auf den Ofen. 13:06.

Ich ging aus der Küche den Flur entlang ins Wohnzimmer bis zur Balkontür, starrte einen Moment hinaus in den strahlenden Sonnenschein, drehte mich um und wanderte zurück in die Küche. Immer noch 13:06.

Ping!, kam es von der Mikrowelle. Ich ließ die Tür aufschnappen, nahm den Teller heraus, setzte mich an den Tisch, salzte nach und schob mir den ersten Löffel in den Mund. Es schmeckte nach nichts. Ich schob die formlose Masse mit der Zunge von der linken auf die rechte Seite, kaute so lange, als hätte ich Kieselsteine statt des ohnehin schon weichen Couscous im Mund, und würgte den Bissen schließlich herunter. Ich schaffte einen zweiten, einen dritten Löffel. Nach dem vierten war meine Kehle so zugeschnürt, dass nicht mal mehr ein einzelnes Körnchen hindurchgepasst hätte. Ich ließ den Löffel fallen, schob den Stuhl zurück und stand auf. 13:09.

Ich ging in mein Zimmer, zog mich bis auf die Boxershorts aus, legte mich ins Bett, stellte den Handywecker auf 14:30 Uhr und schloss die Augen. Unter der Decke drehte ich mich nach rechts, auf den Bauch, auf den Rücken, nach links und wieder nach rechts, hielt die Lider geschlossen und wartete auf den Schlaf. Ich versuchte, an den Sieg gestern zu denken, an meine Ecke, die zum Tor geführt hatte, an die Joggingrunde durch den Volkspark heute Vormittag und das dumpfe, rhythmische Geräusch unserer Schuhe auf den Waldwegen. Aber in meinen Ohren dröhnten nur die Stille der Wohnung und das donnernde Pochen meines Herzens. Ein paar Minuten blieb ich noch liegen, dann schlug ich die Decke zurück und schaltete den Alarm im Handy wieder aus. Meine Augen huschten über die Symbolleiste. 13:27.

Ich stand auf, ging zum Schrank und zog eine schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt heraus. Die Jeans zog ich an, aber als ich das Shirt überstreifen wollte, hielt ich inne. Kurz stand ich da, die Unterarme schon im T-Shirt verschwunden. Dann ließ ich es aufs Bett fallen, machte die Schranktür wieder auf und kramte ein schwarzes Shirt hervor, das ich länger nicht mehr getragen hatte, weil es mir eigentlich schon vor dem zusätzlichen Krafttraining zu klein gewesen war. Schon an der Brust spannte es so sehr, dass ich befürchtete, es würde reißen. Als ich es ganz heruntergezogen hatte, machte ich die Schranktür zu und musterte mich im Spiegel. Jeder Muskel war zu sehen. Ich drehte mich nach links, nach rechts und machte einen Schritt nach vorne. Über mein Gesicht im Spiegelbild huschte ein winziges Lächeln. Perfekt.

Ich atmete durch, ballte die Hände zu Fäusten, entspannte sie und ging zurück in die Küche, wo ich den fast unberührten Teller Couscous zurück in den Kühlschrank schob. 13:35.

Ich ging ins Wohnzimmer, nahm den kicker vom Couchtisch, schlug ihn auf und versuchte, die Vorberichte zu den zwei Bundesligaspielen zu lesen, die heute noch stattfinden würden. Aber als ich beim letzten Wort des Artikels über Borussia Mönchengladbach angekommen war, stellte ich fest, dass nichts von seinem Inhalt bei mir hängengeblieben war. Ich starrte auf die Überschrift und fing an, den Artikel noch mal zu lesen. Aber alles, was zu mir durchdrang, waren einzelne, zusammenhanglose Wörter. Nach einem dritten Versuch gab ich es auf und schmiss den kicker zurück auf den Tisch. Meine Augen wanderten zur Uhr am Sky-Receiver. 13:47.

Ich nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete den Fernseher ein. Die drei Zweitligaspiele hatten vor einer Viertelstunde begonnen. Kaiserlautern führte mit eins zu null gegen Sandhausen, und den Führungstreffer von 1860 München gegen Karlsruhe sah ich gerade noch in der Wiederholung. Danach gab die Konferenz nach Frankfurt ab, wo dem 1. FC Nürnberg ein reguläres Tor gegen den FSV zurückgepfiffen worden war. Der aufgeregte Kommentar des Reporters wusch über mich hinweg. Zusammen mit Finn sah ich die 2. Liga manchmal ganz gerne, wenn wir nichts anderes zu tun hatten und nur ein bisschen rumhängen und uns von unseren Spielen erholen wollten. Aber jetzt war Finn im Volkspark und arbeitete mit Rehatrainer Sebastian an seiner Rückkehr ins Mannschaftstraining, und ich konnte mich auf die Konferenz genauso wenig einlassen wie zuvor auf den kicker. Trotzdem sah ich noch ein wenig zu. Vielleicht würden ja ein paar Tore fallen und es interessanter machen. Aber als bis zur dreißigsten Minute immer noch nichts weiter passiert war, hielt ich es nicht mehr aus und schaltete die Spielkonsole an.

FIFA war noch eingelegt. Ich spielte das Nordderby gegen Werder, haute immer wieder auf die falschen Tasten und regte mich nicht mal auf, als ich null zu fünf verlor. Die Uhr am Sky-Receiver zeigte 14:16.

Ich schluckte, fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen und startete mit gefühllosen Fingern ein zweites Spiel. Diesmal schlug die Konsole mich mit acht zu null, aber die einzige Anzeige, die mich interessierte, war die in weißen Leuchtzahlen am Receiver. 14:32.

Ich schaltete die Konsole aus, stand auf, wanderte ins Badezimmer, ging aufs Klo und klatschte mir nach dem Händewaschen eine Ladung Wasser ins Gesicht. Regungslos starrte ich mein Spiegelbild an. Die Wassertropfen rannen meine Stirn und meine Wangen hinunter, sammelten sich an Augenbrauen und Oberlippe, verharrten, hielten beinahe inne und folgten schließlich zitternd und in Zeitlupe dem Weg ihrer Vorgänger. In meinem Kopf hörte ich das schrille Läuten der Türklingel, den Hall von Schritten im Treppenhaus. Schwerer Schritte. Seiner Schritte.

Noch gut zwanzig Minuten, und er würde hier sein. Noch gut zwanzig Minuten, und er würde vor der Tür stehen, der Tür, durch die er zuletzt im Januar gegangen war, der Tür, die sich beim letzten Mal langsam hinter ihm geschlossen hatte, während seine Schritte im Treppenhaus verhallt waren. Beim letzten Mal …

Was haben wir denn, Martin? Hm? Ich sags dir: NICHTS, okay? Wir hatten Sex, wir haben gefickt, ein paarmal, das wars.

Ich hatte es nicht glauben wollen. Aber ich hatte es glauben müssen.

Ich hab in jeder einzelnen Nacht Typen gefickt, und ich hab dich nicht ein einziges Mal vermisst, wenn du nicht da warst. Und jetzt hab ich die Chance, an den Broadway zu gehen und in New York zu wohnen, und du kannst deinen Arsch drauf verwetten, dass ich die nutze, also gehe ich, und das wars. Aber ich hätte es auch so beendet, weißt du? Sogar ein enger Arsch wird langweilig, wenn man ihn zu oft fickt.

Das wars. Er hatte es gesagt, mir ins Gesicht geschleudert und mich damit stehen lassen, zack, weg, ohne einen Blick zurück. Und jetzt? War es das nun doch nicht gewesen? Wollte er immer noch, dass es das gewesen war? Und was wollte ich eigentlich? In zwanzig Minuten würde er hier sein, und dann … Was würde er tun? Was würde ich tun? Was würde er sagen? Was würde ich sagen?

Mein Spiegelbild verschwamm, und ich beugte mich vor, umklammerte mit beiden Händen den Waschbeckenrand und zwang mich, nur an meine Atmung zu denken. Ein – aus, ein – aus, langsam, tief, ein – aus, ein – aus. Allmählich ließ die Übelkeit nach. Mit zitternden Fingern drehte ich den Wasserhahn auf, formte mit den Händen eine Schale und spülte mir den Mund aus. Ich richtete mich auf und betrachtete mein Spiegelbild. Den blassen, rothaarigen Jungen im zu kleinen schwarzen T-Shirt. Abrupt wandte ich mich ab und ging zurück ins Wohnzimmer.

Die Anzeige am Receiver sagte 14:43. Ich versuchte, nicht auf das Kribbeln in meinem Körper zu achten, ließ mich aufs Sofa fallen und schaltete Sky wieder an. Kaiserslautern führte immer noch mit eins zu null, und Frankfurt hielt gegen den Club weiter das null zu null. Nur Karlsruhe hatte das Spiel gedreht und führte jetzt mit drei zu eins. Ich sah die Spielstandsanzeigen, ließ mich von der Konferenz von Stadion zu Stadion ziehen, hörte das Blubbern der Kommentatorenstimmen und fühlte nichts. Als irgendwann der Ball im Netz landete, starrte ich auf die Worte „FSV 0 – 1 FCN“ in der Anzeige und auf die Jubeltraube in Weiß daneben, ohne irgendetwas davon zu verstehen. Das Einzige, was ich begriff, waren die Zahlen neben der Spielstandsanzeige. 66:49. Mein Blick wanderte nach unten zum Receiver. 14:54.

In den nächsten Minuten blinzelte ich nicht. Ich nahm nichts wahr als die eine Stelle des Bildschirms, das winzige Quadrat mit den quälend langsam und grausam schnell voranschreitenden Ziffern.

67:32.

68:04.

68:48.

69:25.

70:00.

Und dann, als 72 Minuten und 39 Sekunden gespielt waren, klingelte es.

Ich schoss hoch, haute auf die Powertaste der Fernbedienung und nahm, während ich aus dem Zimmer stürzte, gerade noch die weiße Leuchtanzeige am Receiver wahr. Punkt 15 Uhr. War das Zufall? Oder hatte er die letzten zwei Stunden genau so verbracht wie ich, krampfhaft auf der Suche nach irgendeiner Beschäftigung und doch nichts anderes im Kopf als die Uhrzeit und wie lange noch, alles daran setzend, nur ja nicht zu früh oder zu spät zu kommen?

Ich riss den Hörer der Sprechanlage von der Wand. „Hallo?“

„Martin, ich bins.“

Ich bins. Ich schloss die Augen. Das hatte er beim letzten Mal auch gesagt. Wahrscheinlich hatte er es vergessen.

Ich holte Luft, zwang die Lider auseinander und drückte auf den Öffner. Während es drei Stockwerke unter mir summte, hängte ich den Hörer ein, ging zur Tür, lehnte die Stirn dagegen, machte die Augen wieder zu und atmete. Seine Schritte hallten durchs Treppenhaus, erst kaum zu hören, dann immer deutlicher. Auf den Treppenstufen klangen sie anders als auf den ebenen Abschnitten. Ich zählte mit. Erste Treppe, erster Stock. Zweite Treppe, Wende, dritte Treppe, zweiter Stock. Vierte Treppe. Wende. Fünfte Treppe. Ein Schritt, zwei, drei, vier. Stille.

Mit geschlossenen Augen sah ich ihn vor mir stehen, kaum zwanzig Zentimeter entfernt, auf der anderen Seite der Tür. Er verharrte, ich verharrte. Keiner rührte sich. Dann – tock, tock. Zwei Schläge, genau vor meiner Stirn. Ich spürte ein winziges Zittern im Holz.

Ich atmete noch einmal ein. Dann öffnete ich die Augen, machte einen Schritt zurück und zog die Tür auf.

Er sah aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, wie er in den letzten Wochen immer wieder in meine Träume eingefallen war: das schwarze Haar leicht zerzaust, rasierte Wangen, ein hellblaues Hemd, die obersten zwei Knöpfe geöffnet, eine verwaschene blaue Jeans. Aber sein Blick war anders. Noch immer sah er zu mir hinunter, weil er immer noch ein paar Zentimeter größer war als ich, aber es fühlte sich an, als würde ich ihn um zwei Köpfe überragen. Seine Lider zuckten, und er presste die Lippen zusammen.

„Hi.“ Seine Stimme war rau und krächzte ein wenig, als hätte er sie lange nicht benutzt.

„Hi.“ Ich war selbst überrascht, wie ruhig ich klang. Fast kühl. Ich ging einen Schritt zur Seite. „Komm rein.“

Er trat über die Schwelle. Sein Blick huschte über den Flur, bevor er sich bückte und die Schuhe auszog. Ich beobachtete ihn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mein T-Shirt spannte an Brust und Bauch.

Ramin richtete sich auf. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich seinen Blick über mich gleiten, von den schwarzen Socken bis zu den roten Haarspitzen, die in der Stirn noch leicht feucht waren. Seine Lippen wurden noch dünner. Seine Augen zuckten von mir weg, wieder hin, wieder weg. Einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann ruckte ich den Kopf in Richtung Wohnzimmer. „Na dann, komm mit.“

Ich ging voraus. Hinter mir hörte ich seine Schritte.

Ich trat durch die offene Tür und durchquerte langsam den Raum. Erst, als ich direkt vor der Balkontür stand, drehte ich mich um. Ramin war ebenfalls stehengeblieben, rund drei Schritte hinter mir. Seine Hände schlossen sich zu Fäusten und öffneten sich wieder.

Ich verschränkte die Arme, diesmal vor der Brust. „Also? Was willst du?”

Ramin atmete. Ich sah, wie sich sein Bauch hob und senkte. Seine Hände ballten sich wieder zu Fäusten. Seine Gesichtsmuskeln verspannten sich, seine Lider hörten auf zu zucken, er holte Luft und öffnete den Mund. „Dich.“

Ich blinzelte. „Was?“

„Dich und mich. Dass wir uns wieder treffen. Dass wir – na ja, was wir hatten …“ Er schluckte. Seine Stimme klang noch immer etwas rostig, aber sie war fest. „Das will ich. Zurück.“

Wir starrten uns an. Mein Herz hämmerte. Mein Mund war so trocken, dass ich nicht sprechen konnte. Oder vielleicht war es mein Hirn, das mich hinderte. Mit allem hatte ich gerechnet. Entschuldigungen, Ausreden, Erklärungsversuchen. Damit nicht.

Ich holte Luft und fuhr mir mehrmals mit der Zunge über den Gaumen. Etwas in mir zog sich zurück. Sammelte sich. Bäumte sich auf. „Einfach so?“

Ramin machte einen Schritt auf mich zu und hob die Hand. „Nein, nein natürlich nicht einfach so, Martin, ich –“

„Glaubst du, dass es so einfach geht? Hm? GLAUBST DU DAS?! Du verlierst die Lust an einer Sache, du wirfst sie weg, du kümmerst dich ZWEI MONATE nicht einen Dreck drum, es ist dir scheißegal, ob sie kaputt ist oder nicht, und dann kommst du einfach ZURÜCK, einfach so, und sagst, dass du sie zurückwillst, und das WARS?“

Ramin öffnete den Mund, aber ich stürmte einen Schritt auf ihn zu, Arme kerzengerade an meinen Seiten, Fäuste verkrampft, kochend von Kopf bis Fuß. Alles stürzte wieder auf mich ein, alles; der Schock, die Hilflosigkeit, die Wut, der Schmerz, die Lethargie, alles, was ich beinahe verloren hätte, seinetwegen.

„Und warum solltest du sie zurückwollen? Hm?! Um wieder das zu haben, was wir hatten, na, was hatten wir denn, Ramin, hm? Ich dachte, wir hatten NICHTS! Ich dachte, alles, was wir hatten, war Sex, und nicht mehr, genau so, wie du ihn mit tausenden anderen Typen hattest! Ich meine, anscheinend war ich nicht spektakulär oder besonders oder so, oder? Nein, anscheinend war ich nur ein enger Arsch und du hast die Lust dran verloren! Hm? Hast du doch, oder? Ist das nicht, was du gesagt hast? STIMMT DOCH, ODER? Also was ist jetzt das Problem, bist du durch alle engen Ärsche in New York schon durch? Tja, Pech für dich, weil du kannst nicht einfach hierher zurückkommen und –“

„ICH WOLLTE DAS NICHT!”

Irgendwie schaffte Ramin es, mich zu übertönen. Sein Gesicht war verzerrt, er atmete schwer, aber er war nicht zurückgewichen. Jetzt machte er sogar einen Schritt auf mich zu, und ich spürte, wie ich mich aufrichtete, stählte. Meine Kehle, mein Gesicht, meine Augen, alles in mir brannte.

„Alles, was ich zu dir gesagt hab, Martin, das ganze … VERDAMMTE Zeug, das wollte ich alles nicht, ich habs nicht so gemeint, ich wollte dir nicht wehtun, ich –“

„JA KLAR! Von WEGEN, du wolltest das nicht! Ich meine, man WILL ... keine Vase umstoßen oder so, oder … oder man WILL kein Eigentor schießen, das sind Sachen, die man nicht tun WILL, aber manchmal passieren sie trotzdem. Was du gesagt hast, war anders, es ist dir nicht nur so rausgerutscht, du hast es gesagt und du hast es VERDAMMT NOCH MAL so gemeint!“

„NEIN, HAB ICH NICHT!”

„DOCH, HAST DU!”

„NEIN, HAB ICH NICHT, ICH SCHWÖRS!”

„WARUM hast dus dann VERDAMMT NOCH MAL gesagt? Hm?! Warum würdest du so was verdammt noch mal sagen, wenn dus gar nicht so gemeint hast?“

„Um dir wehzutun! Um mich von dir zu lösen! Um dich wegzustoßen! Aber ich wollte nicht –“

„Na toll, wenn das ALLES ist!“ Mein Hals war rau. Ramin sah mich an, flehend, und ich konnte, konnte einfach nichts begreifen. „Pass auf, wenn du das ganze … das ganze Zeug wirklich nicht so gemeint hast, WARUM wolltest du mir dann VERDAMMT NOCH MAL wehtun? Warum wolltest du dich von mir lösen? Ich dachte, es läuft gut zwischen uns, ich dachte – nach dem Ball, da dachte ich –“

„Lief es ja auch!” Er hob die Hand, fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, stieß die Luft aus. „Es LIEF gut zwischen uns, wir – ich –“

„WARUM hast du dann –“

„Weil ich ANGST hatte, Martin, okay?! Ich hatte Schiss, ich … bin AUSGEFLIPPT, solche Angst hatte ich!“

„ANGST?!“ Mein ganzer Körper zitterte. Meine Finger krampften sich noch fester zusammen. „Angst WOVOR denn, verdammt!?“

„DAVOR, IN DICH VERLIEBT ZU SEIN!”

 

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Referenzen:

 

“Red and Black” – Song aus dem Musical “Les Misérables” von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg. Französischer Originaltext von Alain Boublil und Jean-Marc Natel, englische Songtexte von Herbert Kretzmer. Basierend auf dem Roman von Victor Hugo. Uraufführung 1985.

 

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… und damit entlasse ich euch passend zum Fest der Liebe mit einem der schnulzigsten Kapitel-Schlusssätze, die diese Geschichte zu bieten hat – ich bitte um Nachsicht und kann zu meiner Ehrenrettung nur darauf hinweisen, dass das Gespräch gerade erst begonnen hat ;)

Ich wünsche euch wunderbare Feiertage, welches Fest ihr in diesen Tagen auch immer begeht, und solltet ihr keines begehen, wünsche ich euch trotzdem eine tolle, hoffentlich freie und erholsame Zeit! Und ich hoffe sehr, euch nächste Woche noch ein letztes Mal in diesem Jahr hier begrüßen zu dürfen, wenn sich 2024 dann auch in diesem Rahmen hoffentlich gebührend verabschieden wird …

Chapter 57: Stranger

Chapter Text

  1. Kapitel: Stranger

 

Starre.

Ramin stand mit riesigen Augen vor mir. Er atmete schnell und heftig. Konnte er auch machen. Er konnte sie haben, die Luft im Raum. Ich brauchte nichts. Ich könnte gar nichts damit anfangen. „Wha … I … B-but … B-but you said … you said you didn’t … you said I wasn’t … you …“

“I lied.” Auch er schrie nicht mehr. Seine Stimme war leise und brüchig. Er schloss die Lippen, schluckte, öffnete sie wieder. „I lied, Martin. Almost every word I said that day was a lie. I was just … I did it because … I …”

Er fuhr sich durchs Haar und presste die Lippen aufeinander. Gequält sah er mich an. Aber ich blieb stumm. I lied. I didn’t mean it. I was scared. Scared of being … scared of being in …

Ich taumelte zur Seite, fing mich an der Sofalehne auf und schaffte es irgendwie, mich um den Couchtisch herum aufs Sitzpolster zu manövrieren. „But … but why were you … If you were … I mean … Why were you scared of it, I mean you must have known how I … that I was … I mean … Why, why were you scared?”

Ramin stand immer noch. Mit herabhängenden Armen sah er auf mich herunter, und in seinem Gesicht verhärtete sich etwas. „Because I … Because that wasn’t who I was. Never. I just … I didn’t know how to handle it.”

“Handle … what? I – What do you mean?”

Er schluckte und holte Luft. „Well, I … I guess I‘d better tell you what happened. After the ball.”

Seine Augen irrten durch den Raum, als suche er an den Wänden nach dem Stichwort, mit dem er anfangen konnte. Ich presste die Kiefer aufeinander. Meine Finger hatten sich in die Sofapolster gekrallt.

„All right. Well … On Christmas Eve, I flew over to Toronto, and I stayed there with my family until after New Year’s. Then I went to New York. I wanted to spend another week there with a couple of friends, and then I was gonna fly back to London and go on with “Love Never Dies”.”

Er verstummte. Ich rührte mich nicht. Das wusste ich schon. Das hatte Sierra mir schon erzählt. Ramin presste die Lippen aufeinander, atmete, ballte die Hände zu Fäusten. „Look, Martin, my friends in New York, they’re … well, they’re gay. Gay friends. They’re part of the gay scene. And the gay scene in New York, it’s like …”

Er fixierte mich mit einem Blick, der anders war als zuvor. „I don’t suppose you know, do you? I mean, have you ever been to a gay club?”

Ich schluckte. You never fuck. You’re not even out. Ich schüttelte den Kopf.

Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. „No. I didn’t think so. I’ll try to explain. It’s … In New York, there’s not just one gay club. Or one gay street. There’s club after club after club, and music and dancing and drinking everywhere, and every one of them is packed, all night, every night. No matter where you go, there are guys, hot guys, horny guys, and you go in there and you dance and you drink and you fuck. All night long.”

Wir starrten uns an. Mein Mund war trocken. Ich wollte nicht, dass er weitermachte. Und gleichzeitig konnte ich nicht weghören, nicht wegschauen.

„My friends in New York are part of this scene. Heck, I’M part of this scene! It’s … for years, that’s what I’ve been doing. In New York, in London, in other cities … wherever I happened to be, you know? We go to the clubs, we dance, we drink, and we fuck. And then we talk about who we’ve done, and who we’re gonna do next. It’s just … it’s fun, you know? It’s free. It’s … like … a hobby, a sport, whatever. And it’s just fucking, you know? Just fucking, that’s the best part. It’s fun while you’re doing it, and afterwards, it’s just over. No duties, no strings attached, nothing. Just a good time. For everyone.”

Er atmete, fuhr sich durchs Haar, presste die Lippen zusammen. „And I – I used to love it, you know? It’s … great, and I’m fucking good at it! And I’m not gonna have any stuck-up straight asshole tell me that it’s wrong, or sinful, or any of that shit! I mean, I don’t need a relationship as an excuse to get laid; if I wanna fuck a different guy every night, then I do it, okay? It’s my right, I’m queer!”

Das hatte er fast geschrien. Seine Wangen waren gerötet, und seine Augen blitzten. Aber diesmal wich ich nicht zurück. Ich starrte ihn an und spürte, wie es auch in mir wieder zu brodeln begann. „What do you mean, it’s your right, you’re queer? What does being queer have to do with anything? Just because you’re queer, it doesn’t mean you’re … incapable of relationships, or something! I mean, I’M queer too, and I don’t do all that … fucking around! And don’t say it’s different, ‘cause I’m not out or something, because I wouldn’t do that even if I WAS out! And why should I? Not every gay guy who’s out goes around every night fucking everything that moves, Ramin! Why should being queer mean that you have to do that? That you can’t be in a relationship? Huh? Queer people can have relationships too!”

“ALL RIGHT, there are different kinds of queer, fine, I get it! But that was MY kind of queer, that was what I used to do, and I loved it, Martin, I LOVED it!”

Ich verschränkte die Arme. Meine Lippen zitterten wieder. “I see. So what you said about fucking guys every single night even when we were seeing each other was true then, was it?”

“I – I don’t know about seeing each other – I mean we weren’t – I – Yeah, Martin, that part was true! But the rest – I – All the rest – All about – Well, none of THAT was true, anyway, I mean, you are – you ARE special, and … You were right, we WERE more than sex. And I – I knew, even then, I mean, I kept coming to see you, and – I was – glad, really, every time you came to London, but – I just didn’t wanna see it, I – I just wasn’t used to it –“

Mit zerzaustem Haar sah er auf mich hinunter. Aber ich schüttelte den Kopf. Von wegen almost every word I said that day was a lie. “But you were fucking other guys when I wasn’t there?”

“Yes.”

“And you enjoyed it?”

“Yes.”

“Then WHAT are you doing here?!” Am liebsten hätte ich ihn gepackt und geschüttelt, so lange, bis das herausfiel, was nicht zu mir passte, was ich nicht hören wollte. „HUH?! If you want THAT, then what the FUCK do you want from me?”

“I don’t want that anymore!” Jeder Muskel in seinem Gesicht war angespannt, aber er wich meinem Blick nicht aus. „At least, I think I don’t ... I … Right now, I want …”

Eine Sekunde starrte er noch auf mich herunter, dann brach er den Blickkontakt doch, legte den Kopf in den Nacken, krallte eine Hand in sein Haar. Als er mich wieder ansah, blitzten seine Augen immer noch, aber jetzt lag etwas Stählernes darin. Er sprach etwas ruhiger. Ich hörte, wie viel Mühe ihn das kostete. „Look, Martin, at the ball – You know, before the dancing started, when I went back to the cloakroom to leave our shoes? Well, I ran into a guy I knew. Just casually, you know, I’d seen him around the clubs and stuff. And … well, we didn’t really talk, we just looked at each other, but … it was obvious … I just knew he … he wanted to fuck. Okay? Right then, right there.”

Schweigen. Ich starrte Ramin an. Ich sah den Abend vor mir, den Saal, die Lichter, die Menschen, die Bühne, wie ich allein am Tisch gesessen und gewartet hatte auf ihn, wie ich ungeduldiger geworden war mit jeder Minute, in der er nicht zurückkam, weil ich mich so gefreut hatte darauf, dass es endlich losging, dass ich endlich tanzen konnte, mit ihm. Und er …

“You didn’t. Tell me you didn’t.”

Er atmete durch. “No, Martin, I didn’t. I swear I didn’t. But – he expected me to want to, you know? I mean, he didn’t even think about it, it was a given. We were both there, there was a bathroom around the corner, what else do you need, right? And I would have expected me to want to, too. But … I didn’t. At that moment, I just didn’t. I was there with you, I was happy, I had been looking forward to taking you to the ball ever since you agreed to go, and … I just didn’t wanna fuck anyone else. So I left him standing there and came back to you. And I didn’t even really think about it at the time, it was only later that … Well, anyway, the ball …”

Er blinzelte ein paarmal. Mein Nacken fing an zu kribbeln. Das, was ich jetzt in seinen Augen sah, dieser … Glanz, so voll von … allem, und so … ungeschützt …

Ich presste die Lippen zusammen und rang den Laut nieder. Wie ein Pfeil bohrte sich dieser Blick in mich hinein.

„Martin – everything I said about the ball, everything was a lie. Believe me. Please. I … I mean, of course, if I’d gone with Sierra, we would’ve danced differently, but that doesn’t matter. Not at all. Honestly, I didn’t care, I swear, I didn’t care. I wasn’t bored. How could I have been? I … You know, just being there with you, seeing you being at something like that for the first time, just … drinking it all in and … All night, Martin, you were beaming, like … Seriously, Martin, you should have seen yourself smile that night, it was … I just didn’t wanna look at anything else. It was … perfect. The entire night. It was just … perfect.”

Perfect. I don’t deserve this, you look perfect tonight.

Ein paar Herzschläge schauten wir uns nur an. Dann schluckte er. Sein Adamsapfel hob und senkte sich. “Well … anyway … Afterwards, when I was in New York, after New Year’s, I got together with a couple of friends and we went out. Like I said. But … it wasn’t really the same, you know? Something had changed. After the ball. I mean, until then, yes, I was fucking other guys when you weren’t there, but then … somehow, I just – didn’t want to anymore. I mean, I danced, and I drank, and I had fun, it was great, but the guys I danced with, when they started towards the back room, I just told them, ‘not interested’. And then, of course, my friends started to notice. I mean, there was some teasing before. You see, a lot of people were at that ball, a lot of theatre people, too.”

Er lachte. Ein eiskalter Schauer lief meinen Rücken hinab. Das war das Lachen vom Januar. Auch sein Blick war jetzt anders. Hart. Hasserfüllt.

„You know, we disguised you, but really, we should have disguised me, because not a single person there knew who you were, but they sure as hell knew me. And you bet your ass they noticed that I was there with a male partner, that I practically danced with nobody but him, that I kissed him, that we left together, and that – I’m sorry Martin, please don’t take this the wrong way, again, I really didn’t care – but that I clearly hadn’t picked him because of his superb dancing skills. By the time I got to New York, my friends there had already heard all about it. That apparently, I had a boyfriend now.”

Meine Finger krallten sich in meine Oberarme. Boyfriend. Mit wie viel Verachtung er dieses Wort ausgespuckt hatte.

„And at first, I laughed it off. I didn’t care. And they didn’t, either, at least, not then. They didn’t think it was serious. They thought there was just no way it could be. But then, when I actually started turning down guys, the others … well. In that world, when you start turning down blowjobs, it’s definitely serious. Their jokes changed. They called me a prude. A happily married husband. An imitation heterosexual. Moreover, one married to a guy who can hardly put one foot in front of the other on a dance floor, although apparently, he’s at least got a nice ass.”

Ein Messerstich. Ich schluckte, blinzelte, zwang meine Lippen auseinander. „Some friends you got there.” Ich hatte eiskalt und herablassend gewollt, aber das bekam ich nicht hin. Ich hörte den Schmerz, und Ramins Blick sagte mir, dass er ihn auch gehört hatte.

Er schüttelte leicht den Kopf. Der Hass war aus seinen Augen verschwunden. „They’re not those kind of friends. Not like Sierra, or Finn for you. I hang out with them, and I have fun with them, but deep down, it’s a war. Who’s younger, who’s hotter, who’s got more biceps, who gets more guys. If you lose too much, you’re out. But I let them get to me.”

Sein Lächeln war eine höhnische Grimasse. Ich sah zu ihm hinauf und konnte es nicht fassen. Wie hatte er sich alles, was zwischen uns gewesen war, so schlecht machen lassen können? Wie hatte er sich von anderen Leuten so sehr beeinflussen lassen können?

„I told them to shut up. That I wasn’t an imitation heterosexual, that I was not in a relationship, that I was never gonna be that pathetic. Then I grabbed the nearest guy, took him to the back room and fucked him. And the next night, I did it again. And again. And again. Just to prove that I still could. That I still wanted to.”

Again, and again, and again. Jedes Wort eine Ohrfeige. Ich starrte in die dunklen Höhlen von Ramins Augen, in denen diesmal nirgendwo ein Feuer brannte. In mir hallten Worte nach. Worte, die ich bei unserer allerersten Begegnung gehört hatte, damals im Gang hinter dem Theater.

Fuck the others. Who gives a shit what they think?

Ich presste die Lippen aufeinander. Yeah right. Wie lächerlich. Wie unendlich lächerlich. Und was für ein unendlicher Idiot ich gewesen war, dass ich ihm auch noch geglaubt hatte.

„But it wasn’t really them I wanted to prove it to, you know? Most of all, most of all, I wanted to prove it to myself. You see, Martin, I’d never … EVER had a – like – a boyfriend. A partner. Whatever. I’d never wanted one. What I always wanted was to fuck and to be free. And that was it, you know? Simple. Easy to get, easy to enjoy, at least if you know how. And I do. I do, and I’m FUCKING good at it! It’s just … it’s who I was, you know? At least a big part of who I was. And when the others started mocking me, saying all the things that I would’ve mocked about other people, that I did mock, many times, I just – I freaked, you know? I snapped. I thought I must have been … crazy. I told myself that they were right, that it had all been wrong, that everything we’d had was pathetic, that you were pathetic, that I was pathetic. That I had to break away from you. To prove to myself that I was still free. Still independent. That I didn’t need … that I was never gonna need anyone else. So I danced with guys, and let them suck my dick, and fucked them, and told myself I was enjoying it, even though deep down I knew, all the time, that I wasn’t. But back then …”

Langsam schüttelte er den Kopf. “I didn’t wanna hear it. So I ignored it. And fucked around some more, to make that voice shut up. And when one of my friends told me that a new cast was being put together for a re-launch of “West Side Story,” I called the producer, went over the next day, talked to the guy, sang “Maria,” and that was that. I quit my job in London the same day. I stayed in New York for a couple more days, sorted out a flat and went back to London, to pack.”

Sein Blick hing irgendwo an einem Punkt links über meiner Schulter. Ich beobachtete ihn, meine Arme immer noch verschränkt. Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte nicht glauben, dass alles, was ich mir so sehr gewünscht hatte, alles, an das ich für diese drei kurzen, wundervollen Wochen nach dem Ball so fest geglaubt hatte – dass er mich liebte, dass er jetzt mein Freund war, dass wir eine richtige, feste Beziehung haben würden – ihn so abgestoßen hatte. Dass er dafür verspottet worden war von Leuten, die er Freunde nannte. Warum? Was zur Hölle war denn falsch daran? Das war doch nicht mal irgendwas Besonderes. Es war doch … einfach … normal.

Die Stille dehnte sich aus. Ich wartete. Bis ich die Gedanken an ihn und mich und, ob es je wirklich ein Uns geben konnte, nicht mehr ertrug. „And what about Sierra? Sierra’s not me, you weren’t fucking her. So even if you decided you had to break up with me to hold on to your … your independence or whatever, you didn’t have to push her away. But you did. You didn’t even call her. She told me. She said that the theatre people told her you were leaving before you did. Why?”

Er fragte nicht, wann ich mit Sierra gesprochen hatte. Nach ein paar Sekunden Schweigen hob er die Schultern. „She was … collateral damage, you know? I was … so determined to prove to the fucking world that I was free, that I didn’t need anyone except myself, that I wanted to break away from … everything. And everyone. So I didn’t call her, or text her, or anything. Because I knew it would hurt her. Christ, and I loved that thought.”

Er lachte. Ich schauderte. So viel Ekel lag in diesem Lachen, dass es im Raum schlagartig kälter wurde.

“When I was back in London, I went to see her. Told her I was going. She already knew, like you said. Of course she did. I made a great show of not giving a fuck how she found out. When she asked me why I hadn’t called her, I just shrugged. Oh well, I said. Who cares.”

Wieder dieses Lachen. Ich zog die Schultern zusammen.

„She wanted to know why I was going. I just told her, Broadway. She wasn’t convinced, I could tell. That pissed me off. I mean, I knew I was lying, but knowing that she knew that I was still pissed me off.”

Ein Lachen.

“Then she asked about you. ‘What about Martin?,’ she said. That pissed me off even more. I thought it was none of her fucking business, and I thought it was just more proof that I was doing the right thing. If people thought I was somehow tied down by you, then it was about time I broke away.”

Ein Lachen.

“I told myself to play it cool, though. It told her that I was gonna tell you that I was leaving, that I just had to wait ‘till you were back ‘cause you were still on your training camp. Then she gave me a lecture. ‘Be kind,’ she said. ‘Be honest. Tell him how you feel about him.’ I just grit my teeth and thought, you bet I will.”

Seine Lippen verzogen sich. „Well. You know what happened. I hung around for a few days, packed my stuff, booked a flight back to New York, sublet the flat, and then … came here.”

Seine Augen huschten zur Tür zum Flur. Sekundenlang war es still. Er holte tief Luft und drehte den Kopf zurück zu mir. Langsam, als würde er ihn nicht durch Luft, sondern durch Zement bewegen. Er biss sich auf die Oberlippe, presste die Lippen zusammen, zwang sie auseinander. Seine Augen schimmerten. Seine Stimme war brüchig und viel höher als sonst. „Martin, I … I’m so … so sorry.”

Er blinzelte, fuhr sich durchs Haar. „So sorry. Believe me. Please. I … So many times, ever since, I’ve wished I could take it back. Everything … I … I know I ruined …”

Sein Handrücken fuhr über seine Augen. Zitternd atmete er ein. „I know I hurt you. I hurt you, and you tried to tell me … But I wouldn’t stop … I wouldn’t listen … I just kept on lying, and …”

Er stieß die Luft aus und blinzelte. Etwas veränderte sich. Er stand plötzlich fester, und sein Blick war ruhiger als zuvor. „Martin, everything I said was a lie. Everything. I said it to hurt you, not because I believed it was true. Because it’s not. None of it is. You’re not weak. You’re not pathetic. I came to Hamburg to see you because of you, not because of football. I took you to the ball because I wanted to, because I really, really wanted to be there with you. Because I cared about you. I still … care about you.”

Er atmete. Seine Zunge fuhr über seine Oberlippe. „What we had wasn’t nothing. And it was not just sex. It was … more. So much more. And … I really, really hope that … maybe … we can have it again. Because I’ve missed you. I’ve missed you like … fucking hell.”

Seine Lippen lagen aufeinander. Sein rechter Daumen zuckte, vor und zurück und vor und zurück, rasant wie die Flügel eines Kolibris.

Ich saß auf dem Sofa und starrte zu ihm hinauf. Unter den Fingern auf meinen Oberarmen spürte ich Gänsehaut. Sonst spürte ich fast nichts. Da war nur ein dumpfes, kaltes Prickeln. Sonst war mein Körper taub.

Ich schluckte, schaute in seine dunkelbraunen Augen, jetzt gerötet und feucht. Ich holte Luft. Meine eigene Stimme klang fremd in meinen Ohren. „After you left, I behaved like … a maniac. I shouted at everyone, at Finn, at my teammates, at my coach … I nearly injured my own teammates during practice because of you. I played like shit. I scored an own goal and made us lose a match. I got suspended. And then I just … lay in bed for a week. I did nothing, I felt nothing, I …”

Ich blinzelte, schluckte. Ein Funken glomm in meiner Brust. „After the ball, before you came here, I was happy. Happier than I’d ever been in my life. Because I thought you loved me. And then you showed up, and you said all that stuff, and you made me feel like nothing. Because I believed you, Ramin. I thought you’d been acting, I thought you’d been pretending to care about me for six months, while really, you were just pushing me to see how far I’d go, what I’d do for you. I thought you’d just been playing with me, and I’d fallen for it. And fallen for you. For someone who didn’t give a shit about me. To whom I was just a toy.”

Ich presste die Lippen zusammen. Meine Finger gruben sich in meine Oberarme. „I was … SO angry, Ramin! I was so angry with you, but … I was angry with myself, too! Because I thought I’d been taken in by a fucking calculating asshole who was only using me! Do you know what that felt like, Ramin? Do you have ANY IDEA what that felt like?!”

Ramins Augen schimmerten. Mit aufeinandergepressten Lippen sah er mich an. Er atmete, einmal, zweimal, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Er schüttelte den Kopf. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und lief seine Wange hinab.

In meinem Bauch zog sich etwas zusammen. Ruckartig drehte ich den Kopf weg und starrte durch die Balkontür in den Sonnenschein. Ich versuchte, mich nur auf das Gefühl meiner Finger in meinen Armen zu konzentrieren und nicht auf das Krampfen in meinem Bauch, das Reißen in meiner Brust. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass es mir wehtat, wenn ich die Qual in seinem Gesicht sah, ich wollte kein Mitleid mit Ramin haben. Das hatte er nicht verdient. Er war schließlich an allem schuld, verdammt!

Ich holte Luft, presste die Lippen aufeinander und drehte den Kopf zurück nach links. Ramin sah immer noch auf mich hinunter. Seine Augen schwammen. Ich spürte, wie mein T-Shirt spannte, als sich meine Brust- und Bauchmuskeln verkrampften. „So what happened then? What did you do after you left?”

Er blinzelte und fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht. „Well … After I left, I was … furious. With myself, of course, but back then, I didn’t wanna know, so I told myself it was you I was angry with, because you’d made a fucking big deal out of it, like I’d known you would. And I told myself I was angry with Sierra, for making me go and see you in the first place. Which she hadn’t, even. But I didn’t care.”

Ein Lachen.

“But she’d been on your side, and that was enough. So when I was back in London, I went straight to her place. I told her what had happened. What I’d said to you. I blamed her for telling me to be kind to you, to let you down gently. I was … still so angry, I as good as shouted at her.”

Seine Augen huschten zur Decke. Er blinzelte, und als er weitersprach, zitterte seine Stimme wieder. „Well, that made her angry, too. It was her turn to shout at me. And shout she did. Shouted stuff that was true, all true, but I didn’t wanna hear it. How I could have hurt you like that. How I was the coward, not you, for running away, for denying what I really felt. How I was pathetic, not because of you, but because I would rather throw away everything I had and run away to a different country than admit that something had changed, that maybe I was changing. And then …”

Er holte Luft. Das Zittern in seiner Stimme wurde noch deutlicher, und wieder klang sie unnatürlich hoch. „Then I was so angry, so livid that I … Because she’d thrown everything at me that I wanted to deny, to pretend it wasn’t there … that I … I said …”

Mein Atem stockte. Ich sah Sierra vor mir, genau da, wo ich jetzt saß, sah das verächtliche Lächeln auf ihren Lippen, den Schmerz in ihren Augen, den Schmerz, der mich damals davon abgehalten hatte, zu fragen.

Ramin stand heftig blinzelnd vor mir, und seine Stimme zitterte jetzt so sehr, dass er nur stockend weitersprechen konnte. „I told her to shut up … That she didn’t know shit … That she was just saying that to make me stay because she’d be nothing without me … That she wasn’t worth shit on the stage without me and she knew it … But that I didn’t care, that I didn’t need her and that I didn’t give a fuck about her and …”

Er sog die Luft ein und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht. „And that she was just a stuck-up cunt who needed to get laid.”

Stille. Ich hatte das Gefühl, zu Stein geworden zu sein. Sekundenlang starrten wir uns an, Ramins Worte zwischen uns im Raum.

Irgendwann holte Ramin Luft und richtete sich etwas auf. „Then she looked at me. And she said, ‘Congratulations, Ramin. Two in one day. Well, you’ve done it. No ties, nothing holding you back, no one who cares about you. You’re free. Just like you want. Now go and enjoy it.’ And I turned around and left. I went back to the flat, finished packing and left for New York the next day.”

Ich starrte ihn an. Finn, hörte ich mich sagen, Finn, ich gehe zu Real Madrid. Ist mir doch egal, was du davon hältst. Ob du mich vermisst, ob du mich brauchst, scheißegal. Ich brauche dich bestimmt nicht. Ich bin alles, und du bist nichts. Du bist …

Die Stimme verstummte. Schon bis hierhin war es schwer gewesen, jetzt war es unmöglich. So etwas würde ich nie sagen. So etwas könnte ich nie sagen. Niemals könnte ich meinem besten Freund so wehtun. Und wenn es doch passieren würde, auf irgendeine abstruse Weise, könnte ich erst recht nicht ohne eine Aussprache zu suchen in ein anderes Land verschwinden. Nicht mit diesen letzten Worten zwischen uns. Es hätte mich nicht losgelassen. Es hätte mich fertiggemacht.

Ich sah Ramin an, seine roten, noch immer mit Tränen gefüllten Augen, seine zusammengepressten Lippen, sein gequältes Gesicht, seine herabhängenden Schultern und Arme. Oh ja. Es hatte ihn fertiggemacht.

Ich versuchte, den Mund zu öffnen, und merkte, dass es ging. „And then? When you were in New York? When did you change your mind?”

“After about two months.” Seine Stimme zitterte noch immer, aber nicht mehr so sehr wie zuvor. „A little less. At first, we just rehearsed. I went to the theatre every day, worked with the cast, and at night, I went out. To the clubs. Drank, danced, took guys back to the flat … well. You know.”

Vor meinen Augen sah ich ihn, in einer schemenhaften Wohnung, auf irgendeinem Bett, unter ihm ein schlanker, blonder Typ, der sich wandte und stöhnte …

Ich blinzelte. Das Bild verschwand. Ramin stand vor mir, gebeugt und ausgelaugt.

„But the cast was … just a cast, you know? They weren’t bad, actually they were good, and most of ‘em were nice and I got on okay with them. But when rehearsal was over, we just said goodbye and left. A couple of them always went off together, but not me. They weren’t friends, they were just … colleagues. And I … I just … There was just … never anyone I could go out to dinner with, or who’d just drop by for breakfast, or ...”

Er schüttelte den Kopf. „And the thing is, I never thought I’d miss it that much. I never thought it … meant that much to me. I just … I mean, in London, she was just … there, you know? And then suddenly, she wasn’t. And the guys … were young and muscular and hot and horny and well hung, but … they weren’t you.”

Das Braun seiner Augen war dunkel und tief, schimmerte nur noch schwach. Ich blickte hinein und sah Bilder. Ramin, über mir, im Schlafzimmer seiner Wohnung, fahl durch das Licht einer Straßenlaterne erhellt, in jener allerersten Nacht im Juni. Der sich sanft bewegte, sanft, nachdem ich slowly gehaucht hatte, sanft, weil es so lange her gewesen war. Ramin, der sich das T-Shirt über den Kopf riss, während wir von seinem Wohnzimmer ins Schlafzimmer stolperten, meine Hände, die an seinem Gürtel zerrten, wie er kurz darauf rückwärts aufs Bett fiel und ich zu ihm hinaufschaute, die Hände an seinen Hüften, und mir genüsslich mit der Zunge über die Oberlippe fuhr. Ramin, der diesmal mich rückwärts auf mein Bett stieß, in der Nacht nach dem Stuttgart-Spiel, ein kleines Plastikpäckchen aus der Jeanstasche zog und es mit einem Ruck mit den Zähnen aufriss. Ramin, der langsam meine Krawatte löste und mir unverwandt in die Augen sah, der mir das Hemd Knopf für Knopf öffnete, der sorgsam und bedacht meinen Oberkörper freilegte, der mich sekundenlang betrachtete und lächelte, dass sein ganzes Gesicht erstrahlte, der zart und behutsam seine Lippen auf meine legte und mich dabei mit beiden Armen fest und sicher hielt.

Wir blinzelten, genau gleichzeitig. Als er fortfuhr, war seine Stimme noch fester. “With them, it was just sex. Just like I’d wanted. And I told myself I was loving it. That I was having the time of my life. That at last, I was completely free. No friends, no lover, no attachments. Nothing. Just me.”

Sein Lächeln war bitter. “But of course, I didn’t love it. In fact, I hated it. I missed Sierra. And I missed you. At first, I tried to ignore it. Told myself it would pass. That I’d get over it. That I had to if I wanted to be a man.”

Die Bitterkeit verwandelte sich wieder in Hass. „But even then, I couldn‘t really do it. I couldn’t quench it completely. I scanned the internet for news of “Love Never Dies,” to see who they’d picked as a replacement, and how the show was going. And I kept up with your news, too. Your matches. If you were playing or not. How you were doing. At first, I hated myself for doing it. But I couldn’t stop.”

Er fuhr sich durchs Haar und sah kurz zur Balkontür hinaus. „I saw that you lost your first two matches. I also saw that you scored an own goal in the second one, and that you didn’t play in the next match at all.”

Ich dachte an die Januarnacht in Stuttgart. Die Busfahrt zurück. Die Woche danach. Ich sagte nichts.

„But then you won the next match. You even scored a goal. I thought – well, I thought … you must be doing all right.”

Gladbach. Mein erstes Tor. Der ersehnte Sieg. Die Feier mit den Fans. Mit der Mannschaft. Mit Finn. Und wie ich die ganze Zeit, den ganzen Abend, doch nur auf ein Vibrieren meines Handys gewartet hatte. Ein Vibrieren, das nicht gekommen war.

Ramin wartete, aber als ich stumm blieb, sprach er weiter. „Well, by then, I’d been in New York for almost a month. And I was still … unhappy. And I was starting to realise it more and more. At first, I’d thought that things would get better, that they’d have to get better. But instead, it just got … harder and harder to ignore everything. I started going to the clubs less. I spent more and more evenings sitting in the flat. I’d hardly even unpacked. I’d only taken one suitcase and the guitar, anyway, I’d left most of my stuff in boxes in the basement of the London flat. And I just sat there, in that bare apartment, and I was just … staring at my phone. Once or twice, I almost made up my mind to call you, but at the last moment … well.”

Er schluckte. “I didn’t call Sierra, either. In March, the performances were due to start, and I clung to that. I thought, once rehearsals are over, once the show actually gets on the road, once I can perform in front of an audience again, things will get better.”

Er lächelte. Es war eine höhnische Grimasse. „Turns out, they didn’t. Opening night was on March 13th. That was a Sunday.”

Es war der Tag, an dem wir null zu eins in Leverkusen verloren hatten und ich in den letzten Minuten noch meine fünfte Gelbe Karte kassiert hatte.

„We performed, and the show was sold out, and we got good reviews. The others were pleased, but to me, it meant nothing. I didn’t care. In fact, I hated it. I hated going out there every night and performing with people that meant nothing to me, in a city where I had … nothing. By the time we’d done a week’s worth of performances, I could hardly drag myself out there, and the others started to notice that something was wrong. I mean, I still played my part, but that was it. No spark, no passion, nothing. And in theatre, people will notice that. In the end, the producer gave me an ultimatum: either I’d get my act together, or I’d be out.”

Ich will den echten Martin sehen. Den, der mit Kopf spielt und Teamgeist zeigt. Dann bist du unverzichtbar für uns, Martin. Aber nur dann. Wenn du das nicht auf den Platz bringst, wirst du gegen Köln nicht wieder von Anfang an spielen. Bei mir im Januar, bei ihm im März. Und doch gleich. Gleicher Auslöser – gleiche Konsequenz. Außer, dass ich nicht der Schuldige gewesen war.

„That night, I sat awake in the flat after the performance, and … everything … everything came suddenly flooding in.”

Er sah mich immer noch an, aber er blickte durch mich hindurch. Seine Augen waren geweitet und schienen nicht nur durch mich, sondern durch die Zeit hindurch zurückzuschauen. „For the first time, I couldn’t stop it. At all. Or maybe I didn’t want to. I thought of you, what I’d said to you, and of Sierra, and what I’d said to her, and I … I …”

Sein Mund öffnete und schloss sich. Schließlich schluckte er, und seine Augen fixierten sich wieder auf mich. „I broke. Suddenly, there on the fucking floor in the fucking flat where I didn’t wanna be, I realised that I had made the biggest fucking mistake of my life. What I’d done. What I’d thrown away. How much I had hurt the two people that …”

Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe und holte zittrig Luft. „That mean more to me than anything in the world. And I … I couldn’t stand just sitting there. I had to do something. Something, anything that might … make it right. So I grabbed my phone and called Sierra.”

Er lachte. Diesmal nicht hasserfüllt. Eher verzweifelt amüsiert. „Of course, I didn’t think of the time. Or that I was in New York and she was in London. I called her at half past eleven, which means that in London, it was half past four. In the morning.”

Wieder lachte er. Seine Augen waren immer noch gerötet. „But anyway, she answered. She wasn’t exactly pleased, of course. Asked me if I knew what fucking time it was. And then, what the fuck I wanted. And I … I don’t even remember what I said … She probably thought I was crazy, or drunk … Just stuff about being sorry and missing her and wanting to go home … And she just said, ‘You have something you want to say to me, Ramin? Then you fucking come over here and say it. I’m not listening to you blabbering in the middle of the night.’ Then she hung up. And I sat there, staring at the phone, and then … then I got up, grabbed my suitcase and started throwing everything I could reach into it, and with the other hand, I went on KAYAK and booked the next plane back to London.”

Ich starrte ihn an. Mein Mund hing offen. „You just left? Just like that? But … what about the job? And the flat?”

“I put the keys in an envelope with a note saying ‘I quit’ and threw it in the landlord’s letterbox. And I called the producer from the taxi, on the way to the airport. He didn’t answer, of course, so I left a voicemail.”

„But …“ Mir war schwindelig. In meinem Kopf wirbelte alles. „But I thought you’d quit your job. In London, I mean. And sublet the flat. I mean … Where did you go? What were you gonna do?”

Er hob die Schultern. „I didn’t think about it. About the job, I mean. It just … At that moment, it didn’t matter. And as for the flat, I thought I’d go to a hotel. But … but I was also hoping that …” Seine Zungenspitze fuhr über seine Oberlippe. „Anyway, I didn’t have to. Sierra let me stay with her.”

“She …?” Ich lehnte mich nach vorne. „You mean, she forgave you?”

Er nickte langsam. „Yeah.“ Er schluckte, holte Luft. „My plane was due to leave in the early morning, but there was a delay, and then of course, there’s the time shift, so when I arrived in London, it was pretty late. Like, ten-ish. I knew Sierra’d be performing, so I went to the theatre … Security let me in, and … I went straight to her dressing room and waited there. When the show was over, she came in and … well.”

Wieder schluckte er. Seine Hände fuhren über seine Oberschenkel. „She was … pretty angry. Naturally. And I … When I stood before her and saw what … how … what I’d done, I … I felt …”

Er atmete, mehrmals schnell hintereinander. Er sprach so leise weiter, dass ich mich noch weiter vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. „I felt so terrible. I mean, I knew that I’d hurt her. And you. But when I was with her … When I actually saw … I was so, so sorry. And I told her, but at first … well …”

Er blinzelte. „It wasn’t nice. For either of us. At first, she didn’t let me talk. She just told me to shut up, that … she didn’t wanna hear it … right then. And I was … just about to grab my stuff and leave. And then … when I’d already turned to go … she asked where I was gonna stay. And I said, ‘I dunno. At some hotel, I guess.’ And she looked at me … And then she said, ‘Wait.’ And then she took me home with her.”

Ramins Augen glänzten. Sie waren nicht mehr auf mich gerichtet, sondern auf einen Punkt höher an der Wand, und wieder hatte ich das Gefühl, dass er durch sie hindurchsah. „But at first, she still wouldn’t let me talk. In the car, she was silent, and so was I. And when we were at her flat, she told me to sleep on the sofa, and then she took a shower and went to bed. And then … I mean, I hadn’t slept for two days, and I was dead on my feet, but … I couldn’t sleep. And she couldn’t, either. And then … I don’t remember when, exactly, but at some point, she came in … and she just looked at me … and I …”

Er schüttelte den Kopf, noch immer mit glasigen Augen. „Everything came tumbling out of me. How she’d been right … How pathetic I was … How much of a coward … And that I was so, so sorry. And I was crying, and she was … I dunno … I dunno how it happened … I think at first, she hit me or something but … in the end … she was hugging me. And then we made it up.”

Er hob die Schultern, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er blinzelte mehrmals. Sein Blick fokussierte sich wieder auf mich. Als er weitersprach, war seine Stimme lauter und kräftiger. „Since then, I’ve been staying with her. I’ve been trying to sort out a few things … The flat’s let ‘till June, but I can probably get it back after that, and I’ve been looking into some openings, trying to sort out a job, but … well. It’s not so easy in the middle of the season. But mainly, I’ve been … trying to figure out what to say to you. You know, trying to … make myself come here and face you.”

Wieder lächelte er. In seinen Augen lag ein wenig mehr Leben, aber er blinzelte häufig. Seine Finger waren kerzengerade angespannt.

Ich spürte, wie sich mein Rücken streckte. Meine Hände glitten vom Sofa auf meine Oberschenkel und fuhren hinunter bis zu den Knien, wieder hinauf. In meinem Kopf wirbelte es noch immer. „I see. And I suppose you’re hoping that we’ll kiss and make up, too, are you? That we’re gonna end up some fairy tale couple and live happily ever after?”

Ramin blinzelte. „No. No, of course not! Why would you think that?”

 

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Referenzen:

 

“Stranger Than You Dreamt It” – Song aus dem Musical “Phantom of the Opera” von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

„Maria“ – Song aus dem Musical „West Side Story” von Leonard Bernstein. Musik von Leonard Bernstein, Lyrics von Stephen Sondheim, Buch von Arthur Laurents. Basierend auf dem Schauspiel „Romeo and Juliet“ von William Shakespeare. Uraufführung 1957.

 

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Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch, und ich hoffe, dass wir uns im neuen Jahr wieder hier lesen! :)

Chapter 58: Stranger - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Stranger

 

Starre.

Ramin stand mit riesigen Augen vor mir. Er atmete schnell und heftig. Konnte er auch machen. Er konnte sie haben, die Luft im Raum. Ich brauchte nichts. Ich könnte gar nichts damit anfangen. „Wa … Ich … A-aber … A-aber du hast doch gesagt … du hast doch gesagt, dass du mich nicht … du hast gesagt, dass ich nicht … du …“

„Ich hab gelogen.” Auch er schrie nicht mehr. Seine Stimme war leise und brüchig. Er schloss die Lippen, schluckte, öffnete sie wieder. „Ich hab gelogen, Martin. Fast jedes Wort, das ich an dem Tag gesagt hab, war gelogen. Ich war einfach … Ich hab das getan, weil … ich …“

Er fuhr sich durchs Haar und presste die Lippen aufeinander. Gequält sah er mich an. Aber ich blieb stumm. Ich hab gelogen. Ich habs nicht so gemeint. Ich hatte Angst. Angst davor … Angst davor, in dich …

Ich taumelte zur Seite, fing mich an der Sofalehne auf und schaffte es irgendwie, mich um den Couchtisch herum aufs Sitzpolster zu manövrieren. „Aber … aber warum hattest du … Wenn du wirklich … Ich meine … Warum hattest du Angst davor, ich meine, du musst doch gewusst haben, wie ich … dass ich … Ich meine … Warum, warum hattest du Angst?“

Ramin stand immer noch. Mit herabhängenden Armen sah er auf mich herunter, und in seinem Gesicht verhärtete sich etwas. „Weil ich … Weil ich so nicht war. Nie. Ich … ich wusste einfach nicht, wie ich damit klarkommen soll.“

„Klarkommen … womit? Ich – Was soll das heißen?“

Er schluckte und holte Luft. „Na ja, ich … ich schätze, ich sollte dir erzählen, was passiert ist. Nach dem Ball.“

Seine Augen irrten durch den Raum, als suche er an den Wänden nach dem Stichwort, mit dem er anfangen konnte. Ich presste die Kiefer aufeinander. Meine Finger hatten sich in die Sofapolster gekrallt.

„Okay. Also … An Heiligabend bin ich nach Toronto geflogen, und da war ich bis nach Silvester bei meiner Familie. Dann bin ich nach New York geflogen. Ich wollte da noch eine Woche mit ein paar Freunden verbringen, und dann wollte ich zurück nach London fliegen und mit „Love Never Dies“ weitermachen.“

Er verstummte. Ich rührte mich nicht. Das wusste ich schon. Das hatte Sierra mir schon erzählt. Ramin presste die Lippen aufeinander, atmete, ballte die Hände zu Fäusten. „Schau, Martin, meine Freunde in New York, die sind … na ja, die sind schwul. Schwule Freunde. Sie sind Teil der Schwulenszene. Und die New Yorker Schwulenszene, die ist …“

Er fixierte mich mit einem Blick, der anders war als zuvor. „Das weißt du wahrscheinlich nicht, oder? Ich meine, bist du je in einem Schwulenclub gewesen?“

Ich schluckte. Du fickst nie. Du bist nicht mal geoutet. Ich schüttelte den Kopf.

Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. „Nein. Hab ich mir gedacht. Ich versuch mal, es zu erklären. Es ist … in New York gibt’s nicht nur einen Schwulenklub. Oder eine Straße mit Schwulenklubs. Es gibt einen Klub nach dem anderen, und Musik und Tanzen und Saufen überall, und jeder davon ist vollgestopft, die ganze Nacht, jede Nacht. Egal wo man hingeht, sind Typen, sexy Typen, geile Typen, und man geht rein und man tanzt und man trinkt und man fickt. Die ganze Nacht.“

Wir starrten uns an. Mein Mund war trocken. Ich wollte nicht, dass er weitermachte. Und gleichzeitig konnte ich nicht weghören, nicht wegschauen.

„Meine New Yorker Freunde sind Teil dieser Szene. Verdammt, ICH bin Teil dieser Szene! Es ist … Das ist das, was ich jahrelang gemacht hab. In New York, in London, in anderen Städten … wo immer ich grade war, weißt du? Wir gehen in die Klubs, wir tanzen, wir trinken, und wir ficken. Und dann unterhalten wir uns darüber, wen wir gefickt haben und wen wir als nächstes ficken werden. Es ist einfach … Es macht Spaß, weißt du? Es ist frei. Es ist … na ja … ein Hobby, ein Sport, was auch immer. Und es ist nur ficken, weißt du? Nur ficken, das ist das Beste daran. Es macht Spaß, während mans macht, und danach ist es einfach vorbei. Keine Verpflichtungen, keine Bedingungen, nichts. Einfach Spaß. Für alle Beteiligten.“

Er atmete, fuhr sich durchs Haar, presste die Lippen zusammen. „Und ich – ich habs geliebt, weißt du? Es ist … total cool, und ich bin verdammt noch mal gut darin! Und ich lasse mir von keinem versnobten Hetero-Arschloch erzählen, dass es falsch ist, oder sündig, oder so einen Scheiß! Ich meine, ich brauch keine Beziehung als Vorwand, um flachgelegt zu werden; wenn ich jede Nacht einen anderen Typen ficken will, dann mach ich das, okay? Das ist mein Recht, ich bin queer!“

Das hatte er fast geschrien. Seine Wangen waren gerötet, und seine Augen blitzten. Aber diesmal wich ich nicht zurück. Ich starrte ihn an und spürte, wie es auch in mir wieder zu brodeln begann. „Was soll das heißen, das ist dein Recht, du bist queer? Was hat denn bitte queer zu sein damit zu tun? Nur, weil du queer bist, heißt das nicht, dass du … nicht in der Lage bist, Beziehungen zu haben oder so! Ich meine, ICH bin auch queer, und ich mach dieses ganze … In-der-Gegend-Rumficken nicht! Und sag jetzt nicht, das ist was anderes, weil ich nicht geoutet bin oder so, weil das würde ich nicht machen, selbst WENN ich geoutet wäre! Und warum sollte ich? Nicht jeder schwule Typ, der geoutet ist, läuft jede Nacht rum und fickt alles, was sich bewegt, Ramin! Warum sollte queer zu sein bedeuten, dass man das machen muss? Dass man nicht in einer Beziehung sein kann? Hm? Queere Menschen können auch Beziehungen haben!“

„OKAY, es gibt verschiedene Arten von queer, schön, ich habs kapiert! Aber das war MEINE Art von queer, das ist das, was ich jahrelang gemacht hab, und ich habs geliebt, Martin, ich habs GELIEBT!“

Ich verschränkte die Arme. Meine Lippen zitterten wieder. „Aha. Dann war also alles von wegen, du hast auch, während wir zusammen waren, in jeder einzelnen Nacht Typen gefickt, wahr, ja?“

„Ich – also ich würde nicht unbedingt sagen, als wir zusammen waren – Ich meine, wir waren nicht – Ich – Ja, Martin, der Teil war wahr! Aber der Rest – Ich – Der ganze Rest – Das ganze Zeug von wegen – Na ja, DAVON war jedenfalls nichts wahr, ich meine, du bist – du BIST was Besonderes, und … Du hattest recht, wir WAREN mehr als Sex. Und ich – ich habs gewusst, sogar damals, ich meine, ich bin dich immer wieder besuchen gekommen, und – ich hab mich – gefreut, wirklich, jedes Mal, wenn du nach London gekommen bist, aber – ich wollte es einfach nicht zugeben, ich – ich wars einfach nicht gewohnt –“

Mit zerzaustem Haar sah er auf mich hinunter. Aber ich schüttelte den Kopf. Von wegen fast jedes Wort, das ich an dem Tag gesagt hab, war gelogen. „Aber du hast andere Typen gefickt, wenn ich nicht da war?“

„Ja.”

„Und es hat dir Spaß gemacht?”

„Ja.”

„WAS machst du dann hier?“ Am liebsten hätte ich ihn gepackt und geschüttelt, so lange, bis das herausfiel, was nicht zu mir passte, was ich nicht hören wollte. „HM?! Wenn du DAS willst, was zur HÖLLE willst du dann von mir?“

„Ich will das nicht mehr!” Jeder Muskel in seinem Gesicht war angespannt, aber er wich meinem Blick nicht aus. „Also, ich glaub jedenfalls, dass ich das nicht mehr will … Ich … Jetzt grade will ich …“

Eine Sekunde starrte er noch auf mich herunter, dann brach er den Blickkontakt doch, legte den Kopf in den Nacken, krallte eine Hand in sein Haar. Als er mich wieder ansah, blitzten seine Augen immer noch, aber jetzt lag etwas Stählernes darin. Er sprach etwas ruhiger. Ich hörte, wie viel Mühe ihn das kostete. „Pass auf, Martin, auf dem Ball – Du weißt schon, bevor das Tanzen losgegangen ist, als ich zurück zur Garderobe gegangen bin, um unsere Schuhe abzugeben? Na ja, da hab ich einen Typen getroffen, den ich kannte. Nur so vom Sehen, weißt du, aus den Klubs und so. Und … na ja, wir haben nicht wirklich miteinander gesprochen, wir haben uns nur angeschaut, aber … es war offensichtlich … Ich wusste einfach, dass er … Er wollte ficken. Okay? Da und dort.“

Schweigen. Ich starrte Ramin an. Ich sah den Abend vor mir, den Saal, die Lichter, die Menschen, die Bühne, wie ich allein am Tisch gesessen und gewartet hatte auf ihn, wie ich ungeduldiger geworden war mit jeder Minute, in der er nicht zurückkam, weil ich mich so gefreut hatte darauf, dass es endlich losging, dass ich endlich tanzen konnte, mit ihm. Und er …

„Das hast du nicht gemacht. Sag mir, dass du das nicht gemacht hast.“

Er atmete durch. „Nein, Martin, hab ich nicht. Hab ich nicht, ich schwörs. Aber – er hat damit gerechnet, dass ich will, weißt du? Ich meine, er hat nicht mal drüber nachgedacht, es war selbstverständlich. Wir waren beide dort, eine Toilette war gleich nebendran, mehr braucht man nicht, oder? Und ich hätte auch damit gerechnet, dass ich will. Aber … ich wollte halt nicht. In dem Moment wollte ich einfach nicht. Ich war mit dir da, ich war glücklich, ich hatte mich drauf gefreut, dich mit auf den Ball zu nehmen, seit du gesagt hast, dass du mitkommst, und … ich wollte einfach niemand anderen ficken. Also hab ich ihn stehenlassen und bin zu dir zurückgekommen. Und in dem Moment hab ich noch nicht mal wirklich drüber nachgedacht, erst später hab ich dann … Na ja, jedenfalls, der Ball …“

Er blinzelte ein paarmal. Mein Nacken fing an zu kribbeln. Das, was ich jetzt in seinen Augen sah, dieser … Glanz, so voll von … allem, und so … ungeschützt …

Ich presste die Lippen zusammen und rang den Laut nieder. Wie ein Pfeil bohrte sich dieser Blick in mich hinein.

„Martin – alles, was ich über den Ball gesagt hab, ALLES war gelogen. Glaub mir. Bitte. Ich … ich meine, klar, wenn ich mit Sierra hingegangen wäre, hätten wir anders getanzt, aber das ist egal. Total egal. Ehrlich, es war mir wurscht, ich schwörs, es war mir wurscht. Mir war nicht langweilig. Wie hätte mir denn langweilig sein können? Ich … Weißt du, allein, mit dir da zu sein, zu sehen, wie du das erste Mal auf so was bist, wie du es einfach … alles in dich aufgesogen hast und … Die ganze Nacht, Martin, hast du gestrahlt, als ob … Ernsthaft, Martin, du hättest dich in der Nacht mal lächeln sehen sollen, es war … Ich wollte einfach nichts anderes anschauen. Es war … perfekt. Die komplette Nacht. Es war einfach … perfekt.“

Perfekt. I don’t deserve this, you look perfect tonight.

Ein paar Herzschläge schauten wir uns nur an. Dann schluckte er. Sein Adamsapfel hob und senkte sich. „Na ja … jedenfalls … Danach, als ich in New York war, nach Silvester, hab ich mich mit ein paar Freunden getroffen und wir sind durch die Klubs gezogen. Wie ich gesagt hab. Aber … es war nicht wirklich das Gleiche, weißt du? Irgendwas war anders. Seit dem Ball. Ich meine, ja, bis dahin hab ich andere Typen gefickt, wenn du nicht da warst, aber danach … irgendwie – hatte ich einfach keine Lust mehr. Ich meine, ich hab getanzt, und ich hab getrunken, und ich hatte Spaß, es war cool, aber wenn die Typen, mit denen ich getanzt hab, sich in Richtung Dark Room aufmachen wollten, hab ich einfach gesagt, ‚kein Interesse‘. Und dann ist das meinen Freunden natürlich so langsam aufgefallen. Ich meine, es gab vorher schon ein paar Sprüche. Weißt du, auf dem Ball waren eine ganze Menge Leute, auch eine Menge Theaterleute.“

Er lachte. Ein eiskalter Schauer lief meinen Rücken hinab. Das war das Lachen vom Januar. Auch sein Blick war jetzt anders. Hart. Hasserfüllt.

„Weißt du, wir haben dich verkleidet, aber eigentlich hätten wir mich verkleiden sollen, weil absolut niemand da dich gekannt hat, aber mich kannten sie sehr gut. Und du kannst deinen Arsch drauf verwetten, dass ihnen aufgefallen ist, dass ich mit einem männlichen Partner da war, dass ich mit praktisch niemanden außer ihm getanzt hab, dass ich ihn geküsst hab, dass wir gemeinsam gegangen sind, und dass – sorry Martin, bitte versteh das jetzt nicht falsch, noch mal, es war mir wirklich egal – aber dass ich ihn offensichtlich nicht wegen seiner herausragenden tänzerischen Fähigkeiten ausgesucht hatte. Als ich in New York angekommen war, hatten meine Freunde da schon alles darüber gehört. Dass ich jetzt anscheinend einen Freund hatte.“

Meine Finger krallten sich in meine Oberarme. Freund. Mit wie viel Verachtung er dieses Wort ausgespuckt hatte.

„Und zuerst hab ich einfach mitgelacht. Ich habs nicht ernst genommen. Und sie habens auch nicht ernst gemeint, zumindest da noch nicht. Sie haben eben nicht geglaubt, dass es wirklich was Ernstes ist. Sie dachten, dass das einfach nicht sein kann. Aber dann, als ich tatsächlich angefangen hab, Typen abzuweisen, haben die anderen … na ja. Wenn man in der Welt anfängt, Blowjobs abzulehnen, ist es definitiv was Ernstes. Plötzlich kamen andere Sprüche. Sie haben mich prüde genannt. Einen glücklich verheirateten Ehegatten. Einen Pseudo-Hetero. Noch dazu einen, der mit einem Typen verheiratet ist, der auf der Tanzfläche kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann, obwohl er angeblich immerhin einen sexy Arsch hat.“

Ein Messerstich. Ich schluckte, blinzelte, zwang meine Lippen auseinander. „Tolle Freunde hast du da.” Ich hatte eiskalt und herablassend gewollt, aber das bekam ich nicht hin. Ich hörte den Schmerz, und Ramins Blick sagte mir, dass er ihn auch gehört hatte.

Er schüttelte leicht den Kopf. Der Hass war aus seinen Augen verschwunden. „Das sind nicht solche Freunde. Nicht wie Sierra, oder Finn für dich. Ich häng mit ihnen ab, und ich hab Spaß mit ihnen, aber im Grunde ist es ein Krieg. Wer ist jünger, wer ist sexier, wer hat mehr Bizeps, wer kriegt mehr Typen. Wenn du zu viel verlierst, fliegst du raus. Aber ich hab zugelassen, dass sie mich treffen.“

Sein Lächeln war eine höhnische Grimasse. Ich sah zu ihm hinauf und konnte es nicht fassen. Wie hatte er sich alles, was zwischen uns gewesen war, so schlecht machen lassen können? Wie hatte er sich von anderen Leuten so sehr beeinflussen lassen können?

„Ich hab ihnen gesagt, dass sie die Fresse halten sollen. Dass ich kein Pseudo-Hetero bin, dass ich keine Beziehung hab, dass ich niemals so erbärmlich sein würde. Dann hab ich mir den nächstbesten Typen geschnappt, ihn in den Dark Room abgeschleppt und ihn gefickt. Und in der nächsten Nacht hab ichs noch mal gemacht. Und noch mal. Und noch mal. Nur um zu beweisen, dass ichs noch kann. Dass ichs noch will.“

Noch mal, und noch mal, und noch mal. Jedes Wort eine Ohrfeige. Ich starrte in die dunklen Höhlen von Ramins Augen, in denen diesmal nirgendwo ein Feuer brannte. In mir hallten Worte nach. Worte, die ich bei unserer allerersten Begegnung gehört hatte, damals im Gang hinter dem Theater.

Zum Teufel mit den anderen. Wen interessiert schon, was die davon halten?

Ich presste die Lippen aufeinander. Ja klar. Wie lächerlich. Wie unendlich lächerlich. Und was für ein unendlicher Idiot ich gewesen war, dass ich ihm auch noch geglaubt hatte.

„Aber ich wollte es gar nicht wirklich ihnen beweisen, weißt du? Vor allem, vor alllem, wollte ich es mir selbst beweisen. Verstehst du, Martin, ich hatte bis jetzt noch nie … NIE einen – also – einen Freund. Einen Partner. Was auch immer. Ich hab nie einen gewollt. Was ich immer wollte, war ficken und frei sein. Und das wars, weißt du? Ganz leicht. Einfach zu kriegen, einfach zu genießen, zumindest, wenn man weiß, wie. Und das weiß ich. Ich weiß es, und ich bin VERDAMMT NOCH MAL gut darin! Es ist einfach … das ist, wer ich war, weißt du? Zumindest ein großer Teil davon, wer ich war. Und als die anderen angefangen haben, sich über mich lustig zu machen, die ganzen Sachen zu sagen, über die ich mich bei anderen Leuten auch lustig gemacht hätte, über die ich mich lustig gemacht habe, ganz oft, da bin ich einfach – ich bin ausgeflippt, weißt du? Ich bin durchgedreht. Ich dachte, ich muss … verrückt gewesen sein. Ich hab mir eingeredet, dass sie recht haben, dass es alles falsch war, dass alles, was wir hatten, erbärmlich war, dass du erbärmlich bist, dass ich erbärmlich bin. Dass ich mich von dir lösen muss. Um mir zu beweisen, dass ich immer noch frei bin. Immer noch unabhängig. Dass ich niemanden … dass ich niemals irgendjemand anderen brauchen würde. Also hab ich mit Typen getanzt, und sie meinen Schwanz lutschen lassen, und sie gefickt, und mir eingeredet, dass es mir Spaß macht, obwohl ich ganz tief drin wusste, die ganze Zeit, dass es nicht stimmt. Aber damals …“

Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich wollte es nicht hören. Also hab ichs ignoriert. Und noch ein bisschen rumgefickt, um diese Stimme abzustellen. Und als einer meiner Freunde mir erzählt hat, dass momentan ein neuer Cast für ein Comeback von „West Side Story“ zusammengestellt wird, hab ich den Produzenten angerufen, bin am nächsten Tag zum Theater gefahren, hab mit dem Typen geredet, „Maria“ gesungen, und das wars. Meinen Job in London hab ich am selben Tag gekündigt. Ich bin noch ein paar Tage in New York geblieben, hab eine Wohnung organisiert und bin zurück nach London geflogen, um zu packen.“

Sein Blick hing irgendwo an einem Punkt links über meiner Schulter. Ich beobachtete ihn, meine Arme immer noch verschränkt. Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte nicht glauben, dass alles, was ich mir so sehr gewünscht hatte, alles, an das ich für diese drei kurzen, wundervollen Wochen nach dem Ball so fest geglaubt hatte – dass er mich liebte, dass er jetzt mein Freund war, dass wir eine richtige, feste Beziehung haben würden – ihn so abgestoßen hatte. Dass er dafür verspottet worden war von Leuten, die er Freunde nannte. Warum? Was zur Hölle war denn falsch daran? Das war doch nicht mal irgendwas Besonderes. Es war doch … einfach … normal.

Die Stille dehnte sich aus. Ich wartete. Bis ich die Gedanken an ihn und mich und, ob es je wirklich ein Uns geben konnte, nicht mehr ertrug. „Und Sierra? Sierra ist nicht ich, sie hast du nicht gefickt. Also selbst wenn du beschlossen hattest, dass du mit mir Schluss machen musst, damit du deine … deine Unabhängigkeit oder was auch immer behalten kannst, hättest du sie nicht wegstoßen müssen. Hast du aber. Du hast sie nicht mal angerufen. Sie hats mir erzählt. Sie hat gesagt, die Theaterleute haben ihr gesagt, dass du gehst, bevor dus getan hast. Wieso?“

Er fragte nicht, wann ich mit Sierra gesprochen hatte. Nach ein paar Sekunden Schweigen hob er die Schultern. „Sie war … Kollateralschaden, weißt du? Ich war … so wild entschlossen, der verdammten Welt zu beweisen, dass ich frei bin, dass ich niemanden außer mich selbst brauche, dass ich mich von … allem lösen wollte. Und jedem. Also hab ich sie nicht angerufen, oder ihr geschrieben, oder sonst was. Weil ich wusste, dass ihr das wehtun wird. Gott, und wie ich die Vorstellung genossen hab.“

Er lachte. Ich schauderte. So viel Ekel lag in diesem Lachen, dass es im Raum schlagartig kälter wurde.

„Als ich wieder in London war, bin ich zu ihr gegangen. Hab ihr gesagt, dass ich gehe. Sie wusste es schon, wie du gesagt hast. Natürlich. Ich hab eine große Show draus gemacht, nicht einen Dreck drauf zu geben, wie sies erfahren hat. Als sie mich gefragt hat, warum ich sie nicht angerufen hab, hab ich einfach mit den Schultern gezuckt. Ach, was solls, hab ich gesagt. Wen interessierts.“

Wieder dieses Lachen. Ich zog die Schultern zusammen.

„Sie wollte wissen, warum ich gehe. Ich hab ihr einfach gesagt, Broadway. Das hat sie nicht überzeugt, das hab ich genau gesehen. Das hat mich so was von genervt. Ich meine, ich wusste, dass es gelogen war, aber zu wissen, dass sie wusste, dass es gelogen war, hat mich trotzdem genervt.“

Ein Lachen.

„Dann hat sie nach dir gefragt. ‚Was ist mit Martin?‘, hat sie gesagt. Das hat mich gleich noch mehr genervt. Ich fand, das geht sie einen Scheißdreck an, und ich fand, dass es gleich noch ein Beweis dafür war, dass ich mich richtig entschieden hatte. Wenn die Leute schon angefangen haben, zu glauben, dass ich irgendwie an dich gebunden war, war es allerhöchste Zeit, dass ich wegkomme.“

Ein Lachen.

„Aber ich hab mir eingeschärft, ja auf cool zu tun. Ich hab ihr gesagt, dass ich dir sagen würde, dass ich gehe, dass ich bloß noch warten muss, bis du zurück bist, weil du noch in deinem Trainingslager warst. Dann hat sie mir eine Predigt gehalten. ‚Sei freundlich‘, hat sie gesagt. ‚Sei ehrlich. Sag ihm, wie du zu ihm stehst.‘ Ich hab auf die Zähne gebissen und gedacht, darauf kannst du wetten.“

Seine Lippen verzogen sich. „Na ja. Du weißt, was dann passiert ist. Ich bin ein paar Tage rumgehangen, hab mein Zeug gepackt, einen Flug zurück nach New York gebucht, die Wohnung untervermietet, und dann … bin ich hierhergekommen.“

Seine Augen huschten zur Tür zum Flur. Sekundenlang war es still. Er holte tief Luft und drehte den Kopf zurück zu mir. Langsam, als würde er ihn nicht durch Luft, sondern durch Zement bewegen. Er biss sich auf die Oberlippe, presste die Lippen zusammen, zwang sie auseinander. Seine Augen schimmerten. Seine Stimme war brüchig und viel höher als sonst. „Martin, ich … es tut mir so … so leid.“

Er blinzelte, fuhr sich durchs Haar. „So leid. Glaub mir. Bitte. Ich … So oft, seitdem, hab ich mir gewünscht, ich könnte es zurücknehmen. Alles … Ich … ich weiß, dass ich es kaputt…“

Sein Handrücken fuhr über seine Augen. Zitternd atmete er ein. „Ich weiß, dass ich dir wehgetan hab. Ich hab dir wehgetan, und du hast versucht, es mir zu sagen … Aber ich hab einfach weitergemacht … Ich hab einfach nicht auf dich gehört … Ich hab einfach weiter gelogen, und …“

Er stieß die Luft aus und blinzelte. Etwas veränderte sich. Er stand plötzlich fester, und sein Blick war ruhiger als zuvor. „Martin, alles, was ich gesagt hab, war gelogen. Alles. Ich habs gesagt, um dir wehzutun, nicht, weil ich geglaubt hab, dass es stimmt. Denn das tut es nicht. Nichts davon stimmt. Du bist nicht schwach. Du bist nicht erbärmlich. Ich bin deinetwegen nach Hamburg gekommen, nicht wegen Fußball. Ich hab dich auf den Ball mitgenommen, weil ich das wollte, weil ich wirklich, wirklich mit dir da hingehen wollte. Weil du mir wichtig warst. Du … bist mir immer noch wichtig.“

Er atmete. Seine Zunge fuhr über seine Oberlippe. „Was wir hatten, war nicht nichts. Und es war nicht nur Sex. Es war … mehr. So viel mehr. Und … ich hoffe wirklich, dass wir … vielleicht … das wieder haben können. Weil du mir gefehlt hast. Du hast mir … so verdammt gefehlt.“

Seine Lippen lagen aufeinander. Sein rechter Daumen zuckte, vor und zurück und vor und zurück, rasant wie die Flügel eines Kolibris.

Ich saß auf dem Sofa und starrte zu ihm hinauf. Unter den Fingern auf meinen Oberarmen spürte ich Gänsehaut. Sonst spürte ich fast nichts. Da war nur ein dumpfes, kaltes Prickeln. Sonst war mein Körper taub.

Ich schluckte, schaute in seine dunkelbraunen Augen, jetzt gerötet und feucht. Ich holte Luft. Meine eigene Stimme klang fremd in meinen Ohren. „Als du weg warst, hab ich mich wie … ein Irrer aufgeführt. Ich hab alle angebrüllt, Finn, meine Teamkollegen, meinen Trainer … Im Training hätte ich wegen dir fast meine eigenen Mitspieler verletzt. Ich hab scheiße gespielt. Ich hab ein Eigentor geschossen und eine Niederlage verschuldet. Ich bin suspendiert worden. Und dann bin ich … eine Woche einfach nur im Bett gelegen. Ich hab nichts gemacht, ich hab nichts gefühlt, ich …“

Ich blinzelte, schluckte. Ein Funken glomm in meiner Brust. „Nach dem Ball, bevor du hergekommen bist, war ich glücklich. Glücklicher als je zuvor in meinem Leben. Weil ich dachte, dass du mich liebst. Und dann bist du aufgetaucht, und du hast dieses ganze Zeug gesagt, und du hast dafür gesorgt, dass ich mich wie ein Nichts gefühlt hab. Weil ich dir geglaubt hab, Ramin. Ich dachte, du hast nur geschauspielert, ich dachte, du hast ein halbes Jahr lang so getan, als ob ich dir wichtig bin, während du in Wirklichkeit nur ausprobiert hast, wie weit du mich kriegen kannst, was ich alles für dich tun würde. Ich dachte, du hast nur mit mir gespielt, und ich sei drauf reingefallen. Auf dich. Auf jemanden, dem ich scheißegal bin. Für den ich nur ein Spielzeug war.“

Ich presste die Lippen zusammen. Meine Finger gruben sich in meine Oberarme. „Ich war … SO wütend, Ramin! Ich war so wütend auf dich, aber … ich war auch wütend auf mich selbst! Weil ich dachte, dass ich mich hatte reinlegen lassen von einem verdammten, berechnenden Arschloch, das mich nur benutzt hat! Weißt du, wie sich das angefühlt hat, Ramin? Hast du IRGENDEINE AHNUNG, wie sich das angefühlt hat?“

Ramins Augen schimmerten. Mit aufeinandergepressten Lippen sah er mich an. Er atmete, einmal, zweimal, öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Er schüttelte den Kopf. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und lief seine Wange hinab.

In meinem Bauch zog sich etwas zusammen. Ruckartig drehte ich den Kopf weg und starrte durch die Balkontür in den Sonnenschein. Ich versuchte, mich nur auf das Gefühl meiner Finger in meinen Armen zu konzentrieren und nicht auf das Krampfen in meinem Bauch, das Reißen in meiner Brust. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht, dass es mir wehtat, wenn ich die Qual in seinem Gesicht sah, ich wollte kein Mitleid mit Ramin haben. Das hatte er nicht verdient. Er war schließlich an allem schuld, verdammt!

Ich holte Luft, presste die Lippen aufeinander und drehte den Kopf zurück nach links. Ramin sah immer noch auf mich hinunter. Seine Augen schwammen. Ich spürte, wie mein T-Shirt spannte, als sich meine Brust- und Bauchmuskeln verkrampften. „Und was ist dann passiert? Was hast du gemacht, als du wieder in London warst?“

Er blinzelte und fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht. „Na ja … nachdem ich hier gewesen war, war ich … stinksauer. Auf mich selber, natürlich, aber damals wollte ich das nicht wissen, deswegen hab ich mir eingeredet, dass ich auf dich sauer bin, weil du ein verdammtes Theater draus gemacht hast, genau, wie ichs mir gedacht hatte. Und ich hab mir eingeredet, dass ich sauer auf Sierra bin, weil sie überhaupt erst dafür gesorgt hatte, dass ich zu dir gekommen bin. Was ja gar nicht gestimmt hat. Aber das war mir egal.“

Ein Lachen.

„Aber sie war auf deiner Seite, und das war genug. Als ich also wieder in London war, bin ich direkt zu ihr gefahren. Ich hab ihr erzählt, was passiert ist. Was ich zu dir gesagt hatte. Ich hab ihr Vorwürfe gemacht, weil sie mir gesagt hat, ich soll freundlich zu dir sein, das Ganze taktvoll rüberbringen. Ich war … immer noch so wütend, ich hab sie quasi angebrüllt.“

Seine Augen huschten zur Decke. Er blinzelte, und als er weitersprach, zitterte seine Stimme wieder. „Na ja, das hat sie auch wütend gemacht. Jetzt war sie dran mit Brüllen. Und das hat sie auch getan. Sie hat mir Sachen ins Gesicht geknallt, die gestimmt haben, alle, aber ich wollte sie nicht hören. Wie ich dir nur so wehtun konnte. Dass ich der Feigling bin, nicht du, weil ich abhauen wollte, weil ich meine wirklichen Gefühle geleugnet hab. Dass ich wirklich erbärmlich bin, nicht deinetwegen, sondern weil ich lieber alles wegwerfen wollte, was ich hatte, und in ein anderes Land abhauen, als mir einzugestehen, dass sich was geändert hat, dass ich vielleicht grade dabei war, mich zu verändern. Und dann …“

Er holte Luft. Das Zittern in seiner Stimme wurde noch deutlicher, und wieder klang sie unnatürlich hoch. „Dann war ich so wütend, so fuchsteufelswild, dass ich … Weil sie mir alles entgegengeschleudert hatte, was ich vor mir leugnen wollte, von dem ich so tun wollte, als ob es nicht da ist … dass ich … dass ich gesagt hab …“

Mein Atem stockte. Ich sah Sierra vor mir, genau da, wo ich jetzt saß, sah das verächtliche Lächeln auf ihren Lippen, den Schmerz in ihren Augen, den Schmerz, der mich damals davon abgehalten hatte, zu fragen.

Ramin stand heftig blinzelnd vor mir, und seine Stimme zitterte jetzt so sehr, dass er nur stockend weitersprechen konnte. „Ich hab ihr gesagt, sie soll die Fresse halten … Dass sie doch keine Ahnung hat … Dass sie das nur gesagt hat, um mich dazu zu bringen, zu bleiben, weil sie ohne mich nichts ist … Dass sie auf der Bühne ohne mich einen Scheißdreck wert ist und dass sie das genau weiß … Aber das mir das wurscht ist, dass ich sie nicht brauche und dass sie mir scheißegal ist und …“

Er sog die Luft ein und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht. „Und dass sie nur eine versnobte Fotze ist, die dringend flachgelegt werden muss.“

Stille. Ich hatte das Gefühl, zu Stein geworden zu sein. Sekundenlang starrten wir uns an, Ramins Worte zwischen uns im Raum.

Irgendwann holte Ramin Luft und richtete sich etwas auf. „Dann hat sie mich angeschaut. Und sie hat gesagt, ‚Glückwunsch, Ramin. Zwei an einem Tag. Tja, du hast es geschafft. Keine Bindungen, nichts, was dich zurückhält, niemand, dem du wichtig bist. Du bist frei. Genau, wie du wolltest. Jetzt geh und genieß es.‘ Und ich hab mich umgedreht und bin raus. Ich bin zurück in die Wohnung gefahren, hab fertig gepackt und bin am nächsten Tag nach New York geflogen.“

Ich starrte ihn an. Finn, hörte ich mich sagen, Finn, ich gehe zu Real Madrid. Ist mir doch egal, was du davon hältst. Ob du mich vermisst, ob du mich brauchst, scheißegal. Ich brauche dich bestimmt nicht. Ich bin alles, und du bist nichts. Du bist …

Die Stimme verstummte. Schon bis hierhin war es schwer gewesen, jetzt war es unmöglich. So etwas würde ich nie sagen. So etwas könnte ich nie sagen. Niemals könnte ich meinem besten Freund so wehtun. Und wenn es doch passieren würde, auf irgendeine abstruse Weise, könnte ich erst recht nicht ohne eine Aussprache zu suchen in ein anderes Land verschwinden. Nicht mit diesen letzten Worten zwischen uns. Es hätte mich nicht losgelassen. Es hätte mich fertiggemacht.

Ich sah Ramin an, seine roten, noch immer mit Tränen gefüllten Augen, seine zusammengepressten Lippen, sein gequältes Gesicht, seine herabhängenden Schultern und Arme. Oh ja. Es hatte ihn fertiggemacht.

Ich versuchte, den Mund zu öffnen, und merkte, dass es ging. „Und dann? Als du in New York warst? Wann hast dus dir anders überlegt?“

„Nach ungefähr zwei Monaten.” Seine Stimme zitterte noch immer, aber nicht mehr so sehr wie zuvor. „Ein bisschen weniger. Zuerst haben wir nur geprobt. Ich bin jeden Tag ins Theater gefahren, hab mit dem Cast gearbeitet, und nachts bin ich weggegangen. In die Klubs. Hab getrunken, getanzt, Typen mit zurück in die Wohnung gebracht … na ja. Du weißt schon.“

Vor meinen Augen sah ich ihn, in einer schemenhaften Wohnung, auf irgendeinem Bett, unter ihm ein schlanker, blonder Typ, der sich wandte und stöhnte …

Ich blinzelte. Das Bild verschwand. Ramin stand vor mir, gebeugt und ausgelaugt.

„Aber der Cast war … nur ein Cast, weißt du? Die waren nicht schlecht, sie waren sogar gut, und die meisten waren nett und ich bin okay mit ihnen klargekommen. Aber wenn die Proben vorbei waren, haben wir uns einfach verabschiedet und sind gegangen. Ein paar von ihnen sind immer gemeinsam gegangen, aber ich nicht. Das waren keine Freunde, es waren einfach … Kollegen. Und ich … ich hatte einfach … Es gab einfach … nie jemanden, mit dem ich mal Essen gehen konnte, oder der ab und zu zum Frühstück vorbeikommt, oder …“

Er schüttelte den Kopf. „Und das Ding ist, ich hätte nie gedacht, dass ich es so sehr vermissen würde. Ich hätte nie gedacht, dass es … mir so viel bedeutet. Ich war einfach … Ich meine, in London war sie einfach … da, weißt du? Und dann war sies auf einmal nicht mehr. Und die Typen … waren jung und muskulös und sexy und geil und gut bestückt, aber … sie waren nicht du.“

Das Braun seiner Augen war dunkel und tief, schimmerte nur noch schwach. Ich blickte hinein und sah Bilder. Ramin, über mir, im Schlafzimmer seiner Wohnung, fahl durch das Licht einer Straßenlaterne erhellt, in jener allerersten Nacht im Juni. Der sich sanft bewegte, sanft, nachdem ich langsam gehaucht hatte, sanft, weil es so lange her gewesen war. Ramin, der sich das T-Shirt über den Kopf riss, während wir von seinem Wohnzimmer ins Schlafzimmer stolperten, meine Hände, die an seinem Gürtel zerrten, wie er kurz darauf rückwärts aufs Bett fiel und ich zu ihm hinaufschaute, die Hände an seinen Hüften, und mir genüsslich mit der Zunge über die Oberlippe fuhr. Ramin, der diesmal mich rückwärts auf mein Bett stieß, in der Nacht nach dem Stuttgart-Spiel, ein kleines Plastikpäckchen aus der Jeanstasche zog und es mit einem Ruck mit den Zähnen aufriss. Ramin, der langsam meine Krawatte löste und mir unverwandt in die Augen sah, der mir das Hemd Knopf für Knopf öffnete, der sorgsam und bedacht meinen Oberkörper freilegte, der mich sekundenlang betrachtete und lächelte, dass sein ganzes Gesicht erstrahlte, der zart und behutsam seine Lippen auf meine legte und mich dabei mit beiden Armen fest und sicher hielt.

Wir blinzelten, genau gleichzeitig. Als er fortfuhr, war seine Stimme noch fester. „Mit ihnen war es nur Sex. Genau, wie ich wollte. Und ich hab mir eingeredet, dass ich es total genieße. Dass das grade die beste Zeit meines Lebens ist. Dass ich endlich komplett frei bin. Keine Freunde, kein Liebhaber, keine Bindungen. Nichts. Nur ich.“

Sein Lächeln war bitter. „Aber natürlich hab ichs nicht genossen. Im Gegenteil, ich habs gehasst. Ich hab Sierra vermisst. Und ich hab dich vermisst. Zuerst hab ich versucht, es zu ignorieren. Hab mir eingeredet, dass es vorbeigeht. Dass ich drüber hinwegkomme. Dass ich das muss, wenn ich ein Mann sein will.“

Die Bitterkeit verwandelte sich wieder in Hass. „Aber selbst da hab ich es schon nicht wirklich geschafft. Ich konnte es nicht komplett unterdrücken. Ich hab im Internet nach Neuigkeiten von „Love Never Dies“ geschaut, um zu sehen, wen sie als Ersatz geholt haben, und wie es beim Stück läuft. Und ich hab auch deine Nachrichten verfolgt. Deine Spiele. Ob du spielst oder nicht. Wie es bei dir läuft. Zuerst hab ich mich dafür gehasst. Aber ich konnte nicht aufhören.“

Er fuhr sich durchs Haar und sah kurz zur Balkontür hinaus. „Ich hab gesehen, dass ihr eure ersten zwei Spiele verloren habt. Ich hab auch gesehen, dass du im zweiten ein Eigentor geschossen hast und dass du im nächsten Spiel gar nicht gespielt hast.“

Ich dachte an die Januarnacht in Stuttgart. Die Busfahrt zurück. Die Woche danach. Ich sagte nichts.

„Aber dann habt ihr das nächste Spiel gewonnen. Du hast sogar ein Tor geschossen. Ich dachte – na ja, ich dachte … es läuft wohl okay bei dir.“

Gladbach. Mein erstes Tor. Der ersehnte Sieg. Die Feier mit den Fans. Mit der Mannschaft. Mit Finn. Und wie ich die ganze Zeit, den ganzen Abend, doch nur auf ein Vibrieren meines Handys gewartet hatte. Ein Vibrieren, das nicht gekommen war.

Ramin wartete, aber als ich stumm blieb, sprach er weiter. „Na ja, da war ich dann schon fast einen Monat in New York. Und ich war immer noch … nicht glücklich. Und ich habs immer mehr gemerkt. Zuerst dachte ich, dass es besser werden würde, dass es besser werden musste. Aber stattdessen wurde es einfach … immer schwerer, alles auszublenden. Ich hab angefangen, nicht mehr so oft in die Klubs zu gehen. Ich hab immer mehr Abende damit verbracht, in der Wohnung zu sitzen. Ich hatte noch nicht mal wirklich ausgepackt. Ich hatte sowieso nur einen Koffer und die Gitarre mitgenommen, das meiste Zeug hatte ich in Umzugskisten im Kellerabteil der Londoner Wohnung gelassen. Und ich bin einfach dagesessen, in dieser kahlen Wohnung, und ich hab einfach … mein Handy angestarrt. Ein- oder zweimal hatte ich mich schon fast entschieden, dich anzurufen, aber im letzten Moment … na ja.“

Er schluckte. „Sierra hab ich auch nicht angerufen. Im März sollten die Vorstellungen beginnen, und daran hab ich mich geklammert. Ich dachte, sobald die Proben vorbei sind, sobald das Ganze erst richtig losgeht, sobald ich wieder vor Publikum auftreten kann, wird’s bestimmt besser.“

Er lächelte. Es war eine höhnische Grimasse. „Tja, es ist nicht besser geworden. Die Premiere war am 13. März. Das war ein Sonntag.“

Es war der Tag, an dem wir null zu eins in Leverkusen verloren hatten und ich in den letzten Minuten noch meine fünfte Gelbe Karte kassiert hatte.

„Wir sind aufgetreten, und das Stück war ausverkauft, und wir haben gute Kritiken bekommen. Die anderen haben sich gefreut, aber mir hat es gar nichts bedeutet. Es war mir egal. Ich habs sogar gehasst. Ich habs gehasst, jeden Abend da rauszugehen und mit Leuten auf der Bühne zu stehen, die mir nichts bedeuten, in einer Stadt, wo ich … nichts hatte. Als wir eine Woche Vorstellungen hinter uns hatten, konnte ich mich kaum noch da rausschleppen, und den anderen ist so langsam aufgefallen, dass was nicht stimmt. Ich meine, ich hab immer noch meine Rolle gespielt, aber das wars dann auch. Kein Funken, keine Leidenschaft, nichts. Und im Theater fällt das nun mal auf. Schlussendlich hat der Produzent mir ein Ultimatum gestellt: entweder ich reiß mich zusammen, oder ich flieg raus.“

Ich will den echten Martin sehen. Den, der mit Kopf spielt und Teamgeist zeigt. Dann bist du unverzichtbar für uns, Martin. Aber nur dann. Wenn du das nicht auf den Platz bringst, wirst du gegen Köln nicht wieder von Anfang an spielen. Bei mir im Januar, bei ihm im März. Und doch gleich. Gleicher Auslöser – gleiche Konsequenz. Außer, dass ich nicht der Schuldige gewesen war.

„In der Nacht bin ich nach der Vorstellung noch wach in der Wohnung gesessen, und … alles … alles kam plötzlich auf mich eingestürzt.“

Er sah mich immer noch an, aber er blickte durch mich hindurch. Seine Augen waren geweitet und schienen nicht nur durch mich, sondern durch die Zeit hindurch zurückzuschauen. „Zum ersten Mal konnte ich es nicht stoppen. Überhaupt nicht. Oder vielleicht wollte ich es auch nicht. Ich hab an dich gedacht, und was ich zu dir gesagt hatte, und an Sierra, und was ich zu ihr gesagt hatte, und ich … ich …“

Sein Mund öffnete und schloss sich. Schließlich schluckte er, und seine Augen fixierten sich wieder auf mich. „Ich bin zusammengebrochen. Auf einmal, da auf dem verdammten Boden in der verdammten Wohnung, wo ich nicht sein wollte, ist mir klar geworden, dass ich den verdammt noch mal größten Fehler meines Lebens gemacht hatte. Was ich getan hatte. Was ich weggeworfen hatte. Wie sehr ich den beiden Menschen wehgetan hatte, die …“

Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe und holte zittrig Luft. „Die mir mehr bedeuten als alles andere auf der Welt. Und ich … ich konnte es nicht ertragen, einfach da zu sitzen. Ich musste irgendwas tun. Irgendwas, egal was, das es vielleicht … wieder einrenken könnte. Also hab ich mir mein Handy geschnappt und Sierra angerufen.“

Er lachte. Diesmal nicht hasserfüllt. Eher verzweifelt amüsiert. „Ich hab natürlich nicht an die Zeit gedacht. Oder dass ich in New York war und sie in London. Ich hab sie um halb zwölf angerufen, das bedeutet, dass es in London halb fünf war. Nachts.“

Wieder lachte er. Seine Augen waren immer noch gerötet. „Aber sie ist jedenfalls rangegangen. Sie war natürlich nicht grade erfreut. Hat mich gefragt, ob ich verdammt noch mal weiß, wie spät es ist. Und dann, was zur Hölle ich will. Und ich … ich weiß nicht mal mehr, was ich gesagt hab … Sie hat vermutlich gedacht, ich bin verrückt, oder besoffen … Einfach Zeug von wegen, dass es mir leidtut und dass ich sie vermisse und dass ich nach Hause will … Und sie hat nur gesagt, ‚Du hast mir was zu sagen, Ramin? Dann komm verdammt noch mal her und sags. Ich hör dir nicht mitten in der Nacht beim Labern zu.‘ Dann hat sie aufgelegt. Und ich saß da, hab das Handy angestarrt, und dann … dann bin ich aufgesprungen, hab mir meinen Koffer geschnappt und angefangen, alles in Reichweite reinzuschmeißen, und mit der anderen Hand hab ich KAYAK aufgerufen und den nächsten Flug zurück nach London gebucht.“

Ich starrte ihn an. Mein Mund hing offen. „Du bist einfach gegangen? Einfach so? Aber … was war mit dem Job? Und der Wohnung?“

„Ich hab die Schlüssel in einen Briefumschlag gesteckt, zusammen mit einem Zettel, wo ich draufgeschrieben hab, ‚Ich kündige‘, und hab ihn in den Briefkasten vom Vermieter geworfen. Und den Produzenten hab ich vom Taxi aus angerufen, auf dem Weg zum Flughafen. Er ist natürlich nicht rangegangen, also hab ich auf die Mailbox gesprochen.“

„Aber …“ Mir war schwindelig. In meinem Kopf wirbelte alles. „Aber ich dachte, du hast deinen Job gekündigt. In London, meine ich. Und die Wohnung untervermietet. Ich meine … Wo bist du hin? Was hattest du vor?“

Er hob die Schultern. „Ich hab nicht drüber nachgedacht. Über den Job, meine ich. Es war einfach … In dem Moment war es egal. Und was die Wohnung angeht, ich dachte, ich geh in ein Hotel. Aber … aber ich hab auch gehofft, dass …“ Seine Zungenspitze fuhr über seine Oberlippe. „Jedenfalls musste ich das nicht. Sierra hat mich bei ihr übernachten lassen.“

„Sie …?” Ich lehnte mich nach vorne. „Du meinst, sie hat dir verziehen?“

Er nickte langsam. „Ja.“ Er schluckte, holte Luft. „Mein Flugzeug sollte eigentlich am frühen Morgen starten, aber es hatte Verspätung, und dann ist da natürlich die Zeitverschiebung, sodass es schon ziemlich spät war, als ich in London angekommen bin. So zehn oder so. Ich wusste ja, dass Sierra auf der Bühne steht, also bin ich zum Theater gefahren … Der Ordner hat mich reingelassen, und … ich bin direkt in ihr Ankleidezimmer gegangen und hab da gewartet. Als die Vorstellung vorbei war, kam sie rein und … na ja.“

Wieder schluckte er. Seine Hände fuhren über seine Oberschenkel. „Sie war … ziemlich sauer. Verständlicherweise. Und ich … Als ich vor ihr stand und gesehen hab, was … wie … was ich getan hatte, hab ich … hab ich mich …“

Er atmete, mehrmals schnell hintereinander. Er sprach so leise weiter, dass ich mich noch weiter vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. „Ich hab mich so schrecklich gefühlt. Ich meine, ich wusste, dass ich ihr wehgetan hatte. Und dir. Aber als ich vor ihr stand … Als ichs selber gesehen hab … tat es mir so, so leid. Und das hab ich ihr auch gesagt, aber zuerst … na ja …“

Er blinzelte. „Es war nicht schön. Für keinen von uns. Zuerst hat sie mich nicht reden lassen. Sie hat mir nur gesagt, dass ich den Mund halten soll, dass … sie es in dem Moment … nicht hören wollte. Und ich wollte … grade mein Zeug nehmen und gehen. Und dann … als ich mich schon zur Tür umgedreht hatte … hat sie gefragt, wo ich plane, zu übernachten. Und ich hab gesagt, ‚Keine Ahnung. In irgendeinem Hotel, schätze ich.‘ Und sie hat mich angeschaut … Und dann hat sie gesagt, ‚Warte.‘ Und dann hat sie mich mit zu ihr nach Hause genommen.“

Ramins Augen glänzten. Sie waren nicht mehr auf mich gerichtet, sondern auf einen Punkt höher an der Wand, und wieder hatte ich das Gefühl, dass er durch sie hindurchsah. „Aber zuerst hat sie mich immer noch nicht reden lassen. Im Auto hat sie nichts gesagt, und ich auch nicht. Und als wir in ihrer Wohnung waren, hat sie mir gesagt, ich soll auf dem Sofa schlafen, und dann ist sie duschen gegangen und ins Bett. Und dann … Ich meine, ich hatte zwei Tage nicht geschlafen, und ich war so fertig, aber … ich konnte nicht schlafen. Und sie auch nicht. Und dann … ich weiß nicht mehr, wann genau, aber irgendwann ist sie reingekommen … und sie hat mich einfach angeschaut … und ich …“

Er schüttelte den Kopf, noch immer mit glasigen Augen. „Alles ist aus mir rausgebrochen. Dass sie recht hatte … Wie erbärmlich ich war … Was für ein Feigling … Und dass es mir so, so leidtut. Und ich hab geheult, und sie … keine Ahnung … keine Ahnung, wie es passiert ist … Ich glaub, zuerst hat sie mich geschlagen oder so, aber … am Ende … hat sie mich umarmt. Und dann haben wir uns wieder vertragen.“

Er hob die Schultern, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er blinzelte mehrmals. Sein Blick fokussierte sich wieder auf mich. Als er weitersprach, war seine Stimme lauter und kräftiger. „Seitdem wohne ich bei ihr. Ich versuch grade, ein paar Sachen zu regeln … Die Wohnung ist bis Juni untervermietet, aber danach kann ich sie wahrscheinlich zurückbekommen, und ich hör mich um wegen einer Rolle und versuch, mir einen Job zu organisieren, aber … na ja. Ist mitten in der Saison nicht so einfach. Aber hauptsächlich war ich … damit beschäftigt, zu überlegen, was ich zu dir sagen will. Du weißt schon, mich dazu zu bringen … hierherzukommen und mit dir zu reden.“

Wieder lächelte er. In seinen Augen lag ein wenig mehr Leben, aber er blinzelte häufig. Seine Finger waren kerzengerade angespannt.

Ich spürte, wie sich mein Rücken streckte. Meine Hände glitten vom Sofa auf meine Oberschenkel und fuhren hinunter bis zu den Knien, wieder hinauf. In meinem Kopf wirbelte es noch immer. „Aha. Und ich schätze, du hoffst jetzt, dass wir uns auch wieder vertragen, ja? Dass irgend so ein Traumpaar aus uns wird, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute?“

Ramin blinzelte. „Nein. Nein, natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?“

 

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Referenzen:

 

“Stranger Than You Dreamt It” – Song aus dem Musical “Phantom of the Opera” von Andrew Lloyd Webber. Musik von Andrew Lloyd Webber, Lyrics von Charles Heart, ergänzende Lyrics von Richard Stilgoe, Buch von Richard Stilgoe und Andrew Lloyd Webber. Basierend auf dem Roman „Le Fantome de l’Opera“ von Gaston Leroux. Orchestrierungen von David Cullen und Andrew Lloyd Webber. Uraufführung 1986.

 

„Maria“ – Song aus dem Musical „West Side Story” von Leonard Bernstein. Musik von Leonard Bernstein, Lyrics von Stephen Sondheim, Buch von Arthur Laurents. Basierend auf dem Schauspiel „Romeo and Juliet“ von William Shakespeare. Uraufführung 1957.

 

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Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch, und ich hoffe, dass wir uns im neuen Jahr wieder hier lesen! :)

Chapter 59: Fairy Tale

Chapter Text

  1. Kapitel: Fairy Tale

 

Mein Kinn sackte herab. „What? But I thought you said you wanted me back, I thought –“

“I do!” Ramin machte einen Schritt auf mich zu, sodass er direkt vor dem Couchtisch stand. Von seinem Blick begann meine Haut zu prickeln. Jetzt brannten sie wieder, seine Augen. „I do want you back, Martin, of course I do!“

„Well then –“

„But that doesn’t mean I’m hoping we’re gonna be some fairy tale couple and live happily ever after!” Er lachte. „I mean, why would you even think such a thing?”

“But –“ Ich starrte ihn an, seine weit offenen Augen, sein ungläubig-belustigtes Grinsen. In meinem Bauch glomm etwas auf. „Wait. Let’s get this straight. What exactly is it that you DO want, then?”

“Well, for us to see each other again! You know, just … for me to come here, and you to come to London, and … talk and dance and have sex and … everything. I just … I want you back. I want you around. I want it to be … like it was. Before … Well. You know.“ Er hob die Schultern. Sein Daumen zuckte schon wieder hin und her.

Like it was. I want it to be like it was. „I see.“

Ich nahm kaum wahr, dass ich vom Sofa aufgestanden war. Meine Stimme war eiskalt, aber in mir brannte es. „So you leave me, you tell me I’m nothing, you don’t call or text or anything for three months, and then you come back and apologise and say you want me back, and you just expect me to fall into your arms and pick up exactly where we left off, the way Sierra obviously did, do you?”

“W-well.” Ramin blinzelte. Er machte keinen Schritt zurück, aber sein Oberkörper lehnte sich ein Stück nach hinten. „Well, yeah, I guess – I mean, it’s – it’s not like I expect – I mean I know how bad – I –“

Ich ließ ihn nicht aus dem eisigen Griff meines Blicks. Er schluckte, holte Luft. „I know I said horrible stuff to you, Martin. You trusted me, and I … well. And … I don’t know if you can forgive me. I don’t. I don’t know if I could forgive someone who did something like that to me. But …”

Er biss sich auf die Unterlippe und atmete ein. „But I’m asking anyway. I’m asking … I’m begging you to forgive me. Please. Because … because I’m in love with you. And I think … before … before I did that … I think you were in love with me, too.”

Er schluckte und presste die Lippen aufeinander. Ich sah trotzdem, dass sie zitterten.

Ich holte Luft. Oder versuchte es zumindest. Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich erst nichts hindurchzwängen konnte. Meine Stimme, die gerade noch so wunderbar kontrolliert gewesen war, klang jetzt brüchig und zittrig. „But you said you only want it to be the way it was.”

Er blinzelte. Kleine Furchen bildeten sich auf seiner Stirn. „Only? What do you mean, only?”

“Well, the two of us!” Da war sie wieder, die Kraft. Ich sog die Luft ein, und plötzlich musste ich mir Mühe geben, um nicht zu schreien. „You say you’re in love with me, but you don’t want us to be a real couple, you just want me around and everything to be like it was!”

Ich starrte ihn an, seine Stirn, die jetzt von Furchen durchzogen war, seine verständnislosen Augen, und ich verlor den Kampf um die Beherrschung. „WELL, YOU DON’T GET THAT, RAMIN, OKAY, YOU’RE NOT GONNA GET THAT! YOU DON’T JUST GET TO BREAK ME, AND GO, AND THEN COME BACK AND SAY YOU MADE A MISTAKE AND YOU’RE SORRY AND CAN WE PLEASE, PLEASE PICK UP WHERE WE LEFT OFF AND NOT CHANGE ANYTHING, WELL, NO!”

Ramin starrte mich entgeistert an, aber ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Das Brennen in mir war herausgebrochen, hatte die Eisschicht verzehrt und tobte. „LOOK, I DO LOVE YOU, OKAY? I DO! AND I DID LONG BEFORE YOU LEFT, LONG BEFORE THE BALL, ALMOST SINCE THE DAY WE MET! AND HOW DO YOU THINK I FELT, HUH, WHEN YOU CAME HERE AND TOLD FINN THERE WAS A QUEUE OF PEOPLE WAITING TO FUCK YOU, WHEN SIERRA SAID THAT SEX AND LOVE DON’T HAVE ANYTHING TO DO WITH EACH OTHER FOR YOU, WHEN YOU TELL ME TODAY THAT EVEN AT THE BALL, THERE WAS A GUY WHO WANTED YOU TO FUCK HIM AND YOU ALMOST DID?!”

Ohne es zu merken, war ich um den Couchtisch herum- und auf der freien Fläche vor der Balkontür auf- und abgestürmt, in dem Versuch, dem Inferno irgendwie Platz zu geben. Ramin hatte den Blick nicht von mir abgewandt, und jetzt machte er einen Schritt auf mich zu, die Hand halb erhoben. „BUT I DIDN’T! I DIDN’T fuck him, Martin, okay, you were right there and I didn’t want to, so I didn’t!”

“BUT I WON’T ALWAYS BE RIGHT THERE, WILL I?!” Das Brennen lag jetzt hauptsächlich in meinem Hals. Ich spürte Tränen in den Augen und blinzelte sie weg. Obwohl es wehtat, schrie ich weiter. „I’LL STILL BE HERE, AND YOU’LL BE IN LONDON! AND TELL ME, RAMIN: IF YOU JUST WANT EVERYTHING TO BE LIKE IT WAS, ON THE MANY NIGHTS WHEN I’M NOT THERE, ARE YOU STILL GONNA FUCK OTHER GUYS? HUH? ARE YOU?!”

Er starrte mich mit offenem Mund an. “Well – I –“

“TELL ME! RIGHT NOW!”

“I – I don’t – Well – I guess – Maybe – If I want to – But –“

“IF YOU WANT TO?!” Jetzt brannte meine ganze Brust. Ich sog die Luft ein, und es fühlte sich an, als würde ich Messerklingen schlucken. „IF YOU WANT TO? WHAT ABOUT WHAT I WANT, HUH, RAMIN? YOU SAY YOU LOVE ME, AND YOU APOLOGISE, BUT YOU’RE JUST GONNA GO ON HURTING ME, WELL, WHAT’S THE POINT, TELL ME, WHAT’S THE POINT?!”

“But I’m not gonna go on hurting you!” Er schüttelte den Kopf, und sein Blick war so intensiv, dass ich nicht wegschauen konnte. „I’m not gonna go on hurting you, Martin, I promise! I’m not gonna bullshit you again, ever! I did it once – that was enough, I’m not gonna do it again, I swear, I’m not gonna betray you like that ever again!”

Ich starrte ihn an und suchte nach der Lüge, nach dem Spiel in seinen Augen. Aber ich fand es nicht. Ich stolperte zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Balkontür, presste die Handflächen dagegen und lachte. Ich lachte, weil ich sonst geweint hätte, und dafür hatte ich nicht mehr genug Kraft. „You’re not … gonna betray me … but you’re still … going to fuck other guys … if you want to?”

Ich lehnte den Kopf zurück, spürte das kühle Glas. „And you think … that’s not gonna hurt me, do you? That’s just … that’s just …”

Ich schloss die Augen, sog einen stechenden Atemzug nach dem anderen durch meine wundgebrüllte Kehle und spürte die Tränen kaum, die unter meinen Lidern hervor und über meine Wangen rannen.

„Well, why should it?“

Ich öffnete die Augen. Ramin stand zwei Schritte entfernt, die Arme herabhängend an seinen Seiten. Seine Stimme war leise und fast sanft. „Look, Martin, when I fuck other guys, it’s not … love. It’s just sex. It has nothing to do with you and me.”

“Yes, it has!” Ich hätte lieber weiter geschrien, aber meine Stimme klang auch so schon nur noch wie ein hohler Schatten. Es ging einfach nicht mehr. „Of course it has! Sex isn’t something you do with just anyone, you do it with your partner and no one else. It means something!”

“That’s BULLSHIT!”

Ich blinzelte. Das war sehr heftig gekommen. Ramin schien es selbst gemerkt zu haben. Er presste die Lippen zusammen, holte Luft und sprach mit unterdrückter Heftigkeit weiter.

„That is just bullshit, Martin. That is part of the myth straight people tell you when they give you their idea of what life and happiness should look like. Having one partner, pledging eternal troth, vowing you’ll always be faithful and you’ll always love them, well, FUCK that!”

Er holte mühsam Luft und machte einen Schritt auf mich zu. „Look, Martin. I meant what I said. I’m not going to hurt you again, I’m not going to bullshit you again, I SWEAR. And I want you. I want to be with you, to be your … heck, to be your partner, if you like! But that doesn’t mean I’m never gonna wanna fuck somebody else. I’m young, I’m queer, and when I want to fuck, I’m gonna do it. But that doesn’t mean I’m not gonna love you anymore.”

Er trat noch einen Schritt nach vorne. Jetzt stand er direkt vor mir. Seine Hand streifte meine. Ich zuckte zurück und presste sie gegen die Scheibe. In seinem Gesicht verrutschte etwas.

„I’m sorry. I’m sorry you don’t like it. But … there’s no point lying about this. As I said, I’m not gonna bullshit you again. And I’m not gonna change. Not where this is concerned. I mean, I told you, when I was in New York, I didn’t even want to fuck other guys anymore. Then I did it anyway, not because I wanted to, but because I thought I had to. Because of what the others said. I let them tell me what to do. What to WANT. And THAT’S –“

Sein Gesicht verzog sich, und eine Sekunde war die Abscheu zurück in seinem Blick. „THAT’S what I hate, Martin. I HATE that. I never wanted to let other people tell me what to do or want. And now … If I’m in London, and I wanna fuck a guy, and then I don’t because you wouldn’t like it, it’d be the same thing all over again. And that’s just bullshit.”

Er schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zurück. Mein Rücken war immer noch gegen die Balkontür gepresst, aber ich spürte sie nicht mehr. Das Brennen war verschwunden. Alles war verschwunden. „I see. So you’re just gonna do exactly what you want, are you? You just don’t care if it hurts me or not?”

“I do care.” Ramins Blick lag fest auf meinem. „I guess that was part of the reason why I didn’t wanna fuck anyone else in New York. Because I knew you wouldn’t like it. But if that changes …” Er hob die Schultern. „I just don’t know, Martin. I just don’t know. I don’t know what I’m gonna want, and there’s no point making a promise that maybe, at some point, I’m not gonna wanna keep anymore.”

Ich schluckte. There’s no point making a promise … „So I guess this is where we come to the happily-ever-after-part, is it?”

Denn das hier war noch schlimmer. Das war noch viel schlimmer als die Ansage, dass er sich in der Londoner Schwulenszene genau so weiterbewegen würde wie bisher, wenn ich, wie meistens, hier in Hamburg sein würde. Viel, viel schlimmer.

„You say you’re in love with me now. You say when you fuck other guys, it doesn’t mean anything, it’s not gonna change anything about that. Well, for how long, Ramin? Is this another promise that you’re not gonna make because maybe, at some point, you’re not gonna wanna keep it anymore? If you keep fucking other guys, then how do I know that there’s not gonna be one at some point who you’re gonna like better than me? How do I know that at some point, you’re not gonna leave me again?”

Ramin sah mich einen Moment regungslos an. Wieder hob er die Schultern. „You don’t.“

Ein Geräusch kam aus meinem Mund. Irgendwas zwischen Lachen und Schluchzen. „Great. Wonderful! So how long until you break my heart again, Ramin, huh? A year? A month? A day? An hour? I mean, do you honestly think I’m gonna take you back after you almost destroy me, after three months of missing you and losing my place on the team and being miserable almost all the time, because you say you’re sorry and you love me, but you’re not gonna promise anything, that you’re just gonna keep fucking other guys and maybe at some point you’ll get bored of me again and leave me again? I mean – how CAN you think that? HOW?!”

Ich starrte ihn an und wartete darauf, dass er einlenkte, dass er sagte, er habe es nicht so gemeint, dass er mir natürlich treu sein und mich ganz bestimmt nie wieder verlassen würde. Nie.

Seine Lippen verzogen sich zu einem müden Lächeln. In seinen Augen stand Schmerz, aber kein Zweifel. „I’m sorry, Martin. I’m sorry you don’t like it. But you know, there are things that I …”

Er biss sich auf die Unterlippe, und sein Blick huschte zur Decke. „Whatever. Never mind. But anyway, it’s the truth. And I swore to myself I’d tell you the truth. No matter how hard it was gonna be.”

Er schluckte, atmete. „You see, I am in love with you. I am. And I want you back … so much. You have no idea how much. How much I’ve missed you. And I knew … well … I thought you probably … weren’t gonna like some of the things I was gonna say. But I had to say them anyway, Martin. I had to. Because if I hadn’t, if I’d told you what you wanted to hear without believing in it … I would have betrayed you again, Martin. And I was not gonna do that. I wasn’t.”

Er schüttelte den Kopf. Seine Augen ließen mich nicht los. Ich sah ihn an, und bevor ich die Kraft zusammenkratzen konnte, um ihm zu sagen, dass es doch nicht die Worte waren, die er ändern sollte, sondern die verdammte Einstellung, sprach er schon weiter.

„You see, Martin, I just don’t know what things are gonna be like in a year’s time. In two. Or whenever. I don’t think you do, either. And … I told you, I’ve never had a boyfriend or a partner before. Never. Because I’ve never wanted one. Well, now I do. I want you. And that’s why I so much want you to forgive me, Martin, because I really, really WANT to be with you. But that’s the only reason I’m ever gonna be with a guy. Because I want to. Not because I feel I have to, because of some bullshit commitment I made ages ago that I just don’t have the balls to break. Because what is that in the end? When two people stay together just because they promised to love each other forever once, even though neither of them feels anything anymore?”

Er lachte. „Well, to me, that’s pathetic. That’s what straight people do. And it’s what I’m never, EVER gonna do.”

Wir standen voreinander, er im Raum, mit leicht gehobenen Schultern, ich an der Balkontür, Rücken und Hände dagegen gepresst. In der Stille beschlich mich der diffuse Gedanke, dass ich auf der falschen Seite der Tür stand, dass ich einen Schild vor und nicht hinter mir gebraucht hätte, um irgendwie Zuflucht zu suchen vor diesen Worten aus dem Mund des Mannes, dem ich sofort ewige Treue und Liebe geschworen hätte. Sofort.

Irgendwann brach er das Schweigen. „Well.” Wieder hob sich ein Mundwinkel. Sein Blick war schwer und sanft und traurig. „I guess I’d better go. It’s … I don’t expect you to … Obviously, you need … time to take it all in.” Seine Hand fuhr über seinen Nacken. „Look, I’m going back to London tomorrow, but … I can come back anytime. Just … take whatever time you need. And then … well … just give me a call.”

Einen Moment blieb er noch stehen. Aber ich sagte nichts. Ich wusste nicht, ob ich je wieder etwas würde sagen können. Ramin lächelte noch einmal. Dann wandte er sich ab. Ich hörte, wie er den Flur hinunterging und sich Schuhe und Jacke anzog. Ein paar Sekunden hallten Schritte im Treppenhaus, bevor die Tür mit einem dumpfen Laut zufiel.

 

*

 

In dieser Nacht schlief ich nicht. Mit offenen Augen lag ich im Bett, drehte mich mal auf die rechte, mal auf die linke Seite, aber meistens lag ich auf dem Rücken und starrte die dunkle Zimmerdecke an. Durch meinen Kopf hallten Fetzen von Ramins Worten, jagten sich gegenseitig und vertrieben alle Hoffnung auf Schlaf, obwohl jede Faser meines Körpers bleischwer vor Erschöpfung war.

I’m in love with you.

I grabbed the nearest guy, took him to the back room and fucked him.

I want to be with you.

We dance, we drink, and we fuck.

I want you back.

I’m young, I’m queer, and when I want to fuck, I’m gonna do it. I don’t know what I’m gonna want, and there’s no point making a promise that maybe, at some point, I’m not gonna wanna keep anymore.

I really, really WANT to be with you.

When two people stay together just because they promised to love each other forever once, even though neither of them feels anything anymore, then what is that in the end? To me, that’s pathetic. And it’s what I’m never, EVER gonna do.

Er wollte mich zurück. Er wollte keine richtige Beziehung, er wollte keine Verpflichtungen, er wollte mir nichts geben, auf das ich mich verlassen konnte. Aber er wollte mich zurück. Er wollte mich sehen, mich küssen, mit mir lachen, Sex mit mir. Er hatte mich vermisst. Er hatte sich entschuldigt. Er war zurückgekommen aus New York, hatte über Nacht alles stehen und liegen lassen, meinetwegen. Weil er eingesehen hatte, dass er einen riesengroßen Fehler gemacht hatte. Er war verliebt in mich. Ramin, der Mann, den ich liebte, hatte gesagt, dass er verliebt war in mich.

Hatte ich davon nicht geträumt, wieder und wieder in den letzten zweieinhalb Monaten, und jedes Mal ein Messer in die Brust gerammt bekommen, wenn die Realität zurückkehrte? Und jetzt war es wirklich passiert. Diesmal war es kein Traum. Er war zurückgekommen, er hatte mich angefleht, ihm zu verzeihen, und er hatte gesagt, er wolle mich zurück. Es gab doch gar keine Frage. Natürlich würde ich ihm verzeihen. Natürlich wollte ich ihn zurück.

Oder? Wollte ich mich wirklich noch einmal in ihm verlieren, obwohl er ja schon angekündigt hatte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er mich wieder fallen ließ? Obwohl er nicht mal versucht hatte, so zu tun, als würde er mir treu bleiben, obwohl er sofort zugegeben hatte, dass er weiterhin Sex mit anderen haben würde, wenn er nur wollte? Wollte ich ihn wirklich zurückhaben, obwohl ich wusste, dass es begrenzt war, dass ich ihn nur so lange behalten würde, bis er zurück wollte in seine Welt of dancing and drinking and fucking, in die Welt, die seine war und in der ich keinen Platz hatte? Wollte ich jedes Mal, wenn wir telefonierten oder uns sahen, Angst haben, mich fragen müssen, ob heute der Tag war, an dem er ging? Wollte ich das? Konnte ich das? War das nicht vollkommen verrückt, jetzt, wo ich wusste, wie weh es tun würde? Hieß es „Ganz oder gar nicht“, oder war ein geteilter, zeitlich begrenzter Ramin immer noch besser als gar keiner? Denn dass ich den ganzen Ramin, so, wie ich ihn haben wollte und so, wie ich ihm mich geben würde, nicht haben konnte, das hatte er ja hinreichend klargestellt.

Ich schwankte, hin und her, hilflos von den Wogen getrieben, und das Karussell drehte sich schneller und schneller in meinem Kopf. Ja oder Nein? Hoffnung oder Pragmatismus? Risiko oder Sicherheit?

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich schlug die Decke zurück, ging zum Fenster, öffnete es und sah hinaus auf die Lichter der Stadt – mein Hamburg, meinen Anker. Mein Blick schweifte über die schemenhaften Dächer. Irgendwo da draußen war er, in irgendeinem Zimmer in irgendeinem Hotel. Schlief er? Oder stand er auch am Fenster, sah ins Dunkel der Nacht und dachte an seine Worte? An mich? An uns?

Ich zitterte, wandte den Blick ab, schloss das Fenster und schlüpfte wieder unter die Decke. Vertrauen oder zweifeln? Verzeihen oder hart sein? Springen oder an Land bleiben?

Als die Schatten in meinem Zimmer von schwarz zu grau wechselten, schlug ich erneut die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Diesmal blieb ich auf der Kante sitzen, den Rücken gebeugt, die Handflächen aneinandergelegt. Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, was das Richtige war, und ich konnte es mit mir selbst nicht ausmachen. Ich brauchte Hilfe. Eine andere Stimme, eine, die die zerrenden und schreienden in meinem Kopf zum Schweigen bringen konnte. Aber mit wem konnte ich reden? Mit Finn?

Ich lachte. Ja sicher. Ihm brauchte ich damit nicht kommen, was er sagen würde, wusste ich, auch ohne ihn gefragt zu haben. Eine neue Stimme klang durch meinen Kopf. Finn’s too involved in this. He’s too prejudiced against Ramin.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Selbst wenn ich Ramin nach ihrer Nummer fragte – Sierra konnte ich auch vergessen. Ihr würde ich fast nichts erklären müssen, sie würde mir zuhören und mir das Gefühl geben, in Sicherheit zu sein. Aber raten können würde sie mir nicht. Nicht, wie ich es brauchte, nicht aus meiner Perspektive. Egal, was vorgefallen war, was Ramin zu ihr gesagt hatte, sie hatte ihm verziehen, und sie war und blieb seine beste Freundin. Sie würde zwangsläufig auf seiner Seite sein. Wie könnte sie da für mich, für den Gegner, ein unabhängiger Ratgeber sein?

Nein, was ich brauchte, war jemand, der mir nahestand, der mich kannte und dem ich vertraute, jemand, der noch keine vorgefasste Meinung von Ramin hatte, dem ich die Situation schildern und der aus seiner herrlich neutralen Position das raten konnte, was aus seiner Sicht für mich am besten war. Einen Kumpel. Einen Freund. Jemanden, der mir helfen würde. Und diesen jemand – hatte ich nicht.

Oder? Ein zweites Echo, in derselben Stimme, hallte durch meinen Kopf. I don’t want you to do this for anyone else. I want you to do it for yourself.

For myself. For myself …

Meine Augen klappten auf. Mein Kopf fiel nach vorne, und beide Hände krallten sich in mein Haar. Damals, direkt nach dem Gespräch mit Sierra, hatte ich es nicht gewollt. Der Gedanke hatte mich gelähmt, mir Übelkeit verursacht. Ich hatte es nicht gewollt, und ich hatte es nicht getan, weil es keinen Sinn gehabt hätte. Keinen. Nur Angst und Scham und ein Geständnis, das ich nie wieder über die Lippen bringen wollte. Aber jetzt … war es anders. Jetzt hatte es einen Sinn. Jetzt wäre es keine Beichte, mit der einzigen Hoffnung auf Absolution, die ich von nichts und niemandem brauchte. Jetzt wäre es … immer noch eine Offenbarung. Immer noch schwer. Immer noch eine potenzielle Waffe. Aber in den Händen eines Freundes würde sie mir nicht gefährlich werden. Oder? Und außerdem war es diesmal mehr als das. Es war die Bitte um Rat. Um Hilfe. Hilfe, auf die ich angewiesen war, um die ich nicht herumkam. Ich musste – ich wollte es tun. Für mich.

Ich atmete ein. Langsam löste ich den Kopf aus den Händen, wandte mich nach rechts und griff nach meinem Smartphone. Im ersten Licht des Morgens nahm ich den Flugmodus heraus und öffnete WhatsApp. Mit dem Daumen scrollte ich zum richtigen Chat und öffnete ihn. >Hey Gidi :) Hast du heute nach dem Training Zeit? Ich muss was mit dir besprechen<

Chapter 60: Fairy Tale - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Ein Märchen

 

Mein Kinn sackte herab. „Was? Aber ich dachte, du hast gesagt, du willst mich zurück, ich dachte –“

„Will ich ja auch!” Ramin machte einen Schritt auf mich zu, sodass er direkt vor dem Couchtisch stand. Von seinem Blick begann meine Haut zu prickeln. Jetzt brannten sie wieder, seine Augen. „Ich will dich ja zurück, Martin, klar will ich dich zurück!“

„Na also, dann –“

„Aber das heißt doch nicht, dass ich hoffe, aus uns wird irgend so ein Traumpaar, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!“ Er lachte. „Ich meine, wie kommst du da überhaupt drauf?“

„Aber –“ Ich starrte ihn an, seine weit offenen Augen, sein ungläubig-belustigtes Grinsen. In meinem Bauch glomm etwas auf. „Warte. Das will ich jetzt genau wissen. Was genau WILLST du denn dann, hm?“

„Na, dass wir uns wieder treffen! Weißt du, einfach … dass ich hierherkomme, und du nach London kommst, und … dass wir reden und tanzen und Sex haben und … alles. Ich will einfach … Ich will dich zurück. Ich will dich in meinem Leben haben. Ich will, dass es wieder so ist … wie vorher. Bevor … na ja. Du weißt schon.“ Er hob die Schultern. Sein Daumen zuckte schon wieder hin und her.

Wie vorher. Ich will, dass es wieder so ist wie vorher. „Aha.“

Ich nahm kaum wahr, dass ich vom Sofa aufgestanden war. Meine Stimme war eiskalt, aber in mir brannte es. „Du lässt mich also sitzen, du sagst mir, dass ich nichts bin, du rufst nicht an oder schreibst oder meldest dich irgendwie, drei Monate lang, und dann kommst du zurück und entschuldigst dich und sagst, dass du mich zurückwillst, und du erwartest einfach, dass ich dir um den Hals falle und dass wir genau da weitermachen, wo wir aufgehört haben, so wie das offensichtlich mit Sierra gelaufen ist, ja?“

„N-na ja.” Ramin blinzelte. Er machte keinen Schritt zurück, aber sein Oberkörper lehnte sich ein Stück nach hinten. „Na ja, ja, ich schätze – Ich meine, ich – ich erwarte das nicht, ich – Ich meine, ich weiß, wie schlimm – Ich –“

Ich ließ ihn nicht aus dem eisigen Griff meines Blicks. Er schluckte, holte Luft. „Ich weiß, dass ich grausame Sachen zu dir gesagt hab, Martin. Du hast mir vertraut, und ich … na ja. Und … ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst. Echt nicht. Ich weiß nicht, ob ich jemandem verzeihen könnte, der mir so was angetan hat. Aber …“

Er biss sich auf die Unterlippe und atmete ein. „Aber ich bitte dich trotzdem darum. Ich bitte dich … ich flehe dich an, mir zu verzeihen. Bitte. Weil … Weil ich in dich verliebt bin. Und ich glaube … bevor … bevor ich das getan hab … Ich glaube, da warst du auch in mich verliebt.“

Er schluckte und presste die Lippen aufeinander. Ich sah trotzdem, dass sie zitterten.

Ich holte Luft. Oder versuchte es zumindest. Meine Kehle war so zugeschnürt, dass ich erst nichts hindurchzwängen konnte. Meine Stimme, die gerade noch so wunderbar kontrolliert gewesen war, klang jetzt brüchig und zittrig. „Aber du hast doch gesagt, du willst nur, dass es wieder so ist wie vorher.“

Er blinzelte. Kleine Furchen bildeten sich auf seiner Stirn. „Nur? Was meinst du mit nur?“

„Na, wir beide!” Da war sie wieder, die Kraft. Ich sog die Luft ein, und plötzlich musste ich mir Mühe geben, um nicht zu schreien. „Du sagst, du bist in mich verliebt, aber du willst nicht, dass wir ein richtiges Paar sind, du willst mich nur in deinem Leben haben und dass alles wird wie vorher!“

Ich starrte ihn an, seine Stirn, die jetzt von Furchen durchzogen war, seine verständnislosen Augen, und ich verlor den Kampf um die Beherrschung. „TJA, DAS KANNST DU NICHT HABEN, RAMIN, OKAY, DAS KANNST DU NICHT HABEN! DU KANNST MICH NICHT EINFACH KAPUTTMACHEN, UND GEHEN, UND DANN ZURÜCKKOMMEN UND SAGEN, DASS DU EINEN FEHLER GEMACHT HAST UND DASS ES DIR LEIDTUT UND OB WIR BITTE, BITTE DA WEITERMACHEN KÖNNEN, WO WIR AUFGEHÖRT HABEN UND ÜBERHAUPT NICHTS ÄNDERN, NEIN, EINFACH NEIN!“

Ramin starrte mich entgeistert an, aber ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Das Brennen in mir war herausgebrochen, hatte die Eisschicht verzehrt und tobte. „PASS AUF, ICH LIEBE DICH WIRKLICH, OKAY? ICH LIEBE DICH! UND ICH HAB DICH SCHON LANGE BEVOR DU GEGANGEN BIST GELIEBT, LANGE VOR DEM BALL, FAST SEIT DEM TAG, AN DEM WIR UNS KENNENGELERNT HABEN! UND WAS GLAUBST DU, WIE ICH MICH GEFÜHLT HAB, ALS DU HIERHERGEKOMMEN BIST UND ZU FINN GESAGT HAST, DASS DIE LEUTE SCHLANGE STEHEN, UM DICH ZU FICKEN, ALS SIERRA GESAGT HAST, DASS SEX UND LIEBE FÜR DICH REIN GAR NICHTS MITEINANDER ZU TUN HABEN, WENN DU MIR HEUTE SAGST, DASS SOGAR AUF DEM BALL EIN TYP WAR, DER WOLLTE, DASS DU IHN FICKST, UND DU HÄTTEST ES FAST GEMACHT?!“

Ohne es zu merken, war ich um den Couchtisch herum- und auf der freien Fläche vor der Balkontür auf- und abgestürmt, in dem Versuch, dem Inferno irgendwie Platz zu geben. Ramin hatte den Blick nicht von mir abgewandt, und jetzt machte er einen Schritt auf mich zu, die Hand halb erhoben. „HAB ICH ABER NICHT! Ich HAB ihn nicht gefickt, Martin, okay, du standest quasi direkt daneben und ich wollte nicht, also hab ichs nicht gemacht!“

„ABER ICH WERD NICHT IMMER DIREKT DANEBENSTEHEN, ODER?!“ Das Brennen lag jetzt hauptsächlich in meinem Hals. Ich spürte Tränen in den Augen und blinzelte sie weg. Obwohl es wehtat, schrie ich weiter. „ICH WERD IMMER NOCH HIER SEIN, UND DU IN LONDON! UND JETZT SAG MIR, RAMIN: WENN DU NUR WILLST, DASS ALLES SO IST WIE VORHER, AN DEN VIELEN NÄCHTEN, WENN ICH NICHT DA BIN, WIRST DU DANN IMMER NOCH ANDERE TYPEN FICKEN? NA? WIRST DU DAS TUN?!“

Er starrte mich mit offenem Mund an. „Na ja – ich –“

„SAGS MIR! JETZT!“

„Ich – Ich weiß nicht – Na ja – Ich schätze – Vielleicht – Wenn ich will – Aber –“

„WENN DU WILLST?!“ Jetzt brannte meine ganze Brust. Ich sog die Luft ein, und es fühlte sich an, als würde ich Messerklingen schlucken. „WENN DU WILLST? UND WAS IST DAMIT, WAS ICH WILL, HM, RAMIN? DU SAGST, DU LIEBST MICH, UND DU ENTSCHULDIGST DICH, ABER DU WIRST MIR EINFACH WEITER WEHTUN, WAS WILLST DU DANN ÜBERHAUPT HIER, ERKLÄRS MIR, WAS WILLST DU HIER?!“

„Aber ich werd dir nicht weiter wehtun!“ Er schüttelte den Kopf, und sein Blick war so intensiv, dass ich nicht wegschauen konnte. „Ich werd dir nicht weiter wehtun, Martin, versprochen! Ich werd dir nie wieder so eine Scheiße erzählen, nie mehr! Ich habs einmal gemacht – das hat gereicht, ich werds nie wieder tun, ich schwörs, ich werd dich nie wieder so verraten!“

Ich starrte ihn an und suchte nach der Lüge, nach dem Spiel in seinen Augen. Aber ich fand es nicht. Ich stolperte zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Balkontür, presste die Handflächen dagegen und lachte. Ich lachte, weil ich sonst geweint hätte, und dafür hatte ich nicht mehr genug Kraft. „Du wirst … mich nicht mehr verraten … aber du wirst trotzdem … andere Typen ficken … wenn du willst?“

Ich lehnte den Kopf zurück, spürte das kühle Glas. „Und du meinst … das wird mir nicht wehtun, ja? Das ist einfach … das ist einfach …“

Ich schloss die Augen, sog einen stechenden Atemzug nach dem anderen durch meine wundgebrüllte Kehle und spürte die Tränen kaum, die unter meinen Lidern hervor und über meine Wangen rannen.

„Na, warum sollte es?“

Ich öffnete die Augen. Ramin stand zwei Schritte entfernt, die Arme herabhängend an seinen Seiten. Seine Stimme war leise und fast sanft. „Pass auf, Martin, wenn ich andere Typen ficke, ist es nicht … Liebe. Es ist nur Sex. Mit dir und mir hat das nichts zu tun.“

„Doch, hat es!” Ich hätte lieber weiter geschrien, aber meine Stimme klang auch so schon nur noch wie ein hohler Schatten. Es ging einfach nicht mehr. „Natürlich hat es das! Sex hat man nicht einfach mit irgendwem, man hat ihn mit seinem Partner und mit sonst niemandem. Es bedeutet was!“

„Das ist SCHWACHSINN!“

Ich blinzelte. Das war sehr heftig gekommen. Ramin schien es selbst gemerkt zu haben. Er presste die Lippen zusammen, holte Luft und sprach mit unterdrückter Heftigkeit weiter.

„Das ist einfach Schwachsinn, Martin. Das ist ein Teil von dem Märchen, das die Heteros dir erzählen, wenn sie dir ihre Vorstellung davon einimpfen, wie das Leben und das Glück auszusehen haben. Nur einen Partner haben, ewige Treue schwören, geloben, dass man ihn nie betrügen und dass man ihn immer lieben wird, Mann, SCHEISS drauf!“

Er holte mühsam Luft und machte einen Schritt auf mich zu. „Pass auf, Martin. Ich hab das wirklich so gemeint, was ich gesagt hab. Ich werd dir nicht noch mal wehtun, ich werd dir nicht noch mal so eine Scheiße erzählen, ich SCHWÖRS. Und ich will dich. Ich will mit dir zusammen sein, dein … verdammt, dein Partner sein, wenn dus so nennen willst! Aber das heißt nicht, dass ich nie wieder jemand anderen ficken will. Ich bin jung, ich bin queer, und wenn ich ficken will, werd ichs tun. Aber das heißt nicht, dass ich dich dann nicht mehr liebe.“

Er trat noch einen Schritt nach vorne. Jetzt stand er direkt vor mir. Seine Hand streifte meine. Ich zuckte zurück und presste sie gegen die Scheibe. In seinem Gesicht verrutschte etwas.

„Tut mir leid. Tut mir leid, dass dir das nicht gefällt. Aber … es hat keinen Sinn, zu lügen. Wie ich gesagt hab, ich werd dir nicht noch mal irgendeine Scheiße erzählen. Und ich werd mich nicht ändern. Nicht, was das angeht. Ich meine, ich hab dir ja erzählt, als ich in New York war, wollte ich gar keine anderen Typen mehr ficken. Dann hab ichs trotzdem gemacht, nicht weil ich wollte, sondern weil ich dachte, dass ich muss. Wegen dem, was die anderen gesagt haben. Ich hab mir von ihnen erzählen lassen, was ich zu tun habe. Was ich zu WOLLEN habe. Und DAS –“

Sein Gesicht verzog sich, und eine Sekunde war die Abscheu zurück in seinem Blick. „DAS ist das, was ich hasse, Martin. Ich HASSE das. Ich wollte mir nie von anderen Leuten erzählen lassen, was ich zu tun oder zu wollen habe. Und jetzt … Wenn ich in London bin, und ich will einen Typen ficken, und dann mach ichs nicht, weil dir das nicht gefallen würde, wär das wieder genau das Gleiche. Und das ist einfach Schwachsinn.“

Er schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zurück. Mein Rücken war immer noch gegen die Balkontür gepresst, aber ich spürte sie nicht mehr. Das Brennen war verschwunden. Alles war verschwunden. „Aha. Du wirst also einfach genau das tun, was du willst, ja? Es ist dir einfach egal, ob es mir wehtut oder nicht?“

„Es ist mir nicht egal.” Ramins Blick lag fest auf meinem. „Ich schätze, das war auch mit der Grund, warum ich in New York niemand anderen ficken wollte. Weil ich wusste, dass dir das nicht gefallen würde. Aber wenn sich das ändert …“ Er hob die Schultern. „Ich weiß es einfach nicht, Martin. Ich weiß es einfach nicht. Ich weiß nicht, was ich in der Zukunft wollen werde, und es hat keinen Sinn, was zu versprechen, das ich vielleicht irgendwann gar nicht mehr halten will.“

Ich schluckte. Es hat keinen Sinn, was zu versprechen … „Ich schätze, das ist der Punkt, wo wir zum Und-wenn-sie-nicht-gestorben-sind-dann-leben-sie-noch-heute-Teil kommen, ja?“

Denn das hier war noch schlimmer. Das war noch viel schlimmer als die Ansage, dass er sich in der Londoner Schwulenszene genau so weiterbewegen würde wie bisher, wenn ich, wie meistens, hier in Hamburg sein würde. Viel, viel schlimmer.

„Du sagst, dass du jetzt in mich verliebt bist. Du sagst, wenn du andere Typen fickst, hat das nichts zu bedeuten, das wird daran nichts ändern. Tja, für wie lange, Ramin? Ist das noch was, was du nicht versprechen wirst, weil dus vielleicht irgendwann gar nicht mehr halten willst? Wenn du weiter andere Typen fickst, woher weiß ich dann, dass nicht irgendwann einer dabei ist, der dir besser gefällt als ich? Woher weiß ich, dass du mich nicht irgendwann wieder sitzenlassen wirst?“

Ramin sah mich einen Moment regungslos an. Wieder hob er die Schultern. „Das kannst du nicht wissen.“

Ein Geräusch kam aus meinem Mund. Irgendwas zwischen Lachen und Schluchzen. „Super. Hervorragend! Wie lang wirds denn dann dauern, bis du mein Herz das nächste Mal brichst, Ramin, hm? Ein Jahr? Einen Monat? Einen Tag? Eine Stunde? Ich meine, glaubst du im Ernst, dass ich dich zurücknehme, nachdem du mich fast kaputtgemacht hast, nachdem ich dich drei Monate lang vermisst hab und meinen Platz in der Mannschaft verloren hab und fast die ganze Zeit unglücklich war, weil du sagst, es tut dir leid und du liebst mich, aber versprechen wirst du mir nichts, dass du einfach weiter andere Typen ficken wirst und dass du vielleicht irgendwann wieder keine Lust mehr auf mich hast und mich dann wieder sitzenlässt? Ich meine – wie KOMMST du darauf? WIE?!“

Ich starrte ihn an und wartete darauf, dass er einlenkte, dass er sagte, er habe es nicht so gemeint, dass er mir natürlich treu sein und mich ganz bestimmt nie wieder verlassen würde. Nie.

Seine Lippen verzogen sich zu einem müden Lächeln. In seinen Augen stand Schmerz, aber kein Zweifel. „Es tut mir leid, Martin. Es tut mir leid, dass dir das nicht gefällt. Aber weißt du, es gibt auch Dinge, die mir …“

Er biss sich auf die Unterlippe, und sein Blick huschte zur Decke. „Was auch immer. Egal. Aber es ist jedenfalls die Wahrheit. Und ich hab mir geschworen, dass ich dir die Wahrheit sagen würde. Egal, wie schwer es wird.“

Er schluckte, atmete. „Verstehst du, ich bin wirklich in dich verliebt. Bin ich. Und ich will dich … so unbedingt zurück. Du hast keine Ahnung, wie sehr. Wie sehr du mir gefehlt hast. Und ich wusste … na ja … Ich hab mir gedacht, dass dir vermutlich … ein paar von den Sachen, die ich sage, nicht gefallen würden. Aber ich musste es trotzdem sagen, Martin. Ich musste es tun. Weil wenn ichs nicht getan hätte, wenn ich dir gesagt hätte, was du hören willst, ohne dahinterzustehen … hätte ich dich wieder verraten, Martin. Und das wollte ich auf keinen Fall. Auf keinen Fall.“

Er schüttelte den Kopf. Seine Augen ließen mich nicht los. Ich sah ihn an, und bevor ich die Kraft zusammenkratzen konnte, um ihm zu sagen, dass es doch nicht die Worte waren, die er ändern sollte, sondern die verdammte Einstellung, sprach er schon weiter.

„Verstehst du, Martin, ich weiß einfach nicht, wie das alles in einem Jahr aussehen wird. In zwei. Oder wann auch immer. Ich glaub auch nicht, dass du es weißt. Und … ich hab dir ja gesagt, ich hatte bis jetzt noch nie einen Freund oder einen Partner. Noch nie. Weil ich nie einen wollte. Na ja, jetzt will ich einen. Ich will dich. Und deswegen hoffe ich so sehr, dass du mir verzeihen kannst, Martin, weil ich wirklich, wirklich mit dir zusammen sein WILL. Aber das ist der einzige Grund, warum ich je mit einem Typen zusammen sein werde. Weil ich will. Nicht weil ich glaube, ich muss, wegen irgendeiner scheiß Verpflichtung, die ich vor Ewigkeiten eingegangen bin und bei der ich einfach nicht genug Eier hab, um sie zu brechen. Weil was ist denn das am Ende? Wenn zwei Leute zusammenbleiben, nur, weil sie irgendwann mal versprochen haben, einander für immer zu lieben, obwohl keiner von ihnen noch irgendwas empfindet?“

Er lachte. „Für mich ist das jedenfalls erbärmlich. Das ist das, was Heteros machen. Und das werde ich nie, NIEMALS tun.“

Wir standen voreinander, er im Raum, mit leicht gehobenen Schultern, ich an der Balkontür, Rücken und Hände dagegen gepresst. In der Stille beschlich mich der diffuse Gedanke, dass ich auf der falschen Seite der Tür stand, dass ich einen Schild vor und nicht hinter mir gebraucht hätte, um irgendwie Zuflucht zu suchen vor diesen Worten aus dem Mund des Mannes, dem ich sofort ewige Treue und Liebe geschworen hätte. Sofort.

Irgendwann brach er das Schweigen. „Na ja.” Wieder hob sich ein Mundwinkel. Sein Blick war schwer und sanft und traurig. „Ich schätze, ich geh jetzt besser. Es … Ich erwarte nicht, dass du … Natürlich brauchst du … Zeit, um das alles zu verarbeiten.“ Seine Hand fuhr über seinen Nacken. „Pass auf, ich flieg morgen nach London zurück, aber … ich kann jederzeit zurückkommen. Nimm dir einfach … alle Zeit, die du brauchst. Und dann … na ja … ruf mich einfach an.“

Einen Moment blieb er noch stehen. Aber ich sagte nichts. Ich wusste nicht, ob ich je wieder etwas würde sagen können. Ramin lächelte noch einmal. Dann wandte er sich ab. Ich hörte, wie er den Flur hinunterging und sich Schuhe und Jacke anzog. Ein paar Sekunden hallten Schritte im Treppenhaus, bevor die Tür mit einem dumpfen Laut zufiel.

 

*

 

In dieser Nacht schlief ich nicht. Mit offenen Augen lag ich im Bett, drehte mich mal auf die rechte, mal auf die linke Seite, aber meistens lag ich auf dem Rücken und starrte die dunkle Zimmerdecke an. Durch meinen Kopf hallten Fetzen von Ramins Worten, jagten sich gegenseitig und vertrieben alle Hoffnung auf Schlaf, obwohl jede Faser meines Körpers bleischwer vor Erschöpfung war.

Ich bin in dich verliebt.

Ich hab mir den nächstbesten Typen geschnappt, ihn in den Dark Room abgeschleppt und ihn gefickt.

Ich will mit dir zusammen sein.

Wir tanzen, wir trinken, und wir ficken.

Ich will dich zurück.

Ich bin jung, ich bin queer, und wenn ich ficken will, werd ichs tun. Ich weiß nicht, was ich in der Zukunft wollen werde, und es hat keinen Sinn, was zu versprechen, das ich vielleicht irgendwann gar nicht mehr halten will.

Ich WILL wirklich, wirklich mit dir zusammen sein.

Wenn zwei Leute zusammenbleiben, nur, weil sie irgendwann mal versprochen haben, einander für immer zu lieben, obwohl keiner von ihnen noch irgendwas empfindet, was ist denn das am Ende? Für mich ist das erbärmlich. Und das werde ich nie, NIEMALS tun.

Er wollte mich zurück. Er wollte keine richtige Beziehung, er wollte keine Verpflichtungen, er wollte mir nichts geben, auf das ich mich verlassen konnte. Aber er wollte mich zurück. Er wollte mich sehen, mich küssen, mit mir lachen, Sex mit mir. Er hatte mich vermisst. Er hatte sich entschuldigt. Er war zurückgekommen aus New York, hatte über Nacht alles stehen und liegen lassen, meinetwegen. Weil er eingesehen hatte, dass er einen riesengroßen Fehler gemacht hatte. Er war verliebt in mich. Ramin, der Mann, den ich liebte, hatte gesagt, dass er verliebt war in mich.

Hatte ich davon nicht geträumt, wieder und wieder in den letzten zweieinhalb Monaten, und jedes Mal ein Messer in die Brust gerammt bekommen, wenn die Realität zurückkehrte? Und jetzt war es wirklich passiert. Diesmal war es kein Traum. Er war zurückgekommen, er hatte mich angefleht, ihm zu verzeihen, und er hatte gesagt, er wolle mich zurück. Es gab doch gar keine Frage. Natürlich würde ich ihm verzeihen. Natürlich wollte ich ihn zurück.

Oder? Wollte ich mich wirklich noch einmal in ihm verlieren, obwohl er ja schon angekündigt hatte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er mich wieder fallen ließ? Obwohl er nicht mal versucht hatte, so zu tun, als würde er mir treu bleiben, obwohl er sofort zugegeben hatte, dass er weiterhin Sex mit anderen haben würde, wenn er nur wollte? Wollte ich ihn wirklich zurückhaben, obwohl ich wusste, dass es begrenzt war, dass ich ihn nur so lange behalten würde, bis er zurückwollte in seine Welt aus tanzen und trinken und ficken, in die Welt, die seine war und in der ich keinen Platz hatte? Wollte ich jedes Mal, wenn wir telefonierten oder uns sahen, Angst haben, mich fragen müssen, ob heute der Tag war, an dem er ging? Wollte ich das? Konnte ich das? War das nicht vollkommen verrückt, jetzt, wo ich wusste, wie weh es tun würde? Hieß es „Ganz oder gar nicht“, oder war ein geteilter, zeitlich begrenzter Ramin immer noch besser als gar keiner? Denn dass ich den ganzen Ramin, so, wie ich ihn haben wollte und so, wie ich ihm mich geben würde, nicht haben konnte, das hatte er ja hinreichend klargestellt.

Ich schwankte, hin und her, hilflos von den Wogen getrieben, und das Karussell drehte sich schneller und schneller in meinem Kopf. Ja oder Nein? Hoffnung oder Pragmatismus? Risiko oder Sicherheit?

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich schlug die Decke zurück, ging zum Fenster, öffnete es und sah hinaus auf die Lichter der Stadt – mein Hamburg, meinen Anker. Mein Blick schweifte über die schemenhaften Dächer. Irgendwo da draußen war er, in irgendeinem Zimmer in irgendeinem Hotel. Schlief er? Oder stand er auch am Fenster, sah ins Dunkel der Nacht und dachte an seine Worte? An mich? An uns?

Ich zitterte, wandte den Blick ab, schloss das Fenster und schlüpfte wieder unter die Decke. Vertrauen oder zweifeln? Verzeihen oder hart sein? Springen oder an Land bleiben?

Als die Schatten in meinem Zimmer von schwarz zu grau wechselten, schlug ich erneut die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Diesmal blieb ich auf der Kante sitzen, den Rücken gebeugt, die Handflächen aneinandergelegt. Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, was das Richtige war, und ich konnte es mit mir selbst nicht ausmachen. Ich brauchte Hilfe. Eine andere Stimme, eine, die die zerrenden und schreienden in meinem Kopf zum Schweigen bringen konnte. Aber mit wem konnte ich reden? Mit Finn?

Ich lachte. Ja sicher. Ihm brauchte ich damit nicht kommen, was er sagen würde, wusste ich, auch ohne ihn gefragt zu haben. Eine neue Stimme klang durch meinen Kopf. Finn steckt zu tief in dem Ganzen drin. Er ist zu voreingenommen gegen Ramin.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Selbst wenn ich Ramin nach ihrer Nummer fragte – Sierra konnte ich auch vergessen. Ihr würde ich fast nichts erklären müssen, sie würde mir zuhören und mir das Gefühl geben, in Sicherheit zu sein. Aber raten können würde sie mir nicht. Nicht, wie ich es brauchte, nicht aus meiner Perspektive. Egal, was vorgefallen war, was Ramin zu ihr gesagt hatte, sie hatte ihm verziehen, und sie war und blieb seine beste Freundin. Sie würde zwangsläufig auf seiner Seite sein. Wie könnte sie da für mich, für den Gegner, ein unabhängiger Ratgeber sein?

Nein, was ich brauchte, war jemand, der mir nahestand, der mich kannte und dem ich vertraute, jemand, der noch keine vorgefasste Meinung von Ramin hatte, dem ich die Situation schildern und der aus seiner herrlich neutralen Position das raten konnte, was aus seiner Sicht für mich am besten war. Einen Kumpel. Einen Freund. Jemanden, der mir helfen würde. Und diesen jemand – hatte ich nicht.

Oder? Ein zweites Echo, in derselben Stimme, hallte durch meinen Kopf. Ich will nicht, dass du das für irgendjemand anderen tust. Ich will, dass du es für dich tust.

Für mich. Für mich …

Meine Augen klappten auf. Mein Kopf fiel nach vorne, und beide Hände krallten sich in mein Haar. Damals, direkt nach dem Gespräch mit Sierra, hatte ich es nicht gewollt. Der Gedanke hatte mich gelähmt, mir Übelkeit verursacht. Ich hatte es nicht gewollt, und ich hatte es nicht getan, weil es keinen Sinn gehabt hätte. Keinen. Nur Angst und Scham und ein Geständnis, das ich nie wieder über die Lippen bringen wollte. Aber jetzt … war es anders. Jetzt hatte es einen Sinn. Jetzt wäre es keine Beichte, mit der einzigen Hoffnung auf Absolution, die ich von nichts und niemandem brauchte. Jetzt wäre es … immer noch eine Offenbarung. Immer noch schwer. Immer noch eine potenzielle Waffe. Aber in den Händen eines Freundes würde sie mir nicht gefährlich werden. Oder? Und außerdem war es diesmal mehr als das. Es war die Bitte um Rat. Um Hilfe. Hilfe, auf die ich angewiesen war, um die ich nicht herumkam. Ich musste – ich wollte es tun. Für mich.

Ich atmete ein. Langsam löste ich den Kopf aus den Händen, wandte mich nach rechts und griff nach meinem Smartphone. Im ersten Licht des Morgens nahm ich den Flugmodus heraus und öffnete WhatsApp. Mit dem Daumen scrollte ich zum richtigen Chat und öffnete ihn. >Hey Gidi :) Hast du heute nach dem Training Zeit? Ich muss was mit dir besprechen<

Chapter 61: For Myself

Chapter Text

  1. Kapitel: For Myself

 

„Hereinspaziert.“ Gidi grinste, zog den Schlüssel aus dem Schloss und machte einen Schritt zur Seite, damit ich vorausgehen konnte.

Ich trat in einen riesigen Raum, in den das Sonnenlicht durch eine entlang der kompletten gegenüberliegenden Wand verlaufende Fensterreihe eindrang, die direkt unter der Decke ansetzte und ungefähr auf der Höhe von Gidis Scheitel schon wieder aufhörte. Das schräg von oben einfallende Licht setzte die Möbel – schwarzes Ledersofa und -sessel mit silbernem Gestell und ein niedriger, gläserner Couchtisch, alle auf einen gigantischen Fernseher rechts von der Wohnungstür ausgerichtet – ziemlich stylisch in Szene. Links von mir schmiegte sich die ebenfalls in Schwarz und Silber gehaltene offene Küche über Eck an die Wand. Eine separate Kochinsel trennte den Bereich etwas vom Wohnzimmer ab. In der hinteren linken Ecke des Raumes stand direkt unter der Fensterreihe der Esstisch.

Ich machte einen Schritt in die Wohnung, damit Gidi auch hereinkommen konnte, und während ich mir die Schuhe auszog, ließ ich den Blick weiter von einer Seite des Raums zur anderen wandern. Gidi war schon ein paarmal bei uns zu Besuch gewesen, wenn er, Finn, Michi und ich einen Film- oder FIFA-Abend gemacht hatten, aber in seiner Wohnung war ich heute zum ersten Mal. Er hatte erzählt, dass er im Souterrain wohnte, und irgendwie hatte ich mir das immer ziemlich düster vorgestellt. Jetzt, wo ich hier war, merkte ich, wie falsch ich gelegen hatte. „Echt cool, deine Wohnung.“

„Danke. Mir gefällt’s auch gut.“ Auch Gidi hatte sich inzwischen die Schuhe ausgezogen. Mit dem Kopf machte er eine Bewegung Richtung Sofa. „Komm rein, setz dich. Willst du was trinken?“

„Ne, danke.“

Gidis Wohnung hatte mich kurz abgelenkt, aber als ich über den flauschigen weißen Teppich zum Sofa ging, zog sich mein Magen wieder zusammen. Das Training eben war die schlechteste Einheit gewesen, die ich seit Anfang Februar, bevor Sierra bei mir gewesen war, absolviert hatte. Ich hatte zwar versucht, präzise Pässe zu spielen und die richtigen Laufwege anzubieten, aber es hatte nichts gebracht. Ich hatte mich einfach nicht konzentrieren können. Das Kribbeln in meinem Bauch war von Minute zu Minute stärker geworden, und als ich mich jetzt auf Gidis Sofa setzte, war mir schlecht.

Gidi hatte derweil in der Küche hantiert und kam jetzt mit einem Glas Wasser in der Hand auf mich zu. „Du sagst Bescheid, wenn du doch was willst, ja?“

Ich nickte. Gidi ließ sich in den Sessel nieder, nahm einen Schluck und stellte das Glas mit einem Klirr auf dem Couchtisch ab. Er lehnte sich zurück, streckte seine langen Beine aus, verschränkte die Finger und sah mich an. „Also? Was gibt’s?“

Ich starrte ihn an, Hände zu Fäusten verkrampft, Zehen in den Teppich gekrallt. Tu es. Na los. Ich holte Luft und öffnete den Mund.

Stille. Eine Sekunde, zwei, drei. Meine Zunge hing in meinem Mund wie ein Stück Gummi.

„Martin?“ Gidis Augenbrauen waren leicht gehoben, und der Ansatz eines Lächelns lag auf seinen Lippen. Ich musste zum Brüllen aussehen, mitten in der Bewegung zu Stein erstarrt.

Ich schloss den Mund und stieß den Atem aus. Es ist nur Gidi. Es kann dir nichts passieren. Diesmal gehorchte meine Zunge. „Ja … also … ich …“

Gidis Augenbrauen wanderten noch weiter in die Höhe, und sein Lächeln verschwand. Ich biss mir auf die Oberlippe. Meine Finger schnellten auf und wieder zu. Für dich. Du tust es für dich. „Weißt du noch, nach der Winterpause? Als ich so scheiße drauf war?“

Seine Augenbrauen blieben oben. Er nickte.

„Also. Das war, weil … Ich … ich hatte … eine Beziehung.“ Atmen. Atmen nicht vergessen. „Vorher. Und … die war dann vorbei und … damit gings mir … nicht gut.“

Ich wartete. Aber Gidi sagte nichts. Er erwiderte nur meinen Blick, die Augenbrauen gehoben, die Finger verschränkt.

„Willst du … das nicht kommentieren oder so?“

Gidi zuckte die Schultern. „Ne. Wieso?“

„Naja … überrascht dich das nicht?“

Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Ne. Nicht wirklich.“

Mein Mund öffnete sich, aber wieder brauchte ich einen zweiten Anlauf, bis ich einen Ton herausbrachte. „Du meinst … du … du wusstet davon? Aber … ich hab doch nie was gesagt!“

Jetzt lachte er. Wahrhaftig. Ich saß hier, in seiner Wohnung, und zwang mich dazu, ihm von Ramin zu erzählen, und er lachte. „Komm schon, Martin. Erst warst du himmelhoch jauchzend und hast im Trainingslager von früh bis spät über beide Ohren gegrinst, selbst, als wir ein Testspiel nach dem anderen verloren haben. Dann warst du plötzlich aggressiv, hast im Training Leute umgetreten und im Spiel keinen Ball mehr getroffen. Nach dem Stuttgart-Spiel bist du vor allen weggerannt, und auf der Rückfahrt hast du dir die Augen ausgeheult. Ich meine, okay, du hattest scheiße gespielt, aber dass das nicht allein der Grund war, war ja wohl klar. Und dann, als du dich entschuldigt hast, hast du gemeint, du hattest privaten Stress.“ Er grinste und zuckte die Schultern. „Ich meine, glaubst du, du bist der Erste, der schon mal Liebeskummer hatte?“

Ich starrte ihn an. Wenn er doch so viel mitgekriegt hatte … so viel … dann … dann … „Du meinst … weiß es jeder?“

Gidi hob wieder die Schultern. „Also sicher weiß ichs nur von mir und Michi, weil wir drüber geredet haben. Und Finn, schätze ich mal, weil der hat immer, wenn wir versucht haben, ihn auszuquetschen, total abgeblockt. Vom Rest weiß ichs nicht. Ich meine, Michi und ich haben halt auch am genausten hingeschaut, oder? Ich schätze, den anderen wars einfach nicht so wichtig. Aber es wäre ja auch nicht so tragisch, oder? Ich meine, ne Beziehungskrise hat ja jeder mal.“

Ich presste die Lippen aufeinander. Meine Hände krallten sich ineinander. Jetzt. Tu es. Sag es.

„Ja.“ Ich sprach langsam. Jedes Wort war eine Hürde. „Da hast du recht. Aber … ich … Bei mir wars … ein bisschen anders.“ Ich atmete ein. Wieder aus. Meine Augen klebten an Gidis. Nicht wegschauen. Nicht aufhören. Weiter. „Ich war … Ich hatte … keine Freundin.“ Ich schluckte und fühlte jeden Muskel arbeiten. Jetzt brings nach Hause. Du bist schon so weit gekommen. „Ich war mit einem Mann zusammen. Ich bin schwul, Gidi.“

Mund zu. Atmen. Geschafft. Geschafft.

Gidi sah mir immer noch in die Augen. Sein Grinsen war verschwunden, die erhobenen Augenbrauen auch. Jetzt waren es seine Lippen, die geöffnet waren. Die Stille wurde nur gebrochen durch das metallische Ticken seiner Armbanduhr. Eine Sekunde, zwei, drei, vier, fünf. Sechs, sieben, acht.

Bei neun schloss Gidi die Augen, und sein Bauch hob sich, als er einatmete. „Scheiße.“ Seine Stimme war leiser als das Ticken der Uhr. Er riss die Augen auf. „Deswegen. Deswegen hast du nie was gesagt, deswegen hast du nicht mit uns geredet, deswegen …“ Er sog die Luft ein, und da war der Hauch eines Kopfschüttelns. „Das macht Sinn. Das macht so viel Sinn.“

Schweigend sahen wir uns an. Mein Körper war zum Zerreißen gespannt. Was dachte er? Was würde er sagen? Was würde er tun, verdammt?

Einen Moment starrte er mich noch an. Dann legte er den Kopf in den Nacken und raufte sich mit beiden Händen die Haare. „Mann, warum sind wir da nicht draufgekommen? Michi und ich, wir saßen da und haben stundenlang überlegt! Wir haben gesagt, warum sagt er denn nichts, warum frisst er das denn in sich rein, warum kotzt er sich nicht mal aus – Scheiße. Wir dachten sogar, vielleicht geht’s ja um die Freundin von einem der anderen Jungs, aber das … Scheiße.“

Er schüttelte den Kopf, und seine Ellbogen schwankten von einer Seite zur anderen. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen.

Ich saß steif auf dem Sofa. In meiner Kehle schmeckte ich einen Rest Übelkeit. Aber gleichzeitig spürte ich, irgendwo tief in mir drin, den verrückten Drang, zu lachen. „Na ja.“ Meine Mundwinkel zuckten. Was ist los mit dir? „Dann wird ja wohl hoffentlich zumindest das auch keiner von den anderen erraten haben.“

Wieder schwankten beide Arme mit, als Gidi den Kopf schüttelte. „Ne.“ Dann ließ er endlich seine Haare los und glitt mit beiden Händen seinen Hals entlang hinab, bis sie vor seiner Brust zusammenschnappten. „Mein Gott, Martin. Es tut mir so leid.“

Ich blinzelte. „Was?“

„Dass wir so blöd waren!“ Er stützte das Kinn auf die Fingerspitzen und sah mich von unten herauf an. „Wir haben so lange rumüberlegt. So lange. Aber darauf … darauf sind wir nicht gekommen. Dabei ist es so offensichtlich, jetzt, wo du‘s sagst! Ich meine, ist ja klar, dass du das nicht an die große Glocke hängen würdest. Aber … Scheiße. Und da denkt man immer, man hat keine Vorurteile.“

Er lachte. Aber nicht, als ob er es lustig fände. Immer noch schaute er von unten zu mir hinauf, und plötzlich sah er nervös aus.

Mir hing schon wieder der Mund offen. Auch ich schüttelte jetzt den Kopf, um die Lähmung nach seinem Es-tut-mir-leid-Satz zu vertreiben, und brachte selber ein Lachen zustande, wenn es auch etwas holprig war. „Ach was, Gidi, das – das braucht dir doch nicht leidtun.“ Ein wackliges Grinsen schloss sich an das Lachen an. „Ist mir doch viel lieber, wenn da keiner draufkommt.“

„Ja, aber –“ Gidi richtete sich auf und gestikulierte, als hoffte er, das, was er sagen wollte, aus der Luft greifen zu können. Dann atmete er aus und ließ sich in den Sessel zurückfallen. „Ist ja auch egal. Wer weiß es denn sonst noch? Finn bestimmt, oder?“

Ich nickte. „Sonst niemand. Na ja, außer … er eben.“

„Dein … Freund?“ Gidis Stimme klang unsicher, aber er lächelte, und er schaute nicht weg. „Wer ist es denn?“ Sein Gesichtsausdruck wechselte schneller als eine Ampel ihre Farbe. „Aber keiner aus der Mannschaft, oder?“

„Ne, ne!“ Diesmal war mein Lachen echt. „Jemand ganz anderes. Du hast ihn sogar einmal gesehen. Weißt du noch, nach dem BVB-Spiel? Draußen am Parkplatz?“

Er runzelte die Stirn. „Ja, jetzt wo du‘s sagst … Irgendwer aus England oder so?“

„Genau. Ramin heißt er.“

Ein Kribbeln schoss von meiner Zunge bis zu den Zehenspitzen, als ich seinen Namen sagte. Es fühlte sich gut an. Überraschend gut. Warm und wohlig und aufregend. Fast gar nicht bitter, oder schneidend, oder schwer. Meine Mundwinkel wanderten nach oben.

„Richtig. Ja.“ Auch Gidi lächelte. „Und ihr seid … oder ihr wart … zusammen?“

Mit einem Schlag rutschte mir das Lächeln vom Gesicht. Ich schaute auf meine Hände, die auf meinen Oberschenkeln gegeneinandergepresst waren. „Ja. Wir waren zusammen. Dann … dann haben wir uns getrennt und … jetzt ist er zurückgekommen und … Ach, keine Ahnung.“ Ich fiel zurück in die Sofalehne, und meine Augen huschten ziellos durch den Raum. „Das ist jedenfalls der Punkt. Deswegen wollte ich mit dir reden. Weil er jetzt eben wieder da ist und … ich nicht weiß, was ich machen soll.“ Ich sah ihn an. Mein Magen krampfte sich wieder zusammen.

Aber diesmal ließ Gidi mich nicht warten. „Dann erzähl.“ Seine Stimme war fest, sein Blick offen.

Die Bitterkeit in mir wurde weggespült von einer Wärme, die nichts mit Ramin und alles mit Gidi zu tun hatte. Der Hauch Nervosität und Unsicherheit, der immer noch von ihm ausging, war mir egal. Wenn ich hetero wäre und er schwul, wie hätte ich wohl auf ein Outing von ihm reagiert? Er hatte mich nicht weggestoßen, er hatte sich nicht von mir abgewendet. Er konnte dein Freund sagen, und er wollte hören, was ich von Ramin zu erzählen hatte. Er war mein Freund. Er blieb mein Freund.

Das Lächeln kostete mich keine Mühe. Auch ich streckte die Füße unter den Couchtisch und begann, zu erzählen. Ich fing am Anfang an: Wie ich Ramin in der „Love-Never-Dies“-Vorstellung am Ende der Sommerpause zum ersten Mal gesehen hatte und ihm sofort verfallen war. Wie er mich danach abgepasst und mitgenommen hatte. Wie ich ihm am nächsten Morgen gesagt hatte, wer ich war, obwohl ich da noch geglaubt hatte, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Wie ich Finn von ihm erzählt hatte und der von Anfang an gegen ihn gewesen war. Wie er mich trotz allem einfach nicht losgelassen hatte, wie ich schließlich nach dem Telekom-Cup zurück zu ihm nach London geflogen war und wie wir uns die ganze Hinrunde immer wieder gegenseitig besucht hatten. Und dann, wie wir am Abend vor Weihnachten zusammen auf den Ball gegangen waren.

Gidi hatte mir ohne Unterbrechung zugehört, aber jetzt runzelte er die Stirn. „Ein richtig großer Ball mit ewig vielen Gästen? War das nicht sehr riskant?“

Ich grinste. „Schon, ja. Deswegen bin ich auch verkleidet hingegangen.“

„Bitte was?“ Lachend lehnte Gidi sich nach vorne. „Als Frau oder wie?“

„Quatsch!“ Ich lachte auch. „Ich konnte ja so schon kaum tanzen, und dann noch Schuhe mit Absatz? Ne, ne. Mit Perücke und Brille, das hat gereicht. Ich meine, das war ja jetzt kein Nationalmannschaftslehrgang in Deutschland, sondern ein Tanzball in London. Und ich bin auch nicht grade Cristiano Ronaldo. Mit blonden Haaren und Brille hat mich da keiner erkannt. Und wahrscheinlich hätte mich auch so keiner erkannt. Aber ohne wär ich nicht gegangen. Das hätte ich mich nicht getraut.“

„Kann ich verstehen. Und wo hattest du das Zeug her?“

„Das hat Ramin organisiert. Er hat versprochen, er denkt sich was aus, und das war dann seine Lösung.“

„Cool.“ Gidi grinste. „Hat natürlich Vorteile, wenn man direkten Zugang zu Theaterkostümen hat, schätze ich.“

„Ja …“ Ich ließ den Blick über den Fernseher schweifen. „Gefallen hat ihm das aber nicht. Also, dass ich überhaupt nur so hin bin“, ergänzte ich auf Gidis fragenden Blick. „Wenn’s nach ihm gegangen wäre, dann wüssten längst alle, dass ich schwul bin, Fußballer hin oder her. Da hatten wir gleich am ersten Morgen eine Diskussion drüber. Dass ich nicht geoutet bin, hat ihm gar nicht gepasst. Er meinte, man sollte einfach sein, wer man ist, egal, was andere denken. Dass es scheiße ist, sich zu verstecken, bloß weil man Angst vor der Reaktion von anderen hat. Dass das feige ist. Und schwach.“

Weak. Weak and pathetic. Ich starrte auf den Couchtisch hinunter.

„Puh. Harte Worte.“ Ich schaute hoch und sah Gidi mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn kneten. „Aber sein, wer man ist, egal, was andere denken … Also in den Grundzügen ist da schon was dran, finde ich.“

Er blinzelte, sah mich an und riss alarmiert die Augen auf. „Hey, das heißt nicht, dass ich finde, dass du dich outen müsstest oder so! Da würden ja schon echt krasse Folgen dranhängen, oder? Es muss ja schließlich Gründe geben, warum‘s noch nie einer gemacht hat. Und wenn du’s doch tun würdest, dann ja wohl nur, weil‘s deine Entscheidung ist. Nicht seine. Und das Recht, dich zu beleidigen, hat er sowieso auf keinen Fall.“

Ich atmete aus und nickte.

Gidi machte wieder ein nachdenkliches Gesicht. „Aber ich kann schon verstehen, dass ihn das manchmal genervt hat. Wenn ihr zusammen seid, dann schränkt ihn das ja auch mit ein. Also er kann dich ja dann in der Öffentlichkeit nicht küssen und so. Und nach dem, was du von ihm erzählt hast, schätze ich, dass er das sonst schon eher mal macht, oder?“

„Vergiss küssen.“ Wieder starrte ich den Couchtisch an. „Der macht noch ganz andere Sachen in der Öffentlichkeit. Also halt in Klubs und so.“

„Ooookay …“ Gidis Augenbrauen waren wieder nach oben gewandert. „Habt ihr euch deswegen getrennt? Weil er wollte, dass du dich outest, und du wolltest nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ne. Eigentlich nicht. Na ja, im Januar hat er schon so was gesagt, aber gestern …“

Ich dachte zurück. Das Nicht-Geoutet-Sein, das Verstecken, die Lügen, was Ramin immer gestört hatte, von Anfang an, worüber wir immer wieder geredet, diskutiert und sogar gestritten hatten – das alles hatte er gestern mit keinem Wort erwähnt. Und ich hatte natürlich nicht daran gedacht. Es war gewesen, als wäre das überhaupt kein Thema zwischen uns. Komisch. Es war mir bisher nicht aufgefallen, aber jetzt, wo Gidi fragte, klaffte es plötzlich als riesengroße Lücke in unserer Konfrontation gestern. Warum hatte Ramin das ignoriert? War es ihm plötzlich egal? Mister I’m queer, I take it up the ass, and if you don’t like it, you can suck my dick? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Aber warum sonst hatte er das Thema so komplett umschifft, es einfach weggelassen?

Ich blinzelte, sah Gidi vor mir sitzen und schüttelte den Kopf. Das musste ich später analysieren. „Ach egal. Jedenfalls, direkt nach dem Wintertrainingslager, am Morgen, nachdem wir zurückgekommen sind, stand er dann plötzlich vor der Tür. Und erst hab ich mich total gefreut. Aber dann … hat er angefangen zu reden.“

Ich zwang mich dazu, Ramins Worte zu wiederholen. Jedes einzelne fühlte sich an, als wollte es in meiner Kehle steckenbleiben, auch jetzt noch, auch, nachdem er geschworen hatte, dass er sie nicht so gemeint hatte. Aber wenn ich einen brauchbaren Rat von Gidi wollte, musste ich ihm die Fakten geben. Alle Fakten.

Gidi hörte mir schweigend zu. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden, aber er unterbrach mich nicht. Erst, als ich innehielt, nachdem ich erzählt hatte, wie Ramin im Treppenhaus verschwunden war, sprach er. „Jetzt wunder ich mich nicht mehr drüber, wie du danach drauf warst. Meine Fresse. Was für ein Arschloch.“

Ich schluckte. „Tja. Hab ich damals auch gedacht. Und dann hab ich nichts mehr von ihm gehört, gar nichts. Bis Donnerstag. Da war er dann beim Training.“

Gidi starrte. „Beim Training?“

„Bei den Fans.“ Ich lachte. „Als ich ihn erkannt hab, wär ich fast schreiend weggerannt.“

Ich erzählte, was Ramin gesagt hatte, wie ich dann wirklich einfach geflohen war und wie ich danach mit Finn gesprochen hatte, der sofort gesagt hatte, ich solle ja die Finger von ihm lassen. Wie ich das einfach nicht über mich gebracht und ihn angerufen hatte. Dass er beim Hannover-Spiel dabei gewesen war und dass ich ihm danach geschrieben hatte, dass er am Sonntag zu mir kommen konnte.

„Wusst ichs doch!“ Jetzt grinste Gidi wieder. „So wie du in Hannover die ganze Zeit auf die Tribüne gestarrt hast, ich wusste, dass du nach jemandem gesucht hast!“ Er schüttelte den Kopf. „Ramin hat dich echt durch die ganze Saison begleitet, oder? Der war immer da, in deinem Kopf. Wir wussten nur nichts davon. Sag mal …“ Seine Augen verengten sich, und er lehnte sich nach vorne und richtete den Zeigefinger auf mich. „Im Sommertrainingslager! Weißt du noch? Wo wir auf einem Zimmer waren. Die eine Nacht, wo du …“

Sommertrainingslager. Anfang Juli letztes Jahr, noch vor meinem zweiten Besuch bei Ramin, als ich noch verzweifelt versucht hatte, ihn zu vergessen. Was natürlich überhaupt nicht geklappt hatte. Wie ich ihn immer wieder vor mir gesehen hatte. Auch nachts. Und Gidi …

Schlagartig brannte mein Gesicht. Das hätte ich jetzt mehr aufgeworfen, Fakten hin, Fakten her.

Gidi grinste noch breiter. „Das war auch er!“

Ich hob die Hände und ließ sie wieder fallen. Bestätigen musste ich Gidi das nicht. Er wusste ja sowieso Bescheid.

„Scheiße.“ Gidi schüttelte den Kopf. Sein Grinsen war verschwunden. „Und ich hab wieder nur von sie geredet. Scheiße.“

Es war einen Moment still. Gidis Augen blickten ins Leere.

„Na ja.“ So aus dem Nichts hörte meine Stimme sich unnatürlich laut an. Ich redete schnell weiter. „Jedenfalls ist er dann gestern Nachmittag da gewesen. Und hat erzählt. Warum er gegangen ist.“

Ich berichtete alles, was Ramin gesagt hatte. Nur den Teil mit Sierra ließ ich aus. Das war eine Sache zwischen den beiden. Ich redete eine ganze Weile, und als ich fertig war, sagte Gidi erst mal gar nichts. Er sah mich an, die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt. Seine Augenbrauen waren wieder leicht gehoben. Er sah aus, als ob er nicht wusste, ob er sich amüsieren oder aufregen sollte.

„Wow.“ Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Wow. Er lässt dich sitzen, macht dich runter, ist drei Monate weg, und dann – wow.“ Er verschränkte die Hände über dem Kopf und lachte wieder. „Da hast du dir echt einen rausgesucht, Martin. Wahnsinn.“

Mein Mundwinkel zuckte, aber richtig erwidern konnte ich Gidis Lachen nicht. Durch meinen Kopf klang der Nachhall meiner Erzählung. „Deswegen weiß ich auch nicht, was ich jetzt machen soll. Ich meine, er hat sich entschuldigt, und so wie er‘s erzählt hat, glaube ich auch, dass es ihm wirklich leid tut … aber …“

Meine Augen zuckten von Gidis weg. Ich stieß die Luft aus und presste die Lippen aufeinander. „Aber ich hab halt Angst vor der nächsten Trennung. Wenn ich jetzt sage, ich will ihn zurück, dann ist es ja nur eine Frage der Zeit, bis er wieder geht. Bis er mich wieder sitzen lässt. Das hat er ja selbst gesagt. Und das …“ Ich schüttelte den Kopf. Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Das kann ich nicht noch mal. Da kann ich nicht noch mal durch, das … Ich meine, du hast ja gesehen, wie ich da war.“

Mein Blick rutschte wieder zu Gidi. Auf meinen Oberschenkeln ballten sich meine Hände zu Fäusten. „Ich meine, dass er das schon ankündigt! Er stellt sich hin und entschuldigt sich und sagt, er liebt mich, aber gleichzeitig gibt er sich einen Freifahrtschein fürs nächste Mal, wenn er keinen Bock mehr hat! Ich meine, kann er nicht wenigstens so TUN, als würde er‘s ernst meinen? Kann er’s nicht wenigstens VERSUCHEN? Ich meine, er kann doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich ihm jetzt jubelnd um den Hals falle, oder?“

Gidi betrachtete mich mit schiefgelegtem Kopf. Seine Fingerspitzen trommelten lautlos auf den ledernen Armlehnen. „Du findest, das war ein Freifahrtschein?“

Ungläubig sah ich ihn an. „Was wars denn wohl sonst?“

„Ehrlich.“ Er lächelte. „Schau Martin, ich kann verstehen, dass du sauer bist. Und das klingt ja wirklich so, als wär‘s quasi ein Vorgriff auf das nächste Ende. Aber meinst du nicht, das hat er gewusst? Meinst du nicht, er wusste, dass dich das treffen würde, wenn er das so deutlich sagt, und dass du ihn viel wahrscheinlicher zurücknehmen würdest, wenn er einfach so tut, als wär‘s ganz sicher für immer? Und trotzdem hat er’s gesagt.“

Gidis Lippen verzogen sich zu einem, unverkennbar, anerkennenden Lächeln. „Ich meine, wäre es dir wirklich lieber gewesen, wenn er dir gesagt hätte, er liebt dich bis in alle Ewigkeit, obwohl er sich gar nicht sicher ist? Wenn er wirklich nur so getan hätte, weil du das gerne glauben willst? Ernsthaft?“

„Aber …“ Ich starrte ihn an. „Warte. Stopp. Du meinst, ich soll ihm jetzt noch dankbar sein, oder was?“

„Für Ehrlichkeit?“ Gidi hob die Schultern. „Warum nicht?“

Mir blieb die Luft weg. Gidi sah mich einen Moment an, dann atmete er aus und beugte sich im Sessel nach vorne. „Martin, sieh’s doch mal so: Ramin hat gesagt, er ist in dich verliebt und er will dich zurückhaben. Und –“

„Ja, aber –“

„Und das ist ihm offenbar so wichtig“ – Gidi hob die Hand und sprach mit erhobener Stimme weiter – „DU bist ihm offenbar so wichtig, dass er diesmal von Anfang an komplett ehrlich mit dir sein will. Damit er dir auf keinen Fall noch mal so wehtut. Und deswegen hat er auch gesagt, noch bevor er überhaupt wusste, ob du ihm verzeihst oder nicht, dass er nicht weiß, ob das für immer halten wird. Dass er dich jetzt liebt, aber dass er nicht versprechen kann, dass das immer so sein wird. So war’s doch, oder?“

„Ja“, grollte ich, „und deswegen –“

„Das ist doch kein Freifahrtschein!“ Gidis Augen waren weit aufgerissen, und er klang, als könne er nicht fassen, wie blöd ich mich anstellte. „Das ist halt die Wahrheit! Das ist in jeder Beziehung so! Nur tun die Leute normalerweise so, als wüssten sie’s nicht.“

Er lachte und schüttelte den Kopf. „Martin – so wie du das erzählst, finde ich überhaupt nicht, dass das so klingt, als wärst du ihm nicht wichtig oder als würde er dich von Anfang an nur als – keine Ahnung, als Partner auf Zeit sehen, oder so. Im Gegenteil. So wie du das erzählst, hat er sich wirklich bemüht, komplett ehrlich mit dir zu sein. Komplett. Und das ist schon krass, weil das macht fast so gut wie niemand am Anfang einer Beziehung, und ich wette, das ist ihm nicht so leichtgefallen. Ich wette, er wusste, dass er damit die Gefahr, dass du ihn nicht zurücknimmst, krass erhöht, obwohl er das doch unbedingt will. Schau her, dass er das gesagt hat, heißt doch nicht, dass es sicher ist, dass er dich irgendwann wieder verlässt. Sondern nur, dass es passieren KANN, weil er nicht weiß, wie sich seine Gefühle entwickeln. Und das KANN er auch gar nicht wissen, das kann nämlich niemand. Aber dass er das extra gesagt hat, zeigt doch, wie wichtig du ihm bist. Und dass er alles dafür tun will, dass er dir nicht noch mal wehtut. Ich meine, wenn er dich jetzt einfach nur so zurückgewollt hätte, du ihm aber eigentlich egal wärst, hätte er dir doch einfach das gesagt, was er meinte, das du hören willst, oder? Dann hätte er sich den Teil sparen können. Weil er wusste ganz sicher, dass das seine Chancen, dass du ihm verzeihst, nicht erhöht. Aber er hat’s trotzdem gesagt. Für dich. Damit du weißt, worauf du dich einlässt.“

Seinen Augen strahlten vor Überzeugung. In meinem Kopf wirbelte das Karussell. Ich öffnete den Mund, holte Luft, presste die Augenlider aufeinander und schüttelte den Kopf. „Aber … das stimmt doch nicht. Dass das keiner weiß, mit den Gefühlen. Ich meine, ich weiß, dass ich ihn liebe! Und die ganzen Leute, die ständig heiraten, die –“

„– lassen sich dann wieder scheiden. Natürlich nicht alle“, fügte Gidi hinzu, als ich zum Widersprechen ansetzte. „Viele Beziehungen halten, das will ich ja gar nicht sagen. Aber viele eben auch nicht. Und wirklich wissen kann das vorher keiner. Ich meine, als ich meine erste Freundin hatte, da war ich noch in der Schule, da hat sie schlussgemacht. Und bei der danach hab ich dann schlussgemacht. Aber bei beiden dachte ich am Anfang auch, ich bin super verliebt und will nie jemand anders. Da hab ich auch noch nicht ans Ende gedacht. Aber es kam dann halt trotzdem irgendwann.“

Er hob die Schultern. „Und ich glaube, dass du das auch nicht sicher wissen kannst. Nicht hundertprozentig. Ich meine, stell dir vor, du triffst irgendwann einen, der ist gutaussehend und sportlich und nett und so alt wie du und wohnt vielleicht noch in Hamburg. Kannst du da echt sicher sein, dass du dich dann nicht neu verliebst? Ich meine, so wie ich das sehe, bleibt das mit Ramin auf jeden Fall eine Fernbeziehung, und er ist – wie viele Jahre noch mal älter als du?“

„Acht“, murmelte ich.

„Siehst du. Und das wird er immer bleiben. Jetzt bist du zwanzig und er achtundzwanzig, da ist das vielleicht noch nicht so wichtig, aber wie ist das, wenn du dreißig bist und er fast vierzig? Oder dann irgendwann noch älter? Kannst du dir da echt sicher sein, dass er’s dann immer noch ist für dich?“

Ich schwieg. Gidis Armbanduhr tickte. Langsam, ohne ihn anzusehen, hob ich die Schultern. Mein Bauch schrie Ja!, aber in meinen Kopf hatten Gidis Worte einen kleinen, nagenden Zweifel gesetzt. Konnte ich mir wirklich ganz und gar, hundertprozentig sicher sein, dass sich meine Gefühle nie ändern würden? Und wenn ich es nicht konnte – konnte ich dann Ramin vorwerfen, dass er es auch nicht konnte? War seine Warnung an mich dann, wie Gidi gesagt hatte, überhaupt kein Freifahrtschein? Sondern ein Beweis, wie wichtig ich ihm war?

„Ich weiß halt nur nicht“, murmelte ich und sah Gidi immer noch nicht an, „wie lange er das durchhält. Also das mit mir. Es wär ja auf jeden Fall wieder eine Fernbeziehung, wie du gesagt hast. Und … na ja … wenn wir uns nur alle paar Wochen mal sehen …“

Ich holte Luft. Meine Hände ballten sich wieder zu Fäusten. „Er hat halt schon eigentlich ständig Sex. Mit allen möglichen Leuten. Und er hat gesagt, dass er das weiter machen wird, wenn er will. Er hat zwar auch gesagt, dass er das jetzt gerade nicht mehr wollte, aber wenn er‘s dann wieder will, wird er’s auch tun. Und dann … dann … dann will er mich dann vielleicht irgendwann nicht mehr. Vielleicht wird’s ihm dann irgendwann zu blöd, ständig nach Hamburg zu kommen und so. Und ich hab halt Angst, dass das total schnell geht. Also nur ein paar Wochen oder so. Und ich weiß nicht, ob es das dann wert ist.“

Meine Augen brannten. Ich blinzelte.

„Aber das mit euch“, kam Gidis leise Stimme von rechts, „das ist doch mehr als Sex, oder?“

Ich schluckte. Meine Finger zitterten. Ich krallte sie in meine Oberschenkel. „Ja. Schon. Hat er gesagt. Jetzt gerade. Und er hat auch gesagt, dass das mit den anderen mit uns beiden nichts zu tun hat. Aber … wenn er dann damit wieder anfängt … vielleicht reicht ihm das dann irgendwann wieder.“ Jetzt fing auch meine Oberlippe an zu zittern. Ich grub kurz die Zähne hinein. „Nur für den Sex braucht er mich ja dann nicht mehr.“

Ich spürte Gidis Blick, aber ich konnte nicht zu ihm hochschauen. Jeder Nerv meines Körpers war darin verbissen, nicht die Fassung zu verlieren.

„Martin … Ich glaube, da musst du ihm vertrauen.“

Mein Kopf ruckte hoch. Gidi saß zurückgelehnt im Sessel, der Blick aus seinen dunklen Augen warm. „Er sagt doch, er liebt dich, oder? Warum würde er das sagen, wenn es nicht wahr ist? Wenn es ihm nur um Sex gehen würde, könnte er das doch auch woanders kriegen. Auch jetzt schon. Dafür würde er dich auch jetzt schon nicht brauchen. Und selbst wenn er dann wirklich irgendwann wieder anfängt, auch mit anderen Sex zu haben … Wäre das für dich echt so schlimm? Ich meine, wenn er … das gern macht und ihr seht euch nicht so oft, dann soll er das halt machen, wenn er in London ist. Das würdest du ja nicht mal mitkriegen. Das heißt ja dann nicht, dass er dich nicht mehr liebt.“ Er legte den Kopf schief. „Hat er das denn gar nicht gemacht, als ihr in der Hinrunde zusammen wart?“

Ich presste die Lippen aufeinander. Die ehrliche Antwort auf diese Frage zu geben, war wahnsinnig schwer. „Doch. Hat er. Hat er mir auch gesagt. Und du hast recht, zwischen uns wars trotzdem mehr als Sex, aber …“ Ich biss mir auf die Oberlippe. „Es ist halt … nicht das, was ich mir unter einer Beziehung vorstelle.“

Gidi hob wieder die Augenbrauen. „Tja. Kann ich verstehen. Aber ich schätze, du musst dir überlegen, ob er dir das wert ist. Ob du das schlucken kannst, damit ihr zusammen sein könnt. Immerhin schluckt er dafür auch Sachen für dich.“

Ich starrte Gidi an. „Bitte? Was denn? Was ist denn bitte damit vergleichbar, dass ich nachts wachliege und mir vorstellen muss, wie er in London einen anderen im Bett hat und irgendwann eines Morgens aufwacht und feststellt, dass es ihm eigentlich zu blöd ist, nur für Sachen, die er auch zu Hause kriegen kann, ständig nach Hamburg zu gondeln?“

Gidi zuckte die Schultern. „Sex ist ja offensichtlich für ihn nicht gleich Liebe. Das hatten wir doch schon. Was das angeht, musst du ihm halt vertrauen, dass er das weiterhin trennen kann. Da scheint er ja durchaus Übung drin zu haben.“ Er grinste. „Und für ihn genauso schlimm ist vielleicht, dass du nicht geoutet bist, hm?“

Meine Kinnlade fiel wieder nach unten.

Gidi lachte. „Schon klar, das trifft ihn auf eine ganz andere Art. Aber du kannst wetten, dass es ihn trifft. Ich meine, wenn ich mir vorstelle, ich könnte meine Freundin in der Öffentlichkeit nicht küssen oder mit ihr Hand in Hand an der Alster spazieren gehen oder nicht mal meinen Freunden und meiner Familie von ihr erzählen und so … Das sind schon auch Einschränkungen, Martin. Das wird ihm schon auch wehtun. Weil am Ende heißt das nämlich, dass er ganz oft lügen und sich verstellen muss. Und so, wie du von ihm erzählt hast, ist das sonst glaub ich nicht so sein Ding.“

Er sah mich an. Ich schwieg.

„Siehst du. Das ist für ihn genauso ein Opfer wie für dich sein Sexleben. Und ich will damit nicht sagen, dass du dich outen solltest, weil das ist nämlich deine Sache und geht ihn am Ende nur so weit was an, wie du das zulässt. Aber das ist mit seinem Sexleben genau das Gleiche, nur umgekehrt. Wenn ihr euch wirklich wichtig seid, dann muss er akzeptieren, dass du dich nicht outen willst, und du musst akzeptieren, dass er nicht gerne allein ins Bett geht, und ihm vertrauen, dass das für ihn was anderes ist als seine Beziehung mit dir. So einfach ist das.“ Er zuckte die Schultern.

Mir war schwindelig. „Einfach“ war so ziemlich das letzte Wort, das mir zu all dem eingefallen wäre. Alles in mir rebellierte gegen Gidis Worte, und ich wollte ihn anschreien, dass er keine Ahnung hatte, dass man das ja wohl überhaupt nicht miteinander vergleichen konnte. Aber ich tat es nicht. Der Zweifel, den Gidi vorhin schon in meinen Kopf gesetzt hatte, nagte weiter, schneller als zuvor. Dass es für Ramin ein Opfer war, dass ich nicht geoutet war, dass er sich mit mir verstecken müsste …

Ich biss mir auf die Lippe. Das stimmte. Ich wusste, dass das stimmte. Ich wusste, wie schwer das für ihn war. Und auf einen Schlag ging mir auf, dass das der Grund sein könnte, warum er es gestern nicht angesprochen hatte. Weil er wusste, wie sensibel das Thema für mich war, weil er mir das nicht noch mal vorwerfen wollte, weil er wusste, dass er sich da nach seinen Worten im Januar auf sehr dünnem Eis bewegte. Weil er jetzt bereit war, dieses Opfer für mich zu bringen. Sich da auf mich einzustellen.

„Du … du meinst also …“ Ich sprach langsam. Es fühlte sich an, als müsste ich jedes Wort erst mühsam aus einem prallvollen Sack herauskramen, bevor ich es verwenden konnte. „Du meinst also, ich soll ihn zurücknehmen?“

Gidi riss die Augen auf. „Nene, Martin! So einfach ist das nicht. Das kannst nun wirklich nur du entscheiden.“

„Aber du hast doch gesagt, ich soll akzeptieren, dass –“

Wenn ihr euch wirklich wichtig seid, hab ich gesagt. Wenn du wirklich mit ihm zusammen sein willst, musst du akzeptieren, dass er halt auch Sachen macht, die dir nicht so gefallen. Und umgekehrt. Das ist übrigens wieder in jeder Beziehung so, ganz egal, wie das dann genau aussieht. Aber der Punkt ist halt, ob du ihm trotzdem vertrauen kannst. Ob du trotzdem mit ihm zusammen sein willst. Ob du ihn trotzdem liebst, schätze ich. Und das musst du entscheiden. Da bin ich raus, sorry.“

Ich presste die Augenlider aufeinander. Mein Kopf fühlte sich an, als müsste er gleich platzen. „Aber – aber wenn er mich dann wieder sitzenlässt, dann –“

„Das ist doch auch egal!“ Gidi schüttelte den Kopf. „Martin, wenn du jetzt Nein sagst, weil du Angst hast, dass er dich sonst vielleicht wieder verlässt, dann ziehst du dir den ganzen Trennungsscheiß doch nur von einem Zeitpunkt, der vielleicht irgendwann in der Zukunft mal kommt, ins Hier und Jetzt und Ganz Sicher in der Gegenwart! Weil das würde dir doch jetzt genauso wehtun, oder? Wenn du ihm jetzt sagst, das wars?“

Ich sah ihn an. Ich konnte nichts sagen. Aber mein Schweigen schien Gidi Antwort genug.

„Eben. Deswegen sag jetzt nicht Nein, weil du Angst hast vor dem, was vielleicht kommt. Ich meine, stell dir vor, du machst das, obwohl du ihn eigentlich doch noch willst. Klar hast du dann jetzt vielleicht mehr Sicherheit. Aber würdest du dich nicht ständig fragen, was gewesen wäre, wenn du Ja gesagt hättest? Weil du kannst ja nicht sicher wissen, dass ihr euch noch mal trennt. Vielleicht hält’s ja. Keiner weiß es.“

Er lächelte und hob die Schultern. „Die Frage ist, willst du, dass es die Chance noch gibt, oder machst du’s lieber jetzt gleich kaputt, damit du dir sicher sein kannst? Weil die Sicherheit … die gibt’s halt nur in die eine Richtung. Die andere ist immer Risiko. Die Frage ist, ob Ramin dir das wert ist.“

Wir sahen uns an. Nur das Ticken von Gidis Uhr war zu hören.

„Na ja.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das sofort wieder verschwand, und er blinzelte. „Also … gibt’s noch was? Oder … war’s das, sozusagen?“

„Ne. Das war’s.“ Ich bewegte den Nacken und zuckte zusammen, als ein Stich durch meinen Rücken fuhr. „Ich, äh … muss da jetzt erst mal drüber nachdenken.“

„Klar.“ Gidi lächelte. Seine rechte Hand knetete die Finger seiner linken. „Wenn du noch mal reden willst, dann … meld dich einfach, okay?“

Ich sah ihn an, holte Luft und nickte. „Ja. Mach ich. Danke.“

„Kein Ding.“ Er zögerte. „Wollen wir … noch ne Runde zocken oder so? Oder … willst du lieber allein sein? Wär kein Problem, ehrlich, ich –“

„Ne!“ Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin und fing meine Unterlippe zwischen den Zähnen ein, als der nächste Stich durch mich hindurchfuhr. Meine Güte, war ich verkrampft gewesen. „Zocken klingt super.“

Gidi strahlte und sprang auf. „Cool! Dann kriegst du jetzt erst mal was zu trinken, und dann zocken wir. Du kannst auch den HSV kriegen, ich nehm dann die Bayern.“

„Verräter!“ Ich lachte. Auf einmal war es total einfach. Aber als Gidi mit einem Glas Wasser an den Tisch zurückkehrte, wurde ich noch mal ernst. „Gidi – sag Michi bitte nicht, dass ich schwul bin, okay? Und alles, was ich dir erzählt hab. Nur weil du vorhin meintest, dass ihr über mich geredet habt.“

„Natürlich nicht!“ Gidis Augen waren weit aufgerissen. „Niemals, Martin! Wir hatten uns eh schon damit abgefunden, dass wir’s halt nie genauer erfahren werden.“ Er lächelte, plötzlich wieder etwas schüchtern. „Aber danke, dass du’s mir gesagt hast. Weiß ich zu schätzen. Ehrlich.“

„Ich danke dir. Fürs Zuhören. Für deine Sicht. Deine Meinung.“

„Da nicht für.“

Einen Moment sahen wir uns an. Dann hob Gidi die Hand und klopfte mir auf die Schulter, irgendwas zwischen Schlagen und Streichen. Er stand auf, kniete sich vor den Fernseher, öffnete eine Klappe der Kommode darunter, zog FIFA heraus und legte das Spiel ein.

 

*

 

Die restliche Woche trainierte ich besser als am Montag, aber immer noch nicht gut. Ich tat, was ich konnte, aber andere spielten besser als ich, und ich glaubte nicht, dass ich am Wochenende gegen Darmstadt in die Startelf zurückkehren würde. Aber anders als in den Wochen zuvor machte es mir diesmal nicht viel aus. Ich ging zum Training, spielte mit, fuhr wieder heim und erwähnte Finn gegenüber weder das Gespräch mit Ramin am Sonntag noch das mit Gidi am Montag. Sonst unterhielt ich mich normal mit ihm, und er fragte nicht, was ich nach Ramins plötzlichem Auftauchen weiter unternommen hatte. Vielleicht glaubte er, ich sei seinem Rat gefolgt und hätte ihn ignoriert. Aber während ich Finn Normalität vorspielte, rumorte es in mir die ganze Zeit. Und nachts, wenn Finn schlief, stand ich am Fenster, sah hinaus auf die Lichter der Stadt und dachte nach.

Am Samstag saß ich, wie erwartet, auf der Bank. Gidi saß wieder neben mir. Wir verloren gegen Darmstadt mit eins zu zwei und spielten so schlecht, dass Bruno eigentlich jeden einzelnen Spieler aus der Startelf am nächsten Spieltag in Dortmund auf die Ersatzbank setzen müsste. Nach dem Spiel stand ich unter der Dusche, hörte meine Mitspieler um mich herum fluchen und stellte fest, dass ich überhaupt nicht frustriert war. Obwohl wir verloren hatten und obwohl ich wieder auf der Bank gesessen hatte. Ich fragte mich, ob das daran lag, dass meine Chancen, im nächsten Spiel von Anfang an dabei zu sein, nach diesem Spiel wohl so groß waren wie seit Wochen nicht. Es wäre ein logischer Grund. Aber irgendwie glaubte ich nicht, dass es der wahre war.

Als ich nach Hause kam, kribbelte mein ganzer Körper. Ich sah auf die Uhr. Kurz nach sieben. Das hieß kurz nach sechs. Und er trat ja momentan nicht auf. Ich wimmelte Finn ab, der Abendessen machen wollte, ging in mein Zimmer und schloss die Tür. Mein Herz hämmerte, als ich mein Handy aus der Tasche zog, es entsperrte und ein paarmal darauf herumdrückte. Bis es tutete. Ich hob es ans Ohr. Mein Mund war trocken. Ich ging die wenigen Schritte hinüber zum Fenster. Sehr schnell riss das Tuten ab.

„Ramin? It’s me, Martin.“ Ich musste das Handy fest umklammern, damit es nicht aus meiner schweißfeuchten Hand rutschte. „Listen, can you come back here? Soon? Cause we need to talk.”

Chapter 62: For Myself - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Für mich

 

„Hereinspaziert.“ Gidi grinste, zog den Schlüssel aus dem Schloss und machte einen Schritt zur Seite, damit ich vorausgehen konnte.

Ich trat in einen riesigen Raum, in den das Sonnenlicht durch eine entlang der kompletten gegenüberliegenden Wand verlaufende Fensterreihe eindrang, die direkt unter der Decke ansetzte und ungefähr auf der Höhe von Gidis Scheitel schon wieder aufhörte. Das schräg von oben einfallende Licht setzte die Möbel – schwarzes Ledersofa und -sessel mit silbernem Gestell und ein niedriger, gläserner Couchtisch, alle auf einen gigantischen Fernseher rechts von der Wohnungstür ausgerichtet – ziemlich stylisch in Szene. Links von mir schmiegte sich die ebenfalls in Schwarz und Silber gehaltene offene Küche über Eck an die Wand. Eine separate Kochinsel trennte den Bereich etwas vom Wohnzimmer ab. In der hinteren linken Ecke des Raumes stand direkt unter der Fensterreihe der Esstisch.

Ich machte einen Schritt in die Wohnung, damit Gidi auch hereinkommen konnte, und während ich mir die Schuhe auszog, ließ ich den Blick weiter von einer Seite des Raums zur anderen wandern. Gidi war schon ein paarmal bei uns zu Besuch gewesen, wenn er, Finn, Michi und ich einen Film- oder FIFA-Abend gemacht hatten, aber in seiner Wohnung war ich heute zum ersten Mal. Er hatte erzählt, dass er im Souterrain wohnte, und irgendwie hatte ich mir das immer ziemlich düster vorgestellt. Jetzt, wo ich hier war, merkte ich, wie falsch ich gelegen hatte. „Echt cool, deine Wohnung.“

„Danke. Mir gefällt’s auch gut.“ Auch Gidi hatte sich inzwischen die Schuhe ausgezogen. Mit dem Kopf machte er eine Bewegung Richtung Sofa. „Komm rein, setz dich. Willst du was trinken?“

„Ne, danke.“

Gidis Wohnung hatte mich kurz abgelenkt, aber als ich über den flauschigen weißen Teppich zum Sofa ging, zog sich mein Magen wieder zusammen. Das Training eben war die schlechteste Einheit gewesen, die ich seit Anfang Februar, bevor Sierra bei mir gewesen war, absolviert hatte. Ich hatte zwar versucht, präzise Pässe zu spielen und die richtigen Laufwege anzubieten, aber es hatte nichts gebracht. Ich hatte mich einfach nicht konzentrieren können. Das Kribbeln in meinem Bauch war von Minute zu Minute stärker geworden, und als ich mich jetzt auf Gidis Sofa setzte, war mir schlecht.

Gidi hatte derweil in der Küche hantiert und kam jetzt mit einem Glas Wasser in der Hand auf mich zu. „Du sagst Bescheid, wenn du doch was willst, ja?“

Ich nickte. Gidi ließ sich in den Sessel nieder, nahm einen Schluck und stellte das Glas mit einem Klirr auf dem Couchtisch ab. Er lehnte sich zurück, streckte seine langen Beine aus, verschränkte die Finger und sah mich an. „Also? Was gibt’s?“

Ich starrte ihn an, Hände zu Fäusten verkrampft, Zehen in den Teppich gekrallt. Tu es. Na los. Ich holte Luft und öffnete den Mund.

Stille. Eine Sekunde, zwei, drei. Meine Zunge hing in meinem Mund wie ein Stück Gummi.

„Martin?“ Gidis Augenbrauen waren leicht gehoben, und der Ansatz eines Lächelns lag auf seinen Lippen. Ich musste zum Brüllen aussehen, mitten in der Bewegung zu Stein erstarrt.

Ich schloss den Mund und stieß den Atem aus. Es ist nur Gidi. Es kann dir nichts passieren. Diesmal gehorchte meine Zunge. „Ja … also … ich …“

Gidis Augenbrauen wanderten noch weiter in die Höhe, und sein Lächeln verschwand. Ich biss mir auf die Oberlippe. Meine Finger schnellten auf und wieder zu. Für dich. Du tust es für dich. „Weißt du noch, nach der Winterpause? Als ich so scheiße drauf war?“

Seine Augenbrauen blieben oben. Er nickte.

„Also. Das war, weil … Ich … ich hatte … eine Beziehung.“ Atmen. Atmen nicht vergessen. „Vorher. Und … die war dann vorbei und … damit gings mir … nicht gut.“

Ich wartete. Aber Gidi sagte nichts. Er erwiderte nur meinen Blick, die Augenbrauen gehoben, die Finger verschränkt.

„Willst du … das nicht kommentieren oder so?“

Gidi zuckte die Schultern. „Ne. Wieso?“

„Naja … überrascht dich das nicht?“

Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Ne. Nicht wirklich.“

Mein Mund öffnete sich, aber wieder brauchte ich einen zweiten Anlauf, bis ich einen Ton herausbrachte. „Du meinst … du … du wusstet davon? Aber … ich hab doch nie was gesagt!“

Jetzt lachte er. Wahrhaftig. Ich saß hier, in seiner Wohnung, und zwang mich dazu, ihm von Ramin zu erzählen, und er lachte. „Komm schon, Martin. Erst warst du himmelhoch jauchzend und hast im Trainingslager von früh bis spät über beide Ohren gegrinst, selbst, als wir ein Testspiel nach dem anderen verloren haben. Dann warst du plötzlich aggressiv, hast im Training Leute umgetreten und im Spiel keinen Ball mehr getroffen. Nach dem Stuttgart-Spiel bist du vor allen weggerannt, und auf der Rückfahrt hast du dir die Augen ausgeheult. Ich meine, okay, du hattest scheiße gespielt, aber dass das nicht allein der Grund war, war ja wohl klar. Und dann, als du dich entschuldigt hast, hast du gemeint, du hattest privaten Stress.“ Er grinste und zuckte die Schultern. „Ich meine, glaubst du, du bist der Erste, der schon mal Liebeskummer hatte?“

Ich starrte ihn an. Wenn er doch so viel mitgekriegt hatte … so viel … dann … dann … „Du meinst … weiß es jeder?“

Gidi hob wieder die Schultern. „Also sicher weiß ichs nur von mir und Michi, weil wir drüber geredet haben. Und Finn, schätze ich mal, weil der hat immer, wenn wir versucht haben, ihn auszuquetschen, total abgeblockt. Vom Rest weiß ichs nicht. Ich meine, Michi und ich haben halt auch am genausten hingeschaut, oder? Ich schätze, den anderen wars einfach nicht so wichtig. Aber es wäre ja auch nicht so tragisch, oder? Ich meine, ne Beziehungskrise hat ja jeder mal.“

Ich presste die Lippen aufeinander. Meine Hände krallten sich ineinander. Jetzt. Tu es. Sag es.

„Ja.“ Ich sprach langsam. Jedes Wort war eine Hürde. „Da hast du recht. Aber … ich … Bei mir wars … ein bisschen anders.“ Ich atmete ein. Wieder aus. Meine Augen klebten an Gidis. Nicht wegschauen. Nicht aufhören. Weiter. „Ich war … Ich hatte … keine Freundin.“ Ich schluckte und fühlte jeden Muskel arbeiten. Jetzt brings nach Hause. Du bist schon so weit gekommen. „Ich war mit einem Mann zusammen. Ich bin schwul, Gidi.“

Mund zu. Atmen. Geschafft. Geschafft.

Gidi sah mir immer noch in die Augen. Sein Grinsen war verschwunden, die erhobenen Augenbrauen auch. Jetzt waren es seine Lippen, die geöffnet waren. Die Stille wurde nur gebrochen durch das metallische Ticken seiner Armbanduhr. Eine Sekunde, zwei, drei, vier, fünf. Sechs, sieben, acht.

Bei neun schloss Gidi die Augen, und sein Bauch hob sich, als er einatmete. „Scheiße.“ Seine Stimme war leiser als das Ticken der Uhr. Er riss die Augen auf. „Deswegen. Deswegen hast du nie was gesagt, deswegen hast du nicht mit uns geredet, deswegen …“ Er sog die Luft ein, und da war der Hauch eines Kopfschüttelns. „Das macht Sinn. Das macht so viel Sinn.“

Schweigend sahen wir uns an. Mein Körper war zum Zerreißen gespannt. Was dachte er? Was würde er sagen? Was würde er tun, verdammt?

Einen Moment starrte er mich noch an. Dann legte er den Kopf in den Nacken und raufte sich mit beiden Händen die Haare. „Mann, warum sind wir da nicht draufgekommen? Michi und ich, wir saßen da und haben stundenlang überlegt! Wir haben gesagt, warum sagt er denn nichts, warum frisst er das denn in sich rein, warum kotzt er sich nicht mal aus – Scheiße. Wir dachten sogar, vielleicht geht’s ja um die Freundin von einem der anderen Jungs, aber das … Scheiße.“

Er schüttelte den Kopf, und seine Ellbogen schwankten von einer Seite zur anderen. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen.

Ich saß steif auf dem Sofa. In meiner Kehle schmeckte ich einen Rest Übelkeit. Aber gleichzeitig spürte ich, irgendwo tief in mir drin, den verrückten Drang, zu lachen. „Na ja.“ Meine Mundwinkel zuckten. Was ist los mit dir? „Dann wird ja wohl hoffentlich zumindest das auch keiner von den anderen erraten haben.“

Wieder schwankten beide Arme mit, als Gidi den Kopf schüttelte. „Ne.“ Dann ließ er endlich seine Haare los und glitt mit beiden Händen seinen Hals entlang hinab, bis sie vor seiner Brust zusammenschnappten. „Mein Gott, Martin. Es tut mir so leid.“

Ich blinzelte. „Was?“

„Dass wir so blöd waren!“ Er stützte das Kinn auf die Fingerspitzen und sah mich von unten herauf an. „Wir haben so lange rumüberlegt. So lange. Aber darauf … darauf sind wir nicht gekommen. Dabei ist es so offensichtlich, jetzt, wo du‘s sagst! Ich meine, ist ja klar, dass du das nicht an die große Glocke hängen würdest. Aber … Scheiße. Und da denkt man immer, man hat keine Vorurteile.“

Er lachte. Aber nicht, als ob er es lustig fände. Immer noch schaute er von unten zu mir hinauf, und plötzlich sah er nervös aus.

Mir hing schon wieder der Mund offen. Auch ich schüttelte jetzt den Kopf, um die Lähmung nach seinem Es-tut-mir-leid-Satz zu vertreiben, und brachte selber ein Lachen zustande, wenn es auch etwas holprig war. „Ach was, Gidi, das – das braucht dir doch nicht leidtun.“ Ein wackliges Grinsen schloss sich an das Lachen an. „Ist mir doch viel lieber, wenn da keiner draufkommt.“

„Ja, aber –“ Gidi richtete sich auf und gestikulierte, als hoffte er, das, was er sagen wollte, aus der Luft greifen zu können. Dann atmete er aus und ließ sich in den Sessel zurückfallen. „Ist ja auch egal. Wer weiß es denn sonst noch? Finn bestimmt, oder?“

Ich nickte. „Sonst niemand. Na ja, außer … er eben.“

„Dein … Freund?“ Gidis Stimme klang unsicher, aber er lächelte, und er schaute nicht weg. „Wer ist es denn?“ Sein Gesichtsausdruck wechselte schneller als eine Ampel ihre Farbe. „Aber keiner aus der Mannschaft, oder?“

„Ne, ne!“ Diesmal war mein Lachen echt. „Jemand ganz anderes. Du hast ihn sogar einmal gesehen. Weißt du noch, nach dem BVB-Spiel? Draußen am Parkplatz?“

Er runzelte die Stirn. „Ja, jetzt wo du‘s sagst … Irgendwer aus England oder so?“

„Genau. Ramin heißt er.“

Ein Kribbeln schoss von meiner Zunge bis zu den Zehenspitzen, als ich seinen Namen sagte. Es fühlte sich gut an. Überraschend gut. Warm und wohlig und aufregend. Fast gar nicht bitter, oder schneidend, oder schwer. Meine Mundwinkel wanderten nach oben.

„Richtig. Ja.“ Auch Gidi lächelte. „Und ihr seid … oder ihr wart … zusammen?“

Mit einem Schlag rutschte mir das Lächeln vom Gesicht. Ich schaute auf meine Hände, die auf meinen Oberschenkeln gegeneinandergepresst waren. „Ja. Wir waren zusammen. Dann … dann haben wir uns getrennt und … jetzt ist er zurückgekommen und … Ach, keine Ahnung.“ Ich fiel zurück in die Sofalehne, und meine Augen huschten ziellos durch den Raum. „Das ist jedenfalls der Punkt. Deswegen wollte ich mit dir reden. Weil er jetzt eben wieder da ist und … ich nicht weiß, was ich machen soll.“ Ich sah ihn an. Mein Magen krampfte sich wieder zusammen.

Aber diesmal ließ Gidi mich nicht warten. „Dann erzähl.“ Seine Stimme war fest, sein Blick offen.

Die Bitterkeit in mir wurde weggespült von einer Wärme, die nichts mit Ramin und alles mit Gidi zu tun hatte. Der Hauch Nervosität und Unsicherheit, der immer noch von ihm ausging, war mir egal. Wenn ich hetero wäre und er schwul, wie hätte ich wohl auf ein Outing von ihm reagiert? Er hatte mich nicht weggestoßen, er hatte sich nicht von mir abgewendet. Er konnte dein Freund sagen, und er wollte hören, was ich von Ramin zu erzählen hatte. Er war mein Freund. Er blieb mein Freund.

Das Lächeln kostete mich keine Mühe. Auch ich streckte die Füße unter den Couchtisch und begann, zu erzählen. Ich fing am Anfang an: Wie ich Ramin in der „Love-Never-Dies“-Vorstellung am Ende der Sommerpause zum ersten Mal gesehen hatte und ihm sofort verfallen war. Wie er mich danach abgepasst und mitgenommen hatte. Wie ich ihm am nächsten Morgen gesagt hatte, wer ich war, obwohl ich da noch geglaubt hatte, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Wie ich Finn von ihm erzählt hatte und der von Anfang an gegen ihn gewesen war. Wie er mich trotz allem einfach nicht losgelassen hatte, wie ich schließlich nach dem Telekom-Cup zurück zu ihm nach London geflogen war und wie wir uns die ganze Hinrunde immer wieder gegenseitig besucht hatten. Und dann, wie wir am Abend vor Weihnachten zusammen auf den Ball gegangen waren.

Gidi hatte mir ohne Unterbrechung zugehört, aber jetzt runzelte er die Stirn. „Ein richtig großer Ball mit ewig vielen Gästen? War das nicht sehr riskant?“

Ich grinste. „Schon, ja. Deswegen bin ich auch verkleidet hingegangen.“

„Bitte was?“ Lachend lehnte Gidi sich nach vorne. „Als Frau oder wie?“

„Quatsch!“ Ich lachte auch. „Ich konnte ja so schon kaum tanzen, und dann noch Schuhe mit Absatz? Ne, ne. Mit Perücke und Brille, das hat gereicht. Ich meine, das war ja jetzt kein Nationalmannschaftslehrgang in Deutschland, sondern ein Tanzball in London. Und ich bin auch nicht grade Cristiano Ronaldo. Mit blonden Haaren und Brille hat mich da keiner erkannt. Und wahrscheinlich hätte mich auch so keiner erkannt. Aber ohne wär ich nicht gegangen. Das hätte ich mich nicht getraut.“

„Kann ich verstehen. Und wo hattest du das Zeug her?“

„Das hat Ramin organisiert. Er hat versprochen, er denkt sich was aus, und das war dann seine Lösung.“

„Cool.“ Gidi grinste. „Hat natürlich Vorteile, wenn man direkten Zugang zu Theaterkostümen hat, schätze ich.“

„Ja …“ Ich ließ den Blick über den Fernseher schweifen. „Gefallen hat ihm das aber nicht. Also, dass ich überhaupt nur so hin bin“, ergänzte ich auf Gidis fragenden Blick. „Wenn’s nach ihm gegangen wäre, dann wüssten längst alle, dass ich schwul bin, Fußballer hin oder her. Da hatten wir gleich am ersten Morgen eine Diskussion drüber. Dass ich nicht geoutet bin, hat ihm gar nicht gepasst. Er meinte, man sollte einfach sein, wer man ist, egal, was andere denken. Dass es scheiße ist, sich zu verstecken, bloß weil man Angst vor der Reaktion von anderen hat. Dass das feige ist. Und schwach.“

Schwach. Schwach und erbärmlich. Ich starrte auf den Couchtisch hinunter.

„Puh. Harte Worte.“ Ich schaute hoch und sah Gidi mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn kneten. „Aber sein, wer man ist, egal, was andere denken … Also in den Grundzügen ist da schon was dran, finde ich.“

Er blinzelte, sah mich an und riss alarmiert die Augen auf. „Hey, das heißt nicht, dass ich finde, dass du dich outen müsstest oder so! Da würden ja schon echt krasse Folgen dranhängen, oder? Es muss ja schließlich Gründe geben, warum‘s noch nie einer gemacht hat. Und wenn du’s doch tun würdest, dann ja wohl nur, weil‘s deine Entscheidung ist. Nicht seine. Und das Recht, dich zu beleidigen, hat er sowieso auf keinen Fall.“

Ich atmete aus und nickte.

Gidi machte wieder ein nachdenkliches Gesicht. „Aber ich kann schon verstehen, dass ihn das manchmal genervt hat. Wenn ihr zusammen seid, dann schränkt ihn das ja auch mit ein. Also er kann dich ja dann in der Öffentlichkeit nicht küssen und so. Und nach dem, was du von ihm erzählt hast, schätze ich, dass er das sonst schon eher mal macht, oder?“

„Vergiss küssen.“ Wieder starrte ich den Couchtisch an. „Der macht noch ganz andere Sachen in der Öffentlichkeit. Also halt in Klubs und so.“

„Ooookay …“ Gidis Augenbrauen waren wieder nach oben gewandert. „Habt ihr euch deswegen getrennt? Weil er wollte, dass du dich outest, und du wolltest nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ne. Eigentlich nicht. Na ja, im Januar hat er schon so was gesagt, aber gestern …“

Ich dachte zurück. Das Nicht-Geoutet-Sein, das Verstecken, die Lügen, was Ramin immer gestört hatte, von Anfang an, worüber wir immer wieder geredet, diskutiert und sogar gestritten hatten – das alles hatte er gestern mit keinem Wort erwähnt. Und ich hatte natürlich nicht daran gedacht. Es war gewesen, als wäre das überhaupt kein Thema zwischen uns. Komisch. Es war mir bisher nicht aufgefallen, aber jetzt, wo Gidi fragte, klaffte es plötzlich als riesengroße Lücke in unserer Konfrontation gestern. Warum hatte Ramin das ignoriert? War es ihm plötzlich egal? Mister Ich bin queer, ich lasse es mir von hinten besorgen, und wenn dir das nicht gefällt, kannst du meinen Schwanz lutschen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Aber warum sonst hatte er das Thema so komplett umschifft, es einfach weggelassen?

Ich blinzelte, sah Gidi vor mir sitzen und schüttelte den Kopf. Das musste ich später analysieren. „Ach egal. Jedenfalls, direkt nach dem Wintertrainingslager, am Morgen, nachdem wir zurückgekommen sind, stand er dann plötzlich vor der Tür. Und erst hab ich mich total gefreut. Aber dann … hat er angefangen zu reden.“

Ich zwang mich dazu, Ramins Worte zu wiederholen. Jedes einzelne fühlte sich an, als wollte es in meiner Kehle steckenbleiben, auch jetzt noch, auch, nachdem er geschworen hatte, dass er sie nicht so gemeint hatte. Aber wenn ich einen brauchbaren Rat von Gidi wollte, musste ich ihm die Fakten geben. Alle Fakten.

Gidi hörte mir schweigend zu. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden, aber er unterbrach mich nicht. Erst, als ich innehielt, nachdem ich erzählt hatte, wie Ramin im Treppenhaus verschwunden war, sprach er. „Jetzt wunder ich mich nicht mehr drüber, wie du danach drauf warst. Meine Fresse. Was für ein Arschloch.“

Ich schluckte. „Tja. Hab ich damals auch gedacht. Und dann hab ich nichts mehr von ihm gehört, gar nichts. Bis Donnerstag. Da war er dann beim Training.“

Gidi starrte. „Beim Training?“

„Bei den Fans.“ Ich lachte. „Als ich ihn erkannt hab, wär ich fast schreiend weggerannt.“

Ich erzählte, was Ramin gesagt hatte, wie ich dann wirklich einfach geflohen war und wie ich danach mit Finn gesprochen hatte, der sofort gesagt hatte, ich solle ja die Finger von ihm lassen. Wie ich das einfach nicht über mich gebracht und ihn angerufen hatte. Dass er beim Hannover-Spiel dabei gewesen war und dass ich ihm danach geschrieben hatte, dass er am Sonntag zu mir kommen konnte.

„Wusst ichs doch!“ Jetzt grinste Gidi wieder. „So wie du in Hannover die ganze Zeit auf die Tribüne gestarrt hast, ich wusste, dass du nach jemandem gesucht hast!“ Er schüttelte den Kopf. „Ramin hat dich echt durch die ganze Saison begleitet, oder? Der war immer da, in deinem Kopf. Wir wussten nur nichts davon. Sag mal …“ Seine Augen verengten sich, und er lehnte sich nach vorne und richtete den Zeigefinger auf mich. „Im Sommertrainingslager! Weißt du noch? Wo wir auf einem Zimmer waren. Die eine Nacht, wo du …“

Sommertrainingslager. Anfang Juli letztes Jahr, noch vor meinem zweiten Besuch bei Ramin, als ich noch verzweifelt versucht hatte, ihn zu vergessen. Was natürlich überhaupt nicht geklappt hatte. Wie ich ihn immer wieder vor mir gesehen hatte. Auch nachts. Und Gidi …

Schlagartig brannte mein Gesicht. Das hätte ich jetzt mehr aufgeworfen, Fakten hin, Fakten her.

Gidi grinste noch breiter. „Das war auch er!“

Ich hob die Hände und ließ sie wieder fallen. Bestätigen musste ich Gidi das nicht. Er wusste ja sowieso Bescheid.

„Scheiße.“ Gidi schüttelte den Kopf. Sein Grinsen war verschwunden. „Und ich hab wieder nur von sie geredet. Scheiße.“

Es war einen Moment still. Gidis Augen blickten ins Leere.

„Na ja.“ So aus dem Nichts hörte meine Stimme sich unnatürlich laut an. Ich redete schnell weiter. „Jedenfalls ist er dann gestern Nachmittag da gewesen. Und hat erzählt. Warum er gegangen ist.“

Ich berichtete alles, was Ramin gesagt hatte. Nur den Teil mit Sierra ließ ich aus. Das war eine Sache zwischen den beiden. Ich redete eine ganze Weile, und als ich fertig war, sagte Gidi erst mal gar nichts. Er sah mich an, die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt. Seine Augenbrauen waren wieder leicht gehoben. Er sah aus, als ob er nicht wusste, ob er sich amüsieren oder aufregen sollte.

„Wow.“ Er stieß ein kurzes Lachen aus. „Wow. Er lässt dich sitzen, macht dich runter, ist drei Monate weg, und dann – wow.“ Er verschränkte die Hände über dem Kopf und lachte wieder. „Da hast du dir echt einen rausgesucht, Martin. Wahnsinn.“

Mein Mundwinkel zuckte, aber richtig erwidern konnte ich Gidis Lachen nicht. Durch meinen Kopf klang der Nachhall meiner Erzählung. „Deswegen weiß ich auch nicht, was ich jetzt machen soll. Ich meine, er hat sich entschuldigt, und so wie er‘s erzählt hat, glaube ich auch, dass es ihm wirklich leid tut … aber …“

Meine Augen zuckten von Gidis weg. Ich stieß die Luft aus und presste die Lippen aufeinander. „Aber ich hab halt Angst vor der nächsten Trennung. Wenn ich jetzt sage, ich will ihn zurück, dann ist es ja nur eine Frage der Zeit, bis er wieder geht. Bis er mich wieder sitzen lässt. Das hat er ja selbst gesagt. Und das …“ Ich schüttelte den Kopf. Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Das kann ich nicht noch mal. Da kann ich nicht noch mal durch, das … Ich meine, du hast ja gesehen, wie ich da war.“

Mein Blick rutschte wieder zu Gidi. Auf meinen Oberschenkeln ballten sich meine Hände zu Fäusten. „Ich meine, dass er das schon ankündigt! Er stellt sich hin und entschuldigt sich und sagt, er liebt mich, aber gleichzeitig gibt er sich einen Freifahrtschein fürs nächste Mal, wenn er keinen Bock mehr hat! Ich meine, kann er nicht wenigstens so TUN, als würde er‘s ernst meinen? Kann er’s nicht wenigstens VERSUCHEN? Ich meine, er kann doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich ihm jetzt jubelnd um den Hals falle, oder?“

Gidi betrachtete mich mit schiefgelegtem Kopf. Seine Fingerspitzen trommelten lautlos auf den ledernen Armlehnen. „Du findest, das war ein Freifahrtschein?“

Ungläubig sah ich ihn an. „Was wars denn wohl sonst?“

„Ehrlich.“ Er lächelte. „Schau Martin, ich kann verstehen, dass du sauer bist. Und das klingt ja wirklich so, als wär‘s quasi ein Vorgriff auf das nächste Ende. Aber meinst du nicht, das hat er gewusst? Meinst du nicht, er wusste, dass dich das treffen würde, wenn er das so deutlich sagt, und dass du ihn viel wahrscheinlicher zurücknehmen würdest, wenn er einfach so tut, als wär‘s ganz sicher für immer? Und trotzdem hat er’s gesagt.“

Gidis Lippen verzogen sich zu einem, unverkennbar, anerkennenden Lächeln. „Ich meine, wäre es dir wirklich lieber gewesen, wenn er dir gesagt hätte, er liebt dich bis in alle Ewigkeit, obwohl er sich gar nicht sicher ist? Wenn er wirklich nur so getan hätte, weil du das gerne glauben willst? Ernsthaft?“

„Aber …“ Ich starrte ihn an. „Warte. Stopp. Du meinst, ich soll ihm jetzt noch dankbar sein, oder was?“

„Für Ehrlichkeit?“ Gidi hob die Schultern. „Warum nicht?“

Mir blieb die Luft weg. Gidi sah mich einen Moment an, dann atmete er aus und beugte sich im Sessel nach vorne. „Martin, sieh’s doch mal so: Ramin hat gesagt, er ist in dich verliebt und er will dich zurückhaben. Und –“

„Ja, aber –“

„Und das ist ihm offenbar so wichtig“ – Gidi hob die Hand und sprach mit erhobener Stimme weiter – „DU bist ihm offenbar so wichtig, dass er diesmal von Anfang an komplett ehrlich mit dir sein will. Damit er dir auf keinen Fall noch mal so wehtut. Und deswegen hat er auch gesagt, noch bevor er überhaupt wusste, ob du ihm verzeihst oder nicht, dass er nicht weiß, ob das für immer halten wird. Dass er dich jetzt liebt, aber dass er nicht versprechen kann, dass das immer so sein wird. So war’s doch, oder?“

„Ja“, grollte ich, „und deswegen –“

„Das ist doch kein Freifahrtschein!“ Gidis Augen waren weit aufgerissen, und er klang, als könne er nicht fassen, wie blöd ich mich anstellte. „Das ist halt die Wahrheit! Das ist in jeder Beziehung so! Nur tun die Leute normalerweise so, als wüssten sie’s nicht.“

Er lachte und schüttelte den Kopf. „Martin – so wie du das erzählst, finde ich überhaupt nicht, dass das so klingt, als wärst du ihm nicht wichtig oder als würde er dich von Anfang an nur als – keine Ahnung, als Partner auf Zeit sehen, oder so. Im Gegenteil. So wie du das erzählst, hat er sich wirklich bemüht, komplett ehrlich mit dir zu sein. Komplett. Und das ist schon krass, weil das macht fast so gut wie niemand am Anfang einer Beziehung, und ich wette, das ist ihm nicht so leichtgefallen. Ich wette, er wusste, dass er damit die Gefahr, dass du ihn nicht zurücknimmst, krass erhöht, obwohl er das doch unbedingt will. Schau her, dass er das gesagt hat, heißt doch nicht, dass es sicher ist, dass er dich irgendwann wieder verlässt. Sondern nur, dass es passieren KANN, weil er nicht weiß, wie sich seine Gefühle entwickeln. Und das KANN er auch gar nicht wissen, das kann nämlich niemand. Aber dass er das extra gesagt hat, zeigt doch, wie wichtig du ihm bist. Und dass er alles dafür tun will, dass er dir nicht noch mal wehtut. Ich meine, wenn er dich jetzt einfach nur so zurückgewollt hätte, du ihm aber eigentlich egal wärst, hätte er dir doch einfach das gesagt, was er meinte, das du hören willst, oder? Dann hätte er sich den Teil sparen können. Weil er wusste ganz sicher, dass das seine Chancen, dass du ihm verzeihst, nicht erhöht. Aber er hat’s trotzdem gesagt. Für dich. Damit du weißt, worauf du dich einlässt.“

Seinen Augen strahlten vor Überzeugung. In meinem Kopf wirbelte das Karussell. Ich öffnete den Mund, holte Luft, presste die Augenlider aufeinander und schüttelte den Kopf. „Aber … das stimmt doch nicht. Dass das keiner weiß, mit den Gefühlen. Ich meine, ich weiß, dass ich ihn liebe! Und die ganzen Leute, die ständig heiraten, die –“

„– lassen sich dann wieder scheiden. Natürlich nicht alle“, fügte Gidi hinzu, als ich zum Widersprechen ansetzte. „Viele Beziehungen halten, das will ich ja gar nicht sagen. Aber viele eben auch nicht. Und wirklich wissen kann das vorher keiner. Ich meine, als ich meine erste Freundin hatte, da war ich noch in der Schule, da hat sie schlussgemacht. Und bei der danach hab ich dann schlussgemacht. Aber bei beiden dachte ich am Anfang auch, ich bin super verliebt und will nie jemand anders. Da hab ich auch noch nicht ans Ende gedacht. Aber es kam dann halt trotzdem irgendwann.“

Er hob die Schultern. „Und ich glaube, dass du das auch nicht sicher wissen kannst. Nicht hundertprozentig. Ich meine, stell dir vor, du triffst irgendwann einen, der ist gutaussehend und sportlich und nett und so alt wie du und wohnt vielleicht noch in Hamburg. Kannst du da echt sicher sein, dass du dich dann nicht neu verliebst? Ich meine, so wie ich das sehe, bleibt das mit Ramin auf jeden Fall eine Fernbeziehung, und er ist – wie viele Jahre noch mal älter als du?“

„Acht“, murmelte ich.

„Siehst du. Und das wird er immer bleiben. Jetzt bist du zwanzig und er achtundzwanzig, da ist das vielleicht noch nicht so wichtig, aber wie ist das, wenn du dreißig bist und er fast vierzig? Oder dann irgendwann noch älter? Kannst du dir da echt sicher sein, dass er’s dann immer noch ist für dich?“

Ich schwieg. Gidis Armbanduhr tickte. Langsam, ohne ihn anzusehen, hob ich die Schultern. Mein Bauch schrie Ja!, aber in meinen Kopf hatten Gidis Worte einen kleinen, nagenden Zweifel gesetzt. Konnte ich mir wirklich ganz und gar, hundertprozentig sicher sein, dass sich meine Gefühle nie ändern würden? Und wenn ich es nicht konnte – konnte ich dann Ramin vorwerfen, dass er es auch nicht konnte? War seine Warnung an mich dann, wie Gidi gesagt hatte, überhaupt kein Freifahrtschein? Sondern ein Beweis, wie wichtig ich ihm war?

„Ich weiß halt nur nicht“, murmelte ich und sah Gidi immer noch nicht an, „wie lange er das durchhält. Also das mit mir. Es wär ja auf jeden Fall wieder eine Fernbeziehung, wie du gesagt hast. Und … na ja … wenn wir uns nur alle paar Wochen mal sehen …“

Ich holte Luft. Meine Hände ballten sich wieder zu Fäusten. „Er hat halt schon eigentlich ständig Sex. Mit allen möglichen Leuten. Und er hat gesagt, dass er das weiter machen wird, wenn er will. Er hat zwar auch gesagt, dass er das jetzt gerade nicht mehr wollte, aber wenn er‘s dann wieder will, wird er’s auch tun. Und dann … dann … dann will er mich dann vielleicht irgendwann nicht mehr. Vielleicht wird’s ihm dann irgendwann zu blöd, ständig nach Hamburg zu kommen und so. Und ich hab halt Angst, dass das total schnell geht. Also nur ein paar Wochen oder so. Und ich weiß nicht, ob es das dann wert ist.“

Meine Augen brannten. Ich blinzelte.

„Aber das mit euch“, kam Gidis leise Stimme von rechts, „das ist doch mehr als Sex, oder?“

Ich schluckte. Meine Finger zitterten. Ich krallte sie in meine Oberschenkel. „Ja. Schon. Hat er gesagt. Jetzt gerade. Und er hat auch gesagt, dass das mit den anderen mit uns beiden nichts zu tun hat. Aber … wenn er dann damit wieder anfängt … vielleicht reicht ihm das dann irgendwann wieder.“ Jetzt fing auch meine Oberlippe an zu zittern. Ich grub kurz die Zähne hinein. „Nur für den Sex braucht er mich ja dann nicht mehr.“

Ich spürte Gidis Blick, aber ich konnte nicht zu ihm hochschauen. Jeder Nerv meines Körpers war darin verbissen, nicht die Fassung zu verlieren.

„Martin … Ich glaube, da musst du ihm vertrauen.“

Mein Kopf ruckte hoch. Gidi saß zurückgelehnt im Sessel, der Blick aus seinen dunklen Augen warm. „Er sagt doch, er liebt dich, oder? Warum würde er das sagen, wenn es nicht wahr ist? Wenn es ihm nur um Sex gehen würde, könnte er das doch auch woanders kriegen. Auch jetzt schon. Dafür würde er dich auch jetzt schon nicht brauchen. Und selbst wenn er dann wirklich irgendwann wieder anfängt, auch mit anderen Sex zu haben … Wäre das für dich echt so schlimm? Ich meine, wenn er … das gern macht und ihr seht euch nicht so oft, dann soll er das halt machen, wenn er in London ist. Das würdest du ja nicht mal mitkriegen. Das heißt ja dann nicht, dass er dich nicht mehr liebt.“ Er legte den Kopf schief. „Hat er das denn gar nicht gemacht, als ihr in der Hinrunde zusammen wart?“

Ich presste die Lippen aufeinander. Die ehrliche Antwort auf diese Frage zu geben, war wahnsinnig schwer. „Doch. Hat er. Hat er mir auch gesagt. Und du hast recht, zwischen uns wars trotzdem mehr als Sex, aber …“ Ich biss mir auf die Oberlippe. „Es ist halt … nicht das, was ich mir unter einer Beziehung vorstelle.“

Gidi hob wieder die Augenbrauen. „Tja. Kann ich verstehen. Aber ich schätze, du musst dir überlegen, ob er dir das wert ist. Ob du das schlucken kannst, damit ihr zusammen sein könnt. Immerhin schluckt er dafür auch Sachen für dich.“

Ich starrte Gidi an. „Bitte? Was denn? Was ist denn bitte damit vergleichbar, dass ich nachts wachliege und mir vorstellen muss, wie er in London einen anderen im Bett hat und irgendwann eines Morgens aufwacht und feststellt, dass es ihm eigentlich zu blöd ist, nur für Sachen, die er auch zu Hause kriegen kann, ständig nach Hamburg zu gondeln?“

Gidi zuckte die Schultern. „Sex ist ja offensichtlich für ihn nicht gleich Liebe. Das hatten wir doch schon. Was das angeht, musst du ihm halt vertrauen, dass er das weiterhin trennen kann. Da scheint er ja durchaus Übung drin zu haben.“ Er grinste. „Und für ihn genauso schlimm ist vielleicht, dass du nicht geoutet bist, hm?“

Meine Kinnlade fiel wieder nach unten.

Gidi lachte. „Schon klar, das trifft ihn auf eine ganz andere Art. Aber du kannst wetten, dass es ihn trifft. Ich meine, wenn ich mir vorstelle, ich könnte meine Freundin in der Öffentlichkeit nicht küssen oder mit ihr Hand in Hand an der Alster spazieren gehen oder nicht mal meinen Freunden und meiner Familie von ihr erzählen und so … Das sind schon auch Einschränkungen, Martin. Das wird ihm schon auch wehtun. Weil am Ende heißt das nämlich, dass er ganz oft lügen und sich verstellen muss. Und so, wie du von ihm erzählt hast, ist das sonst glaub ich nicht so sein Ding.“

Er sah mich an. Ich schwieg.

„Siehst du. Das ist für ihn genauso ein Opfer wie für dich sein Sexleben. Und ich will damit nicht sagen, dass du dich outen solltest, weil das ist nämlich deine Sache und geht ihn am Ende nur so weit was an, wie du das zulässt. Aber das ist mit seinem Sexleben genau das Gleiche, nur umgekehrt. Wenn ihr euch wirklich wichtig seid, dann muss er akzeptieren, dass du dich nicht outen willst, und du musst akzeptieren, dass er nicht gerne allein ins Bett geht, und ihm vertrauen, dass das für ihn was anderes ist als seine Beziehung mit dir. So einfach ist das.“ Er zuckte die Schultern.

Mir war schwindelig. „Einfach“ war so ziemlich das letzte Wort, das mir zu all dem eingefallen wäre. Alles in mir rebellierte gegen Gidis Worte, und ich wollte ihn anschreien, dass er keine Ahnung hatte, dass man das ja wohl überhaupt nicht miteinander vergleichen konnte. Aber ich tat es nicht. Der Zweifel, den Gidi vorhin schon in meinen Kopf gesetzt hatte, nagte weiter, schneller als zuvor. Dass es für Ramin ein Opfer war, dass ich nicht geoutet war, dass er sich mit mir verstecken müsste …

Ich biss mir auf die Lippe. Das stimmte. Ich wusste, dass das stimmte. Ich wusste, wie schwer das für ihn war. Und auf einen Schlag ging mir auf, dass das der Grund sein könnte, warum er es gestern nicht angesprochen hatte. Weil er wusste, wie sensibel das Thema für mich war, weil er mir das nicht noch mal vorwerfen wollte, weil er wusste, dass er sich da nach seinen Worten im Januar auf sehr dünnem Eis bewegte. Weil er jetzt bereit war, dieses Opfer für mich zu bringen. Sich da auf mich einzustellen.

„Du … du meinst also …“ Ich sprach langsam. Es fühlte sich an, als müsste ich jedes Wort erst mühsam aus einem prallvollen Sack herauskramen, bevor ich es verwenden konnte. „Du meinst also, ich soll ihn zurücknehmen?“

Gidi riss die Augen auf. „Nene, Martin! So einfach ist das nicht. Das kannst nun wirklich nur du entscheiden.“

„Aber du hast doch gesagt, ich soll akzeptieren, dass –“

Wenn ihr euch wirklich wichtig seid, hab ich gesagt. Wenn du wirklich mit ihm zusammen sein willst, musst du akzeptieren, dass er halt auch Sachen macht, die dir nicht so gefallen. Und umgekehrt. Das ist übrigens wieder in jeder Beziehung so, ganz egal, wie das dann genau aussieht. Aber der Punkt ist halt, ob du ihm trotzdem vertrauen kannst. Ob du trotzdem mit ihm zusammen sein willst. Ob du ihn trotzdem liebst, schätze ich. Und das musst du entscheiden. Da bin ich raus, sorry.“

Ich presste die Augenlider aufeinander. Mein Kopf fühlte sich an, als müsste er gleich platzen. „Aber – aber wenn er mich dann wieder sitzenlässt, dann –“

„Das ist doch auch egal!“ Gidi schüttelte den Kopf. „Martin, wenn du jetzt Nein sagst, weil du Angst hast, dass er dich sonst vielleicht wieder verlässt, dann ziehst du dir den ganzen Trennungsscheiß doch nur von einem Zeitpunkt, der vielleicht irgendwann in der Zukunft mal kommt, ins Hier und Jetzt und Ganz Sicher in der Gegenwart! Weil das würde dir doch jetzt genauso wehtun, oder? Wenn du ihm jetzt sagst, das wars?“

Ich sah ihn an. Ich konnte nichts sagen. Aber mein Schweigen schien Gidi Antwort genug.

„Eben. Deswegen sag jetzt nicht Nein, weil du Angst hast vor dem, was vielleicht kommt. Ich meine, stell dir vor, du machst das, obwohl du ihn eigentlich doch noch willst. Klar hast du dann jetzt vielleicht mehr Sicherheit. Aber würdest du dich nicht ständig fragen, was gewesen wäre, wenn du Ja gesagt hättest? Weil du kannst ja nicht sicher wissen, dass ihr euch noch mal trennt. Vielleicht hält’s ja. Keiner weiß es.“

Er lächelte und hob die Schultern. „Die Frage ist, willst du, dass es die Chance noch gibt, oder machst du’s lieber jetzt gleich kaputt, damit du dir sicher sein kannst? Weil die Sicherheit … die gibt’s halt nur in die eine Richtung. Die andere ist immer Risiko. Die Frage ist, ob Ramin dir das wert ist.“

Wir sahen uns an. Nur das Ticken von Gidis Uhr war zu hören.

„Na ja.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das sofort wieder verschwand, und er blinzelte. „Also … gibt’s noch was? Oder … war’s das, sozusagen?“

„Ne. Das war’s.“ Ich bewegte den Nacken und zuckte zusammen, als ein Stich durch meinen Rücken fuhr. „Ich, äh … muss da jetzt erst mal drüber nachdenken.“

„Klar.“ Gidi lächelte. Seine rechte Hand knetete die Finger seiner linken. „Wenn du noch mal reden willst, dann … meld dich einfach, okay?“

Ich sah ihn an, holte Luft und nickte. „Ja. Mach ich. Danke.“

„Kein Ding.“ Er zögerte. „Wollen wir … noch ne Runde zocken oder so? Oder … willst du lieber allein sein? Wär kein Problem, ehrlich, ich –“

„Ne!“ Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin und fing meine Unterlippe zwischen den Zähnen ein, als der nächste Stich durch mich hindurchfuhr. Meine Güte, war ich verkrampft gewesen. „Zocken klingt super.“

Gidi strahlte und sprang auf. „Cool! Dann kriegst du jetzt erst mal was zu trinken, und dann zocken wir. Du kannst auch den HSV kriegen, ich nehm dann die Bayern.“

„Verräter!“ Ich lachte. Auf einmal war es total einfach. Aber als Gidi mit einem Glas Wasser an den Tisch zurückkehrte, wurde ich noch mal ernst. „Gidi – sag Michi bitte nicht, dass ich schwul bin, okay? Und alles, was ich dir erzählt hab. Nur weil du vorhin meintest, dass ihr über mich geredet habt.“

„Natürlich nicht!“ Gidis Augen waren weit aufgerissen. „Niemals, Martin! Wir hatten uns eh schon damit abgefunden, dass wir’s halt nie genauer erfahren werden.“ Er lächelte, plötzlich wieder etwas schüchtern. „Aber danke, dass du’s mir gesagt hast. Weiß ich zu schätzen. Ehrlich.“

„Ich danke dir. Fürs Zuhören. Für deine Sicht. Deine Meinung.“

„Da nicht für.“

Einen Moment sahen wir uns an. Dann hob Gidi die Hand und klopfte mir auf die Schulter, irgendwas zwischen Schlagen und Streichen. Er stand auf, kniete sich vor den Fernseher, öffnete eine Klappe der Kommode darunter, zog FIFA heraus und legte das Spiel ein.

 

*

 

Die restliche Woche trainierte ich besser als am Montag, aber immer noch nicht gut. Ich tat, was ich konnte, aber andere spielten besser als ich, und ich glaubte nicht, dass ich am Wochenende gegen Darmstadt in die Startelf zurückkehren würde. Aber anders als in den Wochen zuvor machte es mir diesmal nicht viel aus. Ich ging zum Training, spielte mit, fuhr wieder heim und erwähnte Finn gegenüber weder das Gespräch mit Ramin am Sonntag noch das mit Gidi am Montag. Sonst unterhielt ich mich normal mit ihm, und er fragte nicht, was ich nach Ramins plötzlichem Auftauchen weiter unternommen hatte. Vielleicht glaubte er, ich sei seinem Rat gefolgt und hätte ihn ignoriert. Aber während ich Finn Normalität vorspielte, rumorte es in mir die ganze Zeit. Und nachts, wenn Finn schlief, stand ich am Fenster, sah hinaus auf die Lichter der Stadt und dachte nach.

Am Samstag saß ich, wie erwartet, auf der Bank. Gidi saß wieder neben mir. Wir verloren gegen Darmstadt mit eins zu zwei und spielten so schlecht, dass Bruno eigentlich jeden einzelnen Spieler aus der Startelf am nächsten Spieltag in Dortmund auf die Ersatzbank setzen müsste. Nach dem Spiel stand ich unter der Dusche, hörte meine Mitspieler um mich herum fluchen und stellte fest, dass ich überhaupt nicht frustriert war. Obwohl wir verloren hatten und obwohl ich wieder auf der Bank gesessen hatte. Ich fragte mich, ob das daran lag, dass meine Chancen, im nächsten Spiel von Anfang an dabei zu sein, nach diesem Spiel wohl so groß waren wie seit Wochen nicht. Es wäre ein logischer Grund. Aber irgendwie glaubte ich nicht, dass es der wahre war.

Als ich nach Hause kam, kribbelte mein ganzer Körper. Ich sah auf die Uhr. Kurz nach sieben. Das hieß kurz nach sechs. Und er trat ja momentan nicht auf. Ich wimmelte Finn ab, der Abendessen machen wollte, ging in mein Zimmer und schloss die Tür. Mein Herz hämmerte, als ich mein Handy aus der Tasche zog, es entsperrte und ein paarmal darauf herumdrückte. Bis es tutete. Ich hob es ans Ohr. Mein Mund war trocken. Ich ging die wenigen Schritte hinüber zum Fenster. Sehr schnell riss das Tuten ab.

„Ramin? Ich bins, Martin.“ Ich musste das Handy fest umklammern, damit es nicht aus meiner schweißfeuchten Hand rutschte. „Pass auf, kannst du hierher zurückkommen? Bald? Weil wir haben was zu besprechen.“

Chapter 63: Ein Anfang

Chapter Text

  1. Kapitel: Ein Anfang

 

Ich blinzelte mir die Regentropfen aus den Augen und strich das nasse Haar aus der Stirn, während ich darauf wartete, dass Schiedsrichter Florian Meyer anpfiff. Es war der letzte Spieltag, Mitte Mai, aber der Himmel über Augsburg war nur grau, und es schüttete. Schon nach dem Aufwärmen waren wir klitschnass gewesen, und die Spielkleidung, die in der Kabine noch herrlich trocken gewesen war, klebte jetzt schon wieder an mir.

Ich warf einen Blick nach links auf die Haupttribüne, obwohl ich wusste, dass die drei, die ich suchte, relativ weit oben saßen und dass ich durch den Regen noch weniger Chancen hatte, sie zu entdecken. Trotzdem schweiften meine Augen kurz die Reihen entlang. Irgendwo da oben saßen sie – Ramin, Sierra und Gidi, der seit zwei Wochen mit Rückenproblemen ausfiel. Das war ärgerlich, und heute ganz besonders, weil in den letzten Tagen eine regelrechte Verletzungswelle über uns hereingebrochen war und wir deswegen heute nur sechzehn statt den eigentlich erlaubten achtzehn Spielern im Kader hatten. Wäre Gidi fit, würde er jetzt neben mir auf der Doppelsechs spielen. So hatte ich noch mal Lewis an meiner Seite. Michi spielte vor uns auf der Zehn, und auf dem linken Flügel stand Nabil zum erst zweiten Mal überhaupt in der Startelf. Im Tor war es für unseren dritten Mann Tom heute das Profidebüt, und auf der Bank saßen neben Dennis und Schippo mit Batuhan, Ahmet und Keeper Tino drei Spieler, die bisher zusammen genau eine Minute Spielzeit in der Bundesliga vorweisen konnten. Wir hätten Gidi verdammt gut gebrauchen können. Aber er selber nahm die Verletzung gar nicht so schwer. Er verpasste nur die letzten zwei Spiele, und dann lag eine ganze Sommerpause vor ihm, um sich auszukurieren. Und weil er zum letzten Saisonspiel trotz seiner Verletzung unbedingt im Stadion hatte sein wollen, konnte er jetzt immerhin neben Ramin und Sierra auf der Tribüne sitzen und mit seiner fußballerischen Expertise für etwaige Fragen zur Verfügung stehen. Bei dem Gedanken lächelte ich.

Ramin hatte Gidi schon im April richtig kennengelernt, in der Woche nach dem Darmstadtspiel. Nach meinem Anruf hatte Ramin sich gleich am nächsten Morgen in den Flieger gesetzt, und er war fast eine ganze Woche geblieben. Finn, den ich vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, hatte erst ein Gesicht gemacht, als wolle er sein Zeug zusammenpacken und ausziehen. Aber dann hatte Ramin sich entschuldigt, direkt bei ihm, und als Finn die ganze Woche mein strahlendes Gesicht vor Augen gehabt hatte, war er langsam weich geworden. Am Ende hatte er sogar ein paar Höflichkeitsfloskeln mit Ramin in einem Tonfall austauschen können, der fast an ehrliche Freundlichkeit gegrenzt hatte.

Gidi war von Anfang an hauptsächlich neugierig gewesen. Ein bisschen nervös vielleicht, aber das war spätestens dann vorbei gewesen, als er und Finn Ramin und mir beim FIFA-Zocken eine beispiellose Abreibung verpasst hatten. Ich hatte getan, was ich konnte, aber allein hatte ich gegen die beiden keine Chance, und allein hatte ich quasi spielen müssen, weil Ramin noch nie zuvor in seinem Leben einen Playstation-Controller in der Hand gehabt hatte. Er hatte fürchterlich geflucht, aber ich hatte die Niederlage in vollen Zügen genossen. Und Finn hatte es vielleicht ganz gutgetan. Er hatte zwar nichts gesagt, aber seine schmalen Lippen und das Blitzen in seinen Augen, als er Ramin und mir ein Tor nach dem anderen reingehauen hatte, hatte ich genau gesehen.

Finn konnte heute leider auch nicht spielen, weil er vor dreieinhalb Wochen, als er gerade wieder so richtig im Mannschaftstraining dabei gewesen war, nach einem Luftzweikampf unglücklich gefallen war und sich einen komplizierten Handbruch zugezogen hatte. Er arbeitete jeden Tag mit den Rehatrainern am Comeback und war deshalb in Hamburg geblieben. Gidi und ich würden mit der Mannschaft erst mitten in der Nacht wieder zu Hause ankommen, und deswegen würden Ramin und Sierra, die mit dem Zug zurückfahren würden, die erste Nacht beide noch ins Hotel gehen. Morgen Abend würden wir dann alle fünf – Ramin, Sierra, Finn, Gidi und ich – bei uns zusammen essen. Bei dem Gedanken strahlte ich jedes Mal.

Seit dem Freitag Mitte April, an dem er wieder zurückgeflogen war, hatte ich Ramin nicht mehr gesehen, weil er in London zu tun gehabt hatte. Er sprach mit Theaterverantwortlichen, sondierte mögliche Rollen und arbeitete an einem neuen Studioalbum. Ich hatte jedes Wochenende ein Spiel und dazwischen Training gehabt. Wir hatten zwar viel telefoniert, aber jetzt, nach fast genau einem Monat, konnte ich es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Und Sierra war diesmal auch dabei. Meine regennassen Lippen verzogen sich schon wieder zu einem Lächeln. Mein ganzer engster Kreis würde morgen Abend in unserer Wohnung versammelt sein.

Aber davor gab es jetzt erst mal noch dieses Spiel zu bestreiten. Unser Klassenerhalt stand seit letzter Woche endgültig fest, und auch für Augsburg ging es um nichts mehr. Aber für mich ging es um wahnsinnig viel. Es ging um drei Punkte, um die Fans, die trotz des grässlichen Wetters und der ewig langen Anreise für einen prall gefüllten und lautstarken Gästeblock sorgten, es ging um ein gutes Gefühl für die Sommerpause und natürlich um die drei, die heute für mich auf der Haupttribüne saßen. Und dann ging es ja auch noch um ein einzulösendes Versprechen.

Meyers Pfiff übertönte den Regen. Augsburg stieß an, und die ersten Minuten waren so wie das Wetter: höchst ungemütlich und so, dass man eigentlich lieber zu Hause bleiben würde. Der Ball rollte auf dem nassen Rasen anders als sonst, und hohe Bälle wurden unerreichbar schnell, sobald sie einmal aufgesprungen waren. Ich hatte mit meinen Schuhen und der schlechten Sicht zu kämpfen. Mehrmals rutschte ich weg, und ich musste immer zweimal hinsehen, bevor ich mir durch die Regenwand sicher sein konnte, dass der Spieler, den ich anspielen wollte, wirklich hellblau und nicht weiß trug. Aber nach ein paar Minuten hatte ich mich besser an die Bedingungen gewöhnt, und für den ersten Aufreger des Spiels sorgte Michi, als er einen Schuss aus zwanzig Metern nur knapp drüber setzte.

Nach dem Gegenangriff der Augsburger lag der Ball in unserem Tor. Tom und Johan waren sich bei einer Flanke von links nicht einig gewesen, und der Augsburger Stürmer Alfred Finnbogason hatte das Geschenk angenommen. Aus vier Metern hatte er nur noch den Kopf hinhalten müssen. Links hinter unserem Tor verstummte der Gästeblock, während die Lummerland-Melodie durchs Stadion hallte. Die Augsburger jubelten, aber ich schaute ihnen nicht lange hinterher, sondern lief wie Matze und Go zu Tom, um ihn aufzubauen. „Auf geht’s, weiter!“

Auch unsere Fans hielten nicht lange still. Ihre „HSV, HSV!“-Rufe waren auch neben dem Augsburger Stadionsprecher, der den Torschützen feierte, deutlich zu hören. Als wir uns zum Anstoß aufstellten, schaute ich wieder kurz nach links. Wir verlieren heute nicht, versprach ich mir und ihnen.

Nach dem Wiederanstoß übernahmen wir das Kommando. Nabil hatte zwei Chancen, verwertete sie aber nicht. Kurz danach zeigte Tom gegen einen Kopfball nach einer Freistoß-Flanke und gegen einen Fernschuss aus achtzehn Metern zwei überragende Paraden, für die er von uns allen gefeiert wurde. Wieder ein paar Minuten später hatte Nico eine Abschlusschance, aber der Ball rutschte ihm über den Fuß. Kein Wunder, bei dem Regen. Ich wischte mir die Haare, die mir ständig in nassen Strähnen in die Augen fielen, aus der Stirn und jagte dem Abstoß vom Augsburger Torwart Marwin Hitz hinterher.

Nach einer guten halben Stunde sah Michi Gelb, weil er gegen Innenverteidiger Christoph Janker mit gestrecktem Bein in den Zweikampf gegangen war. In der nächsten Aktion revanchierte sich Janker, indem er Nico vor dem Strafraum umsäbelte. Er bekam auch Gelb, und wir bekamen einen direkten Freistoß. Dreiundzwanzig Meter, zentral vor dem Tor.

Hitz stellte brüllend seine Mauer. Ein paar von uns versuchten, sich in den weißen Wall hineinzuzwängen, um für Verwirrung zu sorgen. Michi und ich standen am Ball, so dicht nebeneinander, dass unsere Oberarme sich berührten.

„Ich schieß den rein.“ Michi sprach so leise, dass nur ich ihn hören konnte. Er sah mich nicht an, sondern fixierte das rechte obere Eck. „Zack, drin. Wie im Training.“

Wie im Training. Ich sah Michi und mich im Hamburger Frühlingswetter, warmen Sonnenschein auf Armen und Gesicht. Wie wir allein Mauern mimten und Freistöße traten. Von links, von rechts, von weit weg und direkt von der Strafraumlinie.

„Der liegt zu nah dran.“ Auch meine Stimme war nicht mehr als ein Zischen. „Aus der Entfernung hast du im Training die Hälfte drüber gehauen. Ich schieß den, ich bin besser von so nah.“

Dass das allenfalls annähernd der Wahrheit entsprach, war mir egal. Ja, Michis große Stärke war seine Schusskraft, nicht das Gefühl, aber er hatte auch schon Bälle aus Nahdistanz verwandelt. Bei seinem Tor in Ingolstadt in der Hinrunde zum Beispiel hatte der Ball kaum weiter weggelegen als dieser. Aber das zählte jetzt nicht. Ich würde diesen Freistoß schießen.

Zum Glück fand Michi anscheinend, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um eine Grundsatzdebatte über seine Qualitäten als Freistoßschütze zu führen. Er sah mich zwar ein wenig zweifelnd an, aber er nickte. „Na gut. Mach du ihn. Aber dann hau ihn auch rein!“

Ich bückte mich, drehte den Ball zwischen den Händen und legte ihn wieder hin. Dann trat ich von ihm weg, zwei Schritte zurück und einen nach links. Michi tat das Gleiche, nur, dass sein letzter Schritt nach rechts ging. Er war Links-, ich Rechtsfuß, und es war nur gut für uns, wenn die Augsburger nicht wussten, worauf sie sich einstellen mussten.

Ich schaute auf den Ball, dann Richtung Tor. Viel davon konnte ich nicht mehr sehen, es war fast vollständig durch die Augsburger Mauer verdeckt. Aber den oberen rechten Winkel konnte ich ausmachen, und das war die einzige Stelle, die zählte. Der Ball lag etwas weiter rechts als links. Hitz hatte die Mauer so positioniert, dass sie die rechte Torhälfte abdeckte, und würde selbst in der linken stehen. Über die Mauer und rechts oben ins Tor. Dann hatte Hitz keine Chance.

Ich streckte die Finger, entspannte sie. Wartete auf den Pfiff. Schaute nur auf den Ball – ich wusste ja, wohin ich schießen würde. Mein rechter Fuß kribbelte. Großer Zeh, nur der große Zeh. Wieder schossen Bilder vom Volkspark durch meinen Kopf. Mein Anlauf. Der Ball, der im Bogen über Michis Scheitel hinwegflog und sich ins Netz senkte. Ein Gesicht, vom Schatten einer Kapuze verdeckt. Das Gesicht, das mir auch jetzt wieder zusah, links von mir, hoch oben auf der Tribüne. Seine Stimme. Good shot.

Der Pfiff durchschnitt das Prasseln des Regens. Ich stieß die Luft aus und lief an. Drei Schritte. Links, rechts, links. Der zweite linke bohrte sich neben dem Ball in den Rasen, etwas schräg nach hinten versetzt. Ausholen. Treffen.

Mein Blick schnellte nach oben. Er folgte dem Ball, der anstieg, flog, rotierend, die Mauer sprang, streckte sich, kam nicht dran. Der Ball senkte sich. Den fliegenden Hitz konnte ich hinter der Mauer nicht sehen, ahnte aber, dass es ihn gab, quer in der Luft, Arme gestreckt, Finger gestreckt. Es nützte ihm nichts. Der Ball zischte durch die Luft, flog sauber unter der Latte hindurch und wurde aufgefangen vom Tornetz, das sich nach hinten ausbeulte, als er einschlug.

„YES!“

Ich breitete die Arme aus, strahlte. Der Regen schmeckte plötzlich köstlich auf meinen Lippen.

Michi strahlte auch, lachte, stieß mich an den Schultern leicht nach hinten und zog mich an sich. „Geiles Ding, Martin!“

Lachend umarmte ich ihn. Um uns scharte sich der Rest der Mannschaft. Hände regneten auf meinen Kopf, meine Schultern und meinen Rücken. Hinter uns feierte der Gästeblock.

Als wir unsere Jubeltraube auflösten und zurück auf unsere Positionen liefen, schaute ich nach oben zur Haupttribüne. Ich hob den Arm und ballte die Faust in ihre Richtung. Nummer eins, für mich und für euch. Einer noch. Mindestens einer noch.

Ein paar Minuten nach Wiederanpfiff hatten wir eine Riesenchance, als Go Nico mit einem langen Ball schickte und Hitz sich beim Rauslaufen verschätzte. Aber Innenverteidiger Jeong-Ho Hong war zurückgeeilt und klärte noch vor der Linie. Danach rutschte er auf dem schlammigen Rasen, der mittlerweile besonders vor den Toren deutlich mehr braun als grün war, weg und schlitterte rückwärts ins Tornetz. Ich lachte und strich mir die klatschnassen Haare zurück. Was für eine Schlammschlacht. Wir würden alle von Kopf bis Fuß matschig sein, wenn es vorbei war. Wenn wir eine Amateurmannschaft wären, müsste derjenige, dessen Trikot nachher noch am saubersten war, das Waschen übernehmen. Grinsend orientierte ich mich zum Augsburger Spielmacher Halil Altintop und wartete auf den Abstoß. Was für ein geiles Spiel.

Schiedsrichter Meyer schien vom Wetter allerdings die Nase voll zu haben, denn er pfiff eine Minute zu früh zur Halbzeit. Auf unsere überraschten Gesichter hin runzelte er die Stirn, schaute auf seine Uhr, lachte und ließ doch noch einmal weiterspielen. Erst nach dem zweiten Halbzeitpfiff gingen wir endgültig in die Kabine.

Drinnen lag für jeden eine neue Spielgarnitur bereit. Ich schälte mich aus den nassen Klamotten, schrubbte mich mit einem Handtuch ab, zog das trockene Zeug über, setzte mich auf meinen Platz und schloss die Augen. Wunderbar. Nicht glitschig, nicht klebrig, nicht kalt. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich wieder so klatschnass war, als käme ich direkt aus der Eistonne, wenn wir wieder draußen waren? Fünfzehn Sekunden? Dreißig?

Ich grinste, machte die Augen auf und hörte Brunos Ansprache zu. Er lobte unseren Einsatz, Toms Paraden und den allgemeinen Kampfgeist. In der zweiten Halbzeit sollten wir einfach so weitermachen. Spaß haben, Fußball spielen, Tore schießen, gewinnen. Als er seine Ansprache schloss und wir uns klatschend und rufend anstachelten, gab es nur grinsende Gesichter.

„Den nächsten Freistoß schieß aber ich“, raunte Michi mir zu, während wir durch die Mixed Zone zurück aufs Spielfeld liefen.

„Hallo, nach dem Traumtor, machst du Witze!?“

Wir lachten. Es war so schön, heute mal einfach nur Fußball spielen zu können.

In den ersten zehn Minuten nach der Pause übernahmen wir das Kommando, ohne zwingend zu sein. Danach erarbeitete sich Augsburg zwei Standards nacheinander, und Tom zeigte gegen einen Schuss von Philipp Max aus achtzehn Metern die nächste Monsterparade. Ein paar Minuten später spielte der Augsburger Sechser Dominik Kohr auf Höhe der Mittellinie einen Pass direkt in meinen Fuß. Ganz Augsburg war in der Vorwärtsbewegung gewesen und unsortiert. Blitzschnell scannte ich das Spielfeld und schickte rechts Nico auf die Reise. Der nahm in der Mitte Lewis mit, der für Lasso durchsteckte. Er stand relativ frei im Strafraum. Nur Hong war zurückgeeilt und stellte sich ihm in den Weg. Lasso täuschte eine Bewegung an, rutschte leicht weg, drehte sich um die eigene Achse und kam noch zum Schuss, aber Hong konnte blocken.

Es gab Eckball von rechts. Ich lief nach draußen, legte mir den Ball auf den Viertelkreis, blinzelte in den Regen und strich mir wieder mal die Haare aus der Stirn. Im Strafraum drängten sich hellblaue und weiße Schatten, beide durch den Regen mit einem grauen Schleier überzogen. Ich hob den rechten Arm, nahm Anlauf und schoss.

Von rechts mit rechts drehte sich der Ball vom Tor weg und senkte sich auf Höhe des ersten Pfostens genau auf den höchsten verfügbaren Kopf – Michis. Von ihm verlängert, flog der Ball quer über alle Köpfe im Strafraum hinweg und fiel erst am anderen Pfosten herunter. Dort stand Nico völlig frei und musste nur die Stirn hinhalten.

„Jaaaaaaaaa!“ Mit ausgebreiteten Armen lief ich die Grundlinie entlang, hinter dem Augsburger Tor vorbei und auf unseren Fanblock zu, vor dem Nico sich jubelnd aufgebaut und der Rest des Teams sich um ihn geschart hatte. Michi sah mich kommen und nahm mich strahlend in Empfang.

„Geile Ecke!“

„Geiler Kopfball!“

Über uns feierten die Fans und schwenkten Fahnen und Schals. Ich schaute nach oben und sog den Anblick in mich ein. Es war die Führung. Und mit dem Tor zum eins zu null in Hannover war es der dritte Standard gewesen. Damit hatte ich mein Versprechen an die Mannschaft erfüllt. Aber war es genug? Nein. Nein, heute noch nicht. Heute wollte ich noch. Ich wollte den Gästeblock noch einmal jubeln sehen, ich wollte sie noch einmal glücklich machen. Glücklich – und vielleicht ein bisschen stolz.

Direkt nach unserem Tor wechselten beide Trainer. Bei Augsburg kam ein Stürmer für einen Mittelfeldspieler, und Bruno tauschte positionsgetreu: Für Lasso kam Batuhan ins Spiel und war damit nach Tom der zweite Spieler, der heute für uns sein Bundesligadebüt feierte. Und er zeigte keine Scheu, nach seiner Einwechslung holte er sich gleich mal eine Gelbe Karte ab. Ein paar Minuten später erlief er einen zu kurz geratenen Rückpass von Augsburgs Rechtsverteidiger Daniel Opare und lief allein aufs Tor zu, aber der Winkel war spitz und Hitz konnte seinen Schuss parieren. Festhalten konnte er ihn allerdings nicht, sodass es wieder Ecke für uns gab, diesmal von der anderen Seite. Direkt vor unseren Fans legte ich mir den Ball zurecht. Komm schon. Lass sie jubeln. Mach ihn stolz.

Ich atmete durch, hob diesmal den linken Arm, lief an und schlug den Ball in den Strafraum. Er drehte sich zum Tor hin und fand zwischen Fünfmeterraum und Elfmeterpunkt Clebers Kopf. Der Augsburger Kapitän Daniel Baier kriegte den Fuß zwischen Ball und Tor, aber die Richtung des Blocks konnte er nicht kontrollieren. Die Kugel prallte einfach ab – direkt vor Michis Füße. Aus drei Metern schob er sie zum drei zu eins ins Tor.

Diesmal hatte ich die Eruption des Gästeblocks im Rücken. Die Jubelschreie schallten in meinen Ohren, und von vorne kamen Michi und der Rest der Mannschaft auf mich zu, lachend, mit geballten Fäusten und ausgebreiteten Armen. Die letzten Meter sprang ich Michi entgegen. Er fing mich auf und hielt mich, und unsere Mitspieler scharten sich um uns herum.

Auf dem Weg zurück in unsere Hälfte strahlte ich wieder die Haupttribüne an. Diesmal streckte ich den Arm aus, um mit dem Zeigefinger nach oben auf die durch den Regenschleier verwischten Reihen zu weisen. Es war egal, dass ich sie nicht sehen konnte. Sie konnten mich sehen, und sie würden wissen, dass sie gemeint waren. Noch eins. Komm schon. Noch eins. Einer geht noch!

Aber in der verbleibenden Viertelstunde kamen wir nicht mehr richtig nach vorne, und wir erarbeiteten uns auch keinen gefährlichen Standard mehr. Stattdessen versuchten die Augsburger, noch mal ein paar Angriffe zu starten, aber wir ließen sie nicht durch. Mit jeder Minute wurden ihre Vorstöße halbherziger, und drei Minuten vor Schluss gaben sie sich endgültig geschlagen und konzentrierten sich auf einen Abschied, der anstand: Torwart Alexander Manninger, der in seinen vier Jahren beim FCA ein absolut zuverlässiger Ersatzmann gewesen war und den Verein jetzt verlassen würde, durfte noch ein letztes Mal auf dem Platz stehen. Ich applaudierte mit, als er aufs Spielfeld lief. Für den letzten Freistoß in der Nachspielzeit mischte er sich ins Getümmel in unserem Strafraum, aber der Ball flog direkt ins Aus. Dann war Schluss. Die Saison war vorbei, wir hatten das letzte Spiel mir drei zu eins gewonnen und liefen damit auf dem zehnten Tabellenplatz ein. Es sah nach einer ruhigen Spielzeit aus, nach gesichertem Mittelfeld ohne viele Turbulenzen, genau so, wie wir es uns vorgenommen hatten.

Ruhige Spielzeit. Ohne Turbulenzen. Ich lachte und wirbelte den Kopf hin und her. Regentropfen stoben in alle Richtungen.

Auf dem Weg vom Fanblock zurück Richtung Kabine stupste Lasso mich an. „Hättest ja ruhig mal sagen können, dass du dir die Standards alle für den letzten Spieltag aufhebst!“

„Wieso? Das hätte doch die ganze Spannung gekillt!“

Er lachte, aber er verzog auch ein wenig das Gesicht. Wahrscheinlich trauerte er der Woche Malle hinterher. Ich schüttelte grinsend den Kopf. Ein Glück, dass ich mein Versprechen noch erfüllt hatte. Ich konnte mir wenige Dinge vorstellen, nach denen ich so urlaubsreif wäre wie nach einer Woche Ballermann mit der Mannschaft. Außerdem war der Sommerurlaub nie lang. Und ich hatte schon andere Pläne.

Während wir den Platz überquerten, schaute ich hoch zur Haupttribüne. Es regnete immer noch, Gesichter konnte ich weiterhin nicht erkennen. Aber ich wusste, dass Ramin dort oben saß und zu mir herunterschaute. Ich spürte seinen Blick auf mir, und er wärmte mich, so tief drin, dass der Regen und mein klitschnasses Trikot dagegen nichts ausrichten konnten.

Gidi hatte recht gehabt. Ich wusste nicht, ob Ramin mir auf ewig erhalten bleiben würde, und der Gedanke, dass er irgendwann wieder anfangen könnte, Sex mit anderen zu haben, tat noch so weh wie immer. Aber wenn ich ihn abgewiesen hätte, hätte ich mir nicht jeden Schmerz erspart. Ich hätte mich nur sofort unglücklich gemacht. Dann wäre ich die letzten vier Wochen nicht mit einem Dauergrinsen herumgelaufen, und dann säße er jetzt nicht hier und hätte drei Tore gesehen, an denen ich allesamt beteiligt gewesen war.

Ich schaute nach oben und lächelte. Ich wusste nicht, was kommen würde. Und Ramin wusste es auch nicht. Vielleicht würde er irgendwann nicht mehr aushalten, dass er sich für mich verstellen musste, vielleicht würde ich nicht aushalten, dass er Sex mit anderen hatte. Vielleicht würde es irgendwann vorbei sein. Aber jetzt gerade war es nicht vorbei. Jetzt gerade planten wir einen gemeinsamen Sommerurlaub, jetzt gerade würden wir morgen Abend mit unseren Freunden zusammen sein und essen und reden und lachen, und davor würden wir in der Früh, wenn er zu mir kommen würde, endlich wieder Sex haben.

Ich legte den Kopf in den Nacken und lachte. Über die Schulter schaute ich noch einmal zurück in Richtung Gästeblock, der sich langsam leerte. Als ich den Kopf wieder wegdrehte, blieb mein Blick hängen. Da, neben mir, ging Michi. Michi, so groß und schlank, immer so gut drauf, der jetzt strahlte über sein Tor und den Sieg. Michi, der mit mir Freistöße trainiert, der diese Saison in Ingolstadt und Bremen zwei Tore per direktem Freistoß erzielt und mir den heute aus bester Position trotzdem bereitwillig überlassen hatte. Michi, mit dem ich heute alle Tore gefeiert hatte.

Ich spürte ein Ziehen im Bauch. Michi würde morgen nicht dabei sein. Er war mein Freund, und ich hatte ihn gern, aber trotzdem würde er morgen fehlen. Ich hatte ihn nicht eingeladen. Weil er es nicht wusste.

Er spürte meinen Blick, grinste und legte mir den Arm um die Schultern. „Das war unser Spiel heute, was, Martin?“

Unser Spiel. Ein leises Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Schade. Eigentlich war es schade, dass er nicht da sein würde. Schade, dass er sie nicht kennenlernen konnte, Ramin und Sierra, meinen Partner und dessen beste Freundin, die so etwas wie meine große Schwester geworden war. Ich schaute Michi an, und mein Lächeln wurde breiter. Vielleicht würde ich es ihm ja sagen. Vielleicht. Irgendwann. Bald.

Wir traten in den Bauch des Stadions, und endlich hörte der Regen auf. In der Kabine durften wir endgültig aus den nassen Sachen raus, und unter der Dusche schloss ich die Augen und genoss das warme Wasser, das das kalte fortspülte. Vor meinen geschlossenen Lidern schwamm ein Bild von Ramin in meinen Kopf. Er grinste, sein schwarzes Haar war leicht feucht und nachlässig zur Seite gekämmt, in seinen Augen loderten Feuer. Genau so, wie ich ihn damals im Gang hinter der Bühne zum ersten Mal richtig gesehen hatte.

Ich presste die Lippen zusammen und grinste. Vielleicht würde das Ende, auf die eine oder andere Weise, irgendwann kommen. Aber das hier war nicht das Ende. Das hier war ein Anfang. Und der fühlte sich jetzt gerade einfach nur großartig an.

 

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Tja, und das war’s, meine Lieben. Ich kann nicht fassen, dass es heute schon Zeit für das 34. Kapitel war, dass die Geschichte und Martin jetzt wohl endgültig erwachsen geworden sind.

 

Ich danke euch, dass ihr mir 34 Wochen lang treu geblieben seid – sozusagen meine ganz persönliche Saison lang. Es war mir eine riesige Freude, die Kapitel hochzuladen, zu sehen, wie die Aufrufzahlen, die Favos, die Empfehlungen, die Lesemarkierungen und ganz besonders die Reviewzahlen stetig gestiegen sind. Dieser wöchentliche Termin am Dienstagabend wird mir wahnsinnig fehlen. Vielen, vielen Dank an alle, die meine Geschichte gelesen und sich hoffentlich an ihr erfreut haben, und ganz besonders danke an diejenigen, die ihre Wertschätzung durch Favos, Empfehlungen, Lesemarkierungen oder einen der anderen Wege auf ff.de oder AO3 für mich sichtbar gemacht haben. Ein noch größerer Dank geht an alle, die sich die Mühe gemacht haben, ein Review zu schreiben und ein paar Minuten ihrer Zeit geopfert haben, um mir zu sagen, dass ihr die Geschichte verfolgt und schätzt. Jedes Mal, wenn in meiner Handysymbolleiste das FF-Symbol erschien, war es ein Glücksmoment für mich. Ein ganz spezielles Dankeschön geht an becs und Chillkroete, die zu beinahe jedem Kapitel ein Review geschrieben haben und mich in dieser wunderbaren Regelmäßigkeit daran teilhaben ließen, wie sie die Geschichte in ihren einzelnen Kapiteln und Wendungen erlebt haben. Ich kann euch gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Ohne euch beide hätte das Hochladen mir definitiv weniger Spaß gemacht.

 

Nun ist die Geschichte vollständig hochgeladen, und ihr werdet nicht mehr jeden Dienstag etwas Neues von Martin zu lesen bekommen – wenn aber der eine oder andere von euch auch jetzt noch Lust hat, mir eure Gedanken zur Geschichte, ein Lob, eine Kritik oder einfach einen Teil eures Leseerlebens mitzuteilen, wäre ich überglücklich darüber! Und obwohl Martins Geschichte jetzt erst einmal auserzählt ist, lässt mich seine und Ramins Welt natürlich nicht los. Löscht also die Geschichte noch nicht gleich aus eurem Alert-System – es könnte durchaus sein, dass gelegentlich noch das eine oder andere Bonus-Kapitel dazukommt …

 

Ganz liebe Grüße an euch alle,

Rhaena

Chapter 64: Ein Anfang - D

Chapter Text

  1. Kapitel: Ein Anfang

 

Ich blinzelte mir die Regentropfen aus den Augen und strich das nasse Haar aus der Stirn, während ich darauf wartete, dass Schiedsrichter Florian Meyer anpfiff. Es war der letzte Spieltag, Mitte Mai, aber der Himmel über Augsburg war nur grau, und es schüttete. Schon nach dem Aufwärmen waren wir klitschnass gewesen, und die Spielkleidung, die in der Kabine noch herrlich trocken gewesen war, klebte jetzt schon wieder an mir.

Ich warf einen Blick nach links auf die Haupttribüne, obwohl ich wusste, dass die drei, die ich suchte, relativ weit oben saßen und dass ich durch den Regen noch weniger Chancen hatte, sie zu entdecken. Trotzdem schweiften meine Augen kurz die Reihen entlang. Irgendwo da oben saßen sie – Ramin, Sierra und Gidi, der seit zwei Wochen mit Rückenproblemen ausfiel. Das war ärgerlich, und heute ganz besonders, weil in den letzten Tagen eine regelrechte Verletzungswelle über uns hereingebrochen war und wir deswegen heute nur sechzehn statt den eigentlich erlaubten achtzehn Spielern im Kader hatten. Wäre Gidi fit, würde er jetzt neben mir auf der Doppelsechs spielen. So hatte ich noch mal Lewis an meiner Seite. Michi spielte vor uns auf der Zehn, und auf dem linken Flügel stand Nabil zum erst zweiten Mal überhaupt in der Startelf. Im Tor war es für unseren dritten Mann Tom heute das Profidebüt, und auf der Bank saßen neben Dennis und Schippo mit Batuhan, Ahmet und Keeper Tino drei Spieler, die bisher zusammen genau eine Minute Spielzeit in der Bundesliga vorweisen konnten. Wir hätten Gidi verdammt gut gebrauchen können. Aber er selber nahm die Verletzung gar nicht so schwer. Er verpasste nur die letzten zwei Spiele, und dann lag eine ganze Sommerpause vor ihm, um sich auszukurieren. Und weil er zum letzten Saisonspiel trotz seiner Verletzung unbedingt im Stadion hatte sein wollen, konnte er jetzt immerhin neben Ramin und Sierra auf der Tribüne sitzen und mit seiner fußballerischen Expertise für etwaige Fragen zur Verfügung stehen. Bei dem Gedanken lächelte ich.

Ramin hatte Gidi schon im April richtig kennengelernt, in der Woche nach dem Darmstadtspiel. Nach meinem Anruf hatte Ramin sich gleich am nächsten Morgen in den Flieger gesetzt, und er war fast eine ganze Woche geblieben. Finn, den ich vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, hatte erst ein Gesicht gemacht, als wolle er sein Zeug zusammenpacken und ausziehen. Aber dann hatte Ramin sich entschuldigt, direkt bei ihm, und als Finn die ganze Woche mein strahlendes Gesicht vor Augen gehabt hatte, war er langsam weich geworden. Am Ende hatte er sogar ein paar Höflichkeitsfloskeln mit Ramin in einem Tonfall austauschen können, der fast an ehrliche Freundlichkeit gegrenzt hatte.

Gidi war von Anfang an hauptsächlich neugierig gewesen. Ein bisschen nervös vielleicht, aber das war spätestens dann vorbei gewesen, als er und Finn Ramin und mir beim FIFA-Zocken eine beispiellose Abreibung verpasst hatten. Ich hatte getan, was ich konnte, aber allein hatte ich gegen die beiden keine Chance, und allein hatte ich quasi spielen müssen, weil Ramin noch nie zuvor in seinem Leben einen Playstation-Controller in der Hand gehabt hatte. Er hatte fürchterlich geflucht, aber ich hatte die Niederlage in vollen Zügen genossen. Und Finn hatte es vielleicht ganz gutgetan. Er hatte zwar nichts gesagt, aber seine schmalen Lippen und das Blitzen in seinen Augen, als er Ramin und mir ein Tor nach dem anderen reingehauen hatte, hatte ich genau gesehen.

Finn konnte heute leider auch nicht spielen, weil er vor dreieinhalb Wochen, als er gerade wieder so richtig im Mannschaftstraining dabei gewesen war, nach einem Luftzweikampf unglücklich gefallen war und sich einen komplizierten Handbruch zugezogen hatte. Er arbeitete jeden Tag mit den Rehatrainern am Comeback und war deshalb in Hamburg geblieben. Gidi und ich würden mit der Mannschaft erst mitten in der Nacht wieder zu Hause ankommen, und deswegen würden Ramin und Sierra, die mit dem Zug zurückfahren würden, die erste Nacht beide noch ins Hotel gehen. Morgen Abend würden wir dann alle fünf – Ramin, Sierra, Finn, Gidi und ich – bei uns zusammen essen. Bei dem Gedanken strahlte ich jedes Mal.

Seit dem Freitag Mitte April, an dem er wieder zurückgeflogen war, hatte ich Ramin nicht mehr gesehen, weil er in London zu tun gehabt hatte. Er sprach mit Theaterverantwortlichen, sondierte mögliche Rollen und arbeitete an einem neuen Studioalbum. Ich hatte jedes Wochenende ein Spiel und dazwischen Training gehabt. Wir hatten zwar viel telefoniert, aber jetzt, nach fast genau einem Monat, konnte ich es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Und Sierra war diesmal auch dabei. Meine regennassen Lippen verzogen sich schon wieder zu einem Lächeln. Mein ganzer engster Kreis würde morgen Abend in unserer Wohnung versammelt sein.

Aber davor gab es jetzt erst mal noch dieses Spiel zu bestreiten. Unser Klassenerhalt stand seit letzter Woche endgültig fest, und auch für Augsburg ging es um nichts mehr. Aber für mich ging es um wahnsinnig viel. Es ging um drei Punkte, um die Fans, die trotz des grässlichen Wetters und der ewig langen Anreise für einen prall gefüllten und lautstarken Gästeblock sorgten, es ging um ein gutes Gefühl für die Sommerpause und natürlich um die drei, die heute für mich auf der Haupttribüne saßen. Und dann ging es ja auch noch um ein einzulösendes Versprechen.

Meyers Pfiff übertönte den Regen. Augsburg stieß an, und die ersten Minuten waren so wie das Wetter: höchst ungemütlich und so, dass man eigentlich lieber zu Hause bleiben würde. Der Ball rollte auf dem nassen Rasen anders als sonst, und hohe Bälle wurden unerreichbar schnell, sobald sie einmal aufgesprungen waren. Ich hatte mit meinen Schuhen und der schlechten Sicht zu kämpfen. Mehrmals rutschte ich weg, und ich musste immer zweimal hinsehen, bevor ich mir durch die Regenwand sicher sein konnte, dass der Spieler, den ich anspielen wollte, wirklich hellblau und nicht weiß trug. Aber nach ein paar Minuten hatte ich mich besser an die Bedingungen gewöhnt, und für den ersten Aufreger des Spiels sorgte Michi, als er einen Schuss aus zwanzig Metern nur knapp drüber setzte.

Nach dem Gegenangriff der Augsburger lag der Ball in unserem Tor. Tom und Johan waren sich bei einer Flanke von links nicht einig gewesen, und der Augsburger Stürmer Alfred Finnbogason hatte das Geschenk angenommen. Aus vier Metern hatte er nur noch den Kopf hinhalten müssen. Links hinter unserem Tor verstummte der Gästeblock, während die Lummerland-Melodie durchs Stadion hallte. Die Augsburger jubelten, aber ich schaute ihnen nicht lange hinterher, sondern lief wie Matze und Go zu Tom, um ihn aufzubauen. „Auf geht’s, weiter!“

Auch unsere Fans hielten nicht lange still. Ihre „HSV, HSV!“-Rufe waren auch neben dem Augsburger Stadionsprecher, der den Torschützen feierte, deutlich zu hören. Als wir uns zum Anstoß aufstellten, schaute ich wieder kurz nach links. Wir verlieren heute nicht, versprach ich mir und ihnen.

Nach dem Wiederanstoß übernahmen wir das Kommando. Nabil hatte zwei Chancen, verwertete sie aber nicht. Kurz danach zeigte Tom gegen einen Kopfball nach einer Freistoß-Flanke und gegen einen Fernschuss aus achtzehn Metern zwei überragende Paraden, für die er von uns allen gefeiert wurde. Wieder ein paar Minuten später hatte Nico eine Abschlusschance, aber der Ball rutschte ihm über den Fuß. Kein Wunder, bei dem Regen. Ich wischte mir die Haare, die mir ständig in nassen Strähnen in die Augen fielen, aus der Stirn und jagte dem Abstoß vom Augsburger Torwart Marwin Hitz hinterher.

Nach einer guten halben Stunde sah Michi Gelb, weil er gegen Innenverteidiger Christoph Janker mit gestrecktem Bein in den Zweikampf gegangen war. In der nächsten Aktion revanchierte sich Janker, indem er Nico vor dem Strafraum umsäbelte. Er bekam auch Gelb, und wir bekamen einen direkten Freistoß. Dreiundzwanzig Meter, zentral vor dem Tor.

Hitz stellte brüllend seine Mauer. Ein paar von uns versuchten, sich in den weißen Wall hineinzuzwängen, um für Verwirrung zu sorgen. Michi und ich standen am Ball, so dicht nebeneinander, dass unsere Oberarme sich berührten.

„Ich schieß den rein.“ Michi sprach so leise, dass nur ich ihn hören konnte. Er sah mich nicht an, sondern fixierte das rechte obere Eck. „Zack, drin. Wie im Training.“

Wie im Training. Ich sah Michi und mich im Hamburger Frühlingswetter, warmen Sonnenschein auf Armen und Gesicht. Wie wir allein Mauern mimten und Freistöße traten. Von links, von rechts, von weit weg und direkt von der Strafraumlinie.

„Der liegt zu nah dran.“ Auch meine Stimme war nicht mehr als ein Zischen. „Aus der Entfernung hast du im Training die Hälfte drüber gehauen. Ich schieß den, ich bin besser von so nah.“

Dass das allenfalls annähernd der Wahrheit entsprach, war mir egal. Ja, Michis große Stärke war seine Schusskraft, nicht das Gefühl, aber er hatte auch schon Bälle aus Nahdistanz verwandelt. Bei seinem Tor in Ingolstadt in der Hinrunde zum Beispiel hatte der Ball kaum weiter weggelegen als dieser. Aber das zählte jetzt nicht. Ich würde diesen Freistoß schießen.

Zum Glück fand Michi anscheinend, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um eine Grundsatzdebatte über seine Qualitäten als Freistoßschütze zu führen. Er sah mich zwar ein wenig zweifelnd an, aber er nickte. „Na gut. Mach du ihn. Aber dann hau ihn auch rein!“

Ich bückte mich, drehte den Ball zwischen den Händen und legte ihn wieder hin. Dann trat ich von ihm weg, zwei Schritte zurück und einen nach links. Michi tat das Gleiche, nur, dass sein letzter Schritt nach rechts ging. Er war Links-, ich Rechtsfuß, und es war nur gut für uns, wenn die Augsburger nicht wussten, worauf sie sich einstellen mussten.

Ich schaute auf den Ball, dann Richtung Tor. Viel davon konnte ich nicht mehr sehen, es war fast vollständig durch die Augsburger Mauer verdeckt. Aber den oberen rechten Winkel konnte ich ausmachen, und das war die einzige Stelle, die zählte. Der Ball lag etwas weiter rechts als links. Hitz hatte die Mauer so positioniert, dass sie die rechte Torhälfte abdeckte, und würde selbst in der linken stehen. Über die Mauer und rechts oben ins Tor. Dann hatte Hitz keine Chance.

Ich streckte die Finger, entspannte sie. Wartete auf den Pfiff. Schaute nur auf den Ball – ich wusste ja, wohin ich schießen würde. Mein rechter Fuß kribbelte. Großer Zeh, nur der große Zeh. Wieder schossen Bilder vom Volkspark durch meinen Kopf. Mein Anlauf. Der Ball, der im Bogen über Michis Scheitel hinwegflog und sich ins Netz senkte. Ein Gesicht, vom Schatten einer Kapuze verdeckt. Das Gesicht, das mir auch jetzt wieder zusah, links von mir, hoch oben auf der Tribüne. Seine Stimme. Guter Schuss.

Der Pfiff durchschnitt das Prasseln des Regens. Ich stieß die Luft aus und lief an. Drei Schritte. Links, rechts, links. Der zweite linke bohrte sich neben dem Ball in den Rasen, etwas schräg nach hinten versetzt. Ausholen. Treffen.

Mein Blick schnellte nach oben. Er folgte dem Ball, der anstieg, flog, rotierend, die Mauer sprang, streckte sich, kam nicht dran. Der Ball senkte sich. Den fliegenden Hitz konnte ich hinter der Mauer nicht sehen, ahnte aber, dass es ihn gab, quer in der Luft, Arme gestreckt, Finger gestreckt. Es nützte ihm nichts. Der Ball zischte durch die Luft, flog sauber unter der Latte hindurch und wurde aufgefangen vom Tornetz, das sich nach hinten ausbeulte, als er einschlug.

„YES!“

Ich breitete die Arme aus, strahlte. Der Regen schmeckte plötzlich köstlich auf meinen Lippen.

Michi strahlte auch, lachte, stieß mich an den Schultern leicht nach hinten und zog mich an sich. „Geiles Ding, Martin!“

Lachend umarmte ich ihn. Um uns scharte sich der Rest der Mannschaft. Hände regneten auf meinen Kopf, meine Schultern und meinen Rücken. Hinter uns feierte der Gästeblock.

Als wir unsere Jubeltraube auflösten und zurück auf unsere Positionen liefen, schaute ich nach oben zur Haupttribüne. Ich hob den Arm und ballte die Faust in ihre Richtung. Nummer eins, für mich und für euch. Einer noch. Mindestens einer noch.

Ein paar Minuten nach Wiederanpfiff hatten wir eine Riesenchance, als Go Nico mit einem langen Ball schickte und Hitz sich beim Rauslaufen verschätzte. Aber Innenverteidiger Jeong-Ho Hong war zurückgeeilt und klärte noch vor der Linie. Danach rutschte er auf dem schlammigen Rasen, der mittlerweile besonders vor den Toren deutlich mehr braun als grün war, weg und schlitterte rückwärts ins Tornetz. Ich lachte und strich mir die klatschnassen Haare zurück. Was für eine Schlammschlacht. Wir würden alle von Kopf bis Fuß matschig sein, wenn es vorbei war. Wenn wir eine Amateurmannschaft wären, müsste derjenige, dessen Trikot nachher noch am saubersten war, das Waschen übernehmen. Grinsend orientierte ich mich zum Augsburger Spielmacher Halil Altintop und wartete auf den Abstoß. Was für ein geiles Spiel.

Schiedsrichter Meyer schien vom Wetter allerdings die Nase voll zu haben, denn er pfiff eine Minute zu früh zur Halbzeit. Auf unsere überraschten Gesichter hin runzelte er die Stirn, schaute auf seine Uhr, lachte und ließ doch noch einmal weiterspielen. Erst nach dem zweiten Halbzeitpfiff gingen wir endgültig in die Kabine.

Drinnen lag für jeden eine neue Spielgarnitur bereit. Ich schälte mich aus den nassen Klamotten, schrubbte mich mit einem Handtuch ab, zog das trockene Zeug über, setzte mich auf meinen Platz und schloss die Augen. Wunderbar. Nicht glitschig, nicht klebrig, nicht kalt. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich wieder so klatschnass war, als käme ich direkt aus der Eistonne, wenn wir wieder draußen waren? Fünfzehn Sekunden? Dreißig?

Ich grinste, machte die Augen auf und hörte Brunos Ansprache zu. Er lobte unseren Einsatz, Toms Paraden und den allgemeinen Kampfgeist. In der zweiten Halbzeit sollten wir einfach so weitermachen. Spaß haben, Fußball spielen, Tore schießen, gewinnen. Als er seine Ansprache schloss und wir uns klatschend und rufend anstachelten, gab es nur grinsende Gesichter.

„Den nächsten Freistoß schieß aber ich“, raunte Michi mir zu, während wir durch die Mixed Zone zurück aufs Spielfeld liefen.

„Hallo, nach dem Traumtor, machst du Witze!?“

Wir lachten. Es war so schön, heute mal einfach nur Fußball spielen zu können.

In den ersten zehn Minuten nach der Pause übernahmen wir das Kommando, ohne zwingend zu sein. Danach erarbeitete sich Augsburg zwei Standards nacheinander, und Tom zeigte gegen einen Schuss von Philipp Max aus achtzehn Metern die nächste Monsterparade. Ein paar Minuten später spielte der Augsburger Sechser Dominik Kohr auf Höhe der Mittellinie einen Pass direkt in meinen Fuß. Ganz Augsburg war in der Vorwärtsbewegung gewesen und unsortiert. Blitzschnell scannte ich das Spielfeld und schickte rechts Nico auf die Reise. Der nahm in der Mitte Lewis mit, der für Lasso durchsteckte. Er stand relativ frei im Strafraum. Nur Hong war zurückgeeilt und stellte sich ihm in den Weg. Lasso täuschte eine Bewegung an, rutschte leicht weg, drehte sich um die eigene Achse und kam noch zum Schuss, aber Hong konnte blocken.

Es gab Eckball von rechts. Ich lief nach draußen, legte mir den Ball auf den Viertelkreis, blinzelte in den Regen und strich mir wieder mal die Haare aus der Stirn. Im Strafraum drängten sich hellblaue und weiße Schatten, beide durch den Regen mit einem grauen Schleier überzogen. Ich hob den rechten Arm, nahm Anlauf und schoss.

Von rechts mit rechts drehte sich der Ball vom Tor weg und senkte sich auf Höhe des ersten Pfostens genau auf den höchsten verfügbaren Kopf – Michis. Von ihm verlängert, flog der Ball quer über alle Köpfe im Strafraum hinweg und fiel erst am anderen Pfosten herunter. Dort stand Nico völlig frei und musste nur die Stirn hinhalten.

„Jaaaaaaaaa!“ Mit ausgebreiteten Armen lief ich die Grundlinie entlang, hinter dem Augsburger Tor vorbei und auf unseren Fanblock zu, vor dem Nico sich jubelnd aufgebaut und der Rest des Teams sich um ihn geschart hatte. Michi sah mich kommen und nahm mich strahlend in Empfang.

„Geile Ecke!“

„Geiler Kopfball!“

Über uns feierten die Fans und schwenkten Fahnen und Schals. Ich schaute nach oben und sog den Anblick in mich ein. Es war die Führung. Und mit dem Tor zum eins zu null in Hannover war es der dritte Standard gewesen. Damit hatte ich mein Versprechen an die Mannschaft erfüllt. Aber war es genug? Nein. Nein, heute noch nicht. Heute wollte ich noch. Ich wollte den Gästeblock noch einmal jubeln sehen, ich wollte sie noch einmal glücklich machen. Glücklich – und vielleicht ein bisschen stolz.

Direkt nach unserem Tor wechselten beide Trainer. Bei Augsburg kam ein Stürmer für einen Mittelfeldspieler, und Bruno tauschte positionsgetreu: Für Lasso kam Batuhan ins Spiel und war damit nach Tom der zweite Spieler, der heute für uns sein Bundesligadebüt feierte. Und er zeigte keine Scheu, nach seiner Einwechslung holte er sich gleich mal eine Gelbe Karte ab. Ein paar Minuten später erlief er einen zu kurz geratenen Rückpass von Augsburgs Rechtsverteidiger Daniel Opare und lief allein aufs Tor zu, aber der Winkel war spitz und Hitz konnte seinen Schuss parieren. Festhalten konnte er ihn allerdings nicht, sodass es wieder Ecke für uns gab, diesmal von der anderen Seite. Direkt vor unseren Fans legte ich mir den Ball zurecht. Komm schon. Lass sie jubeln. Mach ihn stolz.

Ich atmete durch, hob diesmal den linken Arm, lief an und schlug den Ball in den Strafraum. Er drehte sich zum Tor hin und fand zwischen Fünfmeterraum und Elfmeterpunkt Clebers Kopf. Der Augsburger Kapitän Daniel Baier kriegte den Fuß zwischen Ball und Tor, aber die Richtung des Blocks konnte er nicht kontrollieren. Die Kugel prallte einfach ab – direkt vor Michis Füße. Aus drei Metern schob er sie zum drei zu eins ins Tor.

Diesmal hatte ich die Eruption des Gästeblocks im Rücken. Die Jubelschreie schallten in meinen Ohren, und von vorne kamen Michi und der Rest der Mannschaft auf mich zu, lachend, mit geballten Fäusten und ausgebreiteten Armen. Die letzten Meter sprang ich Michi entgegen. Er fing mich auf und hielt mich, und unsere Mitspieler scharten sich um uns herum.

Auf dem Weg zurück in unsere Hälfte strahlte ich wieder die Haupttribüne an. Diesmal streckte ich den Arm aus, um mit dem Zeigefinger nach oben auf die durch den Regenschleier verwischten Reihen zu weisen. Es war egal, dass ich sie nicht sehen konnte. Sie konnten mich sehen, und sie würden wissen, dass sie gemeint waren. Noch eins. Komm schon. Noch eins. Einer geht noch!

Aber in der verbleibenden Viertelstunde kamen wir nicht mehr richtig nach vorne, und wir erarbeiteten uns auch keinen gefährlichen Standard mehr. Stattdessen versuchten die Augsburger, noch mal ein paar Angriffe zu starten, aber wir ließen sie nicht durch. Mit jeder Minute wurden ihre Vorstöße halbherziger, und drei Minuten vor Schluss gaben sie sich endgültig geschlagen und konzentrierten sich auf einen Abschied, der anstand: Torwart Alexander Manninger, der in seinen vier Jahren beim FCA ein absolut zuverlässiger Ersatzmann gewesen war und den Verein jetzt verlassen würde, durfte noch ein letztes Mal auf dem Platz stehen. Ich applaudierte mit, als er aufs Spielfeld lief. Für den letzten Freistoß in der Nachspielzeit mischte er sich ins Getümmel in unserem Strafraum, aber der Ball flog direkt ins Aus. Dann war Schluss. Die Saison war vorbei, wir hatten das letzte Spiel mir drei zu eins gewonnen und liefen damit auf dem zehnten Tabellenplatz ein. Es sah nach einer ruhigen Spielzeit aus, nach gesichertem Mittelfeld ohne viele Turbulenzen, genau so, wie wir es uns vorgenommen hatten.

Ruhige Spielzeit. Ohne Turbulenzen. Ich lachte und wirbelte den Kopf hin und her. Regentropfen stoben in alle Richtungen.

Auf dem Weg vom Fanblock zurück Richtung Kabine stupste Lasso mich an. „Hättest ja ruhig mal sagen können, dass du dir die Standards alle für den letzten Spieltag aufhebst!“

„Wieso? Das hätte doch die ganze Spannung gekillt!“

Er lachte, aber er verzog auch ein wenig das Gesicht. Wahrscheinlich trauerte er der Woche Malle hinterher. Ich schüttelte grinsend den Kopf. Ein Glück, dass ich mein Versprechen noch erfüllt hatte. Ich konnte mir wenige Dinge vorstellen, nach denen ich so urlaubsreif wäre wie nach einer Woche Ballermann mit der Mannschaft. Außerdem war der Sommerurlaub nie lang. Und ich hatte schon andere Pläne.

Während wir den Platz überquerten, schaute ich hoch zur Haupttribüne. Es regnete immer noch, Gesichter konnte ich weiterhin nicht erkennen. Aber ich wusste, dass Ramin dort oben saß und zu mir herunterschaute. Ich spürte seinen Blick auf mir, und er wärmte mich, so tief drin, dass der Regen und mein klitschnasses Trikot dagegen nichts ausrichten konnten.

Gidi hatte recht gehabt. Ich wusste nicht, ob Ramin mir auf ewig erhalten bleiben würde, und der Gedanke, dass er irgendwann wieder anfangen könnte, Sex mit anderen zu haben, tat noch so weh wie immer. Aber wenn ich ihn abgewiesen hätte, hätte ich mir nicht jeden Schmerz erspart. Ich hätte mich nur sofort unglücklich gemacht. Dann wäre ich die letzten vier Wochen nicht mit einem Dauergrinsen herumgelaufen, und dann säße er jetzt nicht hier und hätte drei Tore gesehen, an denen ich allesamt beteiligt gewesen war.

Ich schaute nach oben und lächelte. Ich wusste nicht, was kommen würde. Und Ramin wusste es auch nicht. Vielleicht würde er irgendwann nicht mehr aushalten, dass er sich für mich verstellen musste, vielleicht würde ich nicht aushalten, dass er Sex mit anderen hatte. Vielleicht würde es irgendwann vorbei sein. Aber jetzt gerade war es nicht vorbei. Jetzt gerade planten wir einen gemeinsamen Sommerurlaub, jetzt gerade würden wir morgen Abend mit unseren Freunden zusammen sein und essen und reden und lachen, und davor würden wir in der Früh, wenn er zu mir kommen würde, endlich wieder Sex haben.

Ich legte den Kopf in den Nacken und lachte. Über die Schulter schaute ich noch einmal zurück in Richtung Gästeblock, der sich langsam leerte. Als ich den Kopf wieder wegdrehte, blieb mein Blick hängen. Da, neben mir, ging Michi. Michi, so groß und schlank, immer so gut drauf, der jetzt strahlte über sein Tor und den Sieg. Michi, der mit mir Freistöße trainiert, der diese Saison in Ingolstadt und Bremen zwei Tore per direktem Freistoß erzielt und mir den heute aus bester Position trotzdem bereitwillig überlassen hatte. Michi, mit dem ich heute alle Tore gefeiert hatte.

Ich spürte ein Ziehen im Bauch. Michi würde morgen nicht dabei sein. Er war mein Freund, und ich hatte ihn gern, aber trotzdem würde er morgen fehlen. Ich hatte ihn nicht eingeladen. Weil er es nicht wusste.

Er spürte meinen Blick, grinste und legte mir den Arm um die Schultern. „Das war unser Spiel heute, was, Martin?“

Unser Spiel. Ein leises Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Schade. Eigentlich war es schade, dass er nicht da sein würde. Schade, dass er sie nicht kennenlernen konnte, Ramin und Sierra, meinen Partner und dessen beste Freundin, die so etwas wie meine große Schwester geworden war. Ich schaute Michi an, und mein Lächeln wurde breiter. Vielleicht würde ich es ihm ja sagen. Vielleicht. Irgendwann. Bald.

Wir traten in den Bauch des Stadions, und endlich hörte der Regen auf. In der Kabine durften wir endgültig aus den nassen Sachen raus, und unter der Dusche schloss ich die Augen und genoss das warme Wasser, das das kalte fortspülte. Vor meinen geschlossenen Lidern schwamm ein Bild von Ramin in meinen Kopf. Er grinste, sein schwarzes Haar war leicht feucht und nachlässig zur Seite gekämmt, in seinen Augen loderten Feuer. Genau so, wie ich ihn damals im Gang hinter der Bühne zum ersten Mal richtig gesehen hatte.

Ich presste die Lippen zusammen und grinste. Vielleicht würde das Ende, auf die eine oder andere Weise, irgendwann kommen. Aber das hier war nicht das Ende. Das hier war ein Anfang. Und der fühlte sich jetzt gerade einfach nur großartig an.

 

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Tja, und das war’s, meine Lieben. Ich kann nicht fassen, dass es heute schon Zeit für das 34. Kapitel war, dass die Geschichte und Martin jetzt wohl endgültig erwachsen geworden sind.

 

Ich danke euch, dass ihr mir 34 Wochen lang treu geblieben seid – sozusagen meine ganz persönliche Saison lang. Es war mir eine riesige Freude, die Kapitel hochzuladen, zu sehen, wie die Aufrufzahlen, die Favos, die Empfehlungen, die Lesemarkierungen und ganz besonders die Reviewzahlen stetig gestiegen sind. Dieser wöchentliche Termin am Dienstagabend wird mir wahnsinnig fehlen. Vielen, vielen Dank an alle, die meine Geschichte gelesen und sich hoffentlich an ihr erfreut haben, und ganz besonders danke an diejenigen, die ihre Wertschätzung durch Favos, Empfehlungen, Lesemarkierungen oder einen der anderen Wege auf ff.de oder AO3 für mich sichtbar gemacht haben. Ein noch größerer Dank geht an alle, die sich die Mühe gemacht haben, ein Review zu schreiben und ein paar Minuten ihrer Zeit geopfert haben, um mir zu sagen, dass ihr die Geschichte verfolgt und schätzt. Jedes Mal, wenn in meiner Handysymbolleiste das FF-Symbol erschien, war es ein Glücksmoment für mich. Ein ganz spezielles Dankeschön geht an becs und Chillkroete, die zu beinahe jedem Kapitel ein Review geschrieben haben und mich in dieser wunderbaren Regelmäßigkeit daran teilhaben ließen, wie sie die Geschichte in ihren einzelnen Kapiteln und Wendungen erlebt haben. Ich kann euch gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Ohne euch beide hätte das Hochladen mir definitiv weniger Spaß gemacht.

 

Nun ist die Geschichte vollständig hochgeladen, und ihr werdet nicht mehr jeden Dienstag etwas Neues von Martin zu lesen bekommen – wenn aber der eine oder andere von euch auch jetzt noch Lust hat, mir eure Gedanken zur Geschichte, ein Lob, eine Kritik oder einfach einen Teil eures Leseerlebens mitzuteilen, wäre ich überglücklich darüber! Und obwohl Martins Geschichte jetzt erst einmal auserzählt ist, lässt mich seine und Ramins Welt natürlich nicht los. Löscht also die Geschichte noch nicht gleich aus eurem Alert-System – es könnte durchaus sein, dass gelegentlich noch das eine oder andere Bonus-Kapitel dazukommt …

 

Ganz liebe Grüße an euch alle,

Rhaena

Chapter 65: Bridge Over Troubled Water 1

Chapter Text

Hier seid ihr richtig beim Original des ersten Bonuskapitels – eine Übersetzung findet ihr, wenn ihr sie braucht, auf ff.de unter diesem Link: https://www.fanfiktion.de/s/66606f3f000f624a34b6aa39/35/Traum-im-Kopf

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Bridge Over Troubled Water 1

 

Nobody else noticed a thing, but he saw it. It only took one look.

Sierra was standing at the far end of the hall, talking to another couple. There was nothing obvious in her expression, and her smile as she listened to the animated chatter of the 60-something lady clutching her husband’s arm with stubby, heavily ringed fingers was firmly and apparently effortlessly in place. But the signs screamed out to him. Her lips were a fraction of an inch thinner than usual, and she was holding her elbows a tiny bit closer to her body. She had been a little grumpy all evening, and he’d thought she was just in a mood. Now, he realised that something had been bothering her all along, and whatever it was had grown worse in the three-or-so hours they’d been here.

He crossed the crowded hall, making his way around the groups of threes and fours that were nattering, giggling and clutching champagne flutes.

“I do apologise.” He put his right hand lightly on the small of Sierra’s back – tight, tighter than usual –, gave the ancient couple a smile and instantly received two in return. When he chose, he could be extremely charming. “But I’m afraid I’m going to have to borrow Sierra for a while. There are some friends of ours across the hall who are simply dying to see her.”

“Of course!”

The granny’s voice was shrill, and her dress far too tight for the enormous bosom she was carrying around with her. A perfect Carlotta. Perhaps just a tad too old, but you wouldn’t need any make-up at all. He was careful not to let his smirk show on his face.

“It’s our fault, really, we’ve monopolised her far too long. You go off and enjoy yourselves, now!” She waved her fat hands in the air. Her husband gave a toothless laugh.

He caught a whiff of whiskey, garlic and decay. He gave them a final wide smile, turned and steered Sierra through the guests towards the double doors.

“About time.” Her smile was still in place, but she was gripping his arm with her left hand more forcefully than necessary, and her voice cracked like a whip. “What took you so long? Where were you?”

“Bathroom.” He glanced around, looking for a secluded corner where they wouldn’t be so visible, but the hall was square and apart from the occasional pedestal with a statue or vase on it almost bare, and there were people everywhere.

He felt Sierra’s withering look. For the time being, she had dispensed with her smile. “Here? Have you lost your mind, Ramin?”

“Why? Do you think just because these guys are all in suits, they’re not up for anything?” He laughed. “Well, he was up all right. Take my word for it.”

She huffed. The fact that there was no scathing comeback worried him more than the lips and the elbows combined. “What’s wrong, Sierra?”

“Oh, nothing, I just – How do you know that something’s wrong?”

He raised an eyebrow. She smiled. She was still tense, and whatever it was was still bothering her, but for a moment, the smile was genuine. “Sorry. Stupid question. But there’s nothing wrong, Ramin. Really. I’m fine.”

She was still smiling. Decidedly un-genuinely. “You’re not, Sierra. Come on. What is it?”

“Nothing!” Now, she looked daggers at him. “There was no need to wade in and rescue me, Ramin, I’m perfectly –”

Her grip around his arm became vice-like. She pressed her lips together immediately, but the sharp intake of breath still made a sound. He glanced over his shoulder. They were standing right by the doors now, and the noise level in the hall was sufficient that nobody had noticed anything. Sierra loosened her grip. He looked at her and met defiance and stubbornness. She was clearly furious with herself.

He led her into the hallway. It was a little quieter here. He glanced through the doors of the big hall, where they’d had dinner. It looked like the tables were almost cleared away. He turned back to Sierra. “Now. What is it?”

She stared at him for a second. Then she scoffed. “Fine. If you must know, it’s my head. It’s aching a little, but I’m sure it will pass. I’m fine, Ramin.”

Sierra got migraines. Not very often und not very regularly, but when they came, they were usually nasty. He looked at her tight lips, her set jaw, her glaring eyes. He wasn’t fooled. They were both actors. If Sierra lost control of her expression and body language like this, it was bad all right. “Do you want to leave?”

She stared at him as if he’d gone insane. “Are you crazy? We can’t leave, Ramin! This is Andrew’s sixty-fifth birthday party, he invited us, and the dancing hasn’t even started yet. There’s no way we can just go!”

“There are two hundred other people here.” He indicated the smaller hall with a jerk of his head. “He won’t notice we’ve gone.”

“Yes he will, and we’re not going!”

“We could always blame it on me. I’ll tell Andrew I’ve been urgently called to a fucking party and that I’m dragging you along.”

“To the fucking party?”

“No, just home. We drove up here in the same car, right? How else are you gonna get back?”

“No way.” She lifted her chin and stared him down, even though she was a head shorter than him, even on heels. “It’d be the most impolite thing ever, Andrew would never forgive us, and we’re not doing it. Period.”

She tightened her grip around his arm again and steered him back into the hall. He let it happen. She led him from group to group, stopping at almost every one, exchanging greetings here, smiles there, compliments around the corner and pleasantries across the room. He kept a faint smile on his lips and hardly said a word. At EuMENeia, it was the Leather Ball tonight. He never would have come to this party in the first place. He liked Andrew, but the guy needed him on the stage, not at his birthday celebration. But Sierra had insisted they go. He kept close to her now. Two or three guys gave him looks, but he didn’t return them. Sierra’s grip around his arm tightened twice more, but her expression didn’t alter, and he made no comment about it.

After a quarter of an hour, a gong sounded from the other hall, and they all filed back into it. The buffet and dining tables were gone, and several smaller ones lined an empty square in the middle. A band had settled onto the stage. Everyone applauded, Andrew said a few words, everyone applauded again, and he and Madeleine opened the dance.

It was a slow waltz. Classical music, no lyrics. Other couples started to join in. He turned to Sierra. “Shall we?”

“Sure.” Her voice was tense, and her smile so forced that it was probably detectable even for other people.

“Sierra …”

“Shut up.”

She grabbed his left hand and turned her head to the left. He laid his right hand on her back, and they started dancing.

A slowfox came next. He led both dances without any fuss, none of the twirling and extravagant figures they usually did. Normally, Sierra would have complained about that ten seconds into the first song. She didn’t say a word. The muscles on her back were tight as a bowstring.

He met her eyes. Her jaw was clenched. There was a muscle twitching in her cheek. The lyrics of the next song set in. He hadn’t been paying attention to the melody, but now he realised it was “When You Say Nothing At All”. It featured in “Notting Hill”. He loathed that film. Sierra loved it. She’d made him watch it with her four times to date.

Sierra blinked. For a fraction of a second, the steel was gone from her eyes, but it was back immediately. She took a deep breath and slid her hand from his upper arm onto his shoulder. For a moment, he hesitated. Then he moved his right foot and his hip sideways.

Standard had been all right, but it was impossible to lead a rumba without twirls. It was a flirt dance. The dancers turned their backs on each other, put distance between them, then closed in again. It was a dance that lived off sharp turns. When he led the first one, Sierra wobbled. Not visibly, but her hand was in his, and he felt it. On the rare occasions when he did ballroom dances with other people, he felt things like that at every spin. But never with Sierra.

Her eyes swept across his face. She’d noticed, and she knew he’d noticed, and she knew that he knew that she knew he’d noticed. She pressed her lips together so tightly that there was no smile at all now, forced or otherwise. She kept dancing.

The last figure he led, to the final notes of the song, was a mildly more complicated one with three back-to-back sharp turns for Sierra. He hadn’t meant to do it, but they always danced this one, and he’d been so concentrated on watching her – the twitching around her pencil-thin mouth, her complexion, which had started to grow pale – that he hadn’t paid attention to what his body was doing, and by the time he realised, it was too late. Sierra spun underneath his hand, and his right hand found her lower back. It moved like the hinges of a door, right, left, right. Sierra turned on her feet, once, twice. On the third one, she lost her footing. If he hadn’t already been holding her in his arms, she would have collapsed onto the floor. As it was, she fell against his chest, and he kept her upright. He could hear her breathing, trying to stifle the moan, but not quite succeeding. Her right hand was clutching his left so tightly it hurt.

The band started playing the next song. A discofox, without an intro. The beat thumped through the hall. Most other couples started dancing immediately. He didn’t move. Sierra’s forehead was pressing into his chest, and he guessed, although he couldn’t see it, that her eyes were screwed up tight.

“Oh god.” When she inhaled, it sounded like a sob. “Oh god. Make it stop, just make it stop …”

She was trembling. They were at the far end of the dance floor, as far away from the band as possible, but still he felt her shoulders twitch ever so slightly at every thump of the beat.

“That’s it.” He laid his hand on her hip, turned her around, careful to avoid any sudden movements, and steered her towards the exit. “We’re leaving.”

She didn’t argue. She kept her face pressed into his side, and her steps were unsteady.

Once they were outside, he stopped. For a moment, she kept leaning against him. Then she straightened up a bit, leaned back her head and inhaled the cool night air. As he had suspected, her eyes were closed. Her face looked ghostly in the dim light.

He stared at her. Guilt and anger were battling inside him. Why did she always have to be so stubborn?

“Sierra?” His hand moved slowly up and down her back.

She took a final deep breath. It clearly took a lot of willpower for her to open her eyes. “It’s okay. I … I’ll be all right.”

Her voice was thin and strained. He pressed his lips together and glanced back at the building. But there was nothing inside which would help her, and he knew how much she would hate for anybody in there to see her like this. “Are you gonna make it to the car?”

“Yeah.” She gave a nod, whimpered and stopped. Her right hand had jumped to her temple. “Mmmm … Sorry … Just … walk slowly, okay?”

He crossed the fifty metres to his car in mini steps. With each one, Sierra leaned more heavily onto his arm. Her eyes were pressed shut again.

When they were finally standing by the passenger door, he opened it and lowered Sierra onto the seat. He did it centimetre by centimetre, but still she winced every other second. He clenched his teeth. “We should have left a lot earlier than this.”

She didn’t react. He couldn’t tell whether she’d even registered what he’d said. She looked like it took all her concentration just to get into the car without screaming.

When at last it was done, she sat there, the back of her head slumped against the headrest, beads of sweat trickling down her face. Her eyes were still shut, her breathing laboured. He could see her jaw quiver.

He stood there, his arms dangling at his sides. He waited for a second, but she neither moved nor spoke. So he bent down, reached around her and fastened her seatbelt. Then he closed her door as quietly as he could and walked around the front of the car.

He pulled his own door shut a little too forcefully. There was an audible thud, and Sierra’s whole body jerked.

“Mmmmmm … ahhhhh … fuck …” She inhaled, exhaled, inhaled again. Both her hands were pressed against her temples.

He felt a wrench inside him. He wanted to do something, anything, that would help her. He wanted to snap his fingers and make this go away. He sat in the driver’s seat, motionless. “Sierra … is there anything you want? Some water, maybe?” He always kept a bottle of water in the car.

She didn’t move her head this time. Only her lips gave a tiny jerk. Nor did she open her eyes. “Just take me home.”

He started the engine.

The first part of the thirty-five-minute drive took them through sparsely lit, narrow country lanes. At this time of night, they were virtually deserted. Five minutes passed before the first pair of headlights appeared on the other side of the road.

He glanced to the left. Sierra had kept her eyes shut, and the streetlights set up at wide intervals were so dim that they scarcely reached the car at all. But the approaching headlights were bright and glaring. He could see the muscles in Sierra’s face tighten. Even he was half-blinded. He blinked and turned back towards the windscreen. He would not help Sierra if he crashed the car.

As the other car closed up, Sierra gave her loudest whimper yet. He could hear it even over the sound of the two engines. Then the car passed them, and the road was dark again. He looked at her. Her face was still screwed up, she was sweating more heavily, and she was so pale that she looked almost dead.

He glanced at the road, then back towards her. His left hand twitched. But then he gritted his teeth and fixed his gaze ahead. The best thing he could do for her now was get her home, quickly. Both his hands clenched around the wheel. He shouldn’t have listened to her. She had done her utmost to control her emotions, even now she was trying to control them, and still he had seen the signs. He shouldn’t have let her get her way, not this time. He should have grabbed her by the arm and dragged her out of there, kicking and screaming if that was what it took. He should have realised that something was wrong even before they’d set off. They should never have come in the first place. They should have called and told Andrew that Sierra wasn’t feeling well, or that he wasn’t feeling well, for all he cared. Andrew wouldn’t have made a fuss. He would have understood.

Over the next couple of minutes, Sierra whimpered again and again. He could tell she didn’t want to, that she was trying not to do it, but it was no use. She was fidgeting in her seat, even jerking her head around once or twice. Her face was drenched in sweat.

There was a flash in the distance. Another car was approaching. Its lights were visible for a second, vanished as it turned a corner, then reappeared. They got closer, loomed larger, shone more brightly. Sierra whimpered. His eyes darted to the left. She was fidgeting worse than ever, practically writhing, and she pressed her right hand to her forehead, her eyes.

The other car was almost upon them. He had to look at the road. He turned, blinked, and the car rushed past. Sierra gasped, inhaled. “Stop!”

He glanced over and slammed his foot on the break. It was pure luck that there was no car behind. Sierra fumbled with the clasp of her seatbelt, pushed open the door almost before the wheels had screeched to a halt and practically fell out of the car. She managed two stumbling steps, dropped to her knees at the edge of the road and threw up as soon as she hit the asphalt.

He slammed his door open and dashed around the car. Sierra’s whole body was heaving. He fell to his knees beside her. With his left hand, he gathered up her hair that she’d washed, combed and treated so carefully earlier and that was now hanging over her shoulders in sweaty, tangled-up strands. When he’d pulled every one out of harm’s way, he held them fast with his right hand, while his left traced slow, steady circles across her back. Sierra was shaking. She was leaning forward so as not to throw up onto her dress, the silk dress that would be ruined anyway by the jagged tarmac she was kneeling on. Her eyes were wide open now and staring straight ahead, their gaze so fixed it looked as though she’d just woken up from a nightmare.

“It’s okay.” His hand kept moving in circles over her back. “It’s all right, Sierra. I’m here. Everything’s all right. You’re gonna be fine.”

She closed her mouth, tried to swallow, and he thought she was about to say something. Then he felt a jolt under his hand. She retched again.

It seemed to him that she threw up for a long time. At last, the heaving stopped. She was still kneeling next to him, still staring straight ahead, still panting, but no jerks went through her body anymore, and she was trembling again rather than shaking.

“Hey.” He kept his hands where they were, but leaned forward a little so he could see her face properly. “You okay? Do you think it’s over for now?”

She blinked a couple of times and closed her mouth. It still smelled of puke, of course. He didn’t move an inch. Sierra swallowed, then nodded. Carefully, gingerly. Almost undetectably.

“Good.” He smiled. He kept rubbing her back, but he let go of her hair and found her right hand with his. “Come on. Let’s get you back in the car.”

She responded to his movements, let him pull her up and lower her back into her seat, like a robot. Not once did she look at him. Her eyes stared blankly into the night.

“Hold on. Just give me a second. I’ll be back in a flash, okay?”

He stroked her shoulder, let go of her, rounded the car, reached into his still open door and pulled out the bottle of water. Before he went back, he closed the door, carefully this time.

“Here.” He crouched down beside her and unscrewed the lid. “Come on, Sierra. Have some water. You’ll feel better, you’ll see.”

Her fingers tightened around the bottle. Still without looking at him, she raised it to her lips and took a gulp. He stepped back so she could lean out of the car and wash the remnants of sick out of her mouth. After she’d spat onto the asphalt, she took a couple more swallows, the back of her head leaning against the headrest, her eyes once again closed. After a while, she lowered her hand and let it hang limply at her side. He stepped up to her, crouched down again, took the bottle off her and screwed the lid back on. He looked at her. She was still leaning back in her seat, her eyes were still closed and her breathing still laboured.

“Sierra?” He laid his free hand on her knee. His thumb brushed over crumbs of dirt and gravel. “Sierra, will you look at me?”

Her lips twitched, and she gave a stifled sound. Her eyes opened, glanced at him, darted away. “I … I just … I don’t … I didn’t …”

She pressed her lips together. He didn’t take his eyes off her face. She glanced at him, away again, pressed her eyelids shut. A shudder of a different kind went through her body.

He put the bottle down, stood up and sat next to her. It wasn’t easy. Car seats were designed for one occupant, not two. With some squeezing and his left foot planted firmly on the road for support, he managed to make it one and a half. His arm found a way between the seat and Sierra’s back.

She sobbed. She was shaking again. Tears were streaming down her ghostly cheeks, carrying the sparse amount of make-up she’d applied earlier with them in messy smears. She looked like a dreadfully costumed guest at a Halloween party, and she stank of sweat and puke. He pulled her close, and her head fell against his shoulder. He held her as she cried the pain and anger and frustration and defeat out of herself.

After a while, she stopped. She was still leaning against him. Her body felt so limp that he wondered if she’d fall out of the car when he wasn’t there to support her anymore.

“Sierra?” His lips were on a level with the top of her head. “Sierra, I’ve got to go back to the driver’s seat. Are you gonna be okay here on your own?”

She swallowed. He could feel a tiny up-and-down movement against his shoulder.

“Great. Okay. Just lean back while I get out, okay?”

He kept supporting her with his hands as he slid off the seat. There was a cramp in his left leg. He made sure Sierra wouldn’t fall and re-fastened her seatbelt before shaking it out as he rounded the car again.

Once he was seated, he looked at her. She was hanging in her seat like a sack of wheat. Her eyes were closed, her breathing ragged. Something in his cheek twitched. “Sierra? I’m gonna start driving again now, okay?”

He waited. She gave no sign at all that she had heard him.

“If – if you need to throw up again, just say so, okay? Then I’ll stop.”

Her eyebrows gave a tiny jerk. Figuring this was all the reaction he was going to get, he turned away from her and re-started the engine.

Once they reached the city, the lights got a lot brighter. He glanced at Sierra as they passed the first shop window, but for all the reaction she gave, she might have gone blind. The only thing that told him she was still conscious were her lips twitching every few seconds or so.

He forced his attention back to the traffic. Even in the middle of the night, the streets of London were far from deserted, but they’d entered the city on the right side and he navigated the few turns to his apartment without too much difficulty. When he turned off the engine, Sierra stirred.

“Are we here?” Her voice was so faint she might be on her deathbed.

“Yeah.” There was something blocking his throat, and he coughed.

“Will you take me up?”

“I drove straight to my place, Sierra. I don’t think you should be alone tonight.”

“Oh.”

He couldn’t tell whether that was approval or disapproval, but she didn’t resist as he bent down, draped her arm around his shoulders and pulled her out of the car. He more carried than supported her up the one flight of stairs.

Extracting his keys from his right trouser pocket with his left hand while Sierra was slumped into that side was a challenge. He glanced at her, but she gave no sign whatsoever of wanting to support her own weight, or even noticing his predicament. After a lot of fiddling, his fingers at last closed around the cold steel. He pulled his hand out of the wrong pocket, wrenched the key in the lock, and turned it. Together, they stumbled over the threshold.

It was dark inside the flat. When he automatically reached for the light switch, Sierra surprised him by swatting his hand away pretty forcefully. “No lights!”

“Yeah, right, sorry.” He groped around for a bit, located the board and dropped the key onto it. “It’s all right. We’re home now.”

He turned towards her. There was some light falling into the flat through the living room window, and his eyes were adjusting quickly after the semi-darkness of the car ride. Sierra was still hanging on his arm, but she seemed to be a little steadier on her feet, and her breathing sounded a little less ragged.

“Do you – do you want me to take you straight to bed? Or do you want to take a shower?”

“Shower.” Her voice was still weak, but her grasp around his shoulder tightened. She even managed a tiny nod. “Shower. Yes. Shower.”

“Okay.” He pushed open the door to his left and led her into the bathroom. “Do you – I mean, will you be okay on your own? Or do you want me to ...”

He let that hang in the air. He wasn’t sure what he meant exactly. He’d just let her define it.

“I’ll be okay.” Her eyes were closed once more, but she let go of his arm and started groping around at her side. “Just … the dress … it’s … somewhere …”

Gently, he turned her, found the zip under her arm, and pulled it down. He held the dress as she stepped out of it. He held her shoes, too, unclasped her necklace, unclipped her earrings and took it all with him as he stepped out of the door.

“No lights!”, he heard her say again.

He hesitated. His bathroom had no window. When it was dark in there, it was dark dark. He ended up leaving the door ajar and switching on the light in the kitchen. He blinked at the sudden brightness. The sound of running water rang through the flat. He stood for a second. Then he put Sierra’s dress over a chair, her jewellery onto the kitchen table, her shoes and his own into the hallway and pulled off his jacket and tie. He was drenched in sweat as well. He’d take a shower once Sierra was in bed.

He looked around the kitchen and the half-lit living room. He felt useless. What could he do? What might she need?

The sound of water progressed from his ears to his brain. Shower. Towels. Clothes. Yes.

He went into the bedroom, pulled back his wardrobe curtain and got out fresh towels, a t-shirt and a pair of boxers. He went back to the bathroom, quietly reached around the door and put the pile onto the closed lid of the toilet seat.

He was back to standing around. He couldn’t think what else to do, so he made tea. That was what Sierra did whenever he had a problem. A trick had given him crabs? Tea. He couldn’t come up with lyrics for the last stanza of his new song? Tea. The producers of Love Never Dies didn’t want him as the Phantom because he “lacked the moral conduct required to work in close proximity to children”? Tea.

Of course, it was never just tea. It was tea, a google search of the best ways to get rid of lice and a lecture on high-risk sexual behaviour; tea, a private rendition and as many hours of brainstorming as it took; tea, her barging into the producers’ office, screaming at them at the top of her voice, calling them every name under the sun, threatening to involve everyone from a lawyer to the London Lesbian and Gay Centre, the BBC and the Culture, Media and Sport Secretary, and culminating in the dire promise that unless they came crawling to him on their knees and begged him to accept their apologies, they could bloody well find themselves a new Christine; but tea was always part of it. And since he, unlike her, had no idea what he could do to really help her, tea would have to do.

When the sound of water broke off, he waited five more minutes. Then he took out the tea bags and carefully pushed the bathroom door further open. Sierra’s hair was wet and tangled, she was wearing his clothes and blinking at him from under eyelids that looked like they weighed a ton.

“Hey.” A smile spread across his lips. “How are you feeling? Do you want some tea? I’ve just made some.”

She made a noise that was somewhere between a scoff and a grunt. “Bed. You have a toothbrush anywhere?”

“Sierra, I think you’ll survive if you don’t brush your teeth one time.”

“I threw up, Ramin, I’d like to brush my teeth, if you don’t mind!”

He suppressed a laugh. If she could snap at him again, she had to be at least a little better. Besides, she had a point. “Hang on.”

He crouched down to the cupboard under the sink, pushed aside a couple of boxes of condoms and extracted a spare toothbrush. It was his last one, he had to remember to get new ones when he next went shopping.

He ripped the packaging open and handed Sierra the toothbrush. She took it and looked around for toothpaste. He grabbed it, unscrewed the lid and held it out to her. When she had squeezed on some, he took it back from her and closed the lid while she brushed.

“No lights!”, she said when she’d finished, and he went into the kitchen and switched it off. Then he led her into the bedroom. Her hand was clutched around his arm again, but she was a lot steadier on her feet. He pulled back the blanket, and she crawled into bed.

“Call if you need anything.”

“No lights, no noise.”

It was a sulky grumble. He smiled to himself and quietly pulled the door shut behind him.

*

When he woke up next morning, there was someone else beside him in his bed. That wasn’t unusual. What was unusual was that he didn’t have a single memory of the sex. Either the guy had been really bad, or he himself had been really drunk.

He turned. Long, auburn hair was spread across his pillow, and bright green eyes were looking at him, awake and alert.

We couldn’t have.

“Sierra.” He raised a hand to his forehead and pressed his thumb and forefinger down hard. “Did you grow a dick?”

“You know, not when I last checked.” Her hand groped under the blanket. “No, no, there’s nothing there. Sorry.”

“Then what the hell are you doing in my bed?”

“You brought me here last night, remember?” She blinked. He could see her smile with the half of her face that wasn’t buried in the pillow. “I had a headache and …”

“Oh. Yeah. Right.” He turned back towards the ceiling and screwed up his eyes. Images flashed before them. Andrew’s birthday party. Sierra, refusing to leave. Sierra, stumbling into him at the end of the rumba. Sierra, deathly pale in the parking lot. Sierra, on her knees, throwing up. Sierra, crying in his arms.

He turned back towards her. “How are you? How’s your head now?”

“It’s fine.” There was no trace of last night left in her eyes. No pain, no desperation, no furious battle for control that she was bound to lose. “But I won’t really know until I get up. This stuff’s always better when I’m lying down.”

“Then why don’t you just stay there for a bit?” He threw back his corner of the blanket, got up, turned around and smiled. “I’ll make some tea. How about it?”

She smiled, too. It was the old smile, the real one. The one that lit up her entire face. “Sounds great.”

When he returned, she was sitting up against the wall, the pillow in her back. He raised his eyebrows. “Well?”

She beamed. “All good!”

He handed her her cup, carefully so neither of them burned their fingers, put his own onto the bedside table and slid his legs back under the blanket. For a couple of minutes, they both sipped their tea. He closed his eyes, felt the morning sunlight on his face and Sierra’s presence beside him.

“How’s the dress?”, she asked, after a while.

“Okay, actually. I looked at it last night and I don’t think it’s torn. A day at the cleaner’s, and it should be good as new.”

“Great.” She took a sip of her tea. Then she looked up at him. “Did we say goodnight to Andrew before we left? I can’t remember. It’s all a sort of blur.”

He laughed. “No. Believe me, you weren’t in any state to say anything to anyone when we left. We’ll call him today. He’ll understand, don’t worry.”

She nodded and hesitated. Then – “Ramin – did I … did I mess up the dance last night?”

“Well, I wouldn’t say you messed it up. Definitely not for anyone else. I took you out of there right afterwards. But you did miss a step, yeah.”

She nodded again. When she continued, she looked down at the blanket. “And … did I … throw up in your car?”

“No.” He laughed again. “Well, nearly. But no. You got out just in time.”

“But you held me, didn’t you?” She bit her lip. “You held me, and got me something to drink, and took me home with you afterwards?”

He smiled. “Yes.”

“And put me into your shower, into your clothes and into your bed?”

“Well, I only actually helped you out of your dress and into bed. The rest, you managed okay by yourself.”

She nodded at the blanket. Then she took a deep breath and raised her eyes. “Did I say thank you?”

His smile spread to his ears. “No, you didn’t, actually. In fact, you were a cranky, bossy pain in the ass. Just like always.”

Her lips tightened. Then she laughed, and he did, too. “Okay. Good. I wondered.”

She cuddled up against him, and he put his arm around her. Her hair smelled of his shampoo. It was weird, but nice, somehow.

“Seriously though.” She spoke so quietly into his chest that he almost felt rather than heard her. “Thank you, Ramin.”

“Don’t mention it, Sierra.”

His fingers stroked her hair. She looked up at him, and they smiled.

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Referenzen:

“Bridge Over Troubled Water” – Song aus dem Album “Bridge Over Troubled Water” von Simon & Garfunkel. Columbia Records, 1970.

“When You Say Nothing At All” – Song aus dem Film “Notting Hill”. Geschrieben von Paul Overstreet und Don Alan Schlitz Jr., im Film gesungen von Ronan Keating.

„Notting Hill“ – Film von Richard Curtis. Universal Studios, 1999.